' ; nimm imrito wm\WS ^^■^^^H^flH H ii||f}!vl%iJiHH5?ä5 ^^^^B^H 3IHDIIG UST MAR 1 W& if KANT- STUDIEN PHILOSOPHISCHE ZEITSCHRIFT ( UNTER MITWIRKUNG VON E. ADICKES J. E. CREIGHTON R. EUCKEN ' UNTERSTÜTZUNG DER „KANT- GESELLSCHAFT" P. MENZER A. RIEHL HERAUSGEGEBEN VON Prof. Dr. HANS VAIHINGER Prof. Dr. MAX FRISCHEISEN-KÖHLER IN HALLE IN HALLE UND f Prof. Dr. ARTHUR LIEBERT Q \ IN BERLIN ^ ^ yS\ A 3 SECHSUNDZWANZIGSTER BAND BERLIN VERLAG VON REUTHER & REICHARD 1921 h k.3 \ • I Alle Rechte vorbehalten. Dieteriohsche Universitäts-Riuhdrnckerei (W. Fr. Kaestner) in Göttingen. /& INHALT. Seite Knnts „Programm" der Aufklärung aus dem Jahre 1784. Von Gisbert Beyerhaus l Die Methodik des pädagogischen Denkens. Von Theodor Litt 17 Politik und Idealismus. Von Hermann Herrigel 52 Zur Psychologie der Weltanschauungen. Von Jonas Cohn 74 Die Lorentz- Kontraktion. Von M. v. Laue 91 Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? Von Moritz Schlick 96 Philosophie und Leben. Von Max Frischeisen-Köhler 112 Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. Von Else Wentscher 139 Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. Von Reinhold Gei jer . . . . . 151 Kants Opus postumum nach Erich Adickes. Von HermannSchneider 165 Die „Materie" in Kants Tugendlehre und der Forma- lismus der kritischen Ethik. Von Georg Anderson 289 Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. Von Constanze Friedmann . . . . 312 Genie und Tragik. Von Ottomar Wichmann . . . 351 Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich? Von Anna Tumarkin 390 Die Aufgaben der Aesthetik. Von Charlotte Bühl er 403 Zum Problem der Philosophiegeschichte. Von Julius Stenzel 416 Die Verwechslungen von „Beschreibungsmittei" und „Beschreibungsobjekt" in der Einsteinschen spe- ziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. Von Oskar Kraus 454 Seite Besprechungen: Erkenntnistheorie und Logik. Berg, Ernst, Das Problem der Kausalität. Von WaltherRauschen- b erger 174 Bloch, Werner, Einführung in die Relativitätstheorie. Von M. Schlick 174 Driesch, Hans, Logische Studien über Entwicklung. Von Paul Fl as- kämper 175 Driesch, Hans, Wissen und Denken. Von Josef Wintern itz . . 177 Frost, Walter, Schopenhauer als Erbe Kants in der philosophischen Seelenanalyse. Von Emil Kraus 180 Oeyser, Joseph, Ueber Wahrheit und Evidenz. Von WilhelmReimer 180 Geyser, Joseph, Eidologie oder Philosophie als Formerkenntnis. Von R. Kynast 182 Grau, K.J., Grundriß der Logik. Von Artur Buchenau .... 183 Hasse, Heinrich, Das Problem der Gültigkeit in der Philosophie David Humes. Von Josef Winternitz 184 Höffding, Harald, Der Totalitätsbegriff. Von Kurt Sternberg . . 185 Koppelmann, Wilhelm, Untersuchungen zur Logik der Gegenwart. II. Teil: Formale Logik. Von Kurt Sternberg 187 Lewin, Kurt, Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume. Von Walter Blu- menfeld 191 Moog, W., Logik, Psychologie und Psychologismus. VonK. F. Endriß 193 Moog, W., Das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften. Von K.F.Endriß 194 Phalen, Adolf, Das Erkenntnisproblem in Hegels Philosophie. Von Franz Kröner 195 Rauschenberger, Walther, Der kritische Idealismus und seine Wider- legung. Von Alma von Hartmann 196 Schneider, Ilse, Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und Einstein. Von Josef Winternitz 198 Stapel, Wilhelm, Kants Kritik der reinen Vernunft ins Gemeindeutsche übersetzt. I. Band. Von Hellmuth Falkenfeld 199 Thalheimer, Alvin, The Meaning of the Terms ,Existence' and ,Reality\ Von Josef Winternitz . ". 199 Wertheimer, Max, Ueber Schlußprozesse im produktiven Denken. Von Walter Blumenfeld 200 von Uexküll, J., Theoretische Biologie. Von HansDriesch. . . 201 Whitehead, A. N., The Concept of Nature. Von Hans Driesch . 204 Weyl, Hermann, Raum, Zeit, Materie, Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie. Von M. Schlick 205 Wundt, Wilhelm, Logik. 1. Band: Allgemeine Logik und Erkenntnis- theorie. Von Arthur Liebert . 207 Ziehen, Theodor, Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik. Von Wilhelm Koppelmann 208 ^r Einleitungen in die Philosophie. Wundt, Wilhelm, System der Philosophie. Von Arthur Liebe rt . 487 Jerusalem, Wilhelm, Einleitung in die Philosophie. Von Josef Winternitz 488 Rausch, Alfred, Elemente der Philosophie. Von Paleikat . . . . 490 Alte und mittelalterliche Philosophie. Ueberweg-Praechter, Grundriß der Geschichte der Philosophie. 1. Teil : Das Altertum. Von Arthur Liebert 490 Wichmann. Ottomar, Piaton und Kant. Von Julius Stenzel . . 494 Apelt, Otto, Piatons Briefe. Von Ernst Hoffmann 495 Aristoteles, Kategorien (des Organon erster Teil) (Rolf es) Perihermenias oder Lehre vom Satz (des Organon zweiter Teil) (Rolfes). Von Ottomar Wichmann 496 Wittmann, Michael, Die Ethik des Aristoteles. Von B. W. Switalski 497 Ehrle, Franz, Grundsätzliches zur Charakteristik der neueren und neuesten Scholastik. Von Friedrich Kreis 498 Wundt, Max, Plotin. Von Fritz Heinemann . 499 Selbstanzeigen : Apel, Max, Einführung in Kants Kritik der reinen Vernunft .... 221 Birnbaum, Karl, Psychopathologische Dokumente 212 Feldkeller, Paul, Ethik für Deutsche . 213 Fischer, Ludwig, 1) Wirklichkeit, Wahrheit und Wissen. 2) Das Voll- wirkliche und das Als Ob 213 von Lippa, Lazar, Der Aufstieg von Kant zu Goethe 215 Mezger, Edmund, Sein und Sollen im Recht 215 Schlemmer, Hans, Die religiöse Persönlichkeit in der Erziehung . .216 Schneider, Hermann, Metaphysik als exakte Wissenschaft. Heft 3 : Die Lehre vom Handeln 217 Van der Vaart Smit, H. W., Die Evolutions-Theorie 218 Benjamin, Walter, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik 219 Alvardes, Friedrich, Rassen- und Artbildung . 501 Hofmann, Paul, Die Antinomie im Problem der Gültigkeit .... 501 Hof mann, Paul, Eigengesetz oder Pflichtgebot 502 Ludowici, August, Die Pflugschar 503 Meurer, Waldemar, Ist Wissenschaft überhaupt möglich ? . . . . 504 Wiesner, Johann, Die Freiheit des menschlichen Willens 504 Wenzel, Johannes, Zum „Untergang des Abendlandes" 505 Mitteilungen: Richard Falckenberg f . Von Hermann Leser 220 Otto Willmann f. Von B. W. Switalski 224 Rudolf Euckens Lebenserinnerungen. Von Georg Frebold . 226 Philosophie und höhere Schule. Von OttoFreitag 230 Vorbereitender oder systematischer Unterricht in der Philosophie. Von Felix Behrend 251 Aufruf, Solger-Kollegnachrichten betreffend 260 Ein Druckfehler in Kants Kritik der Urteilskraft. Von Kulimann 506 Preisaufgabe: Kant und Litauen 506 Kant- Gesellschaft: An die Mitglieder der Kant-Oesellschafl (Jahresbericht) 261 An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft (Betrifft Bezahlung des Beitrages für 1921) 269 Zur siebenten (Jubiläums)-Preisaufgabe 269 Ortsgruppe Basel 270 Ortsgruppe Halle 271 Ortsgruppe Hannover 273 Ortsgruppe Karlsruhe i. Baden 274 Dr. Amrheins „Kants Lehre vom Bewußtsein überhaupt" 278 Zum achten Preisausschreiben der Kant-Gesellschaft 278 Neuangemeldete Jahres-Mitglieder für 1921. 1. Ergänzungsliste . . . 279 Ortsgruppe Hannover 508 Ortsgruppe Meersburg a. Bodensee 510 Ortsgruppe Berlin 511 Vergünstigungen beim Bezug von Büchern (Adickes) 512 XVII. Jahresbericht 1920: Einnahmen und Ausgaben ....... 513 Neuangemeldete Jahres-Mitglieder für 1921 : 2. Ergänzungsliste . . . 517 Neue Dauermitglieder , 523 Register: 1. Sachregister 525 2. Personenregister 529 3. Besprochene Kantische Schriften 531 4. Verzeichnis der Verfasser besprochener Neuerscheinungen . . 532 5. Verzeichnis der Mitarbeiter 532 X Kants »Programm* der Aufklärung aus dem Jahre 1784 '). Von JDr. Gisbert Beyerhans, Privatdozent an der Universität Bonn. Angesichts des Unvermögens der Orthodoxie, zn einer tendenz- freien Würdigung ihrer Todfeindin zu gelangen; angesichts der Zersplitterung der Aufklärungsstreiter bei Verkündigung ihrer Kriegsziele mitten im Gefecht, war es eine Tat, als Kant am 30. September 1784 nun auch seinerseits sich entschloß, die Lebens- frage seiner Generation: Was ist Aufklärung? zu beantworten. Alles vereint sich scheinbar, um diesem Dokument eine überragende Bedeutung zu sichern : die Sprache des Khapsoden, die hohe Warte des dem eigentlichen Parteikampf entrückten Philosophen, der sittliche Wahrheitsmut eines von geistiger Freiheit kündenden Propheten. ,Auf klärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit . . . Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahl- spruch der Aufklärung'. Wer kennt sie nicht, jene stolzen, viel zitierten Worte! Sie sind uns zur klassischen Formet des Allge- meinbegriffs geworden, der tausend ungesehen fließende Fäden zu einem anschaulichen Ganzen zusammenwebt. Daß Kants Definition uns dazu geworden ist, diesen Prozeß wird der Historiker zu allererst in seiner inneren Notwendigkeit begreifen. Aber da ihm — nach dem Wort seines Meisters — jede Mediatisierung des Früheren zu Gunsten des Späteren von Natur aus widerstrebt, darf er zunächst einmal verlangen, daß Kants ,Programm' der Aufklärung nicht nach einzelnen blendenden Zitaten, sondern nach dem Ganzen seines Aufsatzes von 1784 ge- würdigt werde. Diese Aufgabe freilich umfaßt einen Komplex von schwierigen Einzelfragen, deren Lösung weder die zünftige Kantforschung 1) Umgeformt aus einer akademischen Antrittsrede. Kantstudien. XXVI. 2 Gisbert Beyerhaus, noch die Ideengeschichte bisher in Angriff genommen hat. So seltsam es klingt: von Kants sämtlichen Schriften ist die , Beant- wortung der Frage: Was ist Aufklärung?', soweit ich sehe, viel- leicht am stiefmütterlichsten behandelt worden1). Lohnte es sich etwa nicht? Fast scheint es so, als hätten die den Anfang be- herrschende, leicht zitierbare Definition und der beinahe unkantisch einfache Stil von einem eindringenderen Studium abgeschreckt. Und doch brauchen wir bloß die Frage der Entstehungsgeschichte aufzuwerfen, um vor dem sehr ernsthaften Problem zu stehen: welche Gründe Kant gerade damals bewogen haben mögen, das Thema publizistisch zu erörtern. War es ein bloßes Reaktions- bedürfnis^), das ihn veranlaßte, im Jahrzehnt der drei Kritiken aus dem Äther reiner Begriffe herabzusteigen und bei einer , Tages- frage' zu verweilen? Dann stünden wir bestenfalls vor dem Zu- fallsprodukt einer glücklichen Mußestunde. Oder handelt es sich vielmehr um die reife Frucht eines Denkers, der sich im Sommer 1798, vor seinen Tischgästen, in fast vermessenem Überschwang zum Bildungswert der Zeitgeschichte bekannte: ,Ich finde keine Geschichte lehrreicher als diejenige, die ich täglich in den Zeitungen lese. Hier kann ich sehen, wie alles kommt, vorbereitet wird, sich entwickelt'. Niemand wird in diesem Ausspruch und den Zusammenhängen, denen er entstammt3), den Atem poli- tischer Leidenschaft verkennen, der seit dem Jahre 1789 durch die Schriften der deutschen Dichter und Denker weht. Und nichts liegt mir ferner, als den Einfluß der französischen Revolution zu unterschätzen, nachdem Karl Vorländers wertvolle Arbeiten4) die unauflösliche Verflechtung dieses Erlebnisses mit Kants poli- tischen Anschauungen sicher gestellt haben. Alle späteren Ver- suche, sich der Gewalt der Tatsachen durch naive Verachtung historischer Fragestellungen zu verschließen5), haben ja nur aufs 1) Die bekannten Darstellungen von Kants Stellung zur Politik, F. W. Schubert (1838) und L. Friedländer (1876), behandeln im wesentlichen die spätere Zeit und begnügen sich hier mit mehr oder weniger umfangreichen Zitaten. 2) Vgl. Menzer, Paul: Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte. (Berlin 1911) 280 f. 3) Vgl. die höchst interessanten Angaben aus dem Tagebuch des badischen Pfarrers und späteren Theologieprofessors Johann Friedrich Abegg bei Vor- länder: Kant als Poliker in Zeitschrift ,März< 1913, Jg. 7 Heft 10, S. 222. 4) Kant und Marx. Tübingen 1911; Kants Stellung zur französischen Re- volution in Philosoph. Abh. zu Cohens 70. Geburtstag. Berlin 1912. 5) Gegen Weiß fei d, M.: Kants Gesellschaftslehre. Diss. phil. Bern 1907, Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 3 neue bewiesen, daß eine selbstgenugsame Hermeneutik den Denker in Wahrheit zum jBegriffskrüppel* macht. Aber es wäre m. E. genau so verfehlt, Kant als Politiker nun schon deshalb aus bloßem Revolutionsenthusiasmus zu erklären. Einmal ist der Zusammenhang mit ßousseaus ideologischem Uto- pismus viel älter als das Erlebnis von 1789. Vor allem wächst bereits in den ,Reflexionen zur Anthropologie', die den siebziger Jahren angehören, aus der Greschichtsphilosophie eine ganze Reihe von konkreten politischen Forderungen hervor1). Eine Tatsache, die für die Entstehungszeit der drei Kritiken ganz und gar nicht auf politische Indolenz schließen läßt. Somit gilt es methodisch, auch für die vorrevolutionäre Periode auf die Erkenntnis zurück- zugehen, daß das Produkt des Denkens sich nur als Produkt des Lebens begreifen läßt. Diese Einsicht eröffnet dem Verständnis unseres Aufsatzes neue Ausblicke und Möglichkeiten, sobald wir uns die geistige Situation des Jahres 1784 flüchtig vergegen- wärtigen. Das königliche Grestirn ist im Verbleichen begriffen. Schon , steigt von der andern Seite des Horizonts die Nacht* mit allen ihren Grespenstern wieder empor'2). Und auch der inneren Ent- wicklung nach sind die Morgenstunden der deutschen Aufklärung längst vorüber. Nicht nur, daß das Feuer der ersten Liebe er- kaltet, der Glaube an die Durchsetzungsmöglichkeit des Vernunft- reiches vom Zweifel erschüttert ist. Die notdürftig hergestellte Einheitsfront des deutschen Rationalismus zeigt sich um die Wende der 80er Jahre in weitgehender Zersetzung begriffen3). Während der Fragmentenstreit den Kampf um die Geltung des Christentums überhaupt eröffnet und den kirchentreuen Modernismus eines Semler in seinen Grundfesten bedroht, suchen die Starken, um Bahrdts Glaubensbekenntnis geschart, das Erbe an sich zu reißen. Gleich- zeitig erklingt aus Lessings ,Erziehung des Menschengeschlechts* die Ahnung einer rein geistigen Zukunftsreligion, die hoch über S. 2 ff. Vgl. dem gegenüber die treffenden Bemerkungen von H. Zwingmann: Kants Staatslehre in Hist. Zeitschr. 112 (1914), S. 547. 1) Vgl. Menzer, a.a.O., S. 268 f. 2) Für das Anwachsen des Mystizismus und des Aberglaubens während der letzten Regierungsjahre Friedrichs II. vgl. Frank, G. : Gesch. d. prot. Theologie T. III (Leipz. 1875) 190 ff. und Plessings Brief an Kant (1784 März 15), W. W. Akad. Ausg. Bd. 10, 349 f. 3) Vgl. das wertvolle Kapitel VII bei Zscharnack, Leop.: Lessing und Semler (Gießen 1913), 316 ff. 1* 4 Gisbert Beyer haus, alles Bekenntnismäßige, selbst das Christentum hinausweist. Im Jahre 1781 wird durch die Vernunftkritik, ohne daß es der Theo- logie zunächst zum Bewußtsein käme, allen dogmatischen Gottes- beweisen der Boden entzogen. Und 1783 wirft die Auseinander- setzung über Lessings Spinozismus für die Eingeweihten bereits ihren ,romantisch-reaktionären' Schatten voraus x). Unter dieser äußeren und inneren Konstellation ergreift Kant in der ,Berlinischen Monatsschrift', dem führenden Organ der Gre- dicke und Biester2), das Wort und zwar zur Klarstellung eines Problems, das noch immer ebenso sehr persönliche Angelegenheit des einzelnen wie Lebensinteresse des Staates war. Der Privat- charakter dieses Pronunciamento ist .von den Zeitgenossen wohl kaum angezweifelt worden. Um so mehr dürfen wir den offiziösen Unterton heraushören, wenn wir die Geistesfreiheit des preußischen Staates geradezu aus dem Wesen des Absolutismus abgeleitet sehen. In welchem Umfange Kant sich zum Sprachrohr eines Regierungs- standpunkts gemacht hat, wird uns noch beschäftigen. Aber schon die Tatsache, daß wir damit rechnen müssen, zwingt dazu, unsern Aufsatz von der gleichzeitigen ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht' (1784) energisch abzurücken. Die ge- schichtsphilosophische Selbstbesinnung, die im Schlußabschnitt hervorbricht, die Frage : ,Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter' oder ,in einem Zeitalter der Aufklärung?' darf also keineswegs im Sinne Kuno Fischers3) mißbraucht werden und zur Bestimmung der literarischen Gattung des Aufsatzes im Ganzen dienen. Nichts kann uns sein Verständnis sicherer ver- bauen als eine vorschnelle geschichtsphilosophische Einstellung. Denn es handelt sich im Grunde — das ist stark zu betonen — um eine staatspolitische Schrift. Unser Urteil über den Gehalt haben wir also nicht an den universalgeschichtlichen Perspektiven des 18. Jahrhunderts, sei es Rousseau oder Iselin, sondern nach rückwärts an den politischen Traktaten Spinozas und Lockes, nach 1) Vgl. Mauthner, Fritz: Jacobis Spinoza- Büchlein in Bibl. d. Philosophen Bd. 2 (München 1912) X11I; XVIII. 2) Vgl. die gute Übersicht bei Hay, Jos.: Staat, Volk und Weltbürgertum in der Berlinischen Monatsschrift . . . (1783—96). Berlin 1913, dazu Fromm, Emil: Kant und die preußische Censur (Hbg. u. Lpzg. 1894) 12 ff. 3) Geschichte der neueren Philosophie Bd. V5 (Heidelberg 1910) 239 ff. Mit Recht wird dagegen die ,BeantwortuDg' von dem ,wichtigsten geschichtsphilosophi- schen Aufsatz' scharf abgegrenzt von Menzer a. a. 0. S. 267 f. Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 5 vorwärts an Wilhelm von Humboldts ,Ideen' von 1792 zu orien- tieren. Nachdem wir uns die sog. Einleitungsfragen (die Frage nach der äußeren und inneren Veranlassung sowie der literarischen Gattung) wenigstens als Problem vergegenwärtigt haben, gilt es Struktur und Tendenz unseres Aufsatzes auf dem Wege einer Ana- lyse zu erschließen. Anhebend mit den volltönenden Akkorden einer sprachgewaltigen Definition weiß Kant den Leser gleich mit den ersten Sätzen auf die Hohe zu führen. Mit welchem Triumph- gefühl blickten nicht die vulgären Aufklärer vom Schlage Mendels- sohn, Creuz und Eberhard auf die vorangegangenen Jahrhunderte der katholischen und protestantischen Scholastik herab! Und wie verstanden es die Söhne des , erleuchteten' Zeitalters, gerade sich als die wahren , Selbstdenker' herauszustreichen! Das Wort selbst- verschuldet' zerreißt unerbittlich die Schleier dieses Wahns. Gegenüber jener Intoleranz, die schon in ihrer Selbstzufriedenheit die Todfeindin jeder fortschreitenden Erkenntnis ist, wird die Schuldfrage des Obskurantismus neu gestellt und zu einer Ge- samtschuld des Menschengeschlechts vertieft. Wie Montesquieu die Staatsform des Despotismus psychologisch zu erklären ver- sucht aus der Furcht, genauer dem Mangel an Selbstachtung derer, die sich das Joch gefallen lassen (Esprit des lois III, 9), so findet Kant auch die geistige Knechtschaft wurzelnd in der Faulheit und Feigheit des Menschen. Sie gehören deshalb in erster Lmie auf die Anklagebank : nicht die alten kirchlichen Mächte *), nicht der moderne absolute Staat, wenn sich auch beide den Hang zur , süßen Tyrannei' Jahrhunderte lang zu nutze gemacht haben! Wenn die Aufklärung nach Kant auf Selbstdenken beruht, so ist im Gegensatz zu Eberhard und Mendelssohn von vornherein klar, daß sie niemals bestehen kann in einer bloßen Summe von fertigen Lehrbegriffen — mögen diese an sich noch so richtig und freigeistig sein. Sie läßt sich auch nicht einfach durch Ver- 1) Wie sie soeben noch durch Karl Leonhard Rein hold, einen ^ent- sprungenen Jesuitenzögling, ganz ausschließlich für die Knebelung des mensch- lichen Geistes verantwortlich gemacht worden waren. Vgl. dessen Abhandlung: Die Wissenschaften vor und nach ihrer Säkularisation, Teutscher Merkur 1784 III, dazu Wahl, Hans: Geschichte des Teutschen Merkur. A. u. d. T. Palaestra Bd. 127 (Berlin 1914) 193 f. Daß Kants Aufsatz jede antihierarchische Spitze ver- meidet, erklärt sich gewiß einmal aus seiner protestantischen Grandstellung, bildet jedoch zugleich eins der stärksten Kriterien für seine Neuorientierung des über- lieferten Begriffs der Aufklärung. 6 Gisbert Beyerhaus, tauschung der überlieferten falschen Meinungen mit neuen besseren gewinnen. Aufklärung ist überhaupt nicht dogmatisches Wissen, sondern eine ethische »Maxime', in ihrer Vollendung eine ethische Qualität. Über ihren Wert entscheidet rein formal das Maß von Autonomie, das die Eroberung einer Erkenntnis bestimmt. Damit ist einerseits die Seltenheit und Mühseligkeit ,wahrer' Aufklärung gegeben, andrerseits die beschränkte Möglichkeit zu positiver Mit- arbeit des Staates, sobald er seinerseits solche Ideale zu realisieren strebt. Jede gewaltsame Aufpfropfung von neuen Begriffen, und wenn es die höchsten wären, ist ethisch wertlos für die Beteiligten. Denn das hieße ja neue Vorurteile an Stelle der alten setzen! Nur der harte und steile Weg der Erziehung, dem isolierten In- dividuum fast unerreichbar, kann eine Gemeinschaft befähigen, Satzungen und Formeln, ,die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit' allmählich von sich abzuschütteln. Durch lang- same, fortschreitende Reform, nicht durch den Umsturz der staat- lichen Ordnung. ,Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen' ! Die positive Mitarbeit des Staates bei diesem geistigen ,Er- mannungsprozeß' *) kann nur bestehen in der Beförderung des Selbstdenkens, d. h. staatsrechtlich gesprochen in der Gewährung und Sicherung einer ,staats freien Sphäre'2). Wie aber verträgt sich diese Freiheit mit der staatlichen Souveränität? Ist die geistige Freiheit abhängig von der politischen Verfassung? Ist sie überhaupt denkbar ohne ein ,wohldiszipliniertes', starkes ,Heer' als des Bürgen der öffentlichen Ruhe? Damit tritt eine Front- verschiebung, man darf sagen, ein Frontwechsel ein. Und wir stehen vor einem zweiten, wesentlich nüchterneren Thema, [einem , Versuch, die Grenzen der^, Wirksamkeit des Staates zn bestimmen.' Auf drei Schauplätzen sieht Kant sein Prinzip der individuellen Vernunftautonomie mit der Staatsautorität zusammenprallen: im Militärwesen, in der Finanzverwaltung und in der Kirche. ,Von allen Seiten höre ich rufen: „Räsonniert nicht!" Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Rä- 1) S. Kuno Fischer a. a. 0. S. 241. 2) Jellinek, G.: Das Recht des modernen Staates Bd. P (1905) 320 ff. Kants ^Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 7 sonniert nicht, sondern bezahlt ! Der Geistliche : Räsonniert nicht, sondern glaubt! Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: R,ä- sonniert, so viel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!' Es hätte wahrlich dieses Hinweises nicht bedurft, um uns die ,tiefe innere Beziehung' *) dieser Staatsanschauung zu dem frideriziani- schen Preußen vor Augen zu führen. Und es ist deshalb müssig zu untersuchen, ob sich die Einheit des preußischen Staates in den genannten drei Funktionen auch wirklich konzentriert. Genug, daß sie in Form einer Abbreviatur die Zwangsnatur des Staates an typischen Beispielen veranschaulichen. Wir haben deshalb lediglich zu fragen, wie Kant die Spannung zwischen den unver- letzbaren Ordnungen des Staates und den Forderungen der Ver- nunft überwindet. Er hilft sich bekanntlich mit einem Kompromiß- verfahren, mit der Unterscheidung zwischen öffentlichem und Pri- vatgebrauch der Vernunft. Damit strömt unaufhaltsam das Wasser in den Feuer wein. Auf seinem bürgerlichen Posten nämlich ist der einzelne durch die Gehorsamspflicht verbunden, die sanktio- nierte Richtschnur seines Wirkens (Kommandobefehle, Gesetze, Symbole, Katechismen) unverbrüchlich zu halten. Denn so lautet nach Kant sein Anstellungsvertrag. Wir begreifen daher die etwas kleinlaute Versicherung: jener amtliche Vernunftgebrauch — im Gegensatz zum gewöhnlichen Sprachgefühl als ein ,Privatgebrauch' bezeichnet — dürfe also ,Öfters sehr enge eingeschränkt sein'. Dem steht der Vernunftgebrauch des Beamten gegenüber, sofern er als Forscher und Gelehrter vor das Forum der Öffentlichkeit tritt. Als solcher hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf, seine Meinung zu sagen und das Publikum durch freimütige Kritik für Verbesserungen reif zu machen. In seinem publizistischen Wirken steht der Beamte gleichsam in eines höheren Herrn Pflicht, er gehört der , Weltbürgergesellschaft' an. Bei aller theologischen Unbefangenheit ist sich Kant von vorn- herein darüber klar, daß der Konflikt zwischen dem ,Eecht der Aufklärung' und der ,Erfüllung der Amtspflichten' 2) den prote- stantischen Geistlichen mit besonderer Schärfe trifft. Nicht als ob der Zwiespalt zwischen ,Person' und ,Amt', das böse Erbe der lutherischen Ethik 3) , an irgend eine Berufskategorie gebunden 1) Vgl. Bauch, B.: Vom Begriff der Nation in Kantstudien 21 (1017) 150f. 2) Kuno Fischer a. a. 0. S. 243. 3) T r o e 1 1 s c h , E. : Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. A. u. d. T. Ges. Schriften I (1912), 500 f. 8 Gisbert Beyerhaus, wäre. Aber für keinen Diener der öffentlichen Ordnung war beides, Lehrautorität und Verfassungsnorm, gleich schwankend geworden wie für den sog. geistlichen , Vormund des Volkes'. Und während die Juristen gerade jetzt an dem , Allgemeinen Preußischen Land- recht' (Erster Teil 1784) einen Führer fanden, welcher eins war mit dem Geist der Zeit, sahen sich die protestantischen Kirchen- lehrer noch immer auf die ehrwürdigen .Denkmäler ihrer Glaubens- freiheit' *) vereidigt. Der Vorstoß der Lüdke und Büsching (1767 und 1770) zur offiziellen Abschaffung der symbolischen Bücher hatte bekanntlich mit einer Niederlage der Radikalen geendet2). Aber der Kampf selbst war noch längst nicht abgeblasen! Eine weitausgreifende Publizistik verstand es, ihn mit geistigen Waffen weiterzuführen und in die kirchlichen Körperschaften, ja in die Gemeinden zu tragen. Am Krefelder Eeligionsprozeß (1775 — 1777) sehen wir nur allzu klar, wie jede Heterodoxie kirchenpolitisch unvermeid- lich fortschreiten mußte zum Angriff auf dies Schibboleth des alten Glaubens 3). Wir begreifen aber auch, was es damals be- deutete, wenn der ,Philosoph des Protestantismus' das amtliche Wirken des Pfarrers von der vertraglichen Verpflichtung auf die symbolischen Bücher abhängig machte ; wenn er den Diener am Wort auf die bestimmte theologische Fassung festnageln wollte, welche die einzelnen Glaubenslehren in der mehr oder weniger zufälligen Kodifizierung des territorialen Kirchenregiments, in foro humano gefunden haben. Eine eidliche Verpflichtung auf die Unveränderlichkeit be- stimmter Glaubensstatuten ist darin freilich nicht einbeschlossen. Im Gegenteil ! Ein solcher Kontrakt käme dem Verzicht auf jede weitere Aufklärung gleich. Ein Verbrechen wider die mensch- liche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung ja gerade im Fort- schreiten besteht! Ein derartiger Entschluß, dessen Ergebnis so- fort null und nichtig wäre, kann daher weder von einer Kirchen- 1) Vgl. [Brück, Engelbert vom]: Etwas über den Werth der Symbolen zur Beförderung der Toleranz . . . Deutschland [= Frankfurt a. M. : Fleischer] 1777, 8. 12. 2) Vgl. Frank a. a. 0. III, 123. Eine kritische Verarbeitung der weit- schichtigen Streitschriftenliteratur wäre dringend wünschenswert. 3) Sie hierüber meine in Vorbereitung befindliche Publikation ,Quellen zur Geschichte der Aufklärung am Rhein im 18. Jahrhundert'. Bd. 1 : Die weltlichen Territorien. Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 9 Versammlung geleistet, noch von den weltlichen Machthabern ge- fordert werden — selbst in der Form von Reichstagen und feier- lichsten Friedensschlüssen nicht! Dessen ungeachtet bleibt die formaljuristische Bindung auf die symbolischen Bücher bestehen. Oder war es ein Weg ins Freie, wenn Kant dem einzelnen Geistlichen anheimstellte, sich mit der kaum verhüllten reservatio mentalis zu trösten : im Amt wirke er nun einmal als .Geschäftsträger der Kirche', der nicht seine Über- zeugung, sondern 'nach der Vorschrift und im Namen eines andern' lehre? War es noch vereinbar mit den Pflichten intellektueller Redlichkeit — sogar im Sinn des 18. Jahrhunderts — , wenn Kant den Kompromiß empfahl: selbst Glaubenssatz ungen, die er ,nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde', ließen sich amtlich sehr wohl vortragen, 'weil es doch nicht ganz unmöglich' wäre, ,daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber nichts der inneren Religion Widersprechendes darin angetroffen wird' ? Den Weisen von Königsberg, den Kritiker und Befreier, auf einmal als Bundesgenossen eines J. R. A. Piderit, als Wegbereiter eines Wöllner zu sehen, wirkt peinlich und befremdend zugleich. Letzteres um so mehr, als die ,Kr. d. pr. V.' (1788) speziell die Abhandlung ,Über den Gemeinspruch' (1793) jede Unterscheidung von Theorie und Praxis auf ethischem Gebiet aus den Angeln heben sollte. Und wenn auch Wöllner sein polizeistaatliches Pro- gramm ganz unabhängig von unserm Aufsatze entwickelt haben mag1), welche seltsame Paradoxie, um in Kants Sprache zu reden, daß das vornehmste Opfer der Reaktion den Berliner Glaubens- zuchtmeistern so gefährliche Waffen und Argumente geliefert hat ! Es ist also keine müssige Parallelenjägerei, wenn wir hier einmal nach den Quellen fragen und zu den tiefer wurzelnden Erfahrungen des Lebens hinabsteigen. Die geistige Entwicklung Königsbergs bis zum Jahre 1763 ist uns von Benno Erdmann2) ebenso eindringend wie glänzend ge- schildert worden. Der Einfluß des Pietismus auf Kants Auffassung des religiösen Lebens — bis in den Gegensatz von ,Kirchentum 1) Eine Abhängigkeit des Wöllnerschen Religionsediktes § 8 von Kants ,Be- antwortung' ist m. E. nicTit anzunehmen. Ähnlichkeiten der Denkweise liegen freilich vor. Aber sie lassen sich gerade so gut daraus erklären, daß gewisse Grundanschauungen durch die Verteidiger der Symbole, insbes. die Kirchenjuristen zur Scheidemünze geworden waren. 2) Martin Knutzen und seine Zeit. Leipz. 1876. 10 Gisbert Beyerhaus, und Pfaffentum' hinein — steht hiernach außer Zweifel. Ebenso wenig darf man aber die Regungen aufklärerischer Art übersehen, die dem Nährboden der preußischen Hauptstadt entstammen. Das hohe Lied eines pantheistischen Rationalismus. Chr. Gabr. Fischers , Vernünftige Gedanken von der Natur . . .' (1743) J) , verhallten freilich wie die Stimme eines Predigers in der Wüste in der noch immer rein pietistischen Stadt. Um so lebhafter sollten dafür zwei Religionsprozesse, dreißig Jahre später, die Macht des geist- lichen Despotismus wie die Pflichten der Staatsaufklärung Kant zum Bewußtsein bringen. Der erste, 1775, ist an den Namen seines theologischen Kollegen Johann August Starck2) geknüpft; der zweite, 1783, an den des bekannten Gielsdorfer Pfarrers Joh. Heinrich Schulz 3), dessen 'Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen ohne Unterschied der Religion' von Kant, im ,Räsonnirenden Bücherverzeichnis' gleichen Jahres, einer zwar kri- tischen, aber höchst wohlwollenden Besprechung gewürdigt worden war. Der Gegenstand der Anklage kann hier im einzelnen nicht geschildert werden. Es genügt festzustellen, daß beide Male re- ligionsgeschichtliche bezw. theologisch- spekulative Sätze das Konsi- storium zum Einschreiten veranlaßt haben: im Eall Starck der Angriff auf den religiösen Monopolgedanken des Judentums und das Bekenntnis zu einem religiös-universalen Theismus; im Fall Schulz die Annahme eines fatalistischen Determinismus. Um so wichtiger sind uns dagegen die lapidaren Reskripte, mit denen der Freiherr von Zedlitz der Verfolgungssucht der Orthodoxie die Spitze brach. Der Chef des geistlichen Departements, Kants glühender Verehrer, war offenbar ganz erfüllt von der Gewalt der Entdeckung, die einst in Semler — bei jenem denkwürdigen Tisch- gespräch 4) mit dem Kanzler von Wolf und Voltaire — aufgeblitzt war. Denn er plante nichts Geringeres als jene wissenschaftlich fließende Abgrenzung von Religion und Theologie zur praktischen Norm der geistlichen Amtsführung zu erheben. Und so fällte er beide Male ein fast gleich lautendes Urteil : als Beamter habe der Geistliche zu lehren, was ,zum gemeinen christlichen Gebrauch 1) S. ebend. S. 41 ff. 2) Über Starcks Persönlichkeit und Schriften vgl. A. D. Biogr. 35, 465 (Tschacker t) u. Meusel: Das gelehrte Teutschland Bd. 7, 617 f. 3) Über Schulz vgl. Vorländer in Philos. Bibl. Bd. 471 (1913) S. XLVIff. 4) Vgl. Dilthey, W.: Das Erlebnis und die Dichtung. 4. Aufl. (Leipzig 1913) 104. Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 11 gehört.' In Dingen dagegen, welche die Religion nicht ausmachen, sondern das gelehrte theologische Wissen betreffen, sei er frei und habe sich allein vor der Öffentlichkeit zu verantworten. Die Auf- sicht des Konsistoriums könne sich hiernach nur darauf erstrecken, 'ob er seine Gemeinde im Guten festhalte und nicht wankend mache . . . ; auch ob sein Wandel diesem Zweck entspreche* *). Das besagte: theoretisch ein formales Festhalten an der lehramt- lichen Kontrolle des Staates als einer Schutzwehr gegen geistlichen Fanatismus; praktisch weitherzige Toleranz im Vertrauen auf die pädagogische Reife des einzelnen Pfarrers. In beidem ein getreues Spiegelbild des friderizianischen aufgeklärten Absolutismus hat die Entscheidung des Freiherrn von Zedlitz die Richtung der preußischen Kirchenpolitik bis zum Wöllnerschen Edikte bestimmt. Sie hat auch Kants Abhandlung vorangeleuchtet, die ,damit ihren offiziösen Charakter erweist. Nicht als ob sie geradezu als ,Staats- schrift' zu bezeichnen wäre wie Spinozas Politischer Traktat! Schon die leichtgeschürzte Form des Zeitungsartikels und die Rück- sicht auf ein breiteres, wenn auch gelehrtes Publikum verbieten es, die ,Beantwortung' allzu nahe an solche Parallelen heranzu- rücken. Ein offiziöses Gepräge eignet ihr gleichwohl, insofern der Verfasser die Politik des ihm eng befreundeten herrschenden Kultusministers publizistisch zu rechtfertigen unternimmt oder wenigstens zu stützen vermeint. Ich darf zum Schlüsse den Blick noch einmal auf das Ganze zurücklenken. Zunächst nach der negativen Seite. Als Kant Ende 1784 seine Beantwortung' schrieb, hat er der weitverzweigten Aufklärungsbewegung das Programm weder liefern wollen noch liefern können. Schon deshalb nicht, weil die Aufklärung in Deutschland — nur sie kommt überhaupt in Frage — bereits in 1) S. die Beilagen. Daß die dort wiedergegebenen Reskripte Kant wirklich vorgelegen haben, obwohl eine Verbreitung durch den Druck sich auf Grund der bisherigen Nachforschungen erst 1792 nachweisen läßt, steht wohl außer Zweifel. Im Fall Starck ist eine Einweihung in den Verlauf des Verfahrens bei dem engen Zusammenhang des akademischen Lehrkörpers ohne weiteres wahrscheinlich. Kants Interesse an der Neubesetzung der ,vornehmsten geistlichen Stelle im Lande' er- hellt aus seinem Briefe an Campe (1777 Okt. 31), W. W. Akad. Ausg. Bd. 10, 202. Im Fall Schulz dagegen dürfte Joh. Erich Biester, der Sekretär des Freiherrn von Zedlitz, die Orientierung besorgt haben. Außerdem wäre an eine Übermitt- lung durch Reisende zu denken, die wie der junge Ettner die Beziehung zwischen Berlin und Königsberg hergestellt haben. 12 Giaberl I» eye rhu u b . ihr ,allerssch waches und lebensfeindliches Stadium' ') getreten war, ja aus mancher Wunde blutend am Boden lag. Auch die Ver- legenheitsformel, die Karl Vorländer2) prägt, ist in ihrer Un- klarheit nur geeignet, den Tatbestand zu verwirren. Was in aller Welt soll es heißen, Kants Beantwortung' habe ,dem nach ihr benannten Zeitalter gewissermaßen nachträglich das Pro- gramm gemacht'? Selbst wenn es in der Jugend der Bewegung zu einer Formulierung der Kriegsziele nicht gekommen wäre, wie hätte ein posthumes Programm die Geister sammeln und führen können? Sollen wir dagegen aus den angeführten Worten ledig- lich die Meinung herauslesen, das Zeitalter Friedrichs habe hier die empirisch-historische Abstraktion seines Wesens erfahren, so wäre erst recht darauf hinzuweisen, daß Kants nachträgliche Wesensbestimmung den klassischen Vertretern der deutschen Auf- klärung niemals als Programm gegolten hat. Es ergibt sich also, daß die Aufklärung wie jedes geschichtliche Lebensprinzip auf verschiedenem Boden verschiedene Früchte trägt. Damit wird auch die Richtung gewiesen, in der wir die bleibende positive Bedeutung der Abhandlung von 1784 zu suchen haben. Um es kurz zu formulieren : wiewohl in ihrer Tendenz gegen die Aufklärung gerichtet, bildet sie dennoch eine wertvolle, vor allem aber höchst individuelle Ausstrahlung der späten friderizia- nischen Staats auf klärung. Indem Kant den überkommenen Betriff (Durchschnittstypus: Eberhard - Mendelssohn) durch die Grundge- danken seiner noch unveröffentlichten3) Ethik (Autonomie, For- malismus) unterbaut, wird derselbe in seinem Wesen zerstört. Die Ausgestaltung zu einer ethischen , Maxime* bezeichnet eine voll- ständige Umdeutung: gewiß, einen Schutz des einzelnen vor der Verflachung der Aufklärerei, aber vor allem auch eine Sicherung des Staates gegen alle ernsthaften Folgerungen des Naturrechts. Der Appell an die heiligen Rechte der Menschheit, der in Rousseau- scher Deklamation ertönt, darf nicht darüber täuschen, daß die , staatsfreie Sphäre', um in der Sprache Jellineks zu reden, über- aus eng bemessen ist. Kein revolutionäres, kein ständisches Wider- standsrecht ! Nur eine vorsichtig verklausulierte Preßfreiheit sichert dem innerpolitischen Reformeifer seinen Schauplatz der Betätigung. 1) Vgl. Kj eilen, R.: Die Ideen von 1914 (deutsch, Leipz. 1915) 8. 2) Immanuel Kants Leben (Leipzig 1911) 119. 3) Zur Chronologie der Entstehung der ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten* vgl. Menzer a. a. 0. S. 424 Anm. 200. Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 13 So erfüllt sich an Kants ,Aufklärung' im Jahre 1784 das Wort Lagardes über die ,K,eligion' : erst nachdem sie ,gezähmt, das heißt, zum Spielzeug geworden ist, findet sie Duldung in der Welt.' Einen besonderen Prüfstein bieten die ,Religionssachen'. Wie sie schon rein äußerlich, in der Ökonomie der Darstellung, ein Drittel des Ganzen in Anspruch nehmen, so werden sie auch sach- lich zum konstitutiven Merkmal der Aufklärung gesetzt: die Un- mündigkeit auf religiösem Gebiet ist ,die schädlichste . . . und . . . entehrendste unter allen' ! Hier nimmt Kant, wie wir sahen, die kirchenpolitischen Grundsätze des Freiherrn von Zedlitz in sich auf, um darauf das ,einzige Palladium der Volksrechte' — so heißt es 1793 — zu gründen. Erst dadurch, daß Kant in seinem Syste- matisierungsbedürfnis die Kategorien des preußischen Kultus- ministers mit der Rechtsgiltigkeit der evangelischen Bekenntnis- schriften verquickt, gewinnt seine Position eine neue, fast entgegen- gesetzte Tragweite. Eine Abgrenzung, die ganz offensichtlich dazu dienen sollte, den Pfarrer als Gelehrten von der Vormund- schaft seines Konsistoriums zu befreien, wird durch Konstruktion eines Anstellnugsvertrages in eine so starre Bindung verwandelt, daß sich sofort das Bedürfnis geltend macht, sie sophistisch zu lockern. Selbst eine synodale bezw. klassikale Vertretung der Kirche ermangelt des Eechts zu einer selbständigen Umbildung des Kirchen- und Religionswesens. Sie bringe ihre ,Vorschläge vor den Thron' ! Der Monarch wird entscheiden. Auch auf reli- giösem Gebiet gilt also der Grundsatz des Absolutismus: alles für das Volk, nichts durch das Volk ! Das bedeutet praktisch den Bankrott der Aufklärung als kirchenpolitischen Faktors *). Es ist 1) Bezeichnend hierfür ist zumal die Tatsache, daß Kants Standpunkt die sog. Autonomie der Einzelgemeinde schroff verneint. Wie stark jener Gedanke z. B. im niederrheinischen Calvinismus — wahrscheinlich unter mennonitischem Einfluß — bereits zur kirchenpolitischen Forderung zugespitzt war, zeigt wiederum der mehrfach erwähnte Streit um die Geltung der Symbole in den 70 er Jahren. Auch hier läßt Kuno Fischer (a.a.O. S. 244) jede tiefere Fragestellung ver- missen, wenn er meint: Kant habe den Geistlichen ,nach protestantischer Art nicht als Organ einerWeltkirche, sondern alsLehrereinerGemeinde betrachtet' (teilweise von mir gesperrt). Soll das heißen, Kant habe in dem protest. Geistlichen ein , Organ' der Einzelgemeinde gesehen? Man kann kaum daran denken, daß Kuno Fischer Kants Auffassung vom Wesen des Geistlichen und dessen königlich preußischem Amtscharakter so völlig verkannt haben sollte. Bleibt also nur die zweite Auffassung übrig, wonach ,Lehrer einer Gemeinde' lediglich den Schauplatz des geistlichen Wirkens bezeichnen soll. Dann aber ist nicht 14 Gisbert Beyerhaus, nicht Aufgabe des Historikers, einen solchen Standpunkt zu kriti- sieren. Wir haben uns einfach abzufinden mit der Tatsache, daß Kant 1784 eine ,Politik des konservativen Fortschritts' vertrat. Das heißt: er fand — wie später Disraeli — einen ,neuen Aus- druck, der den Geist der Zeit umfaßte, aber den zerstörerischen Forderungen des Umsturzes widersprach' *). Beilagen. 1. Ministerialerlaß des Geistlichen Departements an die ostpreußische Regierung. Berlin 1776 April 11. Gedruckt in: Zur Vertheidigung des Prediger Herrn Schulz zu Gielsdorf Wilkendorf und Hirschfelde geschrieben Von dem Criminal-Rath Amelang. o. 0. 1792. S. 49 f. Das von mir benutzte Exemplar der U. B. Bonn [Sign. Ab 1890] umfaßt XXXII + 252 -f XXII +264 Seiten 8°. Fr., König etc. Euer allerunterthänigster Bericht vom 25ten Martii c. ist zu seiner Zeit hier eingelaufen, womit ihr die Vorstellung des dortigen Consistorii nebst den demselben beigelegt gewesenen und hierbei in originali zurückkommenden Anmerkungen wegen einer von dem dortigen Ober-Hofprediger D. Stark unter dem Titel: ,Hephä- stion'2) durch den Druck bekannt gemachten Schrift zu Unserer Entscheidung eingesandt habt. Eine Vorstellung, die so wie diese, mit so viel persönlichen Beleidigungen angefüllt ist, verdienet schon an sich keine Bemerkung. Wäre aber auch die ganze An- klage anders abgefaßt : so würde sie doch nicht von der Art sein, daß es der Verfügung bedürfte, die das Consistorium sich hat ein- fallen lassen in Vorschlag zu bringen. Sie betrifft theils Meinungen, die dem ,Hephästion' durch Folgerungen angedichtet worden, theils Widersprüche, die der Verfasser vor dem Publiko verantworten mag, theils Urtheile über das Maaß der Erkenntnisse der Israeliten, einzusehen, warum ein Organ der Weltkirche nicht zugleich Lehrer einer Ge- meinde sein kann. 1) Vgl. Schmitz, Oskar A. H.: Die Kunst der Politik. 3. Aufl. (München 1916) 158. 2) Hephästion. Königsberg. G. L. Härtung 1775. 2, 188 S. 8°. Eine ein- dringende Besprechung der behandelten Probleme sowie der dadurch entfesselten Polemik findet sich bei G. F. Seiler [Hrsg.]: Gemeinnützige Betrachtung der neuesten Schriften . . . Erlangen 1776. Beylage. St. 3. S. 233—248. Kants Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 15 welche mehr für das gelehrte theologische "Wissen, als zum ge- meinen christlichen Gebrauch gehören. Es wird dem Doktor Stark zugetrauet, daß er beides in seinen öffentlichen Religionsvorträgen werde zu unterscheiden wissen, und so thut er seinem Amte als Prediger genüge. Ihr habt hiernach das dortige Consistorium zu bescheiden ... Berlin, den Uten April 1776. Ad Mandatum v. Zedlitz. 2. Ministerialerlaß des Geistlichen Departements an das ostpreußische Consistorium. Berlin 1776 April 11 Gedruckt a. a. 0. S. 50 f. Friedrich, König etc. Aus Eurer bei Unserer ostpreußischen Regierung eingereichten und von dieser abschriftlich anhero eingesandten Vorstellung vom 14. Nov. p.a) haben Wir mit Befremden ersehen, daß ihr darin euch mit so vieler Heftigkeit gegen den dortigen Ober-Hofprediger Doktor Stark, in Ansehung der von ihm unter dem Titel: He- phästion herausgegebenen Schrift ausgedrückt habt, ohne zu be- denken, daß das sich durchaus nicht mit eurem vorgegebenen Eifer für die Bewahrung der reinen Lehre reimet b). Ihr werdet nun zwar über die in eurer Vorstellung enthaltenen Sachen selbst von Unserer obgedachten Regierung beschieden werden. Wir können euch aber Unser Misfallen über euer geäußertes Betragen nicht verhalten, und wollen euch zu künftiger mehrerer Mäßigkeit und Behutsamkeit hiermit anweisen. Berlin, den Uten April 76. Ad Mandatum t v. Zedlitz. 3. Ministerialerlaß des Geistlichen Departements an das kurmärkische Ober-Consistorium. Berlin 1783 Dezember 12. Gedruckt Amelang S. 227 f. als Beilage B. Ob die Sperrungen von Amelang als Hrsg. oder von Zedlitz herrühren, ließe sich erst nach Prüfung des Originals entscheiden. Friedrich, König etc. Unsern etc. Es hat der Prediger Schulz zu Grielsdorf sein neuerlich herausgegebenes Buch: »Versuch einer a) Druck: ,c'. b) Druck: ,räumet'. 16 Gisbert Beyer haus, Kants ,Programml der Aufklärung etc. Anleitung zur Sittenlehre', als den Gegenstand eures Uns nebst seinen acclusis sub dato des 4ten huj. zugekommenen Berichts, ohne alle Rücksicht auf irgend eine Religion, wie dessen Inhalt und schon der Titel besaget, geschrieben, und als Schriftsteller die wider ihn deshalb angestellte Rüge nicht verdienet, welche Wir euch daher gänzlich niederzuschlagen befehlen. Gegen das Publikum, für welches das Buch seyn soll, mag der Verfasser die darin enthaltene philosophisch- spekulativen Sätze vertheidigen, zu deren Prüfung und Beurtheilung aber Leute, die seine Gemeinde ausmachen, nicht aufgelegt sind, auch keinen Beruf haben. Diese aber im Guten festzuerhalten und nicht wankend zu machen, auch ob des Endes ihr Seelsorger, als Lehrer der Religion, seine Gemeinde zu gutge- sinnten Menschen zu bilden, ihren Willen aufs Gute zu lenken, ihre Neigungen und Empfindungen zu ver- edeln sich angelegen seyn lasse, und ob sein Wandel diesem Zweck entspreche, sind die eigentlichen Dinge, worauf Ihr als ein den Predigern und Ge- meinden vorgesetztes geistliches Collegium zu sehen habt. Es würde dagegen, insofern in Ansehung alles dessen dem . . . Schulz kein Vorwurf gemacht, vielmehr daß er es an anderm Keinem ermangeln lasse allgemein versichert wird, eine jetzige Untersuchung über das Wissen in Dingen, welche die Re- ligion nicht ausmachen, das Gute, das derselbe bisher in seinen Gemeinden gestiftet hat stören , und findet sich überhaupt keine Veranlassung, hier andere Grundsätze anzunehmen, als nach welchen schon ehemals, bei Gelegenheit des vom Hofprediger Stark zu Königsberg in Anno 1775 herausgegebenen , Hephästion', eine gleichmäßige Äußerung Unseres ostpreußischen Consistorii als Enre jetzige auf eben diese Art ex concluso Unseres Ober- Consi- storii entschieden worden. Dem Prediger Schulz lassen Wir übrigens seine unschickliche Schreibart gegen Euch verweisen . . . Berlin, den 12ten Dezember 1783. A.S.L. Zedlitz. Die Methodik des pädagogischen Denkens. Von Dr. Theodor Litt, Professor an der Universität Leipzig. Obwohl seit einiger Zeit die Einwände gegen die Möglichkeit der Pädagogik als einer wissenschaftlich auszubauenden Theorie seltener geworden sind und die wachsende, an vielen Stellen zweifel- los erfolgreiche Betriebsamkeit innerhalb ihres Problemkreises die gegen sie erhobenen Bedenken am wirksamsten zu entkräften ge- eignet ist, so erscheint doch die Lage der pädagogischen Wissen- schaft, unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, auch heute noch als sehr zweifelhaft und bedroht. Bis zum Augenblick ist man nämlich fern von jeder Übereinstimmung darüber, welcher Art die Methodik des Denkens sei, die den wissenschaftlichen Cha- rakter der Pädagogik ausmache. Sicherlich sind auch im Bereich anderer Disziplinen, deren Wissenschaftlichkeit über jedem Zweifel steht, methodische Differenzen nichts weniger als selten, aber hier bewegen sich doch die Auseinandersetzungen immer auf dem Boden gewisser allseitig anerkannter Voraussetzungen: hingegen in dem pädagogischen Methodenstreit geht der Riß bis in die letzten Fun- damente hinein. Die Verfahrungsweisen, die gegenwärtig in An- wendung kommen, wo man sich um wissenschaftliche Klärung pä- dagogischer Fragen bemüht, sind vielfach so grundverschieden, daß die Vertreter der einen Forschungsrichtung denen der anderen geradezu die Wissenschaftlichkeit glauben abstreiten zu müssen. So lange aber die Dinge so liegen, wird die Pädagogik auf der einen Seite den Einbrüchen eines wilden Dilettantismus, auf der anderen Seite den Anfechtungen ihrer wissenschaftlichen Legiti- mität immer wieder ausgesetzt sein. Die folgenden Ausführungen möchten einer Klärung der methodischen Grundvoraussetzungen dienen1); sie werden nur dann einer Lösung des Problems näher 1) Anregungen verdankt der Verfasser insbesondere folgenden Arbeiten: M. Frischeisen-Köhler, Pädagogik und Ethik (Archiv für Pädagogik, I, 1, KantstDdicn. XXVI. 2 18 Theodor Litt, führen, wenn es gelingt, in den Eigentümlichkeiten des pädago- gischen Denkens selbst die Gründe aufzudecken, die es bis jetzt zur Aufhellung des methodischen Charakters nicht haben kommen lassen: ohne diesen Nachweis würde immer wieder der Zweifel Nahrung finden, ob denn nicht die bis heute bestehende Unklarheit den Beweis dafür bilde, daß in Wahrheit eine Durchbildung des pädagogischen Denkens im Sinne echter wissenschaftlicher Me- thodik unmöglich sei. Wir gehen aus von den Grundtatsachen, auf die immer wieder hingewiesen zu werden pflegt, wenn die Möglichkeit einer päda- gogischen Wissenschaft in Frage gestellt wird. Man beruft sich einmal auf die Irrationalität alles in vollem Sinne des Wortes erzieherischen Denkens und Wirkens, auf den intuitiven Cha- rakter des Denkprozesses, in dem der Erzieher sich das Wesen des zu Erziehenden erschließe, auf das persönliche Moment, auf dem die Echtheit und Tiefe des erzieherischen Einflusses be- ruhe; in alledem handle es sich um eine Auswirkung des Lebens, die in ihrer unberechenbaren Einmaligkeit der wissenschaftlichen Methodik unzugänglich sei. Erziehung sei nun einmal, so heißt es dann mit Vorliebe, eine Kunst, und diese Kunst sei durch wissenschaftliche Belehrung nicht zu fördern, geschweige denn zu ersetzen. Auf der anderen Seite wird betont, daß an jeder päda- gogischen Gedankenbildung ihre Abhängigkeit von der besonderen kulturellen Umwelt, ihre historische Bedingtheit unschwer nachzuweisen sei, und dieser Zusammenhang müsse den Aufstel- lungen des pädagogischen Denkens für immer den Geltungswert der Wissenschaft, als welche einer dem Augenblick überlegenen Wahrheit zustrebe, entziehen. Historische und persönliche Erfahrung machen es uns zweifel- los unmöglich, die Sachverhalte, die den beiden Einwänden zu Grunde liegen, zu bestreiten. Nach einem natürlichen System' der Pädagogik zu suchen kommt ein Geschlecht, das durch die Schule des historischen Denkens gegangen ist, nicht mehr in Ver- suchung. Fraglich bleibt nur, ob, wer diese Sachverhalte aner- kennt, sich auch der Folgerung anschließen muß, daß mit ihnen die Möglichkeit einer pädagogischen Theorie aufgehoben sei. Vor- sichtiger ist unfraglich die Folgerung, daß durch jene Feststel- * S. 21); Über die Grenzen der Erziehung (Zeitschr. f. pädag. Psychologie -1912, S. 507); Philosophie und Pädagogik (Kantstudien 1917, S. 27). R. Hönigs- wald, Über die Grundlagen der Pädagogik, München 1918. Die Methodik des pädagogischen Denkens. 19 lungen nicht sowohl jeder Theorie, als vielmehr nur einer solchen Theorie der Boden entzogen sei, in der für jene Tatbestände kein Baum wäre. Offen bleibt dagegen die Frage, ob nicht eine pä- dagogische Theorie denkbar ist, die den Zusammenhang der päda- gogischen Gedankenbildung mit dem irrationalen Kern der Per- sönlichkeit und der kulturellen Gesamtlage als wesentliches Moment umfaßt und in methodischer Besonnenheit in das Ganze ihrer Über- legungen einsetzt. Daß solches wenigstens denkbar ist, lehrt schon ein Blick auf die menschliche Betätigungsform, der jene beliebte Aus drucks weise das erzieherische Wirken ohne weiteres gleichsetzt: die Kunst. Das philosophische, psychologische, historische Denken hat sich durch den irrationalen Charakter des künstlerischen Schaffens nicht abhalten lassen, sich um eine Theorie der ästhetischen Werte, des ästhetischen Verhaltens, der ästhetischen Gesamtentwicklung zu bemühen. Die Kulturerscheinung Kunst ist seit langem Gegen- stand einer denkenden Bearbeitung, der die Wissenschaftlichkeit abzustreiten niemandem in den Sinn kommt. Freilich wird gegen den Versuch, die Zulässigkeit einer pädagogischen Theorie durch diese Parallele zu erweisen, sofort eingewandt werden, daß diese der Kunst zugeordneten Disziplinen zu ihrem Gegenstand in einem ganz anderen Verhältnis ständen als die Pädagogik zu dem ihrigen : sie seien der Kunst als einer Tatsache, einem Phänomen der Kultur Wirklichkeit zugewandt; ihr theoretischer Charakter liege darin begründet, daß sie lediglich die Kunst, so wie sie von ihnen in der kulturellen Erfahrung vorgefunden werde, zu deuten und zu verstehen bestrebt seien; ferne liege ihnen dagegen das Unter- fangen, die Kunst als Praxis auf Grund ihrer Einsichten zu normieren, zu leiten, wie denn ja auch der künstlerisch Produzie- rende seinerseits jede Beeinflussung durch eine ästhetische Theorie gerade im Interesse der Unmittelbarkeit seines Schaffens ablehnen müsse. In gleichem Umfange , d. h. als theoretische Erforschung eines tatsächlich bestehenden Kulturphänomens sei auch Pädagogik unanfechtbar: aber in Wahrheit wolle ja die Pä- dagogik als Wissenschaft nicht nur dies, sie wolle viel mehr leisten, nämlich auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse in die Praxis der Erziehung hineinwirken; sie wolle der Tätigkeit des Erziehers selbst Lehren erteilen, Wege weisen, Ziele setzen, und das bedeute in Wahrheit dasselbe, wie wenn die Ästhetik dem Künstler in seinem Schaffen Ratschläge aufdrängen wollte. 2* 20 Theodor Litt, In der Tat trifft dieser Einwand den Nerv des pädagogischen Denkens. Zwar hat anch die Pädagogik einen bestimmten Kreis von vorgefundenen Tatsachen der Wirklichkeit zum Gegenstand, eben die Wirklichkeit derjenigen Vorgänge und Leistungen, die den Inbegriff der Erziehung ausmachen, aber sie betrachtet diese Erscheinungen nicht lediglich, um sie so, wie sie ihr vorliegen, zu verstehen und zu deuten, sondern um aus ihrer gedanklichen Verarbeitung Nutzen zu ziehen für die Praxis der Erziehung selbst. Sie will und soll sein die Theorie eines Handelns. Diese Seite ihres Verfahrens wird durch den Hinweis auf die theo- retische Bearbeitung der Kunst nicht legitimiert. Im Gegenteil: ist die erzieherische Praxis eine Kunst, so wird der Erzieher mit demselben Recht sich das Hineinreden einer Theorie verbitten, mit dem der Künstler die Katschläge der Ästhetik von sich weisen würde. Es hängt also alles weitere ab von der Frage, ob Erziehung im Vollsinne des Wortes eine Kunst „ist". Nun gehört die Pa- rallele von künstlerischem und erzieherischem Tun zu denjenigen, die wertvolle Aufschlüsse für die verglichenen Objekte spenden, die aber immer dann in die Irre führen müssen, wenn der Ver- gleich zur Gleichsetzung wird. Wirkliche Förderung bringt ein solcher Vergleich immer nur dann, wenn mit voller Klarheit die Grenzen bestimmt werden, bis zu denen er berechtigt ist, jenseits deren er ohne unzulässige Vermischung der verglichenen Dinge nicht durchgeführt werden kann. Was macht das Tun des Erziehers demjenigen des Künstlers vergleichbar? Beide haben, allgemein gesprochen, einen „Stoff" vor sich, den sie „bearbeiten" mit der Absicht, ihm eine gewisse „Form" zu geben1). Nun setzt aber das formende Tun des Erziehers wie das des Künstlers ein bestimmtes Wissen um die Eigenart des zu bearbeitenden Stoffs 1) Es sei nicht unerwähnt, daß dem in diesem Zusammenhang unentbehr- lichen Begriffspaar „Stoff-Form" wieder ein Vergleich zu Grunde liegt, dem gegen- über die gleiche Vorsicht am Platz ist, wie gegenüber der Parallele Kunst -Er- ziehung. Der Begriff der „Form" ist in dieser Verwendung bestimmt, die innere Einheit in der Mannigfaltigkeit zum Ausdruck zu bringen, die das „Werk" des Erziehers wie das des Künstlers aufweisen soll. Es wird sich weiter unten zeigen, daß und wie sich dieser Begriff im Bereich der erzieherischen Wirk- lichkeit modifiziert. Hier muß er einstweilen vorausgesetzt werden, damit es über- haupt möglich sei, das relative Recht der Parallele zwischen Kunst und Erziehung zw bestimmen. Die Methodik des pädagogischen Denkens. 21 voraus. Insofern ist zweifellos ein Erkenntnismäßiges, ein im weitesten Sinne^ ,Theoretisches' auch auf der Seite des künstle- rischen Schaffens im Spiele. Welehen Umfang und welche Bedeu- tung hat aber nun dieses "Wissen beim Künstler einerseits, beim Erzieher andererseits? Der Künstler bedarf desjenigen Wissens um die Beschaffenheit seines Stoffes, das ihm die technischen Möglichkeiten der Stoff bearbeitung erschließt : innerhalb dieser ge- wußten Möglichkeiten aber ist sein Formwille frei und unbeschränkt. Der Marmorblock, die Leinwand, die Farbe, das Sprachmaterial u. s. f. — alles dieses schließt natürlich bestimmte unabänderliche Bedin- gungen des künstlerischen Schaffens in sich, mit denen der Produ- zierende vertraut sein muß; aber es enthält in seiner gegebenen Beschaffenheit keinen Hinweis auf die Form, die durch die künst- lerische Tat an und in ihm sich realisieren wird. Und das ist ja auch nicht anders möglich: es ist ja gar nicht der Stoff in seiner vorgefundenen Beschaffenheit, als Bestandteil der Wirklichkeit, dem das Bemühen des Künstlers zugewandt ist, sondern diesen Stoff gilt es gerade der Wirklichkeitssphäre, die ihn zunächst ein- schließt, zu entheben und durch die künstlerische Form zum Bestand- teil einer Welt des schönen Scheins zu läutern; diejenigen Bestimmt- heiten, die ihn zum Grlied dieser Welt machen, sind gerade nicht diejenigen, die ihm als einem Bestandteil der realen Welt zukommen. Darum sind hier Kenntnis des Stoffs und Bestimmung der Form im wesentlichen unabhängig voneinander, sie liegen in zwei ver- schiedenen Dimensionen des Denkens. Wie steht es aber auf der Seite des pädagogischen Handelns? Auch hier ist eine Kenntnis der Beschaffenheit des „Stoffs" im Hinblick auf die technischen Bedingungen notwendig, unter denen das pädagogische Handeln von außen her ansetzt — aber diese Kenntnis würde nicht im ent- ferntesten ausreichen, damit es überhaupt zu einem erzieherischen Handeln komme. Denn die Form, zu der das pädagogische Ob- jekt durch das erzieherische Wirken geführt werden soll, wird nicht unabhängig von dessen realer Beschaffenheit rein von außen her bestimmt, sondern sie muß in ihm selbst zwar nicht gegeben, aber doch angelegt sein; die Disposition zu ihr gehört zu den- jenigen Bestimmtheiten, die dem „Stoff* schon an sich, vor dem Einsetzen der erzieherischen Arbeit, zukommen, und nur durch Anknüpfen an diese inneren Bestimmtheiten kann das erzieherische Handeln die erstrebte Form realisieren. Verbleibt doch auch hier der Stoff, ungleich dem vom Künstler gestalteten, in der Wirk- 22 Theodor Litt, lichkeitssphäre, der er von Anbeginn angehörte, ja, das was das pädagogische Handeln aus ihm macht, das ist eben seine eigene höchste Wirklichkeit. Darin ist es begründet, daß dasjenige Wissen um die Beschaffenheit des „Stoffs", dessen das erzieherische Tun bedarf, nicht etwa nur auf die äußerlich technischen Möglich- keiten Bezug hat, sondern vor allem auch diejenigen Bestimmt- heiten des Stoffs einschließt, die auf die Möglichkeit der Formung hindeuten, Kenntnis des Stoffs und Bestimmung der Form sind hier ganz und gar aneinander gebunden, sie müssen sich recht eigentlich durchdringen. Also hat das Wissen um die Eigenart des Stoffs auf der Seite des Erziehers einen ganz anderen Um- fang und eine ganz andere Bedeutung als auf der Seite des Künst- lers. Soll ihm die Formung seines Stoffs gelingen, so muß er mehr von der qualitativen Beschaffenheit dieses Stoffs wissen, muß er sich sorglicher dieser Beschaffenheit anpassen, als dem Künstler gegenüber seinem Stoff zugemutet wird. Eben deshalb hat auch die Rede von „Stoff", „Material", „Objekt", die ganz unanfechtbar ist, wo künstlerisches Schaffen in Frage steht, etwas Anstößiges, sobald sie auf erzieherisches Wirken angewandt wird: sie nimmt dem Gegenstand der Erziehungsarbeit das Eigenrecht, die innere Bestimmung, mit dem er dem erzieherischen Bemühen gegenüber- steht, und gibt dem gestaltenden Willen des erziehenden Subjekts zu viel. Die damit aufgewiesene wesenhafte Unterschiedenheit des er- zieherischen und des künstlerischen Tuns läßt offenbar werden, aus welchem Grunde die Funktion der Theorie rim Bereiche der erzieherischen Wirklichkeit eine andere ist und sein muß, als in der Sphäre des künstlerischen Schaffens. Der Erzieher hat, um wirken zu können, mehr „Theorie" nötig als der Künstler; die Er- kenntnis ist für ihn nicht die nachträgliche Durchleuchtung eines Tuns, das ohne sie eben so gut, ja vielleicht noch besser sein Werk vollbrachte, sondern ein unentbehrliches Moment in seinem Wirken selbst. Und wenn die Theorie der Erziehung weit über solche Fragestellungen hinausgeht, die denjenigen der ästhetischen Theorie vergleichbar wären, so gibt sie damit nicht einem unberechtigten Ausdehnungsbedürfnis Folge, sondern sie gehorcht den immanenten Notwendigkeiten der Wirklichkeitssphäre, die ihren Gegenstand bildet. Pädagogik muß immer wieder darnach streben, Theorie eines Handelns zu werden, weil das Stück Lebenspraxis, dem sie zugewandt ist, nach einer solchen Theorie verlangt — wie umge- Die Methode des pädagogischen Denkens. 23 kehrt die Theorie der Kunst kaum in Versuchung kommt, von sich aus eine entsprechende Funktion zu usurpieren, weil das von ihr erforschte Stück Kulturwirklichkeit nicht eine solche Leistung von ihr erwartet. Wer also, um das Bemühen um eine Theorie der Erziehung als überflüssig, wo nicht gar dem erzieherischen Wirken ab- träglich zu erweisen, sich auf das theoriefreie Schaffen des Künst- lers beruft, der will zwei Wirkensformen identifizieren, die sich gerade in ihrem Verhältnis zur Erkenntnis wesentlich von ein- ander unterscheiden. Aber freilich ist damit, daß das Bedürfnis nach einer theoretischen Grundlegung in irgend einem Bezirk des Lebens sich regt, noch nichts darüber ausgemacht, ob dieses Be- dürfnis mit wissenschaftlichen Mitteln zu befriedigen möglich sei. Rückt die erzieherische Praxis im Licht unserer Erwägungen merk- lich von der künstlerischen Wirkenssphäre ab, so tritt sie damit nicht notwendig in den Herrschaftsbereich des wissenschaftlichen Denkens ein. Nicht als ob sie deshalb, weil sie Theorie eines Han- delns ist, notwendig aus dieser Sphäre ausgeschlossen wäre ! Denn das System der Wissenschaften schließt eine Reihe von Disziplinen ein, deren methodische Eigenart eben darin begründet ist, daß sie als Theorie einem Handeln zu dienen bestimmt sind. Es sind die angewandten Wissenschaften. Hat es sich gezeigt, daß das erzieherische Tun nach gewissen Erkenntnisgrundlagen verlangt, und ist das Bedürfnis rege geworden, diese Grundlagen im Sinne wirklicher Wissenschaft durchzubilden, so ist es ein naheliegender Gedanke, daß der damit erstrebten Theorie ein Platz inmitten der „angewandten Wissenschaften" gebühre, und es würde, wenn sie wirklich in ihren Kreis gehörte, der Zweifel an der Wissenschaft- lichkeit dieser Theorie verstummen müssen. In der Tat ist denn auch in mannigfachen Formulierungen der pädagogischen Theorie dieser methodische Charakter zugesprochen worden, hat man sie als „angewandte Psychologie", „angewandte Philosophie", „ange- wandte Ethik" u. ä. bezeichnet. Es erhellt, daß, falls diese Auf- fassung im Rechte wäre, gerade diejenigen Momente des erziehe- rischen Wirkens, auf die der Vergleich von Kunst und Erziehung den Nachdruck legte, als nebensächlich oder gar entbehrlich in den Hintergrund treten würden. Es sind zwei polar entgegenge- setzte Deutungen des Erziehungs Vorgangs, die sich hier gegenüber- 24 Theodor Litt, stehen. Wir unsererseits werden, wie wir die Gleichsetzung von Erziehung und Kunst nicht unbesehen hinnahmen, auch diese me- thodische Festlegung auf ihren Rechtsgrund zu prüfen haben. Damit dies möglich sei, müssen wir die Struktur der „ange- wandten Wissenschaft" in allgemeiner Form zu bestimmen suchen. An welcher Stelle tritt uns diese Struktur am deutlichsten vor Augen? Das „Handeln" des Menschen, dem die angewandten Wissenschaften "dienen sollen, läßt sich nach verschiedenen Ge- sichtspunkten klassifizieren. Da wir es hier mit der Erziehung zu tun haben, mit einem Handeln, das seinem Wesen nach ge- richtet ist auf den Zusammenhang der menschlich-gesellschaftlich- geschichtlichen, d.i. der geistigen Welt, so sehen wir uns durch den sachlichen Zusammenhang hingewiesen auf diejenige Einteilung, die .dieser kulturellen Wirklichkeit gegenüberstellt die „ natürliche u Welt (wobei das erkenntnistheoretische Recht dieser Scheidung für uns hier nicht in Frage steht). So dürfen wir auch scheiden ein menschliches Handeln, das sich auf die „Natur" in diesem bestimmten Sinne, und ein solches, das sich auf die „menschliche" Welt in dem entsprechenden Sinne richtet. Und wir werden die Frage, ob und in welchem Umfange das letztere auf eine „ange- wandte Wissenschaft" begründet werden könne, am sichersten entscheiden können, wenn wir zunächst im Bereich des ersteren über das Verhältnis zwischen menschlichem Handeln und wissen- schaftlicher Grundlegung Klarheit gewonnen haben. Denn eben hier prägt sich die methodische Struktur dieses Verhältnisses in durchsichtigster Klarheit aus. Bekanntlich bezeichnen wir das menschliche Handeln im Be- reich der äußeren Natur, das sich auf wissenschaftliche Erkenntnis stützt, als Technik. Jede einzelne Technik hat zur Grundlage einen Komplex von allgemeinen Sätzen, nach denen sich das prak- tische Vorgehen richtet: die Technologie des fraglichen Ge- biets. Diese Sätze sind ihrerseits gegründet auf wissenschaftliche Tatsachenforschung; sie fußen auf den Ergebnissen der Natur- wissenschaft. Zu jeder Technologie gehört eine rein theore- tische „Grundwissenschaft", wie wir sie der Kürze halber nennen wollen, bzw. eine Mehrheit solcher Grundwissenschaften. Es werden also in der Technologie die Ergebnisse des naturwissen- schaftlichen Forschens „angewandt", d. h. unter dem Gesichts- punkt des durch die betreffende Technik zu realisierenden Zwecks aus dem Ganzen wissenschaftlicher Erkenntnis ausgelesen und zu- Die Methodik des pädagogischen Denkens. 25 sammengestellt. So steht die Leistung jeder Technologie unter der Herrschaft des Zweckbegriffs: ihre Aufgabe ist es, zu einem gegebenen Zweck die Mittel zu bestimmen. Wie kommt es nun, daß diese Aufgabe so unmittelbar durch „Anwendung" wissen- schaftlicher Forschungsergebnisse gelöst werden kann? Das Ver-. hältnis Mittel - Zweck , das die Struktur jeder Technologie be- stimmt, ist seinem sachlichen Gehalt nach kein anderes als das Verhältnis Ursache - Wirkung , das allen Aussagen der „Grund- wissenschaften" zu Grunde liegt. Daß a ein geeignetes Mittel ist, den Zweck b zu realisieren, ergibt sich aus der Erfahrung, daß die Ursache a regelmäßig die Wirkung b nach sich zieht. Jede Mittelbestimmung fußt auf der Feststellung von Kausalzu- sammenhängen in Gesetzes form. Solche Zusammenhänge mit der Sicherheit zu ermitteln, deren Ausdruck eben das Gesetz ist, wird erst da möglich, wo der Mensch die gegebene komplexe Natur- wirklichkeit in eine Mannigfaltigkeit letzter Elementarstoffe und Elementar kräfte auflöst. Sache der Technologie ist es nur, zu untersuchen, welche unter den ermittelten Zusammenhängen anzuwenden sind und in welcher-Weise sie anzuwenden sind, damit der gewünschte Effekt herausspringe. Daraus ergibt sich: die technologische Denkleistung ist stets und notwendig beschränkt auf vorgefundene Stoffe, Kräfte, Eigenschaften, Verhaltungs- weisen der „Natur". Niemals kann das technische Handeln der Natur Eigenschaften und Verhaltungsweisen aufnötigen, die ihr nicht an sich schon zu eigen wären. Eben darum ist die Fest- stellung dessen, was ist, unerläßliche Vorbedingung für jedes tech- nische Vorgehen. Technik ist Anpassung an die Natur, nicht, wie so oft behauptet, ihre Überwindung; Das Überraschende tech- nischer Erfindungen und Leistungen darf uns nicht darüber hinweg- täuschen, daß hier immer wieder Vorgefundenes kombiniert, nicht etwa Niedagewesenes durch einen Schöpfungsakt hervorgerufen ist. Und wiederum ist es gerade jene Auflösung der komplexen Naturerscheinungen in letzte Elemente, auf der der Reichtum der dem technischen Denken sich bietenden Kombinationsmöglichkeiten beruht. Aber damit ist das Wesen der Technologie doch nur von einer Seite her beleuchtet. Der Erkenntnisse, die die Naturwissen- schaft der „Anwendung" zur Verfügung stellt, sind in Wahrheit unzählige. Zwischen diesen Erkenntnissen gibt es für die reine Tatsachenforschung keinen W e r t unterschied : für sie liegt alles 26 Theodor Litt, das, was die natürliche Wirklichkeit enthält, ohne jede Wertbe- tonung gleichgültig nebeneinander. Die Technologie hingegen tritt in einer ganz anderen Haltung dem Ganzen der natürlichen Wirk- lichkeit gegenüber. Für sie hat aus dem Gesamtgehalt dieser Wirklichkeit nur das ein Interesse, was zu dem durch sie zu rea- lisierenden Zweck in Beziehung steht: nach seiner Maßgabe wählt sie aus den durch die Forschung erarbeiteten Erkenntnissen aus. Wenn die rein erkennende Wissenschaft nur sagt, daß stets und überall, wenn a geschieht, b die Wirkung ist, so sagt die Techno- logie, daß, wenn b erstrebt wird, a sein soll. Wie man sieht, ist diese Accentuierung unter dem Zweckgesichtspunkt etwas, was der Natur an sich völlig fremd ist; deshalb kann, ja muß die Er- forschung dieser Natur von solchen Zweckerwägungen völlig ab- sehen. In Wahrheit entstammt ja auch der Zweck, der für die Sätze der Technologie den beherrschenden Gesichtspunkt bildet, einer ganz anderen Sphäre: er entstammt dem Inneren des Menschen ; seine lebendig empfundenen Bedürfnisse, Wünsche, Stre- bungen sind es, aus denen sich alle Zweckvorstellungen heraus- klären. Diesen Sinn hatte es, wenn wir den jeder Technologie übergeordneten Zweck als einen ihr „gegebenen" bezeichneten: sie hat diesen Zweck weder zu bestimmen noch auch zu erörtern, denn die Wirklichkeitssphäre, auf die sich ihre Sätze beziehen, ist eine durchaus äußerliche gegenüber der Erlebniswelt, der alle Zwecksetzungen angehören. Alles technische Handeln beruht auf diesem Gegenüber eines Inneren, das solche Zweckvorstellungen erzeugt, und eines Äußeren, daß das Material zur Befriedigung dieser Zwecke zur Verfügung stellt1). Und eben dieses Gegen- über bedingt und ermöglicht die reinliche Scheidung einer Denk- tätigkeit, die unter Absehen von allen Zweckerwägungen sich die reine, interesselose Erforschung der äußeren Wirklichkeit zur Aufgabe macht, und einer von Zweckvorstellungen geleiteten Be- arbeitung des so gewonnenen Erkenntnismaterials. Ja, es hat sich gezeigt, daß jene Ablösung der lediglich feststellenden Natur er- forschung von allen Zweckvorstellungen in Wahrheit den mensch- lichen Zwecken am dienlichsten ist: denn ein großer Teil der 1) Auch hier steht die erkenntnistheoretische Gültigkeit dieses Dualismus einer äußeren und einer inneren Wirklichkeitssphäre nicht zur Erörterung. Wie auch immer dieses Verhältnis im Lichte einer erkenntnistheoretischen Kritik sich abwandeln mag, hier genügt die Feststellung, daß das „technische" Denken und Handeln diese Scheidung als gegeben voraussetzt. Die Methodik des pädagogischen Denkens. 27 naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die für die Technik von un- schätzbarstem Werte waren, ist gefunden worden auf dem Weg einer forschenden Arbeit, der jeder Gedanke an praktische Ver- wertung ferne lag, und wäre vielleicht nie gefunden worden, wenn der Gedanke an mögliche Verwertung für die Denkarbeit leitend gewesen wäre. Es scheiden sich demnach im Gesamtbereich der von uns über- schauten Vorgänge von einander: eine feststellende Betätigung des Menschen, d. i. die rein erkennende Forschung, eine zweck- setzende Betätigung, das ist die gedankliche Klärung seiner lebendigen Bedürfnisse, und, zwischen beiden in der Mitte stehend, eine mittelbestimmende Betätigung, d.i. die Anwendung des dort Festgestellten im Dienste des hier Erstrebten. Der Begriff „angewandte Wissenschaft" erfüllt sich hier durch die Tatsache, daß die Technologie wissenschaftliche Sätze, die unabhängig von den für sie leitenden Zwecksetzungen gewonnen sind, als fertige Ergebnisse übernimmt und kombinierend verwertet1). Nachdem wir die Struktur der „angewandten Wissensschaft" an dem Beispiel des Handelns gegenüber der Natur geklärt haben, fragen wir uns , ob die Wirklichkeitszusammenhänge , innerhalb deren die erziehende Tätigkeit sich bewegt, eine Übertragung dieser Struktur gestatten. Daß dies der Fall sei, möchte man unbedenklich annehmen, wenn man sieht, .wie häufig sich Rede- wendungen von der Art finden, daß Pädagogik die „Technologie der Erziehung und des Unterrichts", die „Technik der Kultur", die „zur Ethik gehörige Technik" sei. Doch muß schon ein Um- stand Bedenken erwecken. Die Gegenüberstellung eines „Innen" und eines „Außen", auf der die reinliche Scheidung der verschie- denen gedanklichen Operationen beruhte, wird hier schon deshalb fraglich, weil zwar die „Zwecke" der Erziehung, genau so wie die für das technische Vorgehen maßgebenden, der inneren Welt des erlebenden Menschen entstammen, das Objekt aber, an und in dem sie zu realisieren sind, keineswegs ein „draußen" liegendes Ma- terial darstellt, vielmehr als Leibseelenwesen, als psychophysische Lebenseinheit, ebensowohl der inneren wie der äußeren Welt angehört, besser gesagt, durch seine Daseinsweise diesen Gegensatz 1) Es kann hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden, daß dieses grund- sätzliche Verhältnis sich auch dann nicht ändert, wenn derselbe Mensch es ist, der den Zweck setzt und durch Naturerforschung die Mittel feststellt. 28 Theodor Litt, übergreift, wo nicht gar in sich anfhebt. Die Dimension der Wirklichkeit, die alle Zwecksetzungen aus sich erzeugt, erstreckt sich gleichsam in das Objekt hinein und bleibt ihm nicht äußer- lich ; oder auch umgekehrt : die Dimension der Wirklichkeit, inner- halb deren der Zweck realisiert werden soll, erstreckt sich bis in das zwecksetzende Subjekt hinein. Ja, wenn man erwägt, daß Erziehung, obzwar auf das leiblich - seelische Ganze gerichtet, doch schließlich die Krönung ihres Werks im Inneren, in der Aus- gestaltung der Persönlichkeit findet, so zeigt sich, daß im vollsten Gegensatz zu dem Dualismus der Wirklichkeitssphären, der die voll- kommenste Ausgestaltung des Typus der angewandten Wissenschaft gestattet, hier umgekehrt gerade das Zusammenfallen der die Zwecke erzeugenden und der im Sinne dieser Zwecke zu „bearbeitenden" Wirklichkeitssphäre *) für die Wirkensform entscheidend ist. Dieser zunächst in grundsätzlicher Allgemeinheit ausgespro- chene Satz bewahrheitet sich, sobald wir ihn mit den wesentlichen Momenten des erzieherischen Wirkungszusammenhangs zusammen- halten. Kann angesichts dieses Wirkungszusammenhangs einmal die Vorstellung sich behaupten, daß der Praktiker der Erziehung als bloßer Techniker, der Theoretiker der Erziehung als bloßer Technologe den für sein Denken und Handeln maßgebenden Zweck von außen her, als eine für ihn über jeder Erörterung stehende Aufgabe empfange, daß er desgleichen das für ihn notwendige Wissen von der Beschaffenheit seines Objekts als zubereitete, durch ihn lediglich „anzuwendende" Ergebnisse von anderen Wissens- kreisen übernehme? Kann ferner angesichts dieses Wirkungszu- sammenhangs die Meinung Bestand haben, daß der Zögling als bloßes Material im Dienste von Zwecken, die auch für ihn von außen her gesetzt wären, bearbeitet werden müsse? Auf die letzte Frage haben frühere Ausführungen bereits die Antwort ge- geben. Dieselben inneren Formkräfte, die gegen die Gleichsetzung von Erziehung und Kunst Einspruch erhoben, weil der künstle- rische Formwille allzu souverän mit seinem Stoff schaltet, lehnen sich auch gegen eine Bearbeitung im Dienste eines von außen her- kommenden Zwecks auf; hier wie dort würde dem Eigenrecht des zu Erziehenden Gewalt angetan werden. Auch hier macht sich die Tatsache geltend, daß im Objekt selbst bestimmte Möglich- keiten angelegt sind, die in sich den Hinweis auf „ Zwecke" ent- 1) Vgl. u. S. 49. Die Methodik des pädagogischen Denkens. 29 halten; und die für die Praxis leitende Zwecksetznng kann nur dann als eine wahrhaft erzieherische gelten, wenn sie diese eigenen Zweckrichtnngen im Objekt anerkennt und für sich zum wenigsten mitbestimmend sein läßt. Allein dieser Umstand eröffnet uns schon den Blick in Wirklichkeitszusammenhänge, denen die gedank- lichen Operationen der Theorie nicht gerecht werden können, es sei denn, daß das für die Struktur der „angewandten Wissenschaft" maßgebende Schema durchbrochen wird. Denn offenbar müssen hier zwecksetzende und feststellende Betätigung in eine innere Verbindung treten, die dort nicht nur unnötig, sondern geradezu unmöglich war. Sobald der Akt der Zwecksetzung erfolgt nicht etwa lediglich aus den im Subjekt selbst empfundenen Bedürf- nissen heraus, sondern im Hinblick auf die im „Material" selbst angelegten Zweckrichtungen, ist er auch nicht mehr durchführbar in völliger Ablösung vom Akt der „Feststellung". Denn nur eine solche kann Aufschluß geben über das, was im Material selbst an inneren Gerichtetheiten enthalten ist. Aber selbst zugegeben, daß das Verhältnis zwischen zweck- setzender und feststellender Betätigung sich hier so verschieben muß, wäre es dann nicht immer noch möglich, daß auf der Grund- lage der Ergebnisse, zu denen das geforderte Zusammenwirken jener beiden führen würde, eine Technologie des erziehenden Han- delns sich aufbaute, deren Regeln dann die Praxis leiten könnten ? Dieser Gedanke ist nicht nur praktisch undurchführbar, er erweist sich auch, richtig durchdacht, als sinnwidrig. Das Ineinandergreifen der in dem zuerst betrachteten Fall wohlgeschiedenen zwei Betä- tigungen, der zwecksetzenden und der feststellenden, muß notwendig auch die dritte, die dort vermittelnd zwischen ihnen stand, in Mit- leidenschaft ziehen, so sehr in Mitleidenschaft ziehen, daß sie das, was sie war, zu sein aufhört. Es kann ja auch gar nicht anders sein, weil da, wo eine innere Verbindung bereits hergestellt ist, eine auf Vermittlung gerichtete Funktion nichts mehr zu tun findet, ja in Wahrheit unmöglich wird. Eine solche hat ihr Wesen in jener uneingeschränkten Freiheit des Wählens und Kombinierens unter den gegebenen Elementen: diese aber ist wiederum nur da möglich, wo das Material an sich noch nicht auf Zwecke hin ge- richtet, nicht schon selbst unter Zweckgesichtspunkten zusammen- geschlossen ist. Hier aber findet, so sahen wir, der Zweckgedanke seine Ansatzpunkte in dem „Material" selbst schon vor, und damit stellt sich, gleichsam über den Kopf jeder denkbaren vermittelnden 30 Theodor Litt, Theorie hinweg, eine innere Verbindung her zwischen dem Zweck- gedanken im Subjekt und den Zweckgerichtetheiten im Objekt, eine Verbindung, die der vermittelnden Theorie ihre Bewegungsfreiheit völlig unterbindet. Es ist ein leicht zu durchschauender Wesens- zusammenhang, in dem es begründet liegt, daß das Walten des Zweckgedankens auf der Seite des „Materials " gleichbedeutend ist mit dem Aasschluß jeder Technologie. Sowohl die Theorie der Erziehung im Allgemeinen als auch die Praxis der Erziehung im Besondern findet ihr Material nicht als ein Nebeneinander heraus - analysierter letzter Elemente vor, deren Verbindung ihre Sache wäre, sondern ihr Material bietet sich selbst schon als Kombi- nation, ja als äußere komplexe Gesamterscheinung dar; die in ihr gegebene Zusammenordnung der „Elemente" bildet den Ausgangs- punkt jedes erzieherischen Tuns. Der Mensch überhaupt, mit dem es eine allgemeine Theorie der Erziehung zu tun hat, der einzelne Mensch, dem die Praxis der Erziehung gegenübersteht, sie sind ja doch Gebilde von denkbarster Kompliziertheit des Gesamtauf bans. Eben weil das Objekt der Erziehung in solchem Sinne schon Kom- bination, d. h. Zusammenordnung eines Mannigfaltigen ist, kann es so, wie es ist, unter den Zweckgedanken gestellt werden; ein- fachen und letzten Elementen gegenüber würde dieser fremd und äußerlich sein. Und der gleiche Komplexcharakter des pädago- gischen Objekts ist es nun auch, der jene uneingeschränkte Will- kür der Kombination ausschließt, die das Wesen des technologischen Denkens ausmacht. Schon durch diese Erwägungen erweist sich jede Möglichkeit einer frei die Mittel bestimmenden Technologie als aufgehoben — und dies, obwohl unsere bisherige Erörterung sich noch begrifflicher Instrumente bedient hat, die sich dem Begriffsapparat des tech- nologischen Denkens mehr anpassen, als mit der Natur des Gegen- standes sich verträgt. Denn irrig ist in Wahrheit die „mecha- nistische" Auffassung, die in dem Menschen überhaupt bzw. dem einzelnen Menschen eine „Kombination", ein Aggregat von elemen- taren Stoffen und Kräften sehen will, von denen ein jeder bzw. eine jede auch in einer Unzahl anderer Verbindungen sich fände; abzulehnen ist die mechanistische Vergewaltigung des Lebens, die in dem Individuum nichts anderes findet als einen „Schnittpunkt allgemeiner Gesetze". Dem psychophysischen Lebewesen eignet eine innere Einheit, Ganzheit, Geschlossenheit, die sich von jeder Art äußerlicher Zusammenfügung wesenhaft unterscheidet — wie Die Methodik des pädagogischen Denkens. 31 auch immer wir diese Einheit bezeichnen mögen. Es ist in allen Teilen durchwaltet von einem zentralen Lebensprinzip, welches wir oben anzudeuten versuchten, wenn wir von der „Form" re- deten, die im Objekt des erzieherischen Tuns angelegt sei. Wenn aber demnach das Ganze,* mit dem Theorie und Praxis der Erzie- hung sich beschäftigen, mehr ist, etwas ganz anderes ist als eine Kombination von Elementen, von denen ein jedes herausanalysiert und für sich erforscht werden könnte, dann muß vollends jeder Gedanke an eine Technologie, als welche doch zum mindesten das Vorhandensein solcher Elemente voraussetzt, hinfällig werden. Zusammen mit einer selbständigen zwecksetzenden und einer selb- ständigen feststellenden Funktion schwindet auch eine selbstän- dige mittelbestimmende Betätigung. Der Wirklicheitszusammen- hang, in den die Praxis der Erziehung hineingehört, den die Theorie der Erziehung erforscht, ist so strukturiert, daß er die dualistische Scheidung der Wirklichkeitssphären und die mit ihr korrelative Scheidung der gedanklichen Operationen, diese Scheidungen, auf denen die methodische Eigenart der Technologie beruht, in sich aufhebt. Sei das Verhältnis der gedanklichen Operationen, durch welche eine Theorie der Erziehung zustande kommt, welches es wolle, keinesfalls kann es sich dem Schema einfügen, in dem eine Technologie ihren Platz hat. 3. Die Form einer Technologie kann also die Theorie der Erzie- hung unter keinen Umständen annehmen. Es fragt sich aber, ob sie damit zugleich auch dem Charakter einer „angewandten Wissen- schaft" entsagt. Die Technologie ist das Korrelat zu der Gruppe von „feststellenden" Naturwissenschaften, deren Leistungen gipfeln in der exakten Formulierung von Gesetzen der kausalen Verknüp- fung elementarer Vorgänge. Ermäßigt man die Ansprüche von Exaktheit, denen die letztern genügen, und die Ansprüche von vorberechnender Sicherheit des Handelns, die durch die erstere befriedigt werden, so scheint es nicht ausgeschlossen, daß eine auf die komplexen Erscheinungen gerichtete und eben deshalb minder exakte Wissenschaft von theoretischem Charakter Erkenntnisse zu Tage förderte, aus denen eine auf eben diese komplexen Gebilde sich richtende Praxis Nutzen ziehen könnte. Damit wäre dann der Ort bezeichnet für eine Theorie , die in methodischer Gründ- lichkeit die Möglichkeiten und Regeln dieser Nutzung zu unter- 32 Theodor Litt, suchen hätte — und nichts würde dazu berechtigen, einer solchen Theorie den Namen einer „ angewandten Wissenschaft" vorzuent- halten, wie es denn ja auch unter den anerkannten angewandten Wissenschaften keineswegs an solchen fehlt, die der Exaktheit einer Technologie ziemlich ferne bleiben. Angenommen, eine so geartete Theorie der Erziehung wäre möglich, welches würde der Gegenstand der Grundwissenschaft sein, deren Ergebnisse sie an- zuwenden hätte? Es scheint, daß unsere bisherigen Darlegungen bereits einen Ausblick auf die Eigenart dieser Grundwissenschaft eröffnen. Ob es die formende Freiheit der künstlerischen Gestaltung oder die kombinierende Freiheit der technischen Konstruktion von dem Ob- jekt der Erziehung fernzuhalten galt, jedesmal hatten wir hinzu- weisen auf die in diesem selbst eingeschlossenen Formkräfte, über welche keine äußere Einwirkung sich hinwegsetzen dürfe, ohne auf das Prädikat „Erziehung" Verzicht zu leisten. Diese Form- kräfte aber kommen dem Objekt der Erziehung deshalb zu, weil es ein Lebendiges ist. Als Grundlage für eine Theorie der Erziehung scheint brauchbar nur eine solche Wissenschaft, deren Gegenstand eben dieses Leben ist; nur ihr, so scheint es, kann die eigentümliche innere Einheit, die die Mannigfaltigkeit der am pä- dagogischen Objekt vorgefundenen Eigenschaften und Funktionen zur „Form" zusammenschließt, nur ihr die in dieser Form zu Tage tretende Zweckgerichtetheit sich offenbaren; nur sie scheint die „Feststellungen" zu versprechen, die nicht nur über die Beschaffen- heit des Objekts, wie es ist, sondern auch über die Möglichkeiten zweckvoller Ausgestaltung Aufschluß geben. Und eine solche theo- retische Grundlegung würde sich in ihrer Grundrichtung zusammen- finden mit einer seit Rousseau geläufigen und gerade dem heutigen Zeitbewußtsein besonders naheliegenden Auffassung des Erziehungs- werks : die jugendliche Seele ein organisches Lebewesen mit eigenen, angeborenen Werdetrieben, und der Erzieher der Pfleger, der Gärtner, der Züchter, der berufen ist, der in diesem Lebewesen angelegten Form durch seine sorgende, schützende, entwickelnde Mühe zu einer möglichst vollkommenen Entfaltung zu verhelfen. Es ist eine Auffassung, die, wie offensichtlich, jede dem innern Lebens- trieb des Objekts widerstreitende Einwirkung von vorne herein abweist. Wollen wir über Wesen und Methode einer solchen Wissen- schaft von der leiblich - seelischen Lebensentfaltung Klarheit ge- Die Methodik des pädagogischen Denkens. 33 winnen, dann wird es wiederum unumgänglich sein, das Recht jener analogisierenden Vorstellungen zu prüfen, die unausbleiblich in jeden Versuch, solche Klarheit zu gewinnen, hineinspielen. Auch hier pflegt der Vergleich oft zur Gleichsetzung zu werden. Nun tun wir sicherlich Recht daran, der psychophysischen Einheit des Erziehungsobjekts eine innere Angelegtheit zuzuschreiben, wie sie der biologischen Einheit des Organismus zukommt: nur müssen wir uns fragen, wie sich auf jener und auf dieser Seite die „An- lage" zu dem verhält, was sich als „lebendige Form" späterhin aus ihr heraus entwickelt. Im Keimplasma ist die künftige Form des Organismus in allem Wesentlichen eindeutig vorgezeichnet; aus dem Samenkorn etwa wird, wo und wann auch immer es zum Keimen gebracht werden mag, nur ein Exemplar der morpholo- gisch so und so bestimmten Gattung hervorgehen. Entsprechendes gilt auch für die leibliche Seite der Leibseeleneinheit Mensch — gilt es auch für die innere? Ist auch die Form des seelischen Seins ähnlich durch die Anlage vorherbestimmt? Man denke sich ein und dasselbe Menschenwesen mit einer so und so gearteten „Anlage" in seiner Entwicklung hineingestellt in eine Mannigfal- tigkeit von menschlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Umwelten : es würde nie und nimmer in jedem der hier angenommenen Fälle zu einer und derselben Persönlichkeit heranwachsen. Denn das, was wir im weitesten Sinne „Umwelt" nennen, hat keineswegs für den biologischen und für den seelisch-geistigen Entwicklungsprozeß die gleiche Bedeutung. Für das Werden des Organismus liefert die Umwelt, abgesehen von rein äußerlichen Einwirkungen physi- kalischer Art, bloß die „Nahrung". Nun sind zwar Maß und Art dieser Zufuhr zweifellos mitbestimmend für das Maß, die Üppig- keit bzw. Dürftigkeit der Entfaltung : aber auf die Formgestaltung selbst sind sie ohne jeden Einfluß. Denn der Organismus arbeitet im Stoffwechselprozeß alles, was von außen her in seinen Lebens- prozeß eintritt, in seine eigene Form hinein, es ist für ihn nicht mehr als Material. Für die seelische Entwicklung hingegen bietet die Umwelt eine Reihe von „Stoffen", die gerade nur dann dem Entwicklungsprozeß dienen können, wenn sie als das, was sie selbst an sich sind oder, besser gesagt, bedeuten, erhalten bleiben und wirken : es sind sachliche Gehalte, ideelle Gültigkeiten, s'eien es nun solche wissenschaftlicher, künstlerischer, sittlicher, religiöser Art, die selbst schon ihre Form haben und nur durch ihre eigene Geformtheit für den Formungsprozeß der Seele bedeut- Ktintstadion. XXVI. 3 34 Theodor Litt, sam werden. Die übliche Rede von der „geistigen Nahrung" ist irreführend, weil sie auf der Seite des seelischen Werdens dieselbe einseitige Assimilation durch den Lebensprozeß voraussetzt wie sie auf der Seite des organischen Wachstums zweifellos vorliegt. Die Unzulässigkeit dieser Parallele erhellt aus dem Umstand, daß auf dem Boden der seelischen Wirklichkeit die Begriffe Stoff und Form unbedenklich ihre Stelle vertauschen können: hier darf man ebensowohl bildlich sagen, daß die Seele die in sie einströmenden Gehalte forme, d. h. nach ihrem eigenen Wachstumsprinzip neu- erzeuge, wie auch daß sie durch diese geformt werde, d. h. ihre an sich gestaltlosen Werdetriebe an ihnen und durch sie kläre und vergegenständliche. Hier wirkt das, was im Innern angelegt ist, und das, was von außen her an das Ich herantritt, in einer Weise ineinander, für die es außerhalb dieser Dimension des Seins keinerlei Analogie gibt. In der Eigenart dieses doppelseitigen Formungs- vorgangs liegt es begründet, daß jeder Versuch, sich von der Art und dem Inhalt der für die seelische Entwicklung maßgebenden Disposition, von der qualitativen Besonderheit der in ihr beschlos- senen Tendenzen eine Vorstellungen machen, schlechthin sinn- widrig ist *) ; denn zur Form kann sich diese Disposition erst durch ihr Zusammentreten mit den ideellen Gehalten entwickeln, die die kulturelle Umwelt an sie heranbringt. Diese Umwelt aber ist eben nicht eine bestimmte, sondern es sind ihrer unzählige denk- bar, von denen jede ihre besonderen ideellen Gehalte dem For- mungsprozeß zur Verfügung stellen würde. In diesem Sinne ist also jede seelische Gesamtdisposition voll „unbegrenzter Möglich- keiten" ; sie weiß nichts von jener Eindeutigkeit der Determination, die dem biologischen Keim eignet. Darum ist auch die Parallele, die im Gegensatz zu den vorher kritisierten uns einen tieferen Einblick in das Wesen des Erziehungsvorgangs zu versprechen schien, die Parallele von seelischem und organischem Werden, von erziehender und züchtender Tätigkeit, als nur halbwahre Analogie abzulehnen. Sie führt uns ebenso wenig in den Kern des Problems hinein, wie der Vergleich mit dem Tun des Künstlers und des Technikers. Und zwar ist es sehr lehrreich, daß sie aus genau dem entgegengesetzten Grunde abzuweisen ist, wie die beiden zuerst behandelten. Gegen diese mußten wir Einspruch erheben, weil sie dem Gegenstand der Erziehung zu wenig Eigenrecht 1) W. Stern, Die menschliche Persönlichkeit. Leipzig 1918. S. 80. Die Methodik des pädagogischen Denkens. 35 ließen: jene verbietet sich gerade deshalb, weil sie dem Gegen- stand zu viel an Eigenbestimmtheit gibt und die erziehende Funk- tion allzusehr auf bloßes Pflegen und Fördern immanenter Zweck- richtungen beschränkt. Der Erzieher hat weniger Freiheit der Gestaltung als der Künstler, weniger Willkür der Zusammen- ordnung als der Techniker — aber er hat mehr Spielraum der „ Bildung " als der Züchter. 4. Gibt es also eine theoretische Wissenschaft von der leiblich- seelischen Lebens entfaltung, wie wir sie als „Grundwissenschaft" für eine „ angewandte Wissenschaft" von der Erziehung postu- lieren mußten, so wird diese von vorne herein die Irrungen ver- meiden müssen, denen eine biologisierende Auffassung dieses Pro- zesses notwendig verfällt. Ja, sie wird diese Auffassung gerade dann am entschiedensten von sich weisen müssen, wenn sie als Grundlage für eine Theorie des erzieherischen Tuns brauchbar sein soll. Denn jener von uns andeutungsweise geschilderte Vor- gang, in dem seelisches Leben und sachliche Gehalte sich durch- wirken, jener Vorgang, der so ganz und gar jedes Vergleiches mit dem biologischen Prozeß spottet, er ist ja gerade der für das Kulturphänomen Erziehung fundamentale. Jene reinen Sachgehalte nämlich, an und in denen der Formungsprozeß der Seele sich voll- zieht, sie treten ja nicht wie selbsttätig aus ihrer ideellen Sphäre heraus und an das zu entwickelnde Subjekt heran, sondern sie müssen durch einen Prozeß persönlicher Übertragung von Mensch zu Mensch immer von neuem aktualisiert werden, und dieser Prozeß der Übertragung heißt, sobald er mit einem Mindestmaß von Be- wußtheit vollzogen wird — Erziehung. Für den Sinn, ja für die Möglichkeit der Erziehung ist gerade der Sachverhalt notwendige Bedingung, den die Durchführung des biologischen Vergleichs un- kenntlich macht. Nur deshalb gibt es Erziehung, weil die Seele nicht eindeutig präformiert ist, sondern erst in der Auseinander- setzung mit ideellen Gehalten sich gestaltet, und nur darum gibt es seelische Entwicklung, weil es Erziehung, d.h. persönliche Übertragung ideeller Gehalte von Mensch zu Mensch gibt. Die postulierte Wissenschaft von dem seelischen Entfaltungsprozeß würde demnach ihren Gegenstand nur dann erschöpfen, ja sie würde ihn überhaupt nur dann wirklich erfassen, wenn sie das seelische Werden nicht als einen lediglich im geschlossenen Kreis 3* 36 Theodor Litt, der Einzelseele sich vollendenden Vorgang — vergleichbar dem in sich zurücklaufenden organischen Wachstumsprozeß — zu ver- stehen suchte, vielmehr dieses Werden erfaßte in seiner Durch- dringung und Verschränkung mit den von außen her erfolgenden Einwirkungen, die in ihrer höchsten Form „Erziehung" heißen. Und gerade mit dieser durch den Gegenstand erforderten Weite der Fragestellung müßte sie, so möchte es scheinen, sich besonders geeignet machen, einer Theorie des erzieherischen Tuns als Grund- lage zu dienen. Wie aber, wenn gerade diese von uns als unerläßlich ent- wickelte Problemstellung der „Grundwissenschaft" sie zu der ihr zugedachten Funktion untauglich machen sollte? Erinnern wir uns doch, welcher Zusammenhang uns zu dieser Fixierung der unserer Grundwissenschaft zukommenden Fragestellungen geführt hatte! Wir haben eine Praxis, genannt Erziehung. Wir suchen eine Theorie, geeignet, dieser Praxis Richtlinien zu geben, und glauben dieser Theorie einen wissenschaftlichen Wert nur dann verbürgen zu können, wenn sie den methodischen Charakter einer „angewandten Wissenschaft" besitzt. Wir suchen den Problem- gehalt der rein theoretischen „Grundwissenschaft", auf der diese „angewandte Wissenschaft" zu fußen hätte, zu bestimmen und finden als wesentlichen Bestandteil dieses Gehalts — das Phänomen Erziehung, also diejenige Praxis als Tatsache, die als Auf- gabe in eben dieser Theorie ihre letzte Grundlage erhalten sollte. Nun fragen wir uns: kann und darf eine Grundwissenschaft, auf der eine angewandte Wissenschaft aufgebaut werden soll, zum Gegenstand der Erforschung haben eben diejenige Praxis, der die Sätze dieser angewandten Wissenschaft Regeln vorschreiben sollen? Offenbar würde auf diese Weise ein heilloser Zirkel entstehen. Denn die rein theoretische Betrachtung dürfte bei dem Versuch, das Wesen der Praxis als eines gegebenen Stücks Wirklichkeit zu verstehen, die in der angewandten Wissenschaft ausgesprochenen Regeln des Handelns, die doch auch einen Teil dieser Wirklichkeit bilden, nicht aus der Betrachtung ausschließen, müßte sie vielmehr als zu dem zu untersuchenden Tatbestand gehörig, d. h. als für die Betrachtung „gegeben" ansehen — während dann später die „angewandte Wissenschaft" die in der Grundwissenschaft voraus- gesetzten Regeln aus dieser selbst abzuleiten hätte! Oder aber: wenn die Grundwissenschaft die in der angewandten Wissenschaft ausgesprochenen Regeln nicht in den Kreis der zu deutenden Die Methodik des pädagogischen Denkens. 37 Tatbestände aufnähme, so wäre es unerfindlich, wie eine „Anwen- dung" der in der Grundwissenschaft gewonnenen Erkenntnisse auf diese Regeln führen sollte. Kurzum — wie wir es auch wenden mögen, das ganze Verhältnis „Grundwissenschaft — angewandte Wissenschaft — Praxis" ist mit dem Tatbestand und der Aufgabe der Erziehung nicht zusammenzubringen. Sinnvoller Weise hat jede Grundwissenschaft an dem Objekt der Praxis ihr Problem, nicht an der Praxis selbst; die angewandte Wissenschaft leitet aus der Kenntnis des Objekts, die sie der Grundwissenschaft ent- nimmt, die Regeln des Handelns ab, und die Praxis verfährt diesen Regeln gemäß. Weil dem Gegenstand der postulierten pädagogi- schen Grundwissenschaft der Tatbestand der Praxis gleichsam in- häriert, und zwar nicht als äußere Zutat, sondern als wesentliches Moment seiner selbst, darum gibt es keine rein theoretische Grund- wissenschaft der Pädagogik, deren Ergebnisse von einer ange- wandten Wissenschaft übernommen und zu Regeln des Handelns ausgemünzt werden könnten: vielmehr erstreckt sich das Problem Erziehung durch alle Schichten der hier in Betracht kommenden Erwägungen und Untersuchungen derart hindurch, daß die theoretische Auffassung des Tatbe- standes „Erziehung" einerseits, die praktische Stellungnahme zu den Aufgaben der Erziehung andererseits gleichsam sekundäre Aus- gestaltungen einer Grundeinstellung zum Problem „Erziehung* überhaupt sind, die über dem Gegensatz von Theorie und Praxis, Tatsachenerforschung und Zielsetzung steht. Hier baut sich nicht eines als Folgerung, Anwendung u. dgl. auf dem anderen auf, son- dern alles entspringt aus demselben Zentralpunkt heraus. So scheitert der Versuch, die Theorie der Erziehung auf einer Wissenschaft von den komplexen Erscheinungen der seelischen Entwicklung aufzubauen, an derselben allumfassenden Einheit der geistigen Welt, die auch jede technologische Behandlung des Er- ziehungsproblems ausschließt. Für das Ausgeführte kann es keine treffendere und gleich- zeitig naheliegendere Illustration geben als — unsere eigenen Aus- führungen. Inwiefern bilden sie eine solche? Der Vorgänge, die eine menschliche Seele in sich schließt, sind unendlich viele und unendlich mannigfaltige ; desgleichen sind die von Mensch zu Mensch spielenden Einwirkungen an Zahl und Gehalt unerschöpflich. Im Innern des Subjekts bilden jene und diese zusammen ein Erlebnis- ganzes, das in seiner Geschlossenheit, in der Kontinuität seiner 38 Theodor Litt, Übergänge jeder Zerlegung in Teile, Elemente u. dgl. Widerstand leistet; hier wird jedes, auch das scheinbar belangloseste Einzel- erlebnis, als Beitrag zur inneren Formung gleichsam in das Ganze eingeschmolzen. Wollte eine Wissenschaft von der Erziehung ihren Gegenstand in der Gesamtheit dieser Vorgänge suchen, sie würde im Unendlichen verfließen und jeder sachlichen und me- thodischen Bestimmtheit verlustig gehen ; sie muß ihr Objekt enger begrenzen, um überhaupt Wissenschaft sein zu können. Nun aber zeigt sich eben: der Inbegriff von Vorgängen, dem der Name Er- ziehung zukommen könnte, grenzt sich keineswegs in dem Sinne innerhalb jener Kontinuität der Erlebniswelt ab, wie etwa die äußere Welt ihre Stoffe und Kräfte von einander scheidet. Man kann nicht ein Phänomen „Erziehung" als wohlumschriebenen Tat- bestand einfach so durch bloße Feststellung aus der inneren Wirk- lichkeit ablösen, wie man das Phänomen „Magnetismus" oder „Elek- trizität" aus der natürlichen Wirklichkeit heraushebt. Ja, wie wir sehen werden, steht dieses Phänomen auch hinter den anderen Forschungs Objekten der geistigen Welt an gegenständlicher Bestimmtheit um ein Beträchtliches zurück. Mehr als alle Natur- wissenschaften, mehr auch als die anderen Geisteswissenschaften muß deshalb eine Theorie der Erziehung, um überhaupt zu einem faßbaren Objekt zu gelangen, auswählend, scheidend, abstufend in das Erlebnisganze der inneren Welt hineingreifen, und bei diesem Vorgehen muß sie Kriterien anwenden, die gegenüber jener Kon- tinuität als etwas von außen Herangebrachtes erscheinen, deren Anwendung immer etwas von Gewaltsamkeit an sich hat. Diese Auswahl und Abgrenzung setzt aber wiederum voraus, daß der Betrachter den Vorgang der Erziehung im Sinne einer Aufgabe, im Zeichen einer Idee deutet und versteht. M. a. W. : was Er- ziehung ist, kann nur der „feststellen", der schon eine gewisse Vorstellung davon hat, was Erziehung soll. So haben auch wir, wenn wir in der Entwicklung innerer Form auf dem Wege der Durchdringung mit ideellen Gehalten das wesentlichste Moment jedes Erziehungsvorgangs fanden, bereits eine bestimmte Deutung des Sinns der Erziehung, eine bestimmte Auffassung der Erzie- hungsaufgabe zu Grunde gelegt, die weder die einzig vertretene noch die einzig mögliche ist. Wir sehen also: die praktischen Tendenzen, die eigentlich erst innerhalb der „angewandten Wissen- schaft" zu Worte kommen dürften, sind in Wahrheit unentbehr- lich, damit die „Grundwissenschaft" überhaupt ihren Gegenstand Die Methodik des pädagogischen Denkens. 39 konstituieren könne. Das Sein der Erziehung kann überhaupt erst im Ausblick auf ihr Sollen erfaßt werden. Das will nicht heißen, daß die Möglichkeit, Erziehung als Tatsache zu erfassen, gebunden sei an das Bekenntnis zu einem bestimmten, inhaltlich im Einzelnen ausgeführten Ideal des erzieherischen Tuns — es be- sagt nur dies, daß eine gewisse allgemeine Grundauffassung vom kulturellen Beruf der Erziehung überhaupt, die für die Konkreti- sierung im Einzelnen noch weiten Spielraum läßt, notwendige Vor- aussetzung für das Erfassen der Erziehung als Tatsache ist. Und nun umgekehrt: so wenig es möglich ist, das Sein der Erziehung auch nur im allgemeinsten Sinne unabhängig von einer bestimmten Auffassung ihres Sollens zu ergreifen, so wenig kann ein Vorgehen in Frage kommen, das über das Sollen der Erziehung entscheiden wollte, ohne die Wirklichkeitszusammenhänge ins Auge zu fassen, die für die Realisierungsmöglichkeiten jedes erzieherischen Ideals bestimmend sind. Es wäre widersinnig, von außen her Zielvor- stellungen an eine Wirklichkeit heranzubringen, deren eigene le- bendige Kräfte doch schließlich allein das Ideal in die Wirklich- keit überführen können. Es muß also jede Erwägung des Sollens in engster Verbindung mit der Auffassung des Seins voranschreiten. So haben auch wir, wenn wir in der Übertragung ideeller Gehalte von Mensch zu Mensch den Beruf des erzieherischen Tuns erblickten, dem eine Auffassung der Kultur Wirklichkeit zu Grunde gelegt, die in eben dieser Übertragung das strukturelle Grundmotiv im Aufbau der Kulturwirklichkeit erblickt. Mithin hat sich in dem von uns entwickelten Gedankengang ganz unmittelbar das Ergebnis be- währt, in das er einmündete : daß, wo immer der menschliche Geist es mit dem Problem der Erziehung zu tun hat, niemals eine Auf- fassung dessen, was ist, und eine Bestimmung dessen, was sein soll, von außen zusammentreten und in den vermittelnden Sätzen einer „angewandten Wissenschaft" ihre Verbindung suchen, vielmehr Seinserfassung und Sollensbestimmung ganz unmittelbar aus einer Wurzel derart hervorwachsen, daß für das Vermittlungswerk einer „angewandten Wissenschaft" weder Bedürfnis noch Möglichkeit vor- liegt. Sogar die Auffassung und Redeweise, die beide in „Wechsel- beziehung" stehen läßt, ist noch zu äußerlich, weil sie doch immer noch die Annahme einer ursprünglichen, gleichsam substantiellen Scheidung und erst nachträglich eingetretenen Verbindung beider Seiten in sich schließt. 40 Theodor Litt, 5. Wir haben die eigentümlich wurzelhafte Verbindung des rein theoretischen und des praktischen Elements hier zunächst aufge- wiesen im Bereich der letzten und allgemeinsten Betrachtungen, die sich im Hinblick auf das Problem der Erziehung überhaupt entwickeln lassen; es waren Betrachtungen, die, eben weil sie die prinzipielle Struktur der für das erzieherische Denken maßgebenden Zusammenhänge ergründen wollten, von jeder Rücksicht auf eine besondere, historisch begrenzte Erziehungs Wirklichkeit und von jeder konkreten Ausgestaltung des erzieherischen Ideals grund- sätzlich absahen. Wie weit wir aber auch von diesen allgemein- sten Grundlagen her in der Richtung auf eine immer stärkere Kon- kretisierung des allgemeinen Schemas fortschreiten mögen, immer werden wir das gleiche Verhältnis sich wiederholen sehen. Wir tuen, statt der stufenweisen Erfüllung des allgemeinen Schemas nachzugehen, die sich mit dem Eintritt in einen bestimmten Kultur- kreis, eine bestimmte Epoche, ein bestimmtes Volk u. s. f. ergibt, gleich den Schritt bis zu der vollständigen Konkretisierung der Erziehungsaufgabe, wie sie überall da vorliegt, wo ein bestimmter Erzieher einem bestimmten Zögling gegenübertritt. Sehen wir hier den oben entwickelten Zusammenhang sich abermals bewähren, so wird die Annahme nicht zu kühn sein, daß er auch für die in der Mitte liegenden Stufen Gültigkeit habe. Jeder Erzieher wird naturgemäß vor allem einmal sich zu vergewissern streben, was der Zögling ist, und wird alle erzieherischen Pläne und Maß- nahmen zurückhalten, bis er dieses seines Seins kundig geworden ist. Also auch hier zunächst ein Bemühen um eine rein „theore- tische" Auffassung des Erziehungsobjekts, aus deren Ergebnis dann — möchte man meinen — die Folgerungen für die erzieherische Praxis abzuleiten wären. Nun ist ersichtlich, daß dieses Erkenntnis- bemühen des Erziehers sich vor allem einmal auf die in dem Zög- ling gegebenen Anlagen, das Wort in umfassendstem Sinne ver- standen, richten muß, denn an diese müssen ja die erzieherischen Maßnahmen ansetzen. Nun stößt aber die „Feststellung" vorhan- dener Dispositionen überall da, wo es sich um seelisch - geistiges Sein handelt, auf eine eigentümliche Schwierigkeit, deren Grund bereits oben angedeutet wurde. Der Gärtner, der Züchter kann an der Hand von dem, was sein Objekt ist, an der Hand seiner gegebenen Beschaffenheit, die Anlage eindeutig „feststellen" : er weiß, daß dieses Samenkorn, dieser Schößling, dieses Ei u. s. f. in Die Methodik des pädagogischen Denkens. 41 sich die Determinanten vereinigt, in denen der so und so be- stimmte Typus, und nur er, präformiert ist. Dem Erzieher gibt sein Objekt in der gegenwärtig vorhandenen Beschaffenheit zu einer entsprechenden Feststellung garnicht die Möglichkeit, weil die Anlage als Anlage von einer grenzenlosen Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit ist: sie trägt ja nicht in sich selbst alle Be- dingungen, von denen das Formwerden der Lebenseinheit abhängt, vielmehr kann sie erst im Zusammenwirken mit den in Zukunft, von außen her an sie herantretenden ideellen Gehalten aus sich eine Form hervorgehen lassen; welcher Art diese Gehalte sein werden, darüber sagt die Anlage nichts aus. Die Anlage wird also erst dann ein Gegenstand möglicher Vorstellungen und Aus- sagen über sie, wenn sie — aufhört, bloße Anlage zu sein, und so lange sie wirklich bloße Anlage ist, läßt sich rein aus dem gegen- wärtigen Befunde nicht über sie „feststellen". Dieser Sachverhalt muß den Erzieher, wenn er das, was sein Zögling hinsichtlich seiner Anlage ist, feststellen will, in eine Schwierigkeit bringen, die unlösbar wäre, wenn — er eben nicht Erzieher wäre. Denn als solcher ist er gar nicht genötigt mit einer unbegrenzten und deshalb unvorstellbaren Vielheit möglicher künftiger Formungsein- einflüsse zu rechnen: vielmehr ist ja gerade er es, der, so weit Erzieherwille reichen kann, darüber entscheiden soll, welche ideellen Gehalte in den Formungsprozeß eintreten sollen. Ein eigentüm- licher Zusammenhang: um sich die Anlage irgendwie vorstellen zu können, muß er, über den gegenwärtigen Augenblick hinausgrei- fend, ihre der Zukunft angehörige Durchdringung mit ideellen Ge- halten in den Bereich seines Blickes hineinziehen — und dieser Vorblick ist nur deshalb mehr als rein willkürliche Phantasie, weil sein Wollen auf die Gestaltung dieser Zukunft Einfluß hat. Die Anlage kommt für den Erzieher nur in Betracht als Anlage für etwas, nämlich für die Gesamtheit von kulturellen Wertgehalten, die überhaupt im Bereich seines erzieherischen Denkens liegen. Damit tritt aber an Stelle der, objektiv betrachtet, unendlichen Mannigfaltigkeit möglicher Anlagedeterminationen eine begrenzte Zahl von in Betracht zu ziehenden Formungen; und eben diese Beschränkung macht es dann auch möglich , daß sich klare Vorstellungen über die Anlage des Zöglings bilden. Diese Be- schränkung und diese Klarheit ist, wie ersichtlich, erreicht nicht durch ein bloßes Hinsehen auf das, was der Zögling ist, sondern auf das, was aus ihm werden kann oder vielmehr im Sinn der 42 Theodor Litt, Erziehung aus ihm werden soll. Die in Betracht gezogenen Er- ziehungsziele geben die Ordnungsprinzipien ab, nach denen das Sein des Zöglings, das an sich grenzenloser Fortentwicklung fähige, aufgefaßt wird: die Gesichtspunkte, die für die Erziehungs praxi s bestimmend sind, sind auch da nicht auszuscheiden, wo das Objekt der Erziehung rein als das, was es ist, vermeintlich unter völ- ligem Absehen von allen praktischen Tendenzen bestimmt wer- den soll. Nun aber umgekehrt : sind die Ideen von dem, was geschehen soll, richtunggebend in der Auffassung dessen, was ist, so kann es nicht bei diesem einseitigen Verhältnis sein Bewenden haben. Denn welchem Erzieher könnte es in den Sinn kommen, bei der Herausklärung der Erziehungsziele abzusehen von dem vorliegenden Befund, den ihm der Zögling vor Augen stellt. Denn einmal kann eine Verfolgung sämtlicher überhaupt im Gesichtskreis des Er- ziehers liegenden Bildungsmöglichkeiten nicht in Betracht kommen, wenn ein konkreter Mensch zu erziehen ist; es bedarf also schon unter rein quantitativem Gesichtspunkt einer Auswahl unter den dem Erzieher vertrauten Bildungsrichtungen, und nichts an- deres kann für diese Auswahl maßgebend sein als der Zögling, wie er ist, d. h. als was er sich bei einem entweder nur gedachten oder auch probeweise ausgeführten Hineinstellen in die verschie- denen Wertrichtungen erweist. Und vor allem sieht wirkliche Erziehung es nicht darauf ab, in dem Zögling nur den Träger einer Vielheit von äußerlich zusammengeordneten, in abstrakter Allgemeinheit gedachten Werttendenzen herauszubilden, vielmehr arbeitet sie hin auf ein konkretes Lebensganzes, daß alle ein- zelnen Richtungen des Bildungsprozesses durchdringt, zum Zentrum der Persönlichkeit in Beziehung setzt und so statt äußerer Zusammen- ordnung wirklich innere Form erwirkt. Erst wenn die auf die zukünftige seelische Entfaltung des Zöglings gerichteten Einzel- vorstellungen sich zusammenschließen zum Bilde eines teleologi- schen Ganzen, erst dann bewährt sich jene eigentümliche erziehe- rische Phantasie, die alle auf Einzelfähigkeiten und Einzelfertig- keiten gerichtete Geschäftigkeit hinter sich läßt. Und gerade die eigentümliche Schöpferkraft dieser Phantasie, die ein Ganzes er- schaut, das nicht ist, sondern erst werden soll, und es dabei doch erschaut in dem, was ist, gerade sie ist es, die jenem Vergleich des erzieherischen und des künstlerischen Tuns doch schließlich ein höheres Recht gibt, als es dem Vergleich mit dem technischen Die Methodik des pädagogischen Denkens. 43 Verfahren zugesprochen werden kann. Wie aber soll nun dieses konkrete Leitbild, das dem Grestaltungswillen des Erziehers vor anleuchtet, anders sich formen als eben im Hinblick auf das, was der Zögling nun einmal ist, auf seine „Individualität" wie sie in anschaulicher Lebendigkeit vor ihm steht — so daß, wenn dieses Sein nur im Ausblick auf das Sollen vorstellig werden konnte, so doch umgekehrt das Sollen nur im Anschluß an das Sein sich zu konkreter Bestimmtheit herausklären kann. So stehen auch hier Seinserfassung und Sollensbestimmung in „Wechselwirkung". Und auch hier läßt der gewählte Ausdruck noch allzuviel des Tren- nenden bestehen. Nicht so ist der Zusammenhang zu denken, daß hier ein Bild dessen, was ist, dort ein Bild dessen, was werden soll, sich gegenüberständen und nun im Hin und Her, bei fort- dauernder Geschiedenheit, die Züge sich klärten und bereicherten. Vielmehr ist das, was wir hier um der Deutlichkeit des Gedankens willen zu zwei geschiedenen Bildern mußten auseinandertreten lassen, zu denken als ein Strom lebendigen Werdens, von Einst zum Jetzt und vom Jetzt zum Dereinst sich weitertragend, ein Strom, durch den nun das Denken gleichsam zwei Querschnitte legt, bemüht, des Jetzt mit dem in ihm eingeschlossenen Einst und des Dereinst mit dem in ihm fortwirkenden Jetzt je für sich habhaft zu werden, dieses Jetzt, das ja in Wahrheit die- selbe über das Nacheinander der Zeitfolge übergreifende Lebens- ganzheit ist, die auch in dem Dereinst ihre Überlegenheit über jede bloße Succession erweisen wird. Der Erzieher sieht das, was ist, nicht in punktueller Zusammengezogenheit, sondern als Bewe- gung, hervorgehend aus dem, was war, und hinstrebend zu dem, was da werden soll, und er sieht das, was werden soll, in un- mittelbarem Hervorwachsen aus dem was ist. Alle sprachlich- begrifflichen Distinktionen sind unzulänglich, dieses so ganz und gar unmechanische Verhältnis deckend wiederzugeben1). Wir verzichten, wie gesagt darauf, das behandelte Verhältnis durch alle Stufen hindurch zu verfolgen, die zwischen den letzten und allgemeinsten Strukturverhältnissen des erzieherischen Wir- kungszusammenhangs überhaupt und dem Einzelfall der konkreten Erziehungswirklichkeit liegen. Wir würden, wenn wir es täten, 1) Verwandte Gedanken schon bei W. v. Humboldt (s. E. Spranger, W.v.Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909. S. 205 ff.), in G. Simmeis „Lebensphilosophie" (Lebensanschauung, München 1918), bei M. Sehe ler (Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle, Halle 1913, S. 53 ff.). 44 Theodor Litt, zu zeigen haben, daß das Ganze von Kulturtendenzen, welches im Einzelfall für den Erzieher den Umkreis der in Betracht zu zie- henden Bildungsmöglichkeiten, also dem Inbegriff des für ihn lei- tenden Sollens bestimmt, auch seinerseits nicht etwa als System von abstrakt allgemeinen Forderungen aufzufassen ist, vielmehr ebenfalls einen durchaus konkreten Gehalt aufweist, und daß es diesen Gehalt einem umfassenden Prozeß verdankt, dessen Verlauf in allen Teilen eben dieselbe Wechselbezogenheit von Seinserfas- sung und Sollensbestimmung zum Grundmotiv hat — und so fort durch alle Stufen fortschreitender Allgemeinheit hindurch bis zu dem universalen Strukturzusammenhang, von dessen abstraktiver Herausstellung wir ausgingen *). Im Zusammenhang dieser Betrach- tung würde auch die Rede von der „historischen Bedingtheit" jedes Erziehungsgedankens auf ihren richtigen Sinn und ihr rich- tiges Maß zurückgeführt werden. 6. Auf welcher Stufe der Abstraktion wir also auch das päda- gogische Denken betrachten mögen, wie sorgsam wir auch die ihm immanente Methodik herausstellen mögen, immer wieder erweist es sich als durchaus entgegengesetzt dem geistigen Verfahren, das den Typus der „angewandten Wissenschaft" entstehen läßt. Für dieses ist Voraussetzung die reinliche Scheidung einer lediglich betrachtenden und einer auf Ziele gerichteten Haltung des Geistes ; hier ist die geläufige Scheidung von Theorie und Praxis Ausdruck des wirklichen Sachverhalts. Im erzieherischen Denken tritt uns dagegen ein geistiges Gesamtverhalten entgegen, das mit seinen tiefsten Wurzeln unter diesen Gegensatz von Theorie und Praxis hinabgreift und sich erst in einer höheren Schicht in diese zwei Verhaltensformen zerlegt, ohne indessen auch innerhalb von ihr diese wurzelhafte Verbundenheit ganz in Vergessenheit bringen zu können. Weil das menschliche Denken und Handeln ganz vorzugsweise ein Außenweltdenken und Außenwelthandeln ist, darum ist es durchaus begreiflich, daß diese erst sekundäre Schei- 1) Gegenstand einer besonderen Untersuchung wird die Frage sein, in wel- cher methodischen Form sich die der Pädagogik unentbehrlichen Ergebnisse ge- wisser wirklich „feststellenden" Disziplinen (etwa der erklärenden Psychologie, der Soziologie) diesem so ganz andersartigen Aufbau einordnen. Vgl. zum letzten überhaupt meine Skizze „Pädagogik" in: „Die Kultur der Gegenwart", Bd. Syste- matische Philosophie2. Die Methodik des pädagogischen Denkens. 45 düng vielfach als eine ebenso in die Tiefe hinabgehende galt und gilt, wie sie es für das technische Verhalten tatsächlich ist, daß man also auch hier Theorie und Praxis, feststellende Betrachtung des „Materials" und Aufstellung der auf seine Behandlung bezüg- lichen Regeln, säuberlich auseinanderhalten zu können, ja zu müssen meinte. Die Geschichte des pädagogischen Denkens ist eine fort- laufende Illustration der Schwierigkeiten, in die man sich mit dieser vermeintlich selbstverständlichen Voraussetzung verwickelt. Ob man von der reinen Betrachtung der Erziehungswirklichkeit oder von der Aufstellung rein idealer Ziele ausging, immer wieder wollte es nicht gelingen, Idee und Wirklichkeit, Sein und Sollen ohne Vergewaltigung der einen oder der anderen Seite zusammenzu- bringen; immer wieder sah man sich genötigt, da ideell zu werten, wo man lediglich die Wirklichkeit zu betrachten meinte, da An- leihen bei der Wirklichkeit zu machen, wo man rein ideell zu konstruieren gedachte. Was Wunder, daß man sich vergeblich mühte, das nachträglich zu vereinen, was man anfangs, dem wahren Verhältnis entgegen, auseinandergerissen hatte. Dies aussichtslose Ringen wird erst dann ein Ende nehmen, wenn die pädagogische Theorie sich entschließt, den Sachverhalt, den sie sich selbst zu- meist verhehlt, nur um sich einem durchaus einseitigen Ideal von Wissenschaftlichkeit angleichen zu können, nicht nur offen einge- steht, sondern auch mit Bewußtsein recht eigentlich zur Grundlage ihrer Methodik macht1). Nur damit wird sie sich gegen dilettan- tischen Mißbrauch und erkenntniskritischen Zweifel schützen können, denen gerade jene Unklarheit der methodischen Grundlagen immer wieder Einbruchsstellen und Angriffspunkte verschafft. Eine solche Gewissensprüfung aber vermag nun einen Nutzen zu stiften, der nicht der pädagogischen Wissenschaft allein zu gute kommen würde. An ihrem Schicksal haben mehr Disziplinen Anteil, als auf den ersten Blick scheinen könnte. Ist erziehe- risches Denken nur möglich auf Grund eines ursprünglichen Inein- ander von theoretischem Auffassen und praktischem Stellungnehmen, so besagt dies im Grunde nichts anderes, als daß jede, auch die mit aller methodischen Überlegung aufgebaute pädagogische Theorie, ein Werk von durchaus persönlichem Charakter sein muß. Damit haben unsere methodischen Erwägungen uns auf eben die 1) Verwandte Gedanken in E. Troeltschs kulturphilosophischen For- schungen. S. bes.: Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge. Histor. Zeitschrift. 116. Bd. S. 1 ff. 46 Theodor Litt, Grundtatsache geführt, die den Gegnern einer pädagogischen Theorie als ihr stärkstes Argument galt, auf den irrationalen Kern des pädagogischen Denkens. Nur besagt uns dieses „irrational" hier nicht die Verneinung jeder auf Auffassung des Objekts gerichteten geistigen Betätigung : es soll nur den Grenzstrich ziehen gegen jede „Feststellung", deren „theoretischer" Charakter gleichbedeutend ist mit dem Ausschluß jedes persönlichen Elements aus dem Ergebnis der Feststellung. Wer ein auf Seinserfassung gerichtetes Verhalten gleichsetzt mit einer Feststellung so unper- sönlichen Charakters, der erhebt ein Erkenntnisideal zu alleiniger Gültigkeit, dem in Wahrheit nur die Naturwissenschaften genügen können, das also keineswegs nur der pädagogischen Wissenschaft unerreichbar ist. Eine solche Verabsolutierung des naturwissen- schaftlichen Erkenntnisideals ist nur möglich auf Grund einer ge- wissen Zweideutigkeit, die dem Begriff „Feststellung" gleich man- chen ihm sinnverwandten anhaftet. Ein naives Denken ist immer geneigt, zu meinen, diejenige Leistung, der diese Bezeichnung zu- kommt, bestehe in der Wiedergabe des Ganzen der Wirklich- keit, so wie sie an sich, unabhängig von jeder Beziehung auf ein Subjekt, zu denken ist. Zu Grunde liegt diesem Glauben die Vorstellung, daß, wenn es in einem Akt des Erkennens die Subjektivität der erkennenden Persönlichkeit völlig auszuschalten gelingt, folgeweise das Ergebnis „rein objektiv" im Sinne einer deckenden Wiederholung des Seienden sein müsse. Ein Weniger an Subjektivität setzt sich nach dieser Auffassung automatisch um in ein Mehr an objektiver Wirklichkeitserkenntnis; ist demnach der Anteil der Subjektivität auf den Nullpunkt herabgedrückt, so ist für das Denkergebnis jeder Abzug am Vollgehalt der ob- jektiven Wirklichkeit beseitigt. Aber so liegt die Sache eben ganz und gar nicht. Zu der „Ausschaltung" auf der Seite der auffassenden Persönlichkeit steht in Korrelation nicht ein Zuwachs, sondern ein genau entsprechender Abzug auf der Seite des aufzufas- senden Objekts. Es waltet ein Wechselverhältnis zwischen der ledig- lich „feststellenden" Funktion des Subjekts und der Reduktion der Wirklichkeit auf das Feststellbare. Konzentriert sich die Persönlichkeit auf die rein feststellende Betätigung , was gleich- bedeutend ist mit der zeitweiligen Suspension aller anderen Betä- tigungsweisen des Ichs, so wird auf der Seite des Objekts alles das unsichtbar, was sich seinem Wesen nach gegen eine Feststel- lung solcher Art sträubt, und übrig bleibt nur das dieser Auffas- Die Methodik des pädagogischen Denkens. 47 sung Angemessene, dessen "Wesen am deutlichsten repräsentiert wird durch das exakt Berechenbare. Auf beiden Seiten also ein Absehen von dem Vollgehalt der Wirklichkeit bzw. des Er- lebens. Und zwar kann es zur Durchführung dieser Reduktion nicht kommen ohne einen Akt des Willens im Subjekt: sein Werk ist die Konzentration des Subjekts auf die feststellende Funktion und das korrelative Sichherausheben des Feststellbaren am Objekt. Nun führt aber ein eigentümlicher Zusammenhang dazu, daß diese persönliche Bedingtheit der unpersönlichen Fest- stellungstätigkeit dem Blick nur allzu leicht sich entzieht. Zu- nächst läßt nämlich die auf beiden Seiten erfolgende Reduktion den realen Zusammenhang unsichtbar werden, der die Persönlich- keit als lebendiges Ganzes mit dem Ganzen der noch nicht künst- lich reduzierten Gesamt Wirklichkeit verbindet: weder kann dieser Zusammenhang in Erscheinung treten in der lediglich feststellenden Funktion des Subjekts als solcher, denn diese ist ja gerade mit der Auslöschung des lebendigen Gesamtgehalts der psychophysischen Lebenseinheit gleichbedeutend, noch auch kann er sich dem Blick darbieten in dem als „feststellbar" herausgeschälten Teil der Ge- samtwirklichkeit, denn in diesem ist gerade für die allverknüpfenden Lebensverbindungen kein Raum, besser gesagt : die Methoden dieser Feststellung sind so geartet, daß sie diese Zusammenhänge zer- schneiden, folglich unbemerklich machen müssen 1). Schon dieses wie von zwei Seiten her gleichzeitig erfolgende Abbrechen der Brücken, die Person und Welt verbinden, hat die Wirkung, das die funktionale Zusammengehörigkeit der persönlichen Einstellung im Subjekt und der sachlichen Erscheinung des Objekts zurück- tritt hinter einem scheinbaren Gegenüber von zwei völlig ge- schiedenen, unabhängig voneinander bestehenden Parteien. Dieser Eindruck wird aber verstärkt und scheinbar bestätigt durch ein zweites. Eine Einsicht, die gerade unter gewollter Auslöschung der Gesamtpersönlichkeit zustande gekommen ist, gewinnt dadurch einen Charakter von überindividueller Allgemeingültigkeit, der eben mit den Worten „Feststellung", „Objektivität" u. ä. gekennzeichnet wird. Ihr Inhalt scheint dem Subjekt als etwas von ihm gänzlich 1) Die Schwierigkeiten, die sich den Bemühungen um eine sichere Methodik von Biologie und (erklärender) Psychologie entgegenstellen, liegen begründet in der an dieser Stelle bemerklichen Mittelstellung zwischen einer exakt-gesetzlich „feststellenden" Naturwissenschaft einerseits und einer auf persönlichem Ver- stehen beruhenden Auffassung der geistigen Welt andererseits. 48 Theodor Litt, Unabhängiges, lediglich fertig Vorgefundenes gegenüberzustehen; Subjekt und Objekt erscheinen auch im Lichte dieser Betrachtung als zwei Parteien, von denen jede auch ohne das Bestehen der anderen das wäre, was sie ist; der Akt der Feststellung gilt als bloße Abspiegelung dessen, was als Objekt vorgefunden ist, im Subjekt; es scheidet sich ein „Inneres" und ein „Äußeres". Dieser Eindruck verstärkt sich um so mehr, als die Früchte, die das technische Verfahren aus dieser denkenden Bearbeitung des Wirk- lichen zieht, diese aufs glänzendste bestätigen und rechtfertigen. So kommt es, daß überall da, wo nicht die Reflexion sich auf den Denkakt als solchen richtet, das durch die Naturwissenschaften geübte Verfahren als einzig wissenschaftliche „Feststellung" gilt, und zwar im Sinne einer deckenden Wiedergabe des Wirklichen, wie es an sich ist. In Wahrheit würde der menschliche Geist, wenn er nur Feststellungen von diesem methodischen Charakter als Wissenschaft anerkennen wollte, der Wissenschaft grundsätz- lich weite Sphären der Wirklichkeit verschließen, er würde einer geregelten Erkenntnis der nicht in solchem Sinne „feststellbaren" Wirklichkeitsinhalte von vorneherein entsagen. Wie unhaltbar eine solche Position ist, davon kann ihr Verteidiger dann am wirksam- sten überführt werden, wenn man ihm zeigt, daß er, solange er auf seiner Behauptung besteht, sich selbst die Erkenntnis des- jenigen Tatbestandes verbietet, durch den Feststellungen der von ihm einzig als wissenschaftlich anerkannten Art überhaupt erst möglich werden. Denn jene innere Einstellung des Subjekts, welche Voraussetzung aller naturwissenschaftlichen Feststellungen ist, jener Willensakt, der zu der korrelativen Reduktion auf der Subjekt- und Objektseite führt, er kann seinerseits natürlich nicht wieder Gegenstand einer eben solchen „Feststellung" werden, kann nicht durch die Methodik des Denkens, die er selbst hervorbringt, nach rückwärts hin erklärt werden. Selbst wenn für das menschliche Denken von allen Betätigungen des Geistes nur diejenige Interesse hätte, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse hervorbringt, selbst dann müßte es sich entschließen, wenigstens an dieser Stelle eine Denkmethodik von nicht naturwissenschaftlicher Art anzuwenden, mithin als wissenschaftlich anzuerkennen. Es würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sich dazu verstehen müssen, neben der feststellenden auch die technische und zu ihrer Erklärung weiterhin auch die zwecksetzende Betätigung in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen, denn es würde sich erweisen, daß Die Methodik des pädagogischen Denkens. 49 die Herausbildung einer feststellenden Funktion nicht rein aus sich, sondern unter dem Druck der lebendigen Bedürfnisse erfolgt ist, die sich in der zwecksetzenden Funktion zur Bewußtheit klären und in der technischen Funktion ihre Befriedigung suchen. Und es würde sich schließlich bei alledem zeigen, daß jede dieser Einzelbetätigungen samt den sie hervortreibenden Motiven schließ- lich doch nur aus dem Ganzen der Persönlichkeit heraus erfaßt, gedeutet, verstanden werden kann. Damit wäre dann schließlich auch einer Denkmethodik, die sich nicht nur auf die Person in ihrer feststellenden Funktion, sondern in der Ganzheit ihrer Be- tätigungen, in ihrer vollentfalteten Totalität richtet, das Daseins- recht im Reiche der Wissenschaft erstritten, gleichzeitig aber auch erwiesen, daß diese Denkmethodik sich von derjenigen, die sich die Feststellung von Beschaffenheiten und Verhaltungsweisen der „äußeren" Natur zum Ziele setzt, grundsätzlich unterscheiden muß,, weil ihr Gegenstand jenseits der Scheidungen liegt, die das Gegen- über von Außen und Innen und damit die Möglichkeit einer Me- thodik des Feststellens bedingen. Niemals kann die Persönlichkeit erfaßt werden, wenn man sie in ein bloßes „Gegenüber" gebannt, zu einem „Äußeren" hat werden lassen; kann doch jenes Gegen- über nur durch ein Verhalten erzeugt werden, das auf der Subjekt- seite die Gesamtpersönlichkeit hinter einer Einzelfunktion zurück- treten läßt, auf der Objektseite jede „Ganzheit" durch Reduktion auf das Berechenbare zerstört, eben damit aber auch jede über den Gegensatz von Subjekt und Objekt übergreifende Verbunden- heit austilgt. In alledem liegen die Dinge für das Denken, das das Ganze der Persönlichkeit zu erfassen trachtet, genau entgegen- gesetzt: sein Objekt ist nicht ein durch Abstraktion auf das Be- rechenbare Zusammengeschrumpftes, sondern lebendige Ganzheit in allen ihren Wirkensrichtungen und Selbstoffenbarungen ; es findet zu ihr, eben als zu einem Ganzen, den Zugang nicht die Betätigung einer isolierten Einzelfunktion, sondern nur die Totalbetätigung der Persönlichkeit, die im „Verstehen" alle jene Wirkungsrich- tungen in sich anklingen läßt; und endlich ist solcher seelischer Widerhall nur deshalb möglich, weil und insoweit „Subjekt" und „Objekt" nicht in gewollter Scheidung einander gegenüberstehen, vielmehr als Glieder einem und demselben Wirkungszusammenhang, derselben übergreifenden Kulturtotalität eingeordnet, in Wahrheit also garnicht Subjekt und Objekt in dem Sinne sind, wie die „fest- stellbare" Natur und ihr Erforscher. So begreiflich also bei der Kantstudien XXVI. 4 50 Theodor Litt, Außenweltrichtung unseres Denkens die Neigung sein mag, das Erkenntnisideal, dem die Naturwissenschaften nachstreben, als das einzig gültige zu proklamieren, sie stellt uns in Wahrheit yor die Alternative, entweder die Welt des seelisch-geistigen Lebens für unzugänglich jedem wissenschaftlichen Bemühen zu erklären, damit aber u. a. auch die auf naturwissenschaftliche Erkenntnis gerichtete Betätigung des Geistes zu einem unfaßlichen Mysterium werden zu lassen, oder aber diese Welt solchen Methoden zu unterwerfen, die sie nicht zu bemeistern tauglich sind. Wie wir sehen, erweist sich das Problem der pädagogischen Methodik als ein Spezialfall der geisteswissenschaftlichen Methodik überhaupt. Und zwar spitzt sich dieses Problem im Bereich der päda- gogischen Fragestellung in einer ebenso eigentümlichen wie lehr- reichen Weise zu, seine inneren Schwierigkeiten treten hier besonders eindrucksvoll hervor. Der Grund dieser Erscheinung ist, wenn ich recht sehe, dieser. Die Pädagogik ist unter den Geisteswissenschaften diejenige, deren Objekt in ausgesprochenstem Sinne der „inneren" Sphäre angehört. Natürlich sind alle Geisteswissenschaften auf diese Sphäre gerichtet, aber ihre Untersuchungen nehmen doch ihren Ausgang, finden immer einen gegenständlichen Halt und sachliche Umgrenzung an den Taten, Werken, Objektivationen, die in ihrer beharrenden Gegebenheit den Sondergehalt der einzelnen Geistes- wissenschaften deutlich, bestimmen. Durch diese relativ „äußer- liche" Festgelegtheit haben sie alle in gewissem Maße und ge- wissem Sinne etwas an sich von der Art von Objektivität, die den Feststellungen der naturwissenschaftlichen Forschung eignet. Einzig Pädagogik entbehrt jedes sachlichen Anhalts solcher Art, weil ihr „Werk" ja letzten Grundes in jener inneren Welt als solcher liegt, geformtes Seelentum ist. Sicherlich sind auch für sie alle jene Objektivationen des Kulturprozesses nichts weniger als gleichgültig, aber nicht eine bestimmte Klasse von ihnen, son- dern sie alle insgesamt, und sie alle nicht etwa an sich, um ihres Sachgehalts willen, sondern in ihrer Bezogenheit auf das über alle sachlichen Scheidungen hinweggreifende Lebensganze der sich entfaltenden Kultur, dem sie dient. Sie zieht von allen Sachge- bieten her gleichsam Strahlen in das Zentrum hinein, innerhalb dessen alle sachlichen Bestimmtheiten sich in einen universalen Werdeprozeß hinein verflüssigen. Eben dieses Fehlen fester Grenz- linien war auch bestimmend für den Gang, den unsere Untersu- chung genommen hat. Statt ganz unmittelbar auf die Bestimmung Die Methodik des pädagogischen Denkens. 51 des pädagogischen Denkens loszugehen, hatten wir die verschie- denen Bilder zu prüfen, deren Sprache und Denken sich bedienen, um das in sich Unfaßliche in den Kreis des Vorstellbaren hinein- zuziehen. Indem wir dann von allen diesen Vergleichen dasjenige abstreiften, was das Gesuchte zu verfälschen geeignet war, näherten wir uns von verschiedenen Seiten her indirekt dem, was rein an sich für den Begriff nie erreichbar ist. So erklärt es sich, daß Pädagogik in der Tat die objektiv am wenigsten festgelegte, die unexakteste unter den Greistes Wissen- schaften ist. Deshalb ist aber auch gerade sie durch den Versuch, das Ideal naturwissenschaftlich-exakter Feststellungsmethoden den Geisteswissenschaften aufzudrängen, so sehr bedroht wie keine andere. Ist ihr Bestand und ihre Fortentwicklung in Frage gestellt auf der einen Seite durch das Ansinnen, sich einer Methodik von naturwissenschaftlicher Art unterwerfen zu lassen — und ihre Be- handlung als „angewandte Wissenschaft" kommt auf diese For- derung hinaus — auf der anderen Seite durch die Lehre, sie sei überhaupt keine Wissenschaft, so ist dies nichts anderes als die oben formulierte Alternative, vor die man die Geisteswissenschaften überhaupt zu stellen liebt, hier in größter Entschiedenheit ausge- sprochen, weil die Pädagogik die methodische Sonderart der Geistes- wissenschaften mit schroffster Einseitigkeit ans Licht stellt. Daß sie dies tut, das hat seinen tiefsten Grund darin, daß in ihr als der Theorie eines Handelns die mehr als theoretischen Inter- essen, die auf dieser Seite des globus intellectualis in Wahrheit die herrschenden sind, sich zu größter Klarheit herausarbeiten. Genau so, wie die „Feststellungen" des naturwissenschaftlichen Denkens nach ihrer Entstehungsweise und ihrem Recht uns dann am kenntlichsten werden, wenn das Licht des technologischen Den- kens auf sie fällt, so werden uns die tiefsten Motive des „Schauens", das höchste Leistung der Geisteswissenschaften ist, erst dann offen- bar, wenn wir es zu dem gestaltenden Willen der Pädagogik in Beziehung setzen. 4* Politik und Idealismus. Von Hermann Herrigel. Die Fragestellung, von der die folgende Abhandlung ausgeht : „Ist idealistische Politik möglich?" ist angeregt durch Natorps neues Buch „ Sozialidealismus " . Sozialidealismus bedeutet die Frucht- barmachung des Idealismus für das soziale Leben. Der Inhalt des Buches ist zugleich politisch, pädagogisch und philosophisch, denn es erstrebt eine Erneuerung der ganzen politischen Gestal- tung des Volkes durch soziale Erziehung und gründet die soziale Erziehung auf einen radikal durchgeführten Idealismus. Natorp entwirft das Bild einer nicht politisch, d. h. von oben her, son- dern genossenschaftlich, d. h. von unten her aufgebauten sozialen Gemeinschaft, deren Bestand allein auf der freiwilligen Leistung aller Einzelnen für das Ganze beruht. Die Menschen dazu vor- zubereiten ist die Aufgabe der sozialen Erziehung. Erziehen darf aber nicht heißen, den Menschen zu einem bestimmten, vorgesetzten Ziele hinzuziehen, ihm bestimmte Wahrheiten und Gesinnungen beizubringen, sondern ihn gerade umgekehrt aus aller Bestimmt- heit durch endliche Dinge (der heutigen Politik und Wirtschaft) zurückzuziehen, ihn zum eigenen Selbst, zum Ursprung, der vor aller Bestimmtheit liegt und aus dem erst alle Bestimmtheit fließt, zu führen. Erziehung soll „nur Hinweis sein, das Gesuchte bei sich selber zu suchen, es aus den Tiefen der Selbstbesinnung zu schöpfen". Ihr Ziel ist, die Masse aufzulösen und „das Volk von Genies" zu verwirklichen, so daß die Individualkräfte sich nicht mehr gegenseitig binden, nicht mehr „ihren Druck auf den Punkt des Aufeinanderpralls richten", sondern zum freien Auswirken kommen und „einem bleibenden Friedenszustand gemeinsam be- wußt zustreben". Diese idealistische Grundlegung der Erziehung ist aber von Natorp nicht bloß als eine rückwärtsschauende Theorie gedacht, die sich selber genügt, sondern sie soll verwirklicht werden, sie soll den vorwärtsweisenden Plan abgeben für den Hermann Herrigel, Politik und Idealismus. 53 neuen politischen „ Aufbau der Menschengemeinschaft in Wirtschaft, Staat und Erziehung". Damit erst ist der Sinn des Sozialidea- lismus erfüllt. Natorp sagt in der Einleitung seines Buches: „Ein gesunder Idealismus darf nicht in die Weiten lebensferner „„Ideen"" Jiinausschweifen, er muß mitten im Leben, im härtesten Leben der ringenden Menschheit heimisch werden. Idealismus . . . bedeutet das kühne Wagnis radikaler Umkehr und Erneuerung aus innerstem Lebensquell". Ist aber der Idealismus überhaupt einer solchen Anwendung auf die Praxis fähig? Kann das Ideal- bild des genossenschaftlichen Staates, wie es sich aus der Durch- dringung des Sozialismus mit dem idealistischen Grundsatz der Autonomie des Geistes ergibt, verwirklicht werden, oder schließt es nicht Voraussetzungen ein, die seine Verwirklichung unmöglich machen? Die Erörterung dieser Fragen, die sich auf das Ver- hältnis der drei Elemente des Buches zueinander beziehen, ist von um so größerer Bedeutung, weil sie selbstverständlich Scheinendes in Angriff nehmen. Die Besonderheit des Transzendental-Idealismus, um den es sich hier nur handelt, liegt darin, daß er die Einheit nicht mehr wie das Mittelalter als höchste, über der Wirklichkeit stehende und sie umfassende Realität denkt, sondern als der Wirklickkeit zugrunde liegend, und daß ihm die Einheit nicht mehr gegeben, sondern problematisch geworden und ins Unendliche gerückt ist. Dieser Idealismus, der das Denken der letzten Jahrhunderte be- herrscht, geht hervor aus der nominalistischen Wendung des Uni- versalienstreites und steckt schon in der Formel „universalia post rem". Die substanzielle Einheit der mittelalterlichen Welt ist zerbrochen, der Mensch entdeckt zugleich in ganz neuer Weise die Fülle der Diesseitigkeit, der Wirklichkeit: damit ist schon das neue Problem der gesetzmäßigen Einheit der Wirklichkeit gestellt. Damit aber, daß die Einheit überhaupt problematisch wird, ist sie ins Unendliche gerückt. Sie ist nicht mehr die uni- versale Hülle, die die ganze Welt zusammenhält, und in der alle Einzelheiten, auch der Mensch selber ihren planmäßigen, festen, in der göttlichen Weltordnung vorgesehenen Ort haben, sondern sie wird nun selber immanent und im Innern des Menschen ge- sucht. Denn der Unendlichkeit gegenüber erwacht im Menschen das mystische Selbstbewußtsein des Individualismus, das seinen ersten Ausdruck bei Eckehart gefunden hat. Durch dieses Subjekt der „intensiven Unendlichkeit", das in den folgenden Jahrhun- 54 Hermann Herrigel, derten des neuen Idealismus alle philosophischen Probleme auf sich gezogen hat, hängen der Idealismus und der Individualismus innerlich aufs engste zusammen. Der Individualismus ist die Form, in der der Idealismus aktiv und praktisch wird. Zunächst freilich ist der idealistische Grundsatz, daß die Wirklichkeit nicht ein regelloses Chaos sei, sondern daß ihr eine Gesetzmäßigkeit zu- grunde liege, kein praktischer, sondern ein Postulat des Denkens, einer reflektierenden Einstellung auf die Wirklichkeit. Dieser reflektierende Idealismus ist „Kritik", das heißt „hinaus über das bloße Verstehen der Sache, das Verstehen dieses Verstehens selbst aus seinen eigenen tiefsten Gründen, den Gesetzen des Logos" ; da er dem Gebiete des Verstehens, nicht des Bildens und Handelns angehört, geht sein Weg vom Verstandenen, d. h. der Wirklich- keit, zu den Vernunftgesetzen des Verstehens. Diese sind ent- weder konstitutiv wie die Kategorien, oder regulativ wie die Ideen, aber nicht praktisch im Sinne einer zu verwirklichenden Aufgabe. Auch die „Kritik der praktischen Vernunft" hat es weder mit der Frage praktischer Ziele, noch auch der Verwirk- lichung eines Idealzustandes (der „Glückseligkeit") zu tun, sondern „lediglich mit der Vernunftbedingung (conditio sine qua non) der letzteren, nicht mit einem Erwerbmittel derselben". Von diesem Idealismus aus, der nur eine Erkenntnis der Vernunftbedingungen, d. h. der transzendentalen Prinzipien ist, bedarf es einer völligen Umkehrung, um ihn zum Prinzip praktischer Aufgaben zu machen. Diese Umkehrung war aber unausbleiblich und notwendig, wollte der Idealismus nicht eine weltflüchtige Theorie bleiben, und sie wurde auch tatsächlich schon von der Reformation vollzogen. Sie macht die transzendentalen Vernunft bedingungen zu den Prin- zipien der ethischen Haltung des Individuums und stellt die Forderung auf, sie psychisch zu verwirklichen. Diese Herein- ziehung der transzendentalen Prinzipien in das psychologisch- empirische Subjekt ist aber das Hauptstück der individualistischen Subj ektauif assung. Der eigentliche Sinn des Individualismus ist die Einheit des Transzendentalen und des Psychologischen. Sie bedeutet, daß die Form, d. h. das Vernunftgemäße im weitesten Sinne, unmittelbare Funktion des Lebens selber ist, so daß also alle Gesetzlichkeit schon in der niedersten Einheit des Lebens, im Augenblick, liegt. Das Gesetz besitzt kein selbständiges Eigendasein, sondern ist nur in dem Augenblick selber da, in welchem es sich auch inhaltlich Politik und Idealismus. 55 differenziert. Damit ist zwischen der Materie des Gesetzes und der Form der Gesetzlichkeit jeder Unterschied (der die kantische Ethik völlig beherrscht) aufgehoben, denn das Gesetz ist nichts mehr außer der reinen Funktion des Lebens. Das bedeutet aber, daß alle Gesetzlichkeit überhaupt formaler Natur sein muß, und damit ist es grundsätzlich ausgeschlossen, daß dem Individuum irgend eine inhaltbestimmte Forderung von außen her gegenüber- tritt. Die Inhaltsbestimmtheit der formalen Gesetzlichkeit fließt vielmehr aus dem Leben selber und kann daher niemals im Wider- spruch stehen zum Gewissen. Der Individualismus leugnet also keineswegs eine Gesetzlichkeit überhaupt, er erhebt nicht den Anspruch auf Freiheit im Sinne unbeschränkter subjektiver Will- kür, sondern er leugnet nur den Gegensatz zwischen der Gesetz- lichkeit und der Lebenstotalität, zwischen einem allgemeinen Gesetz und dem individuellen Lebenslauf. Die individualistische Freiheit verlangt nur Raum für die ungehemmte Entfaltung der dem Individuum als solchem zugehörigen und sein Wesen aus- machenden Gesetzmäßigkeit, des „individuellen Gesetzes". Diese Forderung ist aber nur die logische Folgerung aus dem formalen d. h. inhaltsleeren Charakter des individuellen Gesetzes. Denn wenn es inhaltlich irgendwie vorbestimmt wäre, und wenn damit seine unendliche Auswirkungsmöglichkeit an irgend einer Stelle eine grundsätzliche Grenze hätte, so würde das ein allgemeines, jenseits des Individuums bestehendes, transzendentes Gesetz vor- aussetzen, so daß das individuelle Gesetz in Wahrheit kein Gesetz, sondern nur ein Satz des transzendenten Gesetzes wäre. Indivi- dualismus bedeutet also, daß das individuelle Gesetz das einzige Gesetz überhaupt ist, d. h. daß alle überhaupt mögliche Gesetz- mäßigkeit dem Individuum immanent, somit transzendental, nicht transzendent ist. Nur so kann die Wirklichkeit eine freie Schöpfung des Individuums sein. Die Umkehrung des eben ge- nannten Satzes besagt ferner, daß das Individuum seinem Wesen nach reine Gesetzmäßigkeit ist, d. h. alle seine Lebensäußerungen notwendige Funktionen des individuellen Gesetzes sind. Das ist der Ausdruck der vollen Identität des transzendentalen und des psychologischen Subjekts. Auch das liegt im Begriff des indivi- duellen Gesetzes selber schon, denn wenn keine überindividuelle allgemeine Gesetzmäßigkeit vorhanden ist, ist gar kein Kriterium denkbar, nach welchem ein Widerspruch zwischen dem individuellen Gesetz und dem individuellen Lebensablauf aufgefunden und er- 56 Hermann Herrigel, kannt werden könnte. Diesem Urteil liegt daher immer der Fehler zugrunde, daß das individuelle Gesetz zum über individuellen ver- allgemeinert wird. Es sind also letzten Endes zwei Sätze, die das Wesen des Individualismus, der Einheit von Individuum und Gesetzlichkeit, ausmachen: Das Individuum ist reine Gesetzlich- keit, und: Alle Gesetzlichkeit ist individuell. Der geschichtliche Ursprung dieser Theorie des Individualismus ist in dem Geniebegriff Kants zu suchen. „Genie ist die angebo- rene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt". Die Kunst setzt Regeln voraus, aber da es kein Begriff, keine allgemeine Regel sein kann, „so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich". Hier kommt also zur bestimmenden und reflektierenden Urteilskraft ein Drittes hinzu, das überhaupt nicht Urteilskraft, sondern schöpferische Kraft ist, denn die Kunst ist das Gebiet, in dem der Gegensatz zwischen dem Besonderen und Allgemeinen, der Freiheit und Notwendigkeit aufgehoben ist. Das Genie, die Einheit des transzendentalen und des psychologi- schen Subjekts, hat aber bei Kant nur hier seine Stelle. Er kennt kein wissenschaftliches Genie und — was hier vor allem in Betracht kommt — er ist weit entfernt, dem Menschen für das Gebiet des praktischen Handelns, der Verwirklichung, moralisches Genie zuzuschreiben. „Die völlige Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnen weit, in keinem Zeitpunkt seines Daseins, fähig ist. — Die sittliche Stufe, worauf der Mensch (aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftige Geschöpf) steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Ein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe, nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens". Da die Nachfolger Kants diese Einschränkung des Geniebegriffs fallen ließen, ist, wie Cassirer sagt, „Kants Lehre vom Genie der historische Aus- gangspunkt für alle jene romantisch-spekulativen Fortbildungen des Geniebegriffs geworden, in denen der produktiven ästhetischen Einbildungskraft eine schlechthin weit- und wirklichkeitserzeugende Bedeutung zugeschrieben wurde". Das trifft den Kern des praktischen Idealismus, der vom In- dividuum aus die Verwirklichung der Autonomie des Geistes und Politik und Idealismus. 57 die geistige Durchdringung des praktischen Lebens erwartet. Dieser individualistische Geist unserer Zeit findet seinen Ausdruck weniger theoretisch in den direkt ausgesprochenen Zielsetzungen und Programmen, als methodisch darin, daß er dem ganzen Denken und Wollen zugrunde liegt. Denn unser ganzes geistiges Leben kennt in seiner vollkommenen Desorganisation und nach dem Ver- lust jeglicher Autorität als den einzigen sicheren Grund nur noch das Erlebnis und es weiß keinen andern Ausweg aus seinen Nöten als die „Unmittelbarkeit" und „Sachlichkeit" des Erlebens, die indi- viduelle Wahrhaftigkeit, die reine Selbsttätigkeit, die volle Be- freiung der Kräfte des Individuums. Die Jugendbewegung und alles was damit zusammenhängt, überhaupt alle jene Reform- und Erneuerungsbestrebungen, die vor allem auf einen neuen Aufbau der Gemeinschaft gerichtet sind, sind im Grunde individualistisch und, so verschieden sie übrigens unter sich in Weg und Ziel sein mögen, sie sind alle darin einig, daß nur aus dem Individuum d. h. „aus innerstem Lebensquell" eine Erneuerung des Lebens und der Gemeinschaft möglich sei. Sie kommen von dem indivi- dualistischen Postulat nicht los, obwohl ihr Ziel über den Indivi- dualismus hinausgesteckt ist ; denn Gremeinschaft bedeutet Bindung des Individuums. Ihnen schwebt aber eine Gemeinschaft vor, die ganz auf „innerer Wahrhaftigkeit" beruhen, also nie als starre Form in Gegensatz zum flüssigen Erlebnis treten, sondern in jedem Augenblick vom freien Willen des Einzelnen getragen sein soll. Daher sind sie auch nicht über die Gründung unzähliger sektenhafter Bünde hinausgekommen, denn die Sekte ist die eigent- liche Form der individualistischen Gemeinschaft. Dieser Indivi- dualismus beherrscht in pazifistischen und revolutionären Pro- grammen, in den proudhonistisch-anarchistischen Genossenschafts - idealen, im Rätegedanken, in dem Schlagwort des „Aufbaus von unten" selbst die Politik. Ja man darf wohl allgemein sagen, daß soweit die Bürgerlichen und „Geistigen" überhaupt ein posi- tives Verhältnis zur Revolution gefunden haben, der Grund ihrer revolutionären Gesinnung in einem individualistisch aufgefaßten Idealismus zu suchen ist. Wie tief unser ganzes Leben in allen Gebieten methodisch von den individualistischen Grundgedanken durchdrungen ist, könnte nur ein vollständiger Überblick zeigen. Es sei nur noch hingewiesen auf den analytischen Psychologismus, der die vorherrschende Denkmethode, nicht nur der heutigen Philosophie, sondern auch der Geschichtschreibung und Biographie, 58 Hermann Herrigel, auch in der Literatur und Kunst ist und der nur darin seinen Grund und Sinn hat, daß er auf der unausgesprochenen Voraus- setzung beruht, daß die Erlebnisse nicht bloß empirisch-psycho- logische Tatsachen sind, sondern daß in ihnen die Gesetzlichkeit des Geistes unmittelbar sich auswirkt und erkennbar wird. Der großen Bedeutung gegenüber, die der Individualismus daher heute gerade auch für die praktischen Fragen besitzt, ist es notwendig, einmal grundsätzlich die Frage aufzuwerfen nach seiner Leistungsfähigkeit für die Verwirklichung idealistischer Forderungen, das heißt nach seinen Grenzen. Unter der idealisti- schen Forderung soll hier nicht bloß die Verwirklichung eines reinen Idealzustandes verstanden werden, sondern jede Zielsetzung, die irgendwie auf eine, wenn auch nur teil- und schrittweise, „Verbesserung" des Bestehenden ausgeht. Verbesserung bedeutet immer die Überwindung einer sachlichen oder persönlichen Ge- gensätzlichkeit, die Herstellung eines Friedenszustandes, einer „Einheit", ob es sich um den Arbeitsfrieden oder um Schulreform oder um den Aufbau der Familie handelt. Wie das alles sein müßte, wissen wir sehr genau; an Programmen und Theorien fehlt es uns wahrlich nicht. Der Individualismus erwartet die Erfüllung dieser Forderungen immer vom freien Willen des Ein- zelnen. Zu den politischen Mitteln der Organisation „von oben her" hat er (und die Erfahrung gibt ihm darin Recht) alles Zu- trauen verloren und so hält er grundsätzlich nur das für gesichert, was unmittelbar lebendig ist und auf der Einsicht und dem Ver- antwortungsgefühl aller Einzelnen beruht. Er hält eine Ordnung des ganzen Lebens nicht nur für erstrebenswert, sondern auch für möglich, die niemals zur Form erstarrt, sondern in der Gesinnung dauernd lebendig bleibt, und glaubt, daß nur auf diese Weise Forderungen geistiger Natur sich in die Wirklichkeit umsetzen lassen. Unsere Frage ist nun nicht darauf gerichtet, aus welchen er fahrungs mäßigen, psychologischen Gründen diese Forderungen in der Wirklichkeit noch nicht erfüllt worden sind, sondern ob dieses Zurückbleiben nur ein empirisches, durch zufällige geschicht- liche Gründe bedingtes ist oder ob die Erfüllung der idealistischen Forderung aus wesentlichen Gründen unmöglich ist. Wir be- gnügen uns nicht mit dem Gemeinspruch: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" ; wir dürfen nicht dem Glauben nur einen Unglauben gegenüberstellen, sondern es handelt sich für uns darum, aus dem Wesen des Individualismus Politik und Idealismus. 59 die grundsätzliche, theoretische Grenze seines möglichen Bereiches in der Praxis einzusehen. Da alle idealistischen Forderungen als Einheitsforderungen auf die Verwirklichung der Herrschaft des Geistes hinzielen, wird zu fragen sein, ob die Autonomie des Geistes nur durch die wirkliche, psychologische Autonomie des Individuums möglich ist, oder ob die Verwirklichung nicht ge- rade umgekehrt die Überwindung des Individualismus voraussetzt. Da die letzte idealistische Einheitsforderung in der Praxis der Aufbau der menschlichen Gemeinschaft ist, so fällt unsere Frage zusammen mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Indivi- duum und Gemeinschaft. Bedeutet Autonomie des Geistes im praktischen Leben den Primat des Individuums (wie der idealisti- sche Individualismus will) oder den Primat der Gemeinschaft? Mit dieser Problemstellung kehren wir zum Sozialidealismus Natorps zurück. Daraus ergibt sich nun die anfangs zurück- gestellte Frage nach dem Verhältnis des philosophischen Gehaltes des Buches zu seinem politisch-pädagogischen. Der innere Zu- sammenhang zwischen Idealismus und Individualismus in dem ge- nossenschaftlichen Staat ist nach den letzten Ausführungen ganz klar, denn die Voraussetzung und Forderung der Freiwilligkeit der Individuen im Dienste der Gesamtheit ist die unmittelbare Folgerung aus dem idealistischen Grundsatz, daß alles Äußere von innen her begründet sein muß. Der individualistische Charakter dieses Gemeinwesens liegt aber nicht allein darin, daß es sich organisch von den Individuen her aufbaut, sondern die innere Struktur des ganzen Gemeinwesens entspricht vollkommen den beiden Sätzen, die die Analyse des Individualismus ergab: Die absolute Freiwilligkeit besagt, daß die einzelnen Glieder reine Gesetzlichkeit sind, und das Fehlen einer mit Zwangsgewalt aus- gestatteten selbständigen politischen Zentrale, daß alle Gesetz- lichkeit bei den einzelnen Gliedern liegt. In sich ist das Ideal- bild, das Natorp entwirft, von vollkommener innerer Folgerichtig- keit und Geschlossenheit, aber was vermag ein solches Idealbild für die praktische Politik zu bedeuten? „Jede ernsthafte Theorie muß heute den Weg zur Praxis finden, sonst hat sie verspielt". Der eigentliche Sinn dieses Buches ist auch die Verwirklichung des Ideales, seine Umsetzung in die Praxis. Wir dürfen daher nicht innerhalb des ideellen Kreises stehen bleiben, sondern müssen nach der Möglichkeit seiner Verwirklichung fragen: Ist es grund- sätzlich möglich, den Friedenszustand des genossenschaftlichen 60 Hermann Herrigel, Staates durch rein erzieherische Mittel, das heißt durch „ Wollen machen", durch die Befreiung des individuellen Willens, durch seine „Rücklenkung auf den reinen Grund-willen", herbeizuführen oder nur (wenn auch nicht ausschließlich) durch politische Zwangs- mittel? Diese Frage nach dem Verhältnis von Erziehung und Politik ist die Grundfrage des praktischen Idealismus einerseits und der Politik andererseits. Die ideelle Möglichkeit des genossenschaftlichen Staates hat ihren tiefsten Grund in dem Glauben an eine absolute Harmonie aller Gegensätze. In dieser Einheit, die hinter jeder Gegensätz- lichkeit steht, findet nicht allein der Gegensatz zwischen einzelnen Individuen und Individuum und Gesamtheit, sondern auch der zwischen Theorie und Praxis überhaupt seine Lösung, so daß durch sie die praktische Verwirklichung nicht bloß möglich, son- dern gefordert wird. Der absoluten Einheit des Geistes ent- spricht auf der Subjektseite die reine geistige Aktivität der Individuität. Sie ist das Subjekt der Freiwilligkeit, die die Ge- nossenschaft zu einem Organismus von geistigen, gleichgerichteten Kräften macht und den Kampf von aktiven und Trägheitskräften, von Geist und Ungeist ausschließt. Allein ihre volle Auflösung findet die Gegensätzlichkeit erst in der absoluten Einheit der dritten Stufe des Dreischrittes, in welchem der Geist von der potentiellen Unendlichkeit der Null über die Gegensätzlichkeit aufsteigt zur erfüllten und absoluten Unendlichkeit. Die Konti- nuität dieses Weges hat aber einen Bruch, denn der Übergang von der zweiten Stufe zur dritten muß erkauft werden um den Verlust der endlichen Bestimmtheit d. h. der Inhaltlichkeit des Gegensatzes. Es ist schließlich nicht mehr der Gegensatz zwischen konkreten Gliedern mit seinem besondern, einmaligen Inhalt, der in der absoluten Einheit aufgehoben ist, sondern die letzte, nur noch formale Gegensätzlichkeit zwischen (reist und Ungeist über- haupt. Was kann also diese Lösung in der Leerheit des Formalen für die konkreten Gegensätze des praktischen Lebens anderes be- deuten, als nur das Postulat, daß alle Gegensätzlichkeit im abso- luten Unendlichen ein Ende finden muß, da doch beim Übergang von der zweiten zur dritten Stufe, von der Gegensätzlichkeit zur Einheit, gerade diejenigen^ Strukturelemente der zweiten Stufe, die die Gegensätzlichkeit ausmachen, verschwinden! Die absolute Einheit kann also jedenfalls für die Praxis nicht die Bedeutung einer Regel haben, nach der im einzelnen Fall ver- Politik und Idealismus. 61 fahren werden kann. Noch deutlicher wird dieser Sprung zwischen den Stufen auf der Subjektseite. Die absolute Einheit der Gegen- sätze liegt jenseits des Endlichen, das Reich des Endlichen aber ist als das der Gegensätzlichkeit definiert. Das Subjekt der Ein- heit und der Gegensätzlichkeit ist .daher nicht identisch. Das Subjekt des Stufengangs ist, wie Natorp ausdrücklich sagt, „nicht das bloß gedachte universale (Kants „ „transzendentales" ") Subjekt; dieses hat bloß methodische, nicht reale Bedeutung. Der ganze beschriebene Stufengang hätte gar keinen Sinn im reinen An-sich des All-lebens; aber dieses ist ja, für das wirkliche Bewußtsein, nur die obere, ideale Grenze. — Also gilt der Stufengang nur im Zwischenreich, der (das? d. V.) allein überhaupt eine Entwick- lung, wie des Gehalts, so der Ichbeziehung kennt. — Reales Be- wußtsein ist also nur zu denken als Gegenverhältnis wenigstens „eines (nicht bloß idealen) Ich und eines (nicht bloß idealen) Du". Damit ist der Unterschied zwischen dem transzendentalen und dem psychologischen Subjekt ganz klar gezogen und es ist damit zugestanden, daß die Einheit nicht für das reale, psychologische, sondern nur für das ideale Subjekt gilt. Die Individuität ist nur transzendentales Subjekt der reinen Einheit, der „Genossenschaft", allgemein der dritten Stufe und darf nicht in die reale Welt der zweiten Stufe hereingezogen werden, wie es mit dem psychologi- schen Begriff der Freiwilligkeit geschieht. Das psychologische empirische Subjekt ist aus dem Bereich der absoluten Einheit ebenso ausgeschlossen wie aus dem Bezirk der „Heiligkeit". Die Einheit gehört ihm nur als seine „obere, ideale Grenze" zu, als seine unendliche Aufgabe, der es sich wohl nähern, die es aber nie verwirklichen kann. Da der Mensch also zwar immer Gegen- sätze überwinden, aber nicht aus der Gegensätzlichkeit überhaupt heraustreten kann, ist dieses „nie" keine empirische, sondern eine wesentliche Grenzbestimmung. Das psychologische Subjekt ist nicht reine geistige Aktivität und reine Gesetzlichkeit, wie der Individualismus fordert, sondern das der Einheit in ihm Wider- strebende, das seine Mangelhaftigkeit, seinen „Fragmentcharakter" ausmacht, gehört mit zu seinem unverlierbaren Wesen. Der Individualismus macht aber den Fehler, daß er sich über diesen Gegensatz zwischen dem transzendentalen Subjekt seiner idealen Forderungen und dem psychologischen Subjekt hinweg- setzt. Paul Ernst nennt das zutreffend die „idealistische Gewalt- tat". Der Grund dieses Fehlers liegt schon im Ursprung des 62 Hermann Herrigel, Individualismus selber, denn das Transzendentale wird schon durch die Rückwendung auf die Praxis umgedeutet zur psychologischen Aktivität, d. h. zur Freiwilligkeit und „Gesinnung". Der Indi- vidualismus ist also letzten Endes ein umgekehrter Psychologis- mus, denn während dieser psychologische Vorgänge zu transzen- dentalen Prinzipien macht, macht jener transzendentale Prinzipien zu psychologischen Fähigkeiten. Diese Unklarheit bleibt ihm immer anhaften; sie tritt deutlich zutage im Lebensbegriff Sim- meis, der zwischen einem metaphysischen und einem vitalen Sinne schwankt. Einmal sagt er: „Wie es einen weitesten Begriff des Guten gibt, der Gutes und Böses in deren relativem Sinne ein- schließt, einen weitesten Begriff des Schönen, der den Gegensatz von Schönem und Häßlichem in sich befaßt, so ist das Leben in dem absoluten Sinne etwas, was sich selbst im relativen Sinne und seinen Gegensatz, zu dem es und der zu ihm eben relativ ist, einschließt, oder sich zu ihnen als seinen empirischen Phänomenen auseinanderfaltet". Und an anderer Stelle: „Darum ist jeder Lebensaugenblick, jedes Sich -Verhalten und Handeln das ganze Leben; dieses ist nicht eine Totalität für sich, der das einzelne Handeln in ideeller Abgetrenntheit gegenüberstünde ". Dieser inneren Schwierigkeit des Individualismus ist auch Natorp nicht entgangen, wenn er die Verwirklichung seines Planes fordert und doch das reale Subjekt als das wesentlich gegensätzliche bestimmt, oder wenn er seinen politisch gedachten Plan an anderer Stelle nur als regulative Idee verstanden wissen will: „Andererseits wäre es ein glattes, leicht zu berichtigendes Verkennen jedenfalls des von uns vertretenen, „„kritischen"" Rationalismus, wenn die von ihm angestrebte Begründung im allgemeinen Gesetze der Idee als Konstruktion aus einem allgemeinen Ideal der Vernunft, das heißt konstitutiv („„transzendent"") und nicht lediglich im Sinne der regulativen Methodik der Idee („„transzendental"") gedeutet würde". Die reine, formale und inhaltleere Idee, die im Unendlichen liegt, kann für den Menschen, seinem „moralischen Zustande" gemäß, nicht praktische Aufgabe der Verwirklichung sein, sondern nur der transzendentale, konstitutive oder regulative, Grund seiner Wirklichkeit. Wird die praktisch- sittliche Aufgabe des Menschen ins Unendliche gerückt, so wird damit ein Subjekt gefordert und vorausgesetzt, das reine Gesetzlichkeit ist, da nur die reine Ge- setzlichkeit ins Unendliche vorzudringen vermag. Der Mensch Politik und Idealismus. 63 aber vermag nur endliche Aufgaben zu verwirklichen. Damit ist nicht der Idealismus, sondern nur der idealistische Individualismus abgelehnt und das Problem des Finitismus gestellt. Vielleicht hat auch Kant dem Menschen noch zu viel zugestanden, wenn er ihm die Achtung vor dem formalen Sittengesetz als seine Tugend zuwies; denn damit ist die inhaltliche Bestimmung des formalen Sollens, auf die alles ankommt, dem individuellen Gewissen jedes Einzelnen überlassen. Um das Sollen immer richtig zu deuten, d. h. die praktischen Gegensätze zur Einheit führen zu können, ist von ihm nicht allein die in jedem Augenblick verwirklichte volle Einheit von Sein und Sollen, sondern auch eine unausge- setzte, nie ermüdende Gewissenswachheit verlangt. Damit ist dem Menschen eine Verantwortung für das Unendliche aufgeladen, der der empirische Mensch nicht gewachsen ist. Das letzte Ergebnis läßt sich auch ganz kurz und einfach so ausdrücken, daß das individualistische Subjekt wohl Forderung, aber nicht Voraussetzung sein kann, während der Idealismus beides vertauscht und unbesehen seine transzendentale Voraussetzung zur Forderung, seine Forderung zur psychologischen Voraussetzung macht ; und zwar zur Voraussetzung der Verwirklichung von Auf- gaben, die außerhalb des individualistischen Bereiches liegen. Der transzendentale Idealismus kann ja nur vermittels des Individua- lismus sich auf die Praxis beziehen, denn die methodische Richtung des idealistischen Denkens: „von innen nach außen" setzt an sich schon ein dynamisches, schöpferisches Individuum, griechisch Ato- mon, an den Anfang. Eine rein logische Entwicklung des ato- mistischen Gedankenganges, auf die sich auch Natorp zustimmend bezieht, gibt Arthur Bonus in seinem Gespräch „Der Physiker; Eine Phantasie". Das atomistische Denken hat aber in sich eine Schranke, da im Atom wohl eine ins Unendliche gehende Energie liegen kann, aber kein Prinzip der Begrenzung ihrer Auswirkung, d. h. der Zielsetzung. Die Atomtheorie erfüllt alle Ansprüche eines Den- kens, das nur auf die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten gerichtet ist, aber sie versagt, wo es sich um das Konkrete, um die be- grenzte Gestalt handelt. Es wäre denkbar, daß sie die Gesetz- mäßigkeit der chemisch-physiologischen Vorgänge im lebendigen Organismus vollkommen erklären könnte ; sie wird aber niemals etwas darüber aussagen können, warum etwa zwei Pflanzen, in denen sich dieselben Gesetzmäßigkeiten abspielen, verschiedene 64 Hermann Herrigel, Gestalt haben. Und das gilt nicht bloß für die organische Ge- stalt, sondern für jede Begrenzung des gesetzmäßigen Ablaufes. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß das Atom mit der bestimmten Gestalt irgend eines Gegenstandes nichts zu tun hat, daß beide grundsätzlich inkommensurabel sind und daß hier neben dem un- endlichen Prinzip der Atomistik ein anderes Prinzip wirksam ist, das Prinzip des Konkreten. Das alles ist nichts Neues, aber es mußte hier daran erinnert werden, da auch in der Gemeinschaft das Prinzip des Konkreten steckt. Die Gemeinschaft ist nicht atomistisch-individualistisch zu verstehen ; sie ist keine Funktion der individualistischen Energien, sondern ihre Begrenzung. Das Prinzip des infinitesimalen Denkens, d. h. des Denkens mit atomistisCh-unendlichen Größen ist die Ersetzung des stati- schen endlichen Substanzbegriffes durch den dynamischen Funk- tionsbegriff. Es liegt schon im Begriff des Unendlichen, daß die Funktionen nur Richtungsbestimmtheiten sind und daß sie in ihrer Richtung beharren. Das gilt auch von den individualistischen Energien. Ihre Richtung ist gegeben durch die idealistische For- derung, die Gegensätzlichkeit, die im Wesen des empirischen Menschen liegt, in einer Einheit aufzulösen. Der Charakter dieser Forderung ist also der einer unendlichen Aufgabe. Das bedeutet, daß die beiden Grund-Sätze des Individualismus, die wir fanden, niemals zur psychologischen Voraussetzung werden können, weil die in ihnen enthaltene Forderung unerfüllbar ist. Sie müssen also, wenn sie auf das psychologische Subjekt übertragen werden, eingeschränkt werden: Der Mensch ist nicht reine Gesetzlichkeit, das heißt: Sein und Sollen sind in seinem "Wesen keine gegebene Einheit, sondern Gesetzlichkeit liegt in ihm nur als grundsätz- liche Möglichkeit, Dissonanzen zu überwinden. Da ferner diese Möglichkeit nie ganz erfüllt ist, ist auch nicht alle Gesetzlichkeit individuell, sondern es muß eine Gesetzlichkeit vorhanden sein, deren Bestand unabhängig vom Individuum und überindividuell ist. Wir können dasselbe konkret ausdrücken, indem wir sagen: Der Mensch hat die Möglichkeit, eine teilweise Harmonie seiner inneren Gegensätze zu finden. Diese Möglichkeit ist aber erfüllt, wenn ihm das auch nur ein einziges Mal gelingt; die Aussage über die bloße Möglichkeit darf nicht übergehen in die empirische oder gar apodiktische Aussage, daß alle Menschen zu einer reinen Harmonie gelangen könnten oder müßten. Es ist wohl „ein ganz gewisser Schluß, daß aus jedem Individuum, wäre es nur erst Politik und Idealismus. 65 bis zum Letzten, Innersten erschlossen, die eine unendliche, gött- liche Kraft hervorleuchten müßte", aber diese Bedingung ist un- erfüllbar. Die grundsätzliche Möglichkeit ist eine transzendentale Aussage, die Voraussetzung ihrer Erfüllung dagegen gehört dem Gebiet des Empirisch-Psychologischen an. Wenn aber das indivi- dualistische Ideal für den Menschen nur als grundsätzliche Möglich- keit vorhanden ist, so ist es auch nur eine Angelegenheit des Einzelmenschen, des isolierten Individuums, das sich selbst genügt und soweit es sich selbst genügt. Zu einer überindividuellen An- gelegenheit könnte der Individualismus nur dann werden, wenn alle Menschen die ideale Forderung gleichmäßig erfüllen würden. Natorp schreibt: „Der Rückgang auf den Grund der Bildung ist zugleich auch Rückgang auf den Grund der Gemeinschaft". Nur wenn alle Individuen zum „gemeinsamen Grund", d. h. zur In- dividuität gelangen würden, würden sie eine Gemeinschaft bilden. Dann wäre die psychologische Grundlage vorhanden, für den genossenschaftlichen Aufbau der Gemeinschaft, in der alle Gegen- sätzlichkeit durch den freiwilligen Dienst aller am Ganzen über- wunden würde. Alle Kräfte, die jetzt im Endlichen, d. h. in der Gegensätzlichkeit gebunden sind, werden in diesem wirklich ge- wordenen „Volk von Genies", im „Staate der Gleichen" befreit sein und vor der absoluten Einheit werden alle einander gleich sein. Die „Koinzidenz von Freiheit und Gleichheit" aber bedeutet, daß jeder „das Seine" treiben wird. Das, lehrt Plato, ist die Gerechtigkeit. Sie ist der reine Zusammenklang der Willen, der keiner zwangsmäßigen Mittel bedarf, sondern sich dauernd selber erneuert. Dann wird, wie Natorp sagt, „Erziehung nichts mehr von Zwang bedeuten, sie wird nicht mehr ein Ziehen sein zu einem draußen gelegenen Ziel; ihre Führung wird nichts mehr von seelischer Vergewaltigung, nichts von Suggestion einschließen, kaum von Mentor schaft ; es wird auch nicht der Mahner von draußen nur sein Amt übertragen auf den Mahner von innen, den er Gewissen nennt und sich vorstellt wie einen finsteren Tyrannen, der nur zu richten, zu strafen und in Banden zu schlagen, aber nicht zu befreien weiß. Sondern Liebe und brüderliches Verstehen wird alle Furcht austreiben, die echte Brüderlichkeit vor der gleichen Not wird uns befreien zur edlen Gleichheit wechselseitiger Hilfsbereitschaft, und in solch brüderlicher Gleichheit, gleicher Brüderlichkeit wird ein jeder sich frei wissen von sich selbst und vom andern; denn jeder wird den andern so frei wissen wollen, Kantstudien XXVI 5 66 Hermann Herrigel, wie er selbst ist, er ist ja sein Bruder ; er wird sich selbst befreit fühlen, indem er dem andern zu seiner Freiheit hilft, denn nichts befreit so wie Befreien des andern". Diese Gemeinschaft ist aber die der Blumen auf dem Felde. Sie ist nicht der Friede nach dem Krieg; sie schließt keine überwundenen Gegensätze ein, denn es ist in ihr nichts mehr zu überwinden; das ist gewissermaßen alles schon vorher abgemacht, so daß die Gemeinschaft selber gänzlich konfliktlos ist. Gegensätzlichkeit ist Gegensätzlichkeit empirischer Willenstendenzen ; fallen die Gegensätze weg, so fallen auch die WiUen weg : so ist sie auch gänzlich willenlos. Sie ist ein reines Nebeneinander gleichgerichteter Individuen, deren Willen nicht auf Endliches gerichtet ist und sich daher erst im Unend- lichen schneidet. Kann eine solche Gemeinschaft überhaupt als Ziel und Auf- gabe der Verwirklichung aufgesteUt werden? Diese Frage be- zieht sich jetzt nicht mehr auf die Möglichkeit der Verwirklichung, sondern darauf, was dieses Ziel für die praktischen, täglichen Auf- gaben bedeuten kann. Trifft dieses Ziel ihren Kern oder geht es daran vorbei ? Das ist die Grundfrage der Politik : Ist eine idea- listische Politik möglich? und die Grundfrage des Idealismus: Ist ein praktischer, politischer Idealismus möglich? Idealismus und Politik müssen sich gegenseitig aneinander bewähren. Politik ist die Einfriedung endlicher Gegensätzlichkeiten mit endlichen Mitteln. Der eigentliche Sinn des genossenschaftlichen Staates der Gerech- tigkeit ist aber der, die Politik, d. h. die Anwendung von äußeren, ungeistigen Zwangsmitteln, auszuschalten, weil sie der Gerechtig- keit widerspricht, und den poHtischen Frieden durch den Frieden der Gesinnung, der Friedfertigkeit zu ersetzen. Gerechtigkeit ist die Gleichheit aller vor dem Unendlichen. Mit politischen end- lichen Mitteln läßt sich also der Zustand der Gerechtigkeit nicht verwirklichen. Allein die Gesinnungsgemeinschaft kann auch nicht als un- endliche Aufgabe die Aufgabe der Erziehung, d. h. der Befreiung des reinen Willens sein. Denn die Befreiung verlangt die Ab- schaffung aller Mittel zwangsmäßiger Willensunterdrückung, die zur Sicherung der sozialen Ordnung notwendig sind, solange das Ideal der Gerechtigkeit noch nicht voll verwirklicht ist. Da aber dieses Ideal als unendliche Aufgabe nie verwirklicht werden kann, so kann auch die Politik nie vollständig durch Erziehung ersetzt werden. Menschliche Gemeinschaft ist nur entweder durch politi- Politik und Idealismus. 67 sehe Zwangsmittel oder durch die reine ungetrübte Freiwilligkeit aller Glieder möglich. Es ist aber nicht möglich, auf politische Mittel zu verzichten, solange die Gesinnungsgrundlage psycholo- gisch nicht verwirklicht ist, da sonst ein Zwischenzustand ent- steht; der Staat, der allen Zwang beseitigen und sich auf die Erziehung verlassen wollte, würde rettungslos in völlige Anarchie geraten. Also ist menschliche Gemeinschaft nicht möglich ohne Politik. Die politische Aufgabe des genossenschaftlichen Staates ist schon als Aufgabe falsch gestellt. Das bis jetzt gewonnene Ergebnis ist das, daß der genossen- schaftliche Staat des Ideal-Sozialismus, der auf politische Zwangs- mittel verzichtet und sich organisch von unten her auf der Gresin- nungsgrundlage der Individuen aufbaut, nicht bloß ein in weiten Fernen liegendes, aber doch sinnvolles und mögliches Ziel ist, son- dern daß er grundsätzlich unmöglich ist, weil er als reale psycho- logische Grundlage die transzendentale Idee des Individualismus voraussetzt. Das Persönlichkeitsideal des Individualismus ist eine grundsätzliche Möglichkeit und daher Aufgabe nur für den Ein- zelnen; da es aber von keinem einzigen, geschweige von allen Menschen voll verwirklicht wird, ist es keine mögliche Grundlage für den Aufbau der Gemeinschaft. Alle bisherigen Umwege des Gedankenganges waren nur zu dem Zwecke notwendig, die Un- möglichkeit der individualistischen Gemeinschaft nicht bloß als Erfahrung zu behaupten, sondern theoretisch, schon in der Frage- stellung, zu beweisen. Etwas beweisen heißt es in den Zusammen- hang eines Ganzen einstellen. Das Ganze ist das Verhältnis des transzendentalen und des psychologischen Subjektes ; der sprin- gende Punkt des Beweises ist der Nachweis, daß der Individua- lismus nur Sinn hat in Bezug auf den Einzelmenschen, daß er für das Uberindividuelle nichts bedeutet, und daß nicht alle Ge- setzlichkeit individuelle Gesetzlichkeit ist. Das führte dazu, — gegenüber dem individualistischen Sozialismus unserer Zeit und gegenüber allen aus dem Individualismus entspringenden, pazifisti- schen Hoffnungen auf die Möglichkeit einer „Welt ohne Politik" — die Notwendigkeit der Politik zu behaupten. Was ist nun aber das Wesen des Politischen? Das Bereich der Politik ist ganz allgemein das des Uberindividuellen. Zur Politik gehören einmal die statischen Elemente der staatlichen Ordnung überhaupt, die unbewegliche, die Individuen vergewalti- gende Form des Staates, und weiterhin die Mittel der Aufrecht- 68 Hermann Herrigel, erhaltung dieser Ordnung. Es ist zu beachten, daß beim politi- schen Aufbau die statischen Elemente des beharrenden Zustandes und die dynamischen der Zwangsausübung auseinandertreten, wäh- rend der genossenschaftliche Aufbau in seiner Dynamik beides vereinigt und auf die überindividuelle Statik verzichtet. Ebenso wie theoretisch ein rein dynamisches Gemeinwesen denkbar ist, läßt sich auch eine in sich geschlossene Theorie einer rein stati- schen Gemeinschaft aufstellen. Der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß im dynamischen Gremeinwesen das Primäre die individuellen Kräfte sind, während die formale Struktur in sich keinen selbständigen Bestand hat, sondern sich in jedem Augenblick verändert und nach dem jeweiligen Verhältnis der Kräfte neu gestaltet. Dagegen beruht der Bestand des stati- schen Systems vollständig auf der Eigengesetzlichkeit, der inneren Konstruktion der für sich bestehenden Form, durch die den In- dividuen ihre Stelle im Ganzen angewiesen und der Spielraum ihres Willens bestimmt ist. Die dynamische Gemeinschaft ver- langt also die dauernde Aktivität, die statische die Passivität der Individuen. In jener sind die lebendigen Individualkräfte die Be- dingung der Erhaltung, in dieser zerstörende Auflehnung gegen die überindividuelle Form. Form ist dem Individuum gegenüber dasjenige, worin das Individuelle aufgehoben ist, eine übergeord- nete Einheit, innerhalb welcher die Individuen nur gleichartige Teile sind. Über der Gesamtheit der Individuen steht ein abso- lutes d. h. von den Individuen losgelöstes Gesetz, das jedem seine Funktion im Ganzen vorschreibt, ebenso wie der Baumeister die innere Dynamik von tragenden und getragenen Teilen des Bau- werkes ordnet. Daher ist die Bedingung der Möglichkeit der dynamischen Gemeinschaft die Freiheit der Glieder, die Bedingung der statischen Gemeinschaft der zwingende .und die Individuen unterdrückende Wille des Gesetzgebers. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, hat das statische Gemeinwesen in sich dieselbe Sicher- heit wie die dynamische Gemeinschaft der freien Individualkräfte. Aber diese Bedingung ist empirisch ebenso unmöglich wie der Individualismus und die Übertragung dieser Theorie auf die Wirk- lichkeit macht denselben Fehler des Übertritts aus der transzen- dentalen Sphäre in die psychologische wie der Sozialidealismus. Es steht mit dem gegensätzlichen Wesen des Menschen im selben Widerspruch, ihn zur reinen Passivität zu unterdrücken wie reine Aktivität von ihm zu fordern. Die falsche Voraussetzung des Politik und Idealismus. 69 Sozialidealismus ist nicht nur die, daß der Mensch gut, sondern daß er nur gut ist, die des Sozialmechanismus dagegen, daß er nur böse ist. Die Theorie des Sozialmechanismus sollte indessen nur die politischen Kräfte in ihrer Reinheit zeigen. Im genossen- schaftlichen Staat, in der reinen Demokratie, die auf der gleichen Aktivität aller Bürger beruht, ist jeder Bürger in gleicher Weise politisches Subjekt. Damit fällt der politische Gegensatz zwischen der Zentralbehörde als der Trägerin der Macht und den Einzelnen, die dem Druck der Macht ausgesetzt sind, weg; die Überwindung dieses Gegensatzes zwischen Machtsubjekt und Machtobjekt ist das letzte Ziel der pazifistischen Bestrebungen der Abschaffung der Politik. Umgekehrt ist im mechanischen Staat, der auf der Passi- vität seiner Glieder beruht, und die gesamte politische Aktivität in einem Gegenpunkt vereinigt, der Gegensatz zwischen der Obrig- keit und den Untertanen aufs schärfste ausgebildet. Das innere Problem der Demokratie ist es, den stets vorhandenen Rest von Passivität durch Erziehung auszugleichen, das des Obrigkeitstaates dagegen, die Aktivität zu bekämpfen. Hier kommen daher die spezifisch politischen Mittel zu ihrer reinsten Ausbildung. Der Kampf zweier entgegengesetzter Kräfte ist der eigentliche Ort der Politik. Politik ist daher ihrem Wesen nach Machtpolitik. Politik ist ungeistig, sie kennt nur physisch- vitale Kräfte und nur mechanische Mittel ihrer Führung und Bewältigung. Erziehung dagegen ist Menschenführung mit geistigen Mitteln. Es ist ausdrücklich zu bemerken, (um auch etwa nur mögliche Mißverständnisse von vornherein abzuwehren), daß es sich hier nur um grundsätzliche Erkenntnisse handelt und daß damit keineswegs ein machtpolitisches Ideal vertreten werden soll. Damit würde derselbe theoretische Fehler gemacht, um dessen Widerlegung diese Ausführungen bemüht sind. Sie sind in doppelter Weise gegen die Verquickung von Politik und Idealismus gerichtet, sowohl gegen die Realpolitiker, die das Recht durch die Machtverhältnisse bestimmen wollen, als auch gegen die idealistischen Politiker, die sich durch ihre Forderungen den Blick für die realen Voraus- setzungen trüben lassen. Das letzthin Entscheidende ist vielmehr das, daß weder das genossenschaftlich-demokratisch-föderalistische, noch das zentralisti- sche Staatsideal politisch möglich ist. Dabei , handelt es sich aber nicht mehr bloß um die Unmöglichkeit der praktischen Verwirk- lichung eines Zieles, das seinem Wesen nach unendliche Aufgabe 70 Hermann Herrigel, ist, sondern nm eine falsche Stellung des politischen Grund- problems. Politik fassen wir hier so weit, daß ihre eigentliche Aufgabe ganz allgemein die Verwirklichung der menschlichen Gemeinschaft ist, gleichviel um welche Gemeinschaft es sich dabei handelt, um die Ehe, um den Verein, um die Kirche oder um den Staat. Verwirklichung ist ihrem Wesen nach eine endliche Auf- gabe ; unendliche Möglichkeiten reichen aber praktisch nicht aus für eine endliche Aufgabe, sie erfordert vielmehr ein eigenes Prinzip, das die unendlichen, d. h. ins Unendliche strebenden Kräfte zusammenschließt und begrenzt. Das politische Problem ist daher das des Finitismus. Der Idealismus stellt die Frage nach der absoluten Einheit aller Gegensätzlichkeit, nach der Ein- heit „überhaupt". Jede Frage nach einem Überhaupt ist aber nur eine methodische, keine des Ziels. Die absolute Einheit ist als unendliche ein problematisches Postulat, das nur im Transzenden- talen „wirklich" ist. Sie ist selber nicht zu verwirklichen, son- dern ist nur die transzendentale Bedingung aller verwirklichten Einheiten des Endlichen. Die politische Einheit muß aber ver- wirklicht werden und sie kann nur eine begrenzte und begren- zende Einheit endlicher psychologischer und nicht transzendentaler Subjekte, d. h. reiner Individuen sein. Als solche hat sie aber eine andere innere Struktur als die absolute Einheit, denn sie hebt die Gegensätzlichkeit nicht völlig auf, sondern vereinigt Gegensätze in sich, die als solche voll erhalten bleiben. Damit ist das politische Problem der G-emeinschaft gegeben. Der Sozial- idealismus geht daran vorbei, weil er es schon als gelöst voraus- setzt. Dieses Problem ist kein methodisches, sondern ein inhalt- liches ; keines der „Grund-richtung" des Willens, sondern der Willenseinschränkung und -bestimmung durch ein vorher gegebenes und feststehendes Ziel. Es muß die realen Gegensätze der psy- chologischen "Willenstendenzen, aktiver und passiver Kräfte, in ihrer vollen Schärfe anerkennen, um sie in einer friedlichen Ein- heit zu versöhnen, nein nur zusammenzuhalten. Reale Gegensätze können an sich nur gegeneinander kämpfen, sie vermögen aber auf keine "Weise ihre Einheit aus sich zu erzeugen. Die politische Gemeinschaftsbildung besteht darin, sie auf einen konkreten Punkt zu vereinigen ; nicht aber wie der Sozialidealismus will, sie gleich- zurichten, so daß sie in vollkommener Parallelität jeden Angriffs- punkt verlieren. Menschliche Gemeinschaft ist nur möglich in einer endlichen, unabhängig vom Willen der Individuen bestehenden Politik und Idealismus. 71 Gemeinschaftsform. Das ist eine unabweisliche Folgerung unserer Ausführungen, durch die alle individualistischen Gemeinschafts- theorien endgültig widerlegt sein sollten. Damit ist die allgemeine politische Aufgabe gewonnen, aber es bleibt noch die Frage, wie die Gemeinschaftsform beschaffen sein muß. Auch dafür gilt, daß nicht eine absolute Einheit schon vorausgesetzt und auf Grund der Voraussetzung gefordert werden darf, sondern daß die reale innere Struktur der Aufgabe die Lö- sung bestimmen muß. Unter „Struktur" ist die besondere Art der zu bewältigenden Gegensätzlichkeit zu verstehen, doch ohne ihren jeweiligen psychologischen Inhalt. Die Gemeinschaftsform darf weder eine allgemeine Eiuheitsform sein, die die Struktur unberücksichtigt läßt, noch darf sie die bloße Funktion der empi- rischen Willenstendenzen sein. Wie der Begriff der Struktur zwischen dem Transzendentalen und dem Psychologischen, zwischen der reinen Form und der Lebensbewegtheit des Augenblicks liegt, so ist die konkrete politische Aufgabe, das rechte Verhältnis zu finden für die Formelemente und die empirischen Kräfte. Form allein macht keine Gemeinschaft aus, weil ihr die Füllung fehlt; die psychologischen Kräfte sind aus sich unfähig, eine Gemein- schaft zu bilden, weil sie sich nicht begrenzen können, und weil sie, jede für sich, nicht die gemeinsame Form finden können. Die Form braucht für ihren Bestand den Gemeinschaftswillen, die Willenstendenzen brauchen für ihre Befriedung die Gemeinschafts- form. Die Form ist das passive, der Wille das aktive Element der Gemeinschaft. Vor der Form sind alle gleich, in ihrem Willen sind alle frei: die Gemeinschaft ist nicht die Koinzidenz von Freiheit und Gleichheit, sondern ihre gegenseitige Erfüllung und Begrenzung. Die politische Aufgabe ist daher das richtige Ver- hältnis von Freiheit und Gleichheit. Da die politische Problemstellung hier grundsätzlich von der realen Struktur der Aufgabe abhängig gemacht worden ist, so könnte es scheinen, daß damit die Möglichkeit der Verwirklichung „idealistischer" Ziele in der Politik überhaupt bestritten und somit eine rein realistische Politik gefordert sei. Das ist aber nicht der Fall. Realistisch ist eine Politik dann, wenn ihre Zielsetzung ausschließlich durch die psychologisch-empirischen Inhalte bestimmt ist, während hier nur gefordert wurde, daß die psychologischen Kräfte als solche, ohne ihren Inhalt, in die politische Aufgaben- stellung eingesetzt werden. Andererseits ist der Idealismus nur 72 Hermann Herrigel, soweit abgelehnt worden, als transzendentale Bedingungen in psychologische Forderungen und Voraussetzungen, und damit psy- chologische Kräfte in idealistische umgedeutet wurden, wie es im Sozial-Idealismus geschieht. Der Individualismus erwies sich als unfähig, idealistische Ziele politisch zu verwirklichen, weil er seinem Wesen nach nur ein persönliches Vollkommenheitsideal darstellt, und, da dieses nicht- von allen gleichmäßig erreicht werden kann, ideale Ziele nicht über das Individuum hinaus zur Geltung zu bringen vermag. Die Möglichkeit der Verwirk- lichung idealistischer Forderungen im politischen System liegt daher nicht im Individuum, sondern in der Gemeinschaftsform. Erziehung und Politik sind an sich nur Methoden der Menschen- führung, mit denen noch kein Ziel gegeben ist. Die individua- listische Erziehung lehnt ein von vornherein feststehendes Ziel überhaupt ab und sieht ihre Aufgabe darin, das psychologi- sche Subjekt aus seiner Gegensätzlichkeit zum transzendentalen Quellpunkt des Geistes, zur Individuität zurückzuführen, da alle geistigen Ziele potentiell in der Individuität angelegt sind und nur erschlossen werden müssen. Allein selbst wenn das psycho- logische Subjekt zum transzendentalen sublimiert werden könnte, wäre damit noch nicht die Möglichkeit der Verwirklichung des Geistigen gegeben, da Verwirklichung Gestaltung, d. h. Begren- zung, Verendlichung bedeutet. Das ist nur möglich in einer über- individuellen Gemeinschaftsform, die die individuellen Energien nicht völlig unterdrückt, sondern sie nur auf ein gemeinsames Ziel vereinigt. Die Gemeinschaft ist indessen an sich noch kein geistiges Ziel. Denn wenn die Gemeinschaftsform Selbstzweck ist wie im „weltlichen Staat", dann ist der Staat nur eine Or- ganisation seiner vitalen Einzelkräfte zu einem einheitlichen Machtsubjekt und seine Politik ist notwendigerweise reine Macht- politik. Daran ändert es nichts, wenn der Staat, wie Treitschke gegenüber Macchiavelli fordert, seine Macht verwendet „für die höchsten Güter der Menschheit", denn geistige Politik in diesem Sinne gibt es nicht ; sie ist nach innen Mechanisierung, nach außen Individualismus. Die einzige Möglichkeit der politischen Verwirk- lichung idealer Aufgaben ist vielmehr die, daß die Gemeinschafts- form selber die Idee in sich aufnimmt, so daß die auf die Er- haltung der Form gerichteten Kräfte durch sie hindurch und durch ihre Vermittlung auf die ideale Aufgabe gerichtet werden. Das führt nun zum Letzten: Die Gemeinschaftsform muß, um Politik und Idealismus. 73 nicht nur ein mechanisches System zu sein, einen geistigen Inhalt haben. Das heißt, sie muß „Autorität" sein. Autorität läßt sich nicht mit Gewalt einsetzen und mit politischen Mitteln erhalten; Autorität steht aber auch ihrem Wesen nach über den indivi- duellen psychologischen Subjekten; sie ist nicht eine Funktion ihres Gemein willens, sondern die Einzel willen schließen sich zum Gemeinwillen zusammen, indem sie ihr dienen. Nur die Autorität ist gemeinschaftbildend. 4 Zur Psychologie der Weltanschauungen1). Von Jona» Colin. Das Werk von Jaspers bietet der nachprüfenden Betrachtung eine Mehrheit von Ansichten. Es enthält im Kerne ein Haupt- stück verstehender Psychologie, eine nachfühlende Schilderung der Weltanschauungen als des Ausdrucks und der Lebensformen be- stimmter geistiger Typen. Aber mit dieser mehr deskriptiven Aufgabe begnügt sich Jaspers nicht; er geht von den offen lie- genden Weltanschauungen zurück auf die sich in ihnen auswir- kenden Kräfte, die er mit bemerkenswerter Fortbildung kantischer Lehren „Ideen" nennt, und auf das unfaßbare „Leben", das alles trägt und erzeugt. Als kritischer Denker erstrebt er dann Ver- ständnis seines eigenen Tuns ; daher enthält das Buch Beiträge zu der Analyse des Verstehens, das die Methode seines Forschens bildet, und der Dialektik, mit deren Hilfe seine Darstellung sich des „Lebens" zu bemächtigen sucht. Dieses Bemühen um Erkenntnis und Einordnung seiner Arbeit beschränkt sich aber, wie billig, nicht auf den Weg, sondern wendet sich auch den Zielen zu. Er bemüht sich, seine Aufgabe als wertfreie Betrachtung der Welt- anschauungen abzugrenzen gegen die „prophetische" Philosophie, die Weltanschauung geben will, und ihr im Ganzen der Psycho- logie und zum Granzen der Philosophie ihre Stelle anzuweisen. Je nach der Seite, von der aus man das Werk ansieht, verschiebt sich die relative Wichtigkeit der Teile; man gerät in Gefahr, Wesent- liches zu übersehen und die Bedeutung des Werkes ungenügend zu würdigen. Daher seien im Folgenden die vier genannten An- sichten nacheinander vorgeführt. Die leitende Idee des Buches ist die eines geordneten Systems, 1) Jaspers, Karl, Psychologie der Weltanschauungen. Berlin, Julius Springer, 1919, XII u. 428 S. Die Besprechung wurde geschrieben, ehe Hein- rich Rickert's Abhandlung: Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte (Logos IX, 1, 1920) und dessen Buch: Philosophie des Lebens, Tü- bingen 1920 erschienen war. Es war daher leider nicht möglich, diese Arbeiten zu berücksichtigen. Jonas Cohn, Zur Psychologie der Weltanschauungen. 75 eines „Kosmos der Weltanschauungen" (22). Eine Aufgabe, die sich schon Dilthey stellte, wird in umfassenderer Art zu lösen ge- sucht. Unter „ Weltanschauung u versteht dabei J. kein nur contem- platives Verhalten, sie ist vielmehr das Ganze aus Wissen, Wer- tungen, Impulsen, in dem sich „das Letzte und das Totale des Menschen sowohl subjektiv als Erlebnis und Kraft und Gesinnung wie objektiv als gegenständlich gestaltete Welt" darstellt (1). Eine Weltanschauung kann nun dem Menschen selbstverständlich gegeben sein, er kann schlicht in ihr leben, wie das in gebundenen Zeiten und Kulturen die Regel ist. Von diesem Auftreten der Weltanschauungen, das nur sozialpsychologisch, nicht individual- psychologisch zu begreifen ist, will J. nicht reden. Erst wo die überlieferten Bindungen, Beschränkungen, Heimaten (alles was J. „Gehäuse" nennt) sich auflösen, tritt das Leben ein, das Gegen- stand einer Weltanschauungspsychologie des Individuums sein kann (248). Dabei zeigt sich das Leben, die „Idee" der Weltanschauung, nur in wenigen Fällen ganz ursprünglich, stark, echt; um jede dieser „substantiellen" Weltanschauungen als Zentrum gruppieren sich verwandte aber verkümmerte Gestalten (27). Zu ihnen ge- hören die „unechten" Formen. Das Unechte ist „nicht Un Wirklich- keit aber Wirkungslosigkeit, nicht Lüge aber gleichsam organische Verlogenheit" \32). Schwindet die lebendige Einheit von Form und Gehalt, so entstehen „formalisierte" Gestalten, in der Kunst z. B. die Artistik. Den differenzierten Formen stehen vorbereitend oder begleitend undifferenzierte zur Seite. Endlich kann an Stelle der lebendigen Weltanschauung die bloße Formel gesetzt werden, der Fanatiker behauptet starr sein Credo. J. geht überall von den echten, lebendigen, differenzierten Gestalten aus, sucht dann von ihnen aus die Prozesse der Verkümmerung zu verstehen. Als Leitfaden in der Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen und als Einteilungsprinzip dient das Urphänomen der Subjekt-Ob- jekt-Spaltung (22). Subjekt, Objekt und die Beziehung zwischen ihnen sind aber nicht feste Gebilde, sondern nehmen sehr verschie- dene Gestalten und Bedeutungen an, die in einander übergehen oder sich gegen einander abgrenzen. Von der Subjektseite her gesehen sind die Weltanschauungen „Einstellungen", von der Objekt- seite her „Weltbilder". Aber das sind bloß Elemente — in das Zentrum gelangt man erst mit der Betrachtung der „Geistestypen" „die umfassend Weltbilder und Einstellungen in sich schließen, die nicht unmittelbar zu vergegenwärtigen sind, wie alle jene Elemente, 76 Jonas Cohn, sondern vielmehr nnr als Bewegnngsprozesse, als Totalitäten, denen eine treibende Kraft zu Grunde liegt" (39). Die Darstellung dieser Grundlagen, das allgemeine Schema, ist der Gegenstand dieses Buches. Eine vollständige Psychologie der Weltanschauungen würde außerdem noch zwei Teile umfassen ; der zweite Teil müßte diese Kategorien in die einzelnen Gebiete verfolgen, in die Werk- sphäre (z. B. : Wissenschaft, Metaphysik, Kunst, Religion), in die Persönlichkeitssphäre (z.B.: das Ethische, der Lebenstil, die Ge- schlechtsliebe), in die Sozialsphäre (z. B.: das Politische). Der dritte Teil endlich, der konkreteste würde auf Grund der in den beiden ersten gewonnenen Begriffe die einzelnen Persönlichkeiten, Völker, Zeitalter, Zustände analysieren. Bier hätte Systematik keinen Sinn, Monographien müßten an ihre Stelle treten (40). Bei der Einteilung der Einstellungen wie der Weltbilder wird in einer an Schelling'sche Schemata gemahnenden Art von neuem der Gegensatz von Subjekt und Objekt verwendet. Diesen Gegen- satz vereinigt dann eine dritte Form in eigentümlicher Weise. So entstehen gegenständliche, selbstreflektierte und enthusiastische Einstellungen, sinnlich-räumliche, seelisch-kulturelle und metaphy- sische Weltbilder. Die dritte Form sucht dabei stets die zwei ersten zu vereinigen, kann das aber nicht in einermfestem Gebilde, sondern nur in lebendiger Bewegung leisten ; dieseT>ynamik führt notwendig zu den Geistestypen als Ganzen, in denen sich die lebendigen Kräfte oder „Ideen" offenbaren. Der begrenzte Raum dieser Zeitschrift zwingt mich, die Analyse auf die Geistestypen zu beschränken. Zu ihrem Ver- ständnis aber ist es nötig, sich über die Wertungen begrifflich zu orientieren. „In den Wertungen, die die Kräfte des Lebens sind, ist etwas Letztes gegeben. Warum jemand werten solle, ist auf keine Weise etwa objektiv zu begründen. Der Mensch tut es, sofern er lebt; er kann sich seine Wertungen klären, sie formu- lieren, objektivieren, aber erst müssen sie da sein und erfahren werden" (190). Am Werte unterscheidet J. (191) den „Wertträger" und den „Wertakzent". Der Wertakzent hat gegensätzlichen Cha- rakter, tritt als Forderung an das Subjekt heran und gewinnt mannigfaltige Gestalten je nach dem Organ, an das er sich wendet, (Gefühl, Urteil, Wille) sowie nach seinem eigenen qualitativen Charakter (Lust, gesund, schön, richtig u. s. f.). Infolge dieser Verschiedenheit der Wertakzente und infolge der realen Eigen- schaften der Wertträger entstehen Kollisionen der Werte, deren Zur Psychologie der Weltanschauungen. 77 Entscheidungen sich in Rangordnungen der Werte objektivieren (192). In den Wert-Kollisionen, aber nicht nur in ihnen, erscheint das Leben ebenso als Wertvernichtung wie als Wertschöpfung. Diese Wertvernichtung wird in unzähligen Situationen erfahren, die als einzelne zufällig sein mögen, doch aber ihrer Gattung nach mit dem Menschsein notwendig verknüpft sind. Sie treten an den Grenzen unseres Daseins auf, darum nennt J. sie Grenz Situa- tionen (202). Ihnen gegenüber verzweifelt der Mensch, falls er nicht — wie durchaus die Regel ist — irgendwo seinen Halt hat. Welches dieser Halt ist, das ist der charakteristische Ausdruck der in dem Menschen lebendigen Kräfte. Daß die Grenzsituationen, obzwar im einzelnen Fall vielleicht überwindlich, doch notwendig wiederkehren, darin zeigt sich die „ antinomische Struktur" der Welt (203). „Reale Gegensätze sind Antinomien, wenn sie als etwas Letztes aufgefaßt werden, das vom Standpunkt des Wertens aus als wesentlich und fragwürdig erscheint, und wenn die Exi- stenz als im Letzten in Gegensätze entzweit gefaßt wird, so daß alles einzelne Dasein nur dann besteht, wenn diese gegensätz- lichen Kräfte oder Erscheinungen sich zusammenfinden" (205). Diese Antinomien sind „völlig evidente Realitäten, in denen wir leib- haftig existieren". Sie setzen das Erkennen, dessen Grenze sie bilden, zugleich in Bewegung. Dagegen ist es der Tod des Er- kennens, wenn man fertig formulierte Antinomien als Erkenntnis ansieht. Das Erkennen lebt nur in konkretem Fortschreiten und erfährt die Antinomien nur in diesem Fortschreiten (209). Die Antinomien können den Menschen zerstören, sie können von ihm umgangen werden („er drückt sich um sie herum") oder er kann in ihnen Kraft gewinnen, sein Einheitswille kann eine Synthese erreichen. Aber : „Die Synthese der Antinomien existiert nur als lebendiger Akt, unendlich und rätselhaft für den Lebendigen und unendlich auch für die Analyse, die der Betrachtende daran ver- sucht. Die Synthese ist bloße Spielerei, wenn sie intellektuell in Formeln geschieht" (213). Alle Grenzsituationen werden als Leiden erlebt. Der Re- flexion bleibt die antinomische Struktur, somit das Leiden, das Letzte, während das Positive, die Lust, dem aktiven Leben zuge- hört, nur durch Appell an das Leben erreichbar ist (219). Auf das Leiden reagiert der Mensch im einzelnen entweder so, daß er es als vermeidbar, oder so, daß er es als endgültig auffaßt. Das erste geschieht, wenn er dem Leiden ausweicht oder sich durch 78 Jonas Colin, endliches, technisches Tun aus dem Leiden hinausreißt oder es be- kämpft in der (im einzelnen Falle oft berechtigten, im Ganzen un- möglichen) Hoffnung es besiegen zu können, oder endlich indem er es in ein Gutes umformt, sei es im Ressentiment, dem die eigene Unwertigkeit als das Höhere erscheint, sei es in der Rechtferti- gung eigenen Glückes, wo das Leid anderer zur Strafe wird (221 f.) Diesen Formen des Optimismus steht nicht nur der Pessimismus sondern auch eine beide ablehnende Lebendigkeit gegenüber (219 f.). Die Grenzsituationen zeigen die Lage des Menschen als antino- misch, und dieser Tatsache entspricht der sich immer wiederholende Prozeß seines Lebens. Er sucht gegenüber dem Zerstörenden einen Halt, der zu einem festen „Gehäuse" wird. In ihm lebt er selbstverständlich, bis die bewußte Erfahrung der Grenzsituationen eine grenzenlose Dialektik der Reflexion erzeugt. Dadurch wird das Gehäuse aufgelöst, aber: „daß der Mensch lebt und nicht zu Grunde geht, ist daran sichtbar, daß er im Auflösungsprozeß des alten Gehäuses gleichzeitig neue Gehäuse oder Ansätze dazu baut" »Der Prozeß dieses Nachaußensetzens ist das Leben selbst" (249). Wird dies gewußt, so kann der letzte Halt im unendlichen Prozesse des Lebens selbst gesucht werden. So entstehen drei Grundstrebungen: ein Drang „in unendlicher Verantwortung, lebendigem Wachsen und Schaffen zu erfahren, was das Dasein sßi, und es darin zugleich selbst mit zu gestalten", ein Drang ins Nichts und ein Drang ins Gehäuse. Jede dieser Strebungen ergibt, wenn sie herrscht, eine Reihe von Geistestypen, die J. schildert unter den Titeln: Skeptizismus und Nihilismus, der Halt im Begrenzten, der Halt im Unendlichen. Es fällt zu- nächst auf, daß die negativen Richtungen vorangestellt werden, während sie doch von der Auflösung der Gehäuse leben — aber die Reihenfolge rechtfertigt sich aus der Einschränkung auf indivi- duelle Weltanschauungen, in der J. sich seine Aufgabe stellt. Denn solche entstehen erst, wenn der Auflösungsprozeß sich in einer Gesellschaft verallgemeinert. Vollständiger Nihilismus kann im Leben nicht existieren; so lange der Mensch lebt, wird immer noch irgend etwas als positiv festgehalten, etwa das nackte Dasein einer sinnlosen Realität vom praktischen Materialisten, der alle Werte negiert (Wertnihilismus), der Wert und Sinn vom Buddhisten, der die Realität als wert- widrig verwirft (Seinsnihilismus) (252 f.). Die konkreten Gestalten unterscheiden sich danach, ob der Mensch sich gegen den Nihilismus Zur Psychologie der Weltanschauungen. 79 wehrt, dessen er nicht Herr werden kann, oder ob er mit dem Nihilismus eins geworden, in ihm als in seinem Element existiert (257). Der Halt im Gehäuse kann unmittelbar, naiv sein oder — als Selbsterhaltung gegen den drohenden Nihilismus — willkürlich gewählt. Auch im zweiten Falle kann der Mensch wirklich im Gehäuse leben, ohne darüber zu reflektieren, aber er behält im In- stinkt Angst vor der Reflexion. Die gewachsenen Gehäuse des Naiven bilden sich um, sie sind lebendig, die gewählten des Flücht- lings sind fertig, mechanisch, tot (270). Diese zweite Form, die hier ja allein betrachtet wird, ist bei aller inhaltlichen Verschieden- heit der Gehäuse, zusammengehalten durch den Rationalismus. „Der Rationalismus ist der Geistes typus, der im Begrenzten und Begrenzbaren, im Fixierbaren und Endlichen verharrt, der mit dem Verstände alles faßt und darüber nichts mehr sieht" (271). Er überwindet sich selbst, nicht durch bequemen Verzicht auf das Begreifen, sondern indem er sich bis zum Äußersten erweitert und dabei seine Eigenschaften und Grenzen erkennt (272). In das echte Leben des Geistes gehen Auflösungsprozesse und Gehäuse ein, es ist aber selbst unbeschreiblich ; denn alles Leben ist unend- lich. Das gilt vom Leben des Leibes gegenüber jeder, auch der kompliziertesten Maschine und ebenso vom Geiste im Gegensatze zur bloßen Endlosigkeit chaotischen Seelenlebens und zu der End- losigkeit oder Begrenztheit seiner einzelnen Produkte und Erschei- nungen (289). Von solchem echten geistigen Leben können wir nur reden, wo eine Richtung der Bewegung in die Unendlichkeit führt. Auch die Freiheit des Geistes ist immer nur werdend, wachsend, nie vollendet da; sie erscheint, wo ein Sinn nicht als äußere Pflicht aufgenommen wird, sondern aus dem konkreten Ge- halt der Seele und der bestimmten Lage aufleuchtet. „Frei sein, heißt, aus der Totalität existieren; die Totalität aber soll erst werden" (292). Der Prozeß des Geistes hat irratio- nale Wendepunkte, an denen, wenn auch nach langer Vorbereitung, Erwägung ein entscheidender Entschluß aus Instinkt oder Ein- gebung heraus gefaßt wird (294 f.). Im Gegensatze zu* der im Letzten immer relativen Erkenntnis tritt dabei der unbeweisbare Glauben an den letzten Sinn in irgend einer Form auf. Auch der Glaube in dieser tieferen Bedeutung des "Wortes gehört erst dem Geiste an, der gegenüber den Gefahren des Negativismus und der Verengung in erstarrten Gehäusen seinen Halt im Unendlichen sucht. „Mit dem Glauben ist dialektischer Fluß, unendliche Pro- 80 Jonas Cohn, blematik, Verzweiflung und Angst verbünden, weil allem Leben des Geistes die nihilistischen Bewegungen ein Element und immer eine Möglichkeit sind. Die Ungeistigkeit kann sich objektiv sicher in absoluten Gehäusen fühlen. Der Geist kann in der Angst der Bewegung nur kraft des Glaubens existieren" (298). Der Geist „macht fortwährend die Bewegung zur Klarheit und Durchsichtig- keit in der Subjekt- Objekt Spaltung — dieser Klarheitsdrang ist seine Feindschaft gegen alles Dunkle, Schwärmerische, das im Qualm der Undurchsichtigkeit sich wohl fühlt — aber er hat doch zum Ausgangspunkt, wie zum Ende das Mystische" (305). Der Geist wird nun zuerst betrachtet als auf dem schmalen Grate zwischen Gegensätzen wandelnd. Auf diesem Grate erscheinen als Synthesen die Gestalten des Geistes, die Ideen sind, der Realist, Romantiker, Heilige (381 ff.) — von einander verschieden durch die Art der Realität, in der sie leben. Unter den Gegensätzen sind die wichtigsten der zwischen Chaos und Form und der zwischen Vereinzelung und Allgemeinheit. Zwischen Chaos und verfestigter, erstarrter Form gibt es ein Drittes. Man erkennt dies im Denken, wenn man das Problem der Konsequenz stellt. Der Denker soll konsequent sein, das Kompromiß ist eine Schwäche. Gehäuse schafft nur der konsequente Denker. Aber wenn die Gehäuse sich lösen, dann entstehen irrationalistische, fragende, erregende Philo- sophen. Das Resultat eines solchen Umschmelzungsprozesses ist eine antinomische Synthese. „Es ist keine formallogische Synthese, die ein Kompromiß ist, sondern eine psychologische, die einen neuen Ausdruck für Prinzipien findet," . . . (312). Frühere Wider- sprüche werden nun nicht mehr erlebt, dafür aber neue ; denn die Antinomien bleiben bestehen. Es- gibt also dreierlei: das Ver- fahren logischer Konsequenz, das chaotische Neben- und Nachein- ander der Widersprüche und die Umschmelzung in den Prinzipien. Diesen drei Verhaltungsweisen entsprechen 3 Menschentypen: der chaotische, der konsequente und der dämonische Mensch. Der Be- griff des „Dämonischen" ist dabei so erweitert, daß auch Jesus unter ihn fällt. Ich habe den Eindruck, daß bei der sehr fesselnden Schilderung des Dämonischen zwei Typen nicht genug geschieden werden: der dämonisch Getriebene, dem es nirgends Ruhe läßt, der sich im Fortbilden aufzehrt, den seine Kraft beherrscht (Kleist, Nietzsche) und der in tiefer Klarheit Schaffende, der seinen Dämon beherrscht und im Weiterschreiten Qual und Glück findet, (Lionardo, Goethe, Kant — und wenn man ihn hier nennen Zur Psychologie der Weltanschauungen. 81 darf: Jesus). Im ersten ist tlas Errungene nur Richtung, Apho- rismus, Ausdruck, einzeln-fragmentarisches Gebilde, im zweiten wird es zur lebendigen Gestalt. Natürlich gibt es Übergänge, ja vielleicht gehört jedes Genie des zweiten Typs teilweise auch dem ersten an, sei es in den Anfängen (Goethe), sei es gegen Ende seines Laufs (Michelangelo), wie auch die Größten der ersten Art mit einzelnen Gebilden in die zweite hinüberreichen. Wohl kann man mit Jaspers auch Kants Werke „riesenhafte Fragmente" (317) nennen, aber sie sind es doch in anderem Sinne und Stile als die Nietzsches. Das dämonische Leben soll nun in großen Philosophien als Lehre erfaßt werden. Hegels System, das hier das entschei- dende Beispiel bietet, scheitert, wo es mehr als Betrachtung sein will. Denn um das Leben zu fassen, muß es das Leben abgeschlossen denken — wird Kontemplation, verantwortungsloser Quietismus (328). Um den Konflikt zwischen dem Individuum (dem Selbst) und dem Allgemeinen zu verstehen und die Geistestypen, die in Kampf und Synthese sich ausdrücken, zu kennzeichnen, werden die ver- schiedenen Arten des Allgemeinen sorgsam unterschieden. Ich kann hier auf diese gehaltreichen Ausführungen nur hinweisen. Das Problem des Selbst hat Kierkegaard am tiefsten erfaßt; seine Sätze stellt J. systematisch zusammen (370 ff.). Alles Leben des Geistes enthält als Leben Irrationales, dem von der Subjekt-Objekt-Spaltung noch ungeteilten Erlebnisstrome Angehöriges. Dies Ungespaltene, das auch ganz banale Erlebnisse umfaßt, deckt sich mit dem Mystischen im weitesten Sinne dieses Wortes (388). In unserem Seelenleben gibt es einen Prozeß von unklarer Gemütserfüllung zu klarer Vergegenständlichung (389), alles vollkommen Vergegenständlichte ist uns bequemer Besitz, damit aber auch tot und langweilig (390). Zu mystischen im engeren, höheren Sinne werden Erlebnisse ohne Subjekt -Objekt- Spaltung erst dadurch, daß sie der Lebensgrund sind, auf das gesamte Seelen- leben wirken (393). Diese im engeren Sinne mystischen Erlebnisse können nun eine dreifache Rolle spielen : 1. Drang zum Mystischen, weil es als solches spezifische Befriedigung gibt, Mystik im engeren Sinne ; Gefahr sich im Ausruhen abzustumpfen, in asketische Tech- niken zu verlieren, kulturlos zu werden. 2. Drang vom Mystischen fort, das als* Schwärmerei abgelehnt wird. Endloses Denken, Han- deln, Schaffen in der gegenständlichen Welt. Positivismus. Gefahr, das Mystische ganz zu verlieren. 3. Synthese beider Tendenzen: aus dem Mystischen geht der Drang zum Gegenständlichen und KantsUdien. IXTI. ö 82 Jonas Cohn, kehrt immer zu neuem Mystischen zurück" . . . „Durch die Un- endlichkeit des gegenständlichen Tuns, Denkens, Schaffens wird in fortschreitender Spirale der Kreis immer weiter, das Mystische immer neu, immer tiefer, als Ausgang weiterer Gegenständlichkeit (Entfaltung der Idee)" (394). Die Ausbildung des ersten Typs zur Welt- anschauung läßt sich an P 1 o t i n , die des dritten an K a n t darstellen. Überblickt man den Umkreis der in dem Buche geschilderten Gestalten, so fällt bei allem Reichtum, die große Einengung gegen- über Hegels Phänomenologie des Geistes auf. Es fehlen ja alle „naiven" Weltanschauungen, alle, die im „wachsenden Gehäuse" einfach leben. Eng damit zusammen hängt eine zweite Ein- schränkung der Aufgabe : J. verzichtet darauf, die Weltanschau- ungen als wirkende Mächte in den Seelen derer zu verfolgen, die sie nicht original hervorbringen. Man kann, seiner Ausdrucksweise nahe bleibend sagen: die Weltanschauungen werden von ihm nur soweit betrachtet, wie sie Ausdruck der Kräfte und Ideen sind, nicht soweit sie selbst als kraftbegabte Wesen fortwirken und sich in ihrer Wirksamkeit wandeln. Nun ist solche Beschränkung zu- nächst einfach festzustellen ; denn jeder Autor hat das Recht sein Thema abzugrenzen. Doch fragt sich, ob die Abgrenzung nicht trennt, was sich nur vereint verstehen läßt. Jeder der großen Schöpfer einer Weltanschauung steht unter dem Einfluß älterer Gestalten ; ohne den Prozeß der Aufnahme und Umbildung des Überkommenen zu verfolgen, kann man das Werden der Welt- anschauungen nicht vollständig begreifen. Wenn dabei der Schöpfe- rische überzeugt ist, in einer überlieferten Weltanschauung zu leben (und das ist z. B. jeder, der sich als Christ fühlt), dann bleibt auch der höchst Differenzierte (Kierkegaard z. B. oder Pascal) noch irgendwie „naiv". Es ist daher unmöglich, den schöpferischen Menschen ganz zu verstehen, wenn man nicht das naive Wachstum und, was davon untrennbar ist, das Weiterwirken der Weltan- schauungen verfolgt. J. ist zu geneigt, Originalität und Echtheit gleich zu setzen, an anderen Stellen (343, 359) Echtheit mit Weite und Klarheit des Blickes zu verwechseln. Aber es gibt „echte" Jünger, denen „Treue die Person wahrt", ebenso wie es echte Dürftigkeit gibt, die gar nicht Fülle sein will, und Undifferenziert- heit, die sich im Unklaren, Verworrenen echt auslebt. Wenn es auch eine Psychologie der Weltanschauungen nur auf dem Stand- punkt des modernen, hochreflektierten Bewußtseins geben kann, so bedeutet das doch nicht, daß dieses Bewußtsein der einzige Gegen- Zur Psj»chologie der "Weltanschauungen. 83 • stand einer solchen Psychologie ist. Von hier aus kann man füg- lich auch in der überwiegenden Benutzung Nietzsches und bes. Kierkegaards eine gewisse Einseitigkeit sehen; denn so groß Kierkegaard als Psychologe ist, sein Gegenstand ist ausschließlich der moderne Mensch. Im übrigen ist es keines der geringsten Verdienste des Werkes, daß Kierkegaards psychologische Einsichten aus dem religiösen und künstlerischen Zusammenhange gelöst und in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung erschlossen werden. Über die verstehend-beschreibende Psychologie der Weltan- schauungen geht J. in seiner Ideenlehre zu einer verstehenden Er- klärung fort. Er deutet dafür Kants Gedanken in eigenartiger Weise und bildet sie weiter (im „Anhang"). Die Idee hat ihr Wesen in der Totalität und Unbedingtheit. Von dem Ganzen her gewinnt J. eine neue Ordnung der Ideen (413); denn dieses Ganze kann entweder ein Ganzes von Erfahrungsrichtungen oder ein Ganzes von Erfahrungsinhalten sein. So entstehen zwei Klassen von Ideen. Der ersten, den Ganzheiten von Erfahrungsrichtungen gehören zu : Mechanismus, Organismus und Seele. Mit der dritten dieser Ideen hat sich Kant nicht genauer beschäftigt. J. sieht in der Idee der Seele eine ganze Reihe von Ideen, neben Mechanismus und Or- ganismus, die auch hier auftreten, zwei neue Formen: „die Idee des Ganzen der erlebten und erlebbaren Phänomene oder die Idee des Bewußtseins und vor allem die Idee des Ganzen der ver- ständlichen Zusammenhänge, oder die Idee der Persönlichkeit" (417). Unter den Ideen vom Ganzen des Erfahrungsinhaltes be- handelt J. nur die des Einzeldings als einer Unendlichkeit näher. Diese Idee läßt sich auch auf die Persönlichkeit anwenden, so daß neben der Idee der Persönlichkeit als Erfahrungsrichtung eine zweite Idee der einzelnen konkreten Persönlichkeit erscheint (419). Man kann Ideen nur dadurch erfassen, daß man in ihnen lebt, theoretische also nur im Leben des Verstandes. „Der Verstand steht zwischen zwei Irrationalitäten, ohne die er leer ist, die aber ohne ihn nichts sind. Er ist hingewandt auf die Breite der An- schaulichkeit des Materialen und bewegt von den Kräften der Ideen. Das Anschauliche geht als Irrationales über den Verstand hinaus, aber wird von seinen Begriffen umfaßt. Die Ideen gehen über den Verstand hinaus, indem sie seine Grenze, ihn selber umfassen ; seine Begriffe können die Ideen nicht einfangen, sondern nur auf sie hinzeigen" (420). Abweichend vom Kantischen Sprachgebrauch faßt J. alles, was nicht Verstand ist, als Anschauung zusammen 6* 84 Jonas Colin, . und unterscheidet dann eine materiale, stoffgebende Anschauung von einer ideenhaften, Kraft und Bewegung gebenden, die nur er- lebt, nicht erfaßt werden kann. Die Ideen haben drei, von Kant nicht scharf getrennte Bedeutungen, eine methodologische, eine psychologische, eine metaphysische. Von der ersten als der be- kanntesten, braucht kaum weiter geredet zu werden. Als psy- chische Kräfte geben die Ideen der Wissenschaft Richtung und Tiefe. Sie sind, wie Kant ausführt, oft wirksam, ohne erkannt zu sein. J. sagt (422): „Es ist merkwürdig, daß wir in der Wissen- schaft volle Durchsichtigkeit und Klarheit wollen und daß doch, wenn diese bis zum Letzten vorhanden ist, unser Interesse er- lahmt. Wir wollen Klarheit, aber wir wollen, daß sie der teil- weise Ausdruck einer Idee sei. Diese Idee ist in der wissenschaft- lichen Leistung als das Dunkel vorhanden, das ebenso sehr ver- ständnislosen Angriffen ausgesetzt wie Bedingung ihrer produktiven Wirkung ist". Die objektive, metaphysische Bedeutung der Ideen wird durch den negativen Aufbau der transzendentalen Dialektik verhüllt, in Nebensatz und Anhang verwiesen. Aber man könnte sich ebensowohl einen positiven Aufbau der Dialektik denken, der das Negative in den Anhang bannte (425). Die lo- gische richtunggebende (regulative) Bedeutung der Idee ist ihre Auswirkung, nicht ihr Wesen. Zu den Ideen verhalten sich die Weltanschauungen als Äußerungen, sie sind daher, sobald man sie formuliert, nichts Letztes, bleiben relativ. Die Ideen „als das Letzte, könnten als das Absolute bezeichnet werden (wenn auch nur für den Kreis der Betrachtung), sie sind das Leben selbst, das nie ganz und gar äußerlich, objektiv wird, wenn auch immer dahin drängt« (25). Die Beziehung von „Idee" und „Leben", die hier angedeutet ist, hat J. nirgends genau bestimmt. Geht man in Richtung seiner Gedanken weiter, so entdeckt man ein verwickeltes Netzwerk von Beziehungen, die sich in zwei Gruppen ordnen: Leben selbst ist für das theoretische Bewußtsein „Idee" und Idee ist Leben des Geistes, d. h. zum Selbstbewußtsein strebendes Leben. Nimmt man den letzten Ausdruck ernst, dann sieht man in allem Leben (mit Schelling) die „Idee" wirksam — die Natur wird als lebendige zur „Odyssee des Geistes". Von Schelling unterscheidet sich J. durch seinen bewußteren Irrationalismus : es wird anerkannt, daß eine streng begriffliche Darstellung oder gar ein logischer Beweis hier nicht möglich ist. Aber von anderen Irrationalisten hebt sich f Zur Psychologie der Weltanschauungen. 85 J. dadurch ab, daß er die Notwendigkeit der Ratio, die Pflicht, so weit möglich Klarheit ins Dunkel zu bringen, erkennt. Bei einer ganzen Reibe von einander unabhängiger Denker finden sich heute Ansätze zu einer ihrer selbst nicht ganz sicheren Metaphysik des Lebens. Sie tritt bei Spengler mit der Geste der Genialität auf, bei J., der durch Lask's und Husserl's Schule gegangen ist, mit kritischer Scheu. Gr. Simmel, der einer Erkenntnis des Lebens bisher vielleicht am nächsten gekommen ist, hat in seinem Vortrag „Der Konflikt der modernen Kultur" (München und Leipzig 1918) auch die geistesgeschichtliche Erkenntnis dieser Strömung am meisten gefördert. Man wundert sich, daß Simmel in J.'s Buche nicht genannt wird. Da J.'s Haltung bei aller Hinneigung zur Metaphysik kritisch bleibt, sucht er sich über die Art und Tragweite der angewandten Erkenntnismittel Rechenschaft zu geben und sich innerhalb der Grenzen zu halten, die sie ihm auszufüllen erlauben, nur daß die Grenzen des Erkennens ihm nicht Grenzen des Lebens bedeuten und daß das Erkennen selbst, da von Ideen geleitet, einen uner- kannten Lebensgrund in sich trägt. Mittel des Erkennens von Weltanschauungen ist wesentlich der Prozeß, den man „verstehen" nennt, und um dessen Aufhellung seit Dilthey die Denker be- müht sind, trotz aller feinen Bemerkungen noch ohne vollen Er- folg. Verstehen ist nur möglich auf Grund eigener Erfahrung. Unsere weltanschauliche Erfahrung aber ist ein Bewegungsprozeß. Nur weil wir und solange wir in dieser Bewegung leben, können wir Psychologie der Weltanschauungen treiben. Ist uns alles fest geworden, dann besteht kein Interesse mehr dafür, es sei denn als für eine Psychologie der Täuschungen (7). Da verstehende Er- kenntnis aus eigenem Erleben stammt, ist sie nur nacherlebbar, nicht beweisbar (13). Die Grenzen der Geltung dieses Satzes hätte J. finden müssen, wenn er untersucht hätte, wie sich die Einsicht in sachliche Zusammenhänge zum Verstehen verhält. Er hätte Anlaß dazu gehabt, da er von dem, was Max Weber einmal „rationales Verstehen" genannt hat, vielfach Gebrauch macht, z. B. überall da, wo er die Antinomik der menschlichen Lage, das Un- genügende jedes festen Gehäuses heranzieht. Häufiger als auf die Theorie des Verstehens geht J. auf die Dialektik als auf ein Mittel der Darstellung des Lebens ein. Die Dreiteilungen, die das Werk beherrschen, sollen nicht etwa Ent- wicklungsreihen sein, sodaß es mit der Thesis anfinge, mit der 86 . Jonas Colin, Synthesis ende. „Vielmehr ist es ein Herumgehen um ein Ganzes, das erst in Gegensätzen, dann selbst ins Auge gefaßt wird. Man könnte ebensogut sagen, das Ganze stehe am Anfang und der Gegensatz der beiden ersten Teile entfalte sich daraus".... „Das Greifbare liegt immer im ersten und zweiten Teil, hier liegen die faktischen, sichtbaren Mannigfaltigkeiten, das Dritte ist das Dunkle" (26/7). Die dialektische Folge ist eine bloße Ordnung der Begriffe, kein System des Lebens und Daseins selbst. Die Dialektik gibt dem Denken vor allem die „Bildung" (69), d. h. sie ist unfähig Erkenntnisse zu schaffen, weiß aber die Zusammenhänge der Be- griffe darzustellen und damit die Erkenntnisse für die Person fruchtbar zu machen. Aus dieser Umgrenzung folgt J.'s Stellung- nahme zu Hegel. Er gibt zu, Wesentliches von ihm gelernt zu haben; aber da die Synthese dunkel bleibt, so behält die einfach antinomische Struktur, wie Kant sie dargelegt hat, neben der syn- thetischen Form ihr Eigenrecht. Damit hängt dann eng zusammen die Ablehnung von Hegels These, daß Denken und Sein eines sei ; dialektisches Denken umkreist nur die Anschaulichkeiten. Indem Hegel die Idee in der Dialektik objektiviert, tötet er sie (326). Wo Hegel bloße Betrachtung gibt, ist er ungemein fruchtbar, wo er als „prophetischer" Philosoph Weltanschauung lehren will, ver- sagt er. Seine Lehre ist nicht schöpferisch, sondern findet sich rechtfertigend mit dem ab, was durch andere Wirklichkeit ge- worden ist, wird „kontemplativer, verantwortungsloser Quietismus". Darum wurde diese Philosophie vom Leben ausgestoßen. Zwei Sätze, die sich aus J.'s Stellungnahme zur Dialektik entwickeln lassen, sind richtig und fruchtbar: 1. das dialektische Denken allein hat die Mittel, den Lebensprozeß des Geistes dar- zustellen. 2. Der Formalismus der Dialektik ist ebenso wenig wie irgend ein anderer Formalismus fähig, aus sich heraus Ein- sichten zu erzeugen. Freilich, dieser zweite Satz, als negativer, bedarf der positiven Ergänzung: es ist die Bedeutung sowohl der immanenten Dialektik wie der Selbsterkenntnis der Dialektik für das Erkennen zu entwickeln. Der erste Satz enthält dazu nur die Anweisung. Wenn J. sagt, daß die Dialektik um das schaffende Leben des Geistes nur herumgeht, so ist das erstlich ein bloßes Bild, dessen Wahrheitsgehalt zu entwickeln wäre, und zweitens erschöpft es die Bedeutung der Dialektik ganz gewiß nicht. J. selbst hat an manchen Stellen durchaus nicht dialektisch genug gedacht, so nimmt er z. B. die Auflösung der Gehäuse viel Zur Psychologie der Weltanschauungen. 87 zu wörtlich — als blieben etwa nur die Materialien übrig, während in Wahrheit gerade der Bauplan sich in umgebildeter Form erhält, solange überhaupt noch Kontinuität des Einzellebens oder der Kultur besteht. Ja Auflösung befreit zugleich wesentlichen Gehalt. Jeder in einer Dialektik vorkommende Begriff ist dialektisch zu behandeln. Eine Theorie der Dialektik hätte unter anderem das zu erweisen und durchzuführen. Sie hätte neben der Hegel' sehen auch andere Formen der Dialektik zu untersuchen. Auch ohne daß eine solche Theorie vorliegt, könnte z. B. von Schleiermacher für die Psychologie der Weltanschauungen vieles gelernt werden. Am meisten leidet darunter, daß J. die Dialektik nur unter- geordnet verwendet, die Selbsterkenntnis seines eigenen Tuns und seiner Stellung in der Wissenschaft. J. behauptet immer wieder, daß er lediglich wertungsfreie Betrachtung erstrebt. Er grenzt seine Aufgabe, Weltanschauungen zu verstehen, bescheiden ab gegen das Ausbilden einer Weltanschauung, das Sache der „prophe- tischen Philosophie" ist, und er verwahrt sich mit dem ganzen Stolze strenger, resignierter Wissenschaftlichkeit dagegen, mit den unechten Surrogaten einer prophetischen Philosophie verwechselt zu werden, die man heute überall herumbietet. Dem gegenüber sind der Psychologie (auch der verstehenden) die Werte lediglich Gegenstand. Natürlich soll das nicht bedeuten, daß der Psycho- loge als Mensch sich des Wertens enthält — so wenig etwa der Botaniker als Gärtner Unkraut und Gartenblume gleich behandelt. Aber die Fälle des Botanikers und des Psychologen liegen nicht gleich : dem Botaniker ist die Pfllanze ein gesonderter Gegenstand, den er mit einer von jedem erlernbaren Methodik untersucht, der verstehende Psychologe erkennt mit seinem ganzen Leben — der Reichtum nachfühlenden Verstehens hängt von dem Reichtum des Eigenlebens ab. J. übersieht diesen Einwand nicht, er bemerkt auch, daß gewisse Wertungen sich schwer ausschalten lassen (z. B. S. 154). Daß z. B. das Leben gegenüber der „Unlebendigkeit", die „echten" Gestalten gegenüber den „unechten" durch einen positiven Wert hervorgehoben sind, weiß J. natürlich (vgl. bes. 280). Aber J.'s wertende Stellungnahme reicht viel weiter. Ganz deutlich strebt er einer Weltanschauung zu, die in der vollen, gestaltenden Lebendig- keit das Wesentliche sieht. „Es gibt zwischem dem Nihilismus und dem Gehäuse, zwischen dem Chaos und der Form ein Leben aus dem Ganzen und Unendlichen, das nicht kompromißlerisch, halb und wesenlos ist" (308). Er weiß, daß die bloße Bejahung 88 Jonas Cohn, des Lebens, des Dämonischen diese Weltanschauung noch nicht gibt (329) — aber welchen Sinn hat diese Bejahung als den des Willens zu einer solchen Weltanschauung? Ja an mehreren Stellen zeigt J. das volle Bewußtsein der Bedeutung, die die Psychologie der Weltanschauungen für die Erringung einer Weltanschauung aus wahrhafter Anschauung des Lebendigen besitzt. So heißt es einmal von der psychologischen Betrachtung, sie sieht in der Kraft des Gehäusebaus Kraft des Lebens und damit das Wesentliche. „Sie weiß, daß sie selbst leicht ein Faktor im Auflösungsprozeß ist, d. h. aber ein notwendiger Faktor im Leben, damit es immer wieder zur Entfaltung komme, und d. h. eine Kraft der Auflösung, der schließlich gerade nur die unechten Gehäusefabrikate oder die überlebten Versteinerungen und die kraftlosen, lebenslosen Menschen anheimfallen, wie die Bakterien sich aller Leichen aber nicht der lebendigen Leiber bemächtigen. Sie darf erkennen, daß sie zwar ihrem Wesen nach selbst unschöpferisch ist, daß sie aber im Dienst des wachsenden Lebens steht, dem ein Schaden durch sie zuzu- fügen unmöglich ist" (249 f.). Aber J. will nicht sehen, daß seine Wertung des Lebens keineswegs nur gelegentlich mitschwingt, sondern die Gestalt seines Buches bestimmt. Ein Mensch, der überzeugt ist, daß sei es eine bestimmte gegebene Form (z. B. die des Katholizismus), sei es das Leben in fester Form überhaupt das Rechte und Wahre ist, würde nie von „Gehäusen" reden, die auf- gelöst und umgebildet werden. Wer das Leben negiert, wie Buddha oder Schopenhauer, wird alle Erkenntnis des Lebens nur als Mittel ansehen, sich vom Leben abzukehren. Es ist auffallend, wie gering der Raum ist, den J. den negierenden Geisteshaltungen widmet. Die strenge Abkehr Buddhas wird nur gestreift, die realistische Verzweiflung Bahnsens gar nicht erwähnt. Auch die Ausschaltung der naiven Formen gewinnt so eine andere Bedeu- tung als die ihr Jaspers geben will: sie stehen noch diesseits des entscheidenden Prozesses. Es könnte scheinen, dies seien nur Mängel der Durchführung seines Planes. Aber daran wird man irre, wenn man J. mit Hegel vergleicht. Hegel hat in seiner Phänomenologie ausgesprochen das Ziel, die höchste Stufe des Be- wußtseins zu erreichen auf dem Wege des Durchgangs durch die ganze Entwicklung des Geistes. Dabei kommt jedes Entwicklung- stadium in seiner Eigenart zu Recht ; es ist die Aufgabe des Philo- sophen, sich ganz mit dieser Gestalt zu vereinigen, um sie aus sich selbst heraus zu überwinden. J. will jede Gestalt nur betrachten Zur Psychologie der Weltanschauungen. 89 — und dabei drängt er viele Gestalten ganz in den Hintergrund zugunsten weniger, die sich als Näherungen an ein ihm selbstver- ständliches Ziel auffassen lassen. Es zeigt sich: die unterdrückte uneingestandene Wertung ist viel schädlicher für die Reinheit der Betrachtung als die eingestandene. Also, könnte man folgern, handelt es sich darum, die Wertungen, die uneingestanden bei J. zugrunde liegen, ans Licht zu ziehen, um sie unschädlich zu machen, dann aber die wertungsfreie Betrachtung so rein wie möglich durch- zuführen. Man muß so folgern, wenn man J.'s Auffassung des Wertes beibehält: daß der Wert nur ein Akzent ist, der auf die Sache gesetzt wird (119), daß also die Sache ohne den Wert die gleiche bleibt. Gewiß gibt es Fälle, auf die diese Beschreibung in großer Annäherung zutrifft. Ich lege keinen Wert auf die Schönheit der Menschen, obwohl ich diese Schönheit als solche sehe — ich lerne es, auf den Besitz von Geld Wert zu legen, obwohl mir Greld nach wie vor Mittel z. B. der Unabhängigkeit oder der Macht bleibt, kein Eigenwert wird. Aber man erkennt an solchen Beispielen, daß hinter der Schicht, in der „Wertakzente" äußerlich aufgesetzt werden, eine andere liegt, in der die einem Verhalten, einer Sache, einer Person immanenten Werte gesehen werden. Der Begriff „ Leben Ä, mindestens in dem Sinne, in dem J. ihn braucht, ist in sich selbst werthaltig. Wer den Wert des Lebens negiert, der weigert nicht einem gleichgesehenen Leben einen Wertakzent, sondern er hat gar nicht den Begriff „Leben", den J. voraussetzt. Wir können nur aus einem Wertganzen heraus verstehen; wir verstehen um so besser je vollständiger in sich, je geklärter dies Wertganze ist. Die Ausschaltung der Wertungen behält ihr Recht überall da, wo eine vereinzelte Untersuchung über Tatbestände geführt werden soll. Der Einfluß einer Geistesrichtung, die Macht eines Volkes, der Erfolg einer wirtschaftlichen Bewegung soll fest- gestellt werden ganz unabhängig davon, wie wir uns wertend dazu stellen. Solchen Aufgaben gegenüber ist als unschädlich zu ver- nachlässigen, was an Werten schon in der Abgrenzung der Tat- bestände steckt — denn diese wird nicht untersucht und kann praktisch als zugestanden betrachtet werden. In der verstehenden Psychologie kann zwar nicht jeder Wert ausgeschaltet werden, wohl aber in begrenzender Betrachtung jeder über die gerade zu verstehende Gestalt hinausweisende Wert. Aber das ist dann be- wußte Vereinzelung — und es ließe sich wohl zeigen, daß diese immanente Betrachtung, indem sie das ganze innere und äußere 90 Jonas Cohn, Zur Psychologie der Weltanschauungen. Verhalten der Stufe nachlebt und seine Konsequenzen zieht, auf die Grenzen, die übersehenen, negierten Werte führen müßte. Die Trennung der Werte von den Tatbeständen, so notwendig sie für bestimmte Aufgaben der Praxis und der sich spezialisierenden Er- kenntnis ist, muß doch, wie jede Trennung, vorläufig bleiben und durch eine vollständigere Besinnung auf die Verbundenheit der Getrennten überwunden werden. An einzelnen Orten seines Werkes nähert sich J. der echt philosophischen Haltung, so überall wo er an Stelle eines ab- strakten Begriffes des Psychischen einen lebensvollen setzen will (z. B. 307 Anm.). Meist aber ist eine bestimmte philosophische Anschauung nur als unbewußt treibende Kraft, als latente Idee, wenn man «das Wort in seinem Sinne gebraucht, wirksam. Durch den recht schiefen Ausdruck „prophetische Philosophie" — denn was hat Descartes, Leibniz oder Kant mit „Prophetie" in irgend einem Sinne zu tun? — verhüllt er sich die Zusammenhänge zwischen- dem was er Betrachtung und dem was er Weltanschauung nennt. Die verschiedenen Mängel des Werkes hängen eng zu- sammen : weil J. vor der Pforte der Philosophie stehen bleiben will, während Philosophie in ihm lebt, verengt sich ihm durch un- bewußte Wertung am falschen Platze das Bereich der Betrachtung. Weil er das Dogma von der Unmöglichkeit wissenschaftlicher Ent- scheidung über Werte festhält, statt die Dialektik dieses Verhält- nisses zu wissen, setzt er vorläufige Trennungen als endgültig und kann zugleich den Wert nur als „Wertakzent" fassen, sich so den Zugang zur echten Wertlehre verriegelnd. Das „Leben" und die „Dialektik" bleiben unverbunden — statt, daß die Dialektik als Leben des Denkens und das geistige Leben als denkendes erfaßt wird — so daß als die Wahrheit der Einheit von Sein und Denken bei Hegel sich die Idee einer Einheit beider zeigen kann. J. hätte sehr leicht ein viel einwandfreieres Buch schreiben können : er hätte nur unter Verzicht auf die Erörterung der metho- dischen Fragen, der wissenschaftstheoretischen Prinzipien und der philosophischen Grundlagen einfach seine systematisch gegliederten Schilderungen zu geben brauchen. Es ist zu rühmen, daß er das nicht getan hat. Denn erst durch die anfechtbaren Teile wächst das Werk hinein in die große Geistesbewegung der Zeit, nimmt es, besser gesagt, Teil an der Arbeit, die für Gegenwart und Zu- kunft nötig ist. Die Lorentz-Kontraktion. Von M. v. Lane. Bei den vielen, sehr zu begrüßenden Versuchen der Philo- sophen von Fach, zur Relativitätstheorie Einsteinscher Prägung Stellung zu nehmen, begegnet man fast immer einem merkwürdigen Mißverständnis hinsichtlich der Rolle der Lorentz-Kontraktion. Es erklärt sich aus der Art, wie die Theorie zu dem Schluß auf diese Verkürzung gelangt, und findet seine besondere Stütze in dem Wortlaut eines berühmten Vortrags von Minkowski; denn danach ist die Lorentz - Kontraktion in der Relativitätstheorie „ rein ein Geschenk von oben". Wir hätten daraufhin eigentlich eine weit strengere Beurteilung der Theorie gerade von philosophischer Seite erwartet, ja geradezu ihre Ablehnung wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit. Denn „ein Geschenk von oben", was ist das anderes als ein neuer Ausdruck für „ein Wunder"? Zum Glück ist hier nur der angeführte Wortlaut, nicht die Theorie selbst zu bemängeln. Und dies möchten wir zur Klärung des Sachverhalts auch einmal an einer dem philosophischen Leser zugänglichen Stelle näher ausführen. Wir haben es dabei zunächst nur mit der beschränkten Relativi- tätstheorie zu tun, der zufolge eine Gruppe von Koordinaten- systemen für die Physik gleichberechtigt ist, die sich aus einander mittels der bekannten Lorentz-Transformation der Raum- und Zeit- koordinaten ableiten lassen. Sind K und K' zwei solche Systeme, und ruht in K' ein Körper, an dem irgend eine zur Bewegungs- richtung von K' gegen K parallele Abmessung (gegeben durch zwei Marken an dem Körper) die Länge 1° bezogen auf K' hat, so hat dieselbe Abmessung bezogen auf K eine Länge kleiner als 1°. Das ergibt sich durch einen einfachen mathematischen Schluß aus jenen Transformationsgleichungen. Da sich nun die Zustände des Körpers gegenüber K und K' lediglich durch die Geschwindigkeit unter- 92 M. v. Laue, scheiden, welche er gegen K, nicht aber gegen K' besitzt, so heißt das: Ein Körper, den wir von der Ruhe aus in Bewegung bringen, zieht sich dabei in der Bewegungsrichtung zusammen. Sofern das Relativitätsprinzip, wie es sich in der Lorentz-Transformation aus- spricht, in der Wirklichkeit gilt, müssen alle Körper dies Ver- halten zeigen. Was an dieser Schlußweise Manchem unbefriedigend scheint, ist, daß sie für die Verkürzung nur einen Erkenntnisgrund angibt, nicht aber eine Ursache; sie folgt nicht dem kausalen Zusammen- hang der Wirklichkeit. Bevor wir diese Lücke auszufüllen suchen, wollen wir aber doch betonen, daß ein solches Abweichen des Ge- dankenganges von der kausalen Verkettung nichts ungewöhnliches in der Physik ist. Im Gregenteil beruht gerade bei den umfassendsten Naturgesetzen ihr Wert für die Wissenschaft darauf, daß sie uns der Mühe entheben, den oftmals wenig übersichtlichen Kausalreihen der Natur in allen Einzelheiten nachzugehen. Schließen wir z. B. aus dem Energieprinzip, daß die Vereinigung 2#2+02 = 2£20 dieselbe Summe aus Wärme und Arbeit liefert, ob sie sich unter Explosion der Grase in der kalorimetrischen Bombe oder im galva- nischen Element unter Lieferung elektrischen Stroms vollzieht, so sagen wir dabei auch sehr wenig über das Spiel der Atome aus, welches beide Male zum gleichen energetischen Endergebnis führt. Und derartige Beispiele lassen sich auch beim zweiten Hauptsatz, beim Satz von der Erhaltung der Bewegungsgröße usw. leicht in großer Zahl geben. Wird aber der kausale Zusammenhang auch nicht aufgezeigt, so bleibt doch die Forderung selbstverständlich zu Recht bestehen, daß es vielleicht erst bei weiterem Fortschritt der Wissenschaft, aber doch grundsätzlich möglich ist, ihm in allen Einzelheiten nachzugehen. Und diese Forderung müssen wir auch im Falle der Lorentz-Kontraktion durchaus aufrecht erhalten. Wir können sie auch leicht erfüllen, wenn wir uns darüber klar werden, was für die ältere Physik einschließlich der be- schränkten Relativitätstheorie ein Bezugssystem darstellt. Man knüpft dabei am besten wohl an die Frage an, wie denn eins der berechtigten Systeme dieser Theorie aufzufinden ist. (Haben wir erst eins, so verhilft uns die Lorentz-Transformation zu den an- deren.) Und das macht wohl am klarsten ein Gedankenversuch, den L. Lange beschrieben hat. Man untersuche die Bewegung von drei freien keinen Kräften unterworfenen Körpern, die von einem Die Lorentz-Kontraktion. 93 Punkt ausgehen, in irgend einem beliebigen Bezugssystem. Sind ihre Bahnen in diesem System gerade Linien, so ist das System ein berechtigtes, ein „Inertialsystem". Dieses System ist danach ein durch Beobachtung festzustellender physikalischer Gegenstand, und wenn sich jemand noch an der praktischen Unausführbarkeit jenes Gedankenversuches stoßen sollte, so verweisen wir einfach auf das Vorgehen der Astronomen, welche sich für die Theorie der Planetenbewegung ein passendes, d. h. für die Anwendung der mechanischen und Gravitationsgesetze passendes Koordinatensystem aus der Planetenbewegung selbst gesucht und nach allgemeiner Überzeugung mit großer Genauigkeit gefunden haben. Und genau so gut wie irgend ein anderer durch Beobachtung festzustellender, also physikalisch wirklicher Gegenstand vermag dies System als. Ursache physikalische Wirkungen auszuüben. Zu dieser Ansicht mußte sich schon die Newtonsche Dynamik bekennen. Und in der Tat kommt alles, was sie über die Zentri- fugalkräfte (und Ähnliches) in einem rotierenden System zu sagen wußte, auf diese Anerkennung hinaus. Wir wollen hier aber lieber ein Beispiel aus der Elektrodynamik heranziehen, welche sich ob- wohl älter als die beschränkte Relativitätstheorie, unverändert in diese hat aufnehmen lassen. Das Beispiel sei so einfach, wie möglich. Zwei elektrische Punktladungen ruhen zunächst in einem berechtigten System und üben dabei die bekannte Coulombsche Kraft auf einander aus. Wir bringen sie auf eine gemeinsame, nach Richtung und Größe un- veränderliche Geschwindigkeit gegen dasselbe System bei unver- ändertem Abstand von einander. Aus den elektrodynamischen Gleichungen läßt sich leicht entnehmen, daß sich die Kraft zwischen ihnen verändert hat. Was ist die Ursache der Veränderung? An ihrer Lage und Bewegung gegen einander hat sich nichts geändert, sondern einzig allein an ihrem Verhältnis zu dem Bezugssystem. Und nur dies Bezugssystem kommt somit als Ursache für die Kraftänderung in Betracht. Das ist nach dem oben gesagten auch nicht weiter ver- wunderlich. Und wenn man vor der Relativitätstheorie diesen Schluß wohl nicht in dieser Form gezogen hätte, so lag das nur daran, daß man früherdas Bezugssystem zum „Äther" materialisierte. Mit der Vorstellung eines körperhaften Äthers aber hat die Relativitäts- theorie aufgeräumt. Nun kehren wir zu dem Körper zurück, der im System K 94 M. v. Laue, zunächst ruht, dann aber eine Bewegung gegen K erhält. Seine Gestalt ist das Ergebnis des Gleichgewichts, welches sich zwischen den vom Atom zu Atom (dies Wort im weitesten Sinn gebraucht, also unter Einschluß von Elektronen und Ahnlichem) wirkenden Kräften einstellt. Setzen wir den Körper bei unveränderter Ge- stalt, also bei der alten Lage der Atome gegen einander in Bewe- gung, so können sich diese Kräfte ebenso gut verändern, wie in dem obigen Beispiel die Kräfte zwischen den Ladungen. Sie brauchten darum noch nicht elektromagnetischer Natur zu sein. Die Folge wird sein, daß die alte Gestalt des Körpers keinem Gleichgewicht mehr entspricht, daß wir im Gegenteil zu ihrer Erhaltung einen äußeren Zwang anwenden müssen. Fehlt dieser Zwang, wie man es bei der Erörterung über die Lorentz-Kontraktion annimmt, so muß sich die Gestalt ändern. Wie, das läßt die jetzige Überlegung erst dann angeben, wenn man die Veränderungen der Kräfte kennt. Sind sie elektromagnetischer Natur, so sagt ein von H. A. Lorentz bewiesener Satz, daß gerade die Lorentz-Kontraktion herauskommt. Will man diese Voraussetzung nicht einführen, so weiß man zu wenig von ihnen, um einen solchen Schluß unabhängig von der Relativitätstheorie durchzuführen. Hier, wo beim jetzigen Stande unserer Kenntnisse die Möglichkeit fehlt, die Kausalreihe unab- hängig vom Relativitätsprinzip zu verfolgen, greift eben das Re- lativitätsprinzip helfend ein ; es lehrt uns, daß immer dieselbe Ver- kürzung auftreten muß. Gewiß kann die Dynamik, welche sich aus dem Relativitäts- prinzip entwickelt hat, nun auch den ursächlichen Zusammenhang vollständig erklären. Doch ist damit nichts Neues gewonnen. Man holt dabei nur aus ihr heraus, was man vorher implizite in sie hineingesteckt hat. Der Unterschied gegenüber der Elektrodynamik, welche dasselbe unabhängig vom Relativitätsprinzip leistet, ist aber kein grundsätzlicher, sondern liegt allein in dem jetzigen Stande der physikalischen Forschung. Wir haben eben in der Elektrizitätslehre weit vollständigere und genauere Kenntnisse, als in der Mechanik. Bisher haben wir nur von der beschränkten Relativitätstheorie gesprochen. Die allgemeine leugnet das Dasein von Koordinaten- systemen, welche die Vorzugsstellung eines Inertialsystems von sich aus haben. Der Langesche Versuch müßte ergebnislos bleiben, könnte man alle außer den Probekörpern fortschaffen. Nur weil in dem astronomischen Koordinatensystem jene großen Massen des Die Lorentz-Kontraktion. 95 Fixsternhimmels im Großen und Ganzen ruhen, hat es etwas vor den anderen voraus. Dennoch verändert das die oben vertretene Auffassung der Lorentz-Kontraktion nur unwesentlich. Denn es gibt jetzt an jeder Stelle des Raumes einen anderen im Prinzip meßbaren, also physikalisch wirklichen Gegenstand, nämlich den Tensor der Maßbestimmung mit seinen zehn Komponenten» Sind diese im Allgemeinen auch von Ort zu Ort und von Zeitpunkt zu Zeitpunkt veränderlich, so lassen sie sich doch in Spielräumen, welche für einen physikalischen Versuch nach Raum und Zeit voll- ständig ausreichen, durch geeignete Wahl der Koordinaten auf jene besonders einfachen Werte transformieren (± 1 oder 0), welche nach der beschränkten Relativitätstheorie überall herrschen sollten. So erhalten deren berechtigte Systeme auch hier, freilich mit räum- lichen und zeitlichen Beschränkungen, eine allerdings nicht mehr ursprüngliche, sondern abgeleitete Realität. Aber damit wird die oben auseinandergesetzte Auffassung der Lorentz-Kontraktion eigentlich nicht verändert, sondern nur vertieft. Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? Bemerkungen zn Ernst Cassirers Buch „Zur Einst einschen Relativitätstheorie u . Von Moritz Schlick. Ein unverwischbarer, unveräußerlicher Charakterzug der kriti- schen Philosophie ist ihre Verwurzelung in der exakten Wissen- schaft. Wie Kant selbst nach wohlbegründeter (besonders von Cohen verfochtener) Meinung mit seiner Erkenntniskritik das Ziel einer philosophischen Rechtfertigung der Newtonschen Natur- prinzipien verfolgte, so streben die neukantischen Schulen danach, die Wahrheit der kritischen Grundgedanken dadurch zu beweisen, daß sie ihre Brauchbarkeit und Fruchtbarkeit auch für die Physik der neuen Zeit darzutun suchen. Es wurde dem Neukantianismus nicht schwer, mit der Entwicklung der Naturwissenschaft Schritt zu halten, als sie von der mechanischen zur energetischen und schließlich zur elektrodynamischen Weltansicht überging — ist aber seine Kraft und Elastizität auch groß genug, um den Sprung mitzumachen, durch den die Physik sich in unsern Tagen auf eine neue Bahn begab? Ich glaubte diese Frage verneinen zu müssen zu einer Zeit, als nur ganz wenige Versuche vorlagen, die Spe- zielle Relativitätstheorie dem kritizistischen Standpunkt zu assi- milieren, und als die Allgemeine Theorie überhaupt noch nicht abgeschlossen war. Es schien mir, daß die zu einer philosophischen Aufklärung und Rechtfertigung jener Theorie nötigen Prinzipien viel eher aus der empiristischen als aus der Kantschen Erkenntnis- theorie entnommen werden können *) ; und auch bei späteren Ge- legenheiten fand ich keine Veranlassung, diesen Standpunkt auf- 1) Die philosophische Bedeutung des Kelativitätsprinzips , Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 159. Moritz Schlick, Kritizist. oder empirist. Deutung d. neuen Physik? 97 zugeben, zumal die bald darauf glücklich vollendete Allgemeine Theorie einem Gedanken zum Siege verhalf, der auf extrem em- piristischem Boden (nämlich im Positivismus Machs) erwachsen war. Aber bei der Bedeutung und Schwierigkeit der Frage ist es Pflicht, die Sachlage 'bei jedem ernsten Anlaß erneut zu prüfen. Einen solchen Anlaß stellt das Erscheinen des Buches von Ernst Cassirer *) dar, und so folge ich gern der Aufforderung der Schrift- leitung der Kantstudien, dem Problem an der Hand dieses Buches eine neue Untersuchung zu widmen, die freilich aus äußeren Gründen nur in ganz kurzer Fassung gegeben werden kann. Cassirer hat sich in seiner Schrift den Nachweis zum Ziel gesetzt, daß die philosophischen Grundlagen der Relativitätstheorie nur im Bereiche des Kritizismus gefunden werden können, genauer in derjenigen Form der kritischen Ansicht, die er gern als logi- schen Idealismus bezeichnet. Er stellt sich die Aufgabe, durch erkenntnistheoretische Analyse zu entscheiden, „ob die Theorie in ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung als Beleg und Zeugnis für den kritischen oder als Zeugnis für den sensualis tischen Erfahrungsbegriff zu gelten hat" (S. 26). Angesichts dieser Formulierung müssen sich aber sogleich Bedenken erheben : Ist das Problem wirklich auf diese Alternative zurückführbar ? gilt hier ein tertium non datur ? Sicherlich gibt es einen Empirismus, der vom Sensualismus verschieden ist und sich auf ihn nicht reduzieren läßt — das ist historisch wie sach- lich leicht ersichtlich. Wenn also gezeigt wird (und das ist wohl nicht schwer), daß die Relativitätstheorie aus rein sensualistischen Prämissen nicht zu verstehen ist, so wird hierdurch allein weder die Notwendigkeit noch auch die Zulässigkeit der kritizis tischen Interpretation der Theorie bewiesen, es sei denn, man faßte den Begriff des logischen Idealismus so weit, daß jene Alternative eben erlaubt wird. Dann aber schwebt er in Gefahr, seine ent- schiedene Färbung und damit seinen philosophischen Wert zu ver- lieren, die heterogensten Meinungen würden sich in ihm vereinigen lassen. An einigen Stellen scheint Cassirer in der Tat zu so all- gemeinen Formulierungen zu neigen, daß die Abgrenzung seines Kritizismus undeutlich zu werden droht. Wir müssen den Grenz- linien nachzugehen suchen. 1) Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, Erkenntnistheore- tische Betrachtungen, Berlin 1921. Kantstudien. XXYL 7 98 Moritz Schlick. Um eine feste Grundlage für die folgenden Betrachtungen herzustellen, muß ich mit wenigen Worten sagen, welche unent- behrlichen Merkmale ich mir mit dem Begriff des Kritizismus verknüpft denke. Eine solche Festlegung ist durchaus nötig für jede Diskussion über die Verträglichkeit der Relativitätstheorie mit der kritischen Erkenntnislehre, denn nur auf diese Weise wird das störende Hineinspielen der Fragen der Kant-Interpretation vermieden; die Diskussion bleibt solange unergiebig, als jeder sich des nicht ungewöhnlichen Arguments bedienen kann, der andere lege eben die Kantsche Meinung nicht richtig aus. Folgendes also sei vorausgeschickt. Alle exakte Wissenschaft, deren philosophische Rechtfertigung unzweifelhaft das erste Ziel der von Kant begründeten Erkenntnislehre bildet, beruht auf Beobachtungen und Messungen. Bloße Empfindungen und Wahr- nehmungen sind aber noch nicht Beobachtungen und Messungen, sondern sie werden es erst dadurch, daß sie geordnet und inter- pretiert werden. Die Bildung der physikalischen Gegenstands- begriffe setzt also fraglos bestimmte Prinzipien der Ordnung und Interpretation voraus. Das Wesentliche des kritischen Gedankens sehe ich nun in der Behauptung, daß jene konstitutiven Prinzipien synthetische Urteile a priori seien, wobei zum Begriff des Apriori das Merkmal der Apodiktizität. (der allgemeinen, not- wendigen, unumgänglichen Geltung) unabtrennbar gehört. — Ich bin zwar überzeugt, mit dieser Erklärung Kants eigene Meinung richtig zu treffen, aber selbst wenn weder er noch seine Anhänger dieser Art von Kritizismus je gehuldigt hätten, bliebe ja die sach- liche Richtigkeit oder Falschheit der folgenden Aufstellungen davon ganz unberührt, und auf diese allein kommt es bei einer Untersuchung an, die sich auf das Systematische, nicht auf das Historische richtet. Die wichtigste Folgerung aus der eben entwickelten Ansicht ist, daß ein Denker, der die Unentbehrlichkeit konstitutiver Prin- zipien zur wissenschaftlichen Erfahrung überhaupt einsieht, des- wegen noch nicht als Kritizist bezeichnet werden darf. Ein Empi- rist kann z. B. sehr wohl das Vorhandensein solcher Prinzipien anerkennen ; er wird nur leugnen, daß sie synthetisch und a priori im oben bezeichneten Sinne sind. Cassirer erkennt, daß „Empirismus und Idealismus sich in bestimmten Voraussetzungen begegnen. Beide gestehen hier der Erfahrung die entscheidende Rolle zu — und beide lehren anderer- Kritizistische oder empiristiache Deutung der neuen Physik? 99 seits, daß jede exakte Messung allgemeine empirische Gesetze voraussetzt" (S. 94 f.). Aber indem er sich dann der dringenden Frage zuwendet, „wie wir zu jenen Gesetzen, auf denen die Mög- lichkeit aller empirischen Messung beruht, gelangen und welche Art der Geltung . . . wir ihnen zugestehen" (S. 95), stellt er dem Kritizismus nur die sensualistische Ansicht unter dem Namen des „strengen" Positivismus gegenüber. Mit vollem Recht verurteilt •er den von Mach gelegentlich unternommenen Versuch, selbst analytisch - mathematische Gesetze gleich Dingen zu behandeln, „deren Eigenschaften man durch unmittelbare Wahrnehmung ab- lesen kann" (S. 95) — jedoch damit ist nicht der logische Idea- lismus bewiesen, sondern nur der Sensualismus widerlegt. Zwischen beiden bleibt die empiristische Ansicht stehen, nach welcher jene konstitutiven Prinzipien entweder Hypothesen oder Konven- tionen sind; im ersten Falle sind sie nicht a priori (denn es mangelt ihnen die Apodiktizität), im zweiten sind sie nicht syn- thetisch. Wie steht es mit dem Nachweis, daß die Grundsätze der Einsteinschen Physik nicht diesen Charakter tragen, sondern als synthetische Sätze a priori anzusprechen seien? Kant selbst rechnete, wie gar nicht zu bezweifeln ist, zu den gegenstandskonstituierenden synthetischen Prinzipien a priori die Axiome der euklidischen Geometrie und der Galileischen Kine- matik. Und die Mehrzahl der Kantianer hat auch nach der mathematischen Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien an der' euklidischen Naturauffassung als der einzig möglichen fest- gehalten, indem sie (sehr deutlich z. B. Kiehl und Hönigswald) erklärten, der euklidischen Geometrie komme in der Tat die von Kant ihr zugeschriebene anschauliche Notwendigkeit zu, wäh- rend die andern Geometrien nur begriffliche Denkbarkeit besäßen, die ja der Kantschen Lehre nicht widerstreitet. Nun ist die Spezielle Eelativitätstheorie mit den Sätzen der Galileischen Kinematik, die Allgemeine außerdem noch mit den Ratzen Euklids unvereinbar. Wer die Einsteinsche Theorie an- nimmt, muß die Lehre Kants in ihrer ursprünglichen Form ab- lehnen ; man muß, wie auch Cassirer mehrfach betont, einen Schritt über Kant hinaus tun. Aber darauf kommt es uns hier garnicht an. Der Kritizismus, wie er oben definiert wurde, könnte dessen- ungeachtet der neuen Theorie gegenüber sich behaupten und be- währen, ja noch größere Triumphe feiern; dazu wäre nur nötig, daß die letzten Grundlagen der Theorie sich eben als synthetische 100 Moritz Schlick, Sätze von schlechthin notwendiger Geltung für alle Erfahrung enthüllten. Welches sind diese Sätze? Denn das ist wohl zu beachten: wer die Behauptung des Kritizismus aufstellt, der muß, sollen wir ihm Glauben schenken, die Prinzipien a priori auch wirklich angeben, die den festen Grund aller exakten Wissenschaft bilden müssen. Für die Transzen- dentalphilosophie, sagt Cassirer mit Recht (S. 78), sind Raum und Zeit nicht Dinge, sondern „Erkenntnisquellen". Es muß also eine Angabe der Erkenntnisse gefordert werden, deren Quelle z. B. der Raum ist. Der kritische Idealist muß sie mit derselben Bestimmt- heit und Deutlichkeit bezeichnen, mit der Kant auf die zu seiner Zeit einzig bekannte und anerkannte Geometrie und „allgemeine Bewegungslehre" hinweisen konnte. Alle die, welche die Rela- tivitätstheorie vom Kantschen Standpunkt aus beurteilt haben, wiesen darauf hin, daß es sich in ihr um die empirische (d. h. hier: durch physikalische Methoden gemessene Zeit) und um den empirischen Raum handelt, und sie stellen ihnen die Kantsche „reine Anschauung" von Raum und Zeit gegenüber als dasjenige, was jene empirischen Konstruktionen erst möglich macht und folg- lich von jedem Fortschritt der Physik, der immer nur das Empiri- sche betreffen kann, schlechthin unberührt bleiben muß. Durch diese Wendung wird die Problemlage nicht geändert, sondern nur anders ausgedrückt, denn die reine Anschauung ist eben die Er- kenntnisquelle jener Grundsätze a priori, deren man zur Kon- struktion der empirischen Zeit und des empirischen Raums bedarf, für manche ist sie einfach ein zusammenfassender Terminus für den Inbegriff jener Grundsätze selbst; in jedem Falle kann die Existenz eines „reinen Raumes" und einer „reinen Zeit" überhaupt nur dadurch erwiesen werden, daß man das System der dazu- gehörigen synthetisch-apriorischen Grundsätze tatsächlich aufzeigt oder wenigstens eine eindeutige Anweisung gibt, wie es zu finden ist. Es kann nicht genug betont werden, daß ein Anhänger der kritischen Philosophie sich nur durch Vorweisung eines solchen Ur- teilssystems legitimieren kann. Jeder Versuch, Einstein mit Kant zu versöhnen, muß in der Relativitätslehre synthetisch-apriorische Prinzipien aufdecken; sonst ist er von vornherein als gescheitert zu betrachten, weil er nicht einmal zu der richtigen Problem- stellung vorgedrungen ist. Cassirer sieht das Problem natürlich in seiner richtigen Be- deutung, und an zwei Orten seines Buches scheint er eine nähere Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 101 Bestimmung des Inhaltes der vom logischen Idealismus behaup- teten reinen Anschauung zu geben. An der ersten Stelle (S. 84) erblickt er ihn in dem Begriff der Koinzidenz der „ "Weltpunkte ", auf welche die Allgemeine Relativitätstheorie bekanntlich alle Naturgesetze zurückführt. Aber ich glaube, daß gerade diese „Koinzidenz" sich garnicht als bloßer Inbegriff und Knotenpunkt apriorischer Sätze auffassen läßt, sondern zunächst durchaus Re- präsentant eines psychologischen Erlebnisses des Zusammen- fallens ist, so wie etwa das Wort „gelb" ein einfaches nicht mehr definierbares Farberlebnis bezeichnet. Nur so vermag sie die von der Theorie ihr zugewiesene Vermittlerrolle zwischen Realität und naturwissenschaftlich - begrifflicher Konstruktion zu spielen. Mit andern Worten: wir haben eine empirische Anschauung vor uns1). Eine zweite Antwort auf die Frage, was denn an synthetisch- apriorischen Sätzen über den Raum jetzt noch übrig bleibe, gibt Cassirer S. 101, wo er sagt: „Denn das ,Apriori' des Raumes . . . schließt . . . keine Behauptung über eine bestimmte einzelne Struktur des Raumes in sich, sondern geht nur auf jene Funktion der ,Räumlichkeit überhaupt', die sich 'schon in dem allgemeinen Begriff des Linienelements als solchen — ganz abgesehen von seiner näheren Bestimmung — ausdrückte". Diese Formulierung, die aussagen will, daß es überhaupt so etwas wie ein Linien- element in der Naturbeschreibung geben müsse, kann jedoch kaum befriedigen. Denn welcher Axiomenkomplex ist es, der in jener Behauptung beschlossen sein soll? Die Axiome der Stetigkeit können es nicht sein, denn die schon von Riemann ins Auge ge- faßte Möglichkeit diskontinuierlicher Raumbestimmungen ist durch die moderne Quantentheorie in greifbare Nähe gerückt worden. Und welche andern Axiome man auch wählen möge : es ist nicht einzusehen, warum gerade sie die allein notwendige Raumstruktur konstituieren sollen, da doch andere von nicht geringerer „Evi- denz" dem Fortschritt der Physik zum Opfer fielen. Hier erscheint jede inhaltliche Behauptung, so allgemein sie auch sein möge, schon zu speziell, und es ist durchaus konsequent, wenn man auf die Frage, welches denn nun die letzten syntheti- schen Grundsätze a priori aller Naturwissenschaft sind, die Ant- 1) Dies ist auch der eigentliche Sinn meiner Ausführungen in „Raum und Zeit«, 3. Aufl. 1920, S. 83. 102 Moritz Schlick wort erteilt (die ich einer freundlichen brieflichen Mitteilung Cassirers entnehme): „eigentlich nur der Gedanke der ,Einheit der Natur' d. h. der Gesetzlichkeit der Erfahrung überhaupt, oder vielleicht kürzer der ,Eindeutigkeit der Zuordnung' u. Damit scheint mir aber die Gefahr unentfliehbar hereingebrochen zu sein, die ich oben als unvermeidliche Folge einer zu großen Umfangs- weitung des kritischen Gedankens bezeichnete. Denn nun dürfte es nicht mehr möglich sein, jemals eine physikalische Theorie als Bestätigung der kritizistischen Philosophie anzusprechen: diese müßte vielmehr mit jeder Theorie, sofern sie nur die Bedingungen der Wissenschaftlichkeit erfüllt, in gleicher Weise und ohne die Möglichkeit einer Selektion vereinbar sein. Einheitliche Natur- gesetzlichkeit ist sicherlich die conditio sine qua non der Wissen- schaft, weil, wie Cassirer selbst sagt (S. 45), „der allgemeine Ge- danke der Invarianz und Eindeutigkeit ... in irgend einer Form in jeder Theorie der Natur wiederkehren muß". Auch für den Empiristen sind, wie Cassirer (S. 95) anerkennt, die Gesetze „das eigentlich Bleibende und Substantielle", auch der Empirist glaubt an die Einheit der Natur, an die Gesetzlichkeit aller Erfahrung, nur meint er, daß sich ihre Gültigkeit, ihre objektive Notwendig- keit durch keine transzendentale Deduktion oder sonstwie erweisen lasse. Hier kann sich der Kritizist auf keine physikalische Theorie berufen, denn jede beweist durch ihre Bewährung in der Erfah- rung nur die tatsächliche, nicht die notwendige Geltung des Satzes von der Einheit der Natur. Wie ein roter Faden zieht sich durch Cassirers Buch der mit den glänzendsten Mitteln überlegener philosophisch -historischer Kultur geführte Nachweis, daß die Eelativitätstheorie dem in der Entwicklung der exakten Wissenschaft von Piaton bis heute immer richtungweisenden Ideal nicht etwa widerspricht, sondern im Gegenteil seine zur Zeit vollkommenste Erfüllung darstellt; daß die von ihr statuierte Relativität der Maßbestimmungen keineswegs einen Verzicht auf streng eindeutige objektive Gesetzmäßigkeit bedeutet, sondern im Gegenteil der Weg ist, zu allgemeinsten Gesetzen zu gelangen und letzte Invarianten aufzudecken. Ein neuerer Aufsatz Cassirers (im Dezemberheft der Neuen Rundschau) ist im wesentlichen dem gleichen Nachweis gewidmet. So not- wendig und verdienstlich es war, durch solche Ausführungen naheliegenden laienhaften Mißverständnissen der Einsteinschen Theorie entgegenzutreten und sie in den gebührenden Abstand Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 103 von jedem sophistischen „Relativismus" skeptischer Färbung zu rücken, so wird damit doch nur bestätigt, daß die Relativitäts- lehre, weil sie eben eine wissenschaftliche Theorie ist, natürlich eine Auf Stellung, nicht eine Auf hebung allgemeinster, objektiv gültiger Gesetze bedeutet. Das Einsteinsche Weltbild läßt die Einheit der Natur vollkommener hervortreten als das Newtonsche, aber nicht, weil es dem kritischen Gedanken gemäßer wäre, son- dern weil es, schon am physikalischen Erkenntnisbegriff gemessen und noch unabhängig von der letzten philosophischen Interpre- tation, eine höhere Erkenntnisstufe darstellt. Die Frage, ob dem von Cassirer so tief durchdachten logi- schen Idealismus der Nachweis der Richtigkeit der Behauptung gelungen sei, daß nur auf dem Boden der kritizistischen Er- kenntnislehre die Relativitätstheorie sich philosophisch begründen und rechtfertigen lasse — diese Frage vermögen wir nach dem Vorangehenden gerade in bezug auf den entscheidenden Punkt nicht zu bejahen : die Lehre von den synthetischen Urteilen a priori als den konstruktiven Prinzipien der exakten Naturwissenschaft erfährt durch die neue Theorie keine unzweideutige Bestätigung. Cassirers Darlegungen scheinen mir keine überzeugende Anweisung zu geben, wie die Wunde geheilt werden kann, die der ursprüng- lichen Kantschen Ansicht durch den Umsturz der Euklidischen Physik geschlagen ist. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß das Verhältnis zwischen Transzendentalphilosophie und Relativitäts- theorie nun überhaupt als ein rein negatives erwiesen wäre; an andern Punkten könnten bedeutsame Berührungen beider Gedanken- kreise stattfinden, wichtige Gemeinsamkeiten sich offenbaren. Es liegt überaus nahe, in der kritischen Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit eine enge natürliche Ver- wandtschaft mit den Gedanken der Relativitätstheorie zu .suchen. Man hat in der Tat die Wesenlosigkeit, die den Raum der Ein- steinschen Naturlehre vor dem starren Raum Newtons (und ebenso die Zeit) auszuzeichnen scheint, als eine willkommene Bestätigung der Kantschen Philosophie betrachtet. Auch Cassirer vertritt diese Auffassung. Im Anschluß an meine Bemerkung, daß nach der allgemeinen Relativitätstheorie nur einer unauflöslichen Ein- heit von Raum, Zeit und Stoff noch das Prädikat der Wirklichkeit zukomme (Raum und Zeit S. 67), meint er, diese Einsicht gehöre „zu den Grundlehran des kritischen Idealismus selbst" (S. 93); und ferner: „die ideelle Trennung des reinen Raumes und der reinen 104 Moritz Schlick, Zeit von den Dingen (genauer von den empirischen Erscheinungen) duldet nicht nur, sondern fordert geradezu ihre empirische ,TJnion' " (S. 94). Dies letztere ist freilich richtig, denn Raum und Zeit sind als Formen der Anschauung von dem in ihnen geformten Stoff ebenso wenig trennbar, wie umgekehrt der Stoff ohne eine Form sein kann. Aber die von der Relativitätstheorie behauptete ,Union', die ich durch jene Bemerkung zu treffen suchte, ist eine viel innigere als die Einheit von Stoff und Form, über welche die Transzendentalphilosophie nirgends hinausgegangen ist. Wenn daher Cassirer fortfährt: „Diese Union hat die allgemeine Rela- tivitätstheorie in einem neuen Sinne bewährt und erwiesen . . .", so ist der Ton durchaus auf das Wort neu zu legen. Dieses Neue wird gänzlich verkannt von E. Sellien1), welcher sagt: „Für die tatsächliche Bestimmung von Raum und Zeit in der Erfahrung gehören Raum, Zeit und Körper zusammen. Dieser Satz ist keine Errungenschaft der Einsteinschen Theorie, wie Schlick mit so viel Emphase behauptet, er ist längst bekannt, und widerlegt Kants Lehre von der reinen Zeit durchaus nicht, weil er sie garnicht berührt". Es ist jedoch ein schlechthin fun- damentales Mißverständnis der Allgemeinen Relativitätstheorie, wenn man glaubt, meine oben erwähnte Bemerkung so auffassen zu dürfen, als solle in ihr nur negativ die Sonder existenz von Zeit und Raum gegenüber der Materie (und umgekehrt) geleugnet werden — das wäre freilich eine längst bekannte Trivialität. Sondern die gegenseitige Abhängigkeit von Raum, Zeit und Materie geht in der Einsteinschen Theorie viel tiefer; nach ihr ist es z. B. unmöglich, von den Abmessungen einer Raumgestalt ohne Rücksicht auf die Art ihrer materiellen Erfüllung zu sprechen. Daß die Raumlehre in dieser Weise zum Zweige der Physik wird, verdient allerdings mit großer Emphase hervorgehoben zu werden. Nur Riemann hat diesen G-edanken mit völliger Klar- heit vorweggenommen; dem Kritizismus lag er nicht bloß fern2), 1) Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie, Kieler Dis- sertation, 1919, S. 37; auch als Ergänzungsheft 48 der „Kantstudien" erschienen. 2) Man hat zwar auch in diesem Punkte Kant zum Vorläufer Einsteins erklären wollen. Auf Grund einiger Bemerkungen in Kants erster Schrift „Ge- danken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" sagt Ilse Schneider (Das Raum-Zeitproblem bei Kant und Einstein, Berlin 1921, S. 70): „Kant weist also als erster auf den Zusammenhang von Geometrie und Physik, speziell Gra- vitation, hin". Aber Kants Versuch, die Dreidimensionalität des Raumes mit der Formel des Newtonschen Gravitationsgesetzes in Beziehung zu bringen, bedeutet Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 105 sondern er scheint ihm zu widersprechen, weil er es unmöglich macht, Raum und Zeit als bloße Formen in dem bisherigen Sinne aufzufassen, deren Gesetze von ihrem Inhalt unabhängig zu be- handeln sind. Wenn Einstein von der Durchführung der allge- meinen Relativität bemerkt hat, sie nehme dem Raum und der Zeit „den letzten Rest physikalischer Gegenständlichkeit", so glaubt Cassirer, „daß die Theorie hierin nur dem Standpunkt des kritischen Idealismus die bestimmteste Anwendung und jDurch- führung innerhalb der empirischen Wissenschaft selbst verschafft" (S. 79). Legen wir aber — wie es Cassirer (S. 13) mit Recht als erste Aufgabe des Erkenntnistheoretikers fordert — den Sinn des Terminus „physikalische Gegenständlichkeit" restlos klar, so stoßen wir wieder auf das eben geschilderte Ergebnis, dem die Lehre von der Idealität von Zeit und Raum nur nach seiner negativen Seite hin gerecht zu werden vermag: es zeigt sich nämlich, daß mit der „Gegenständlichkeit" dem Raum und der Zeit zwar jede irgendwie beschaffene Unabhängigkeit von der Materie abgesprochen wird, daß aber der Rest, der dann vom physikalisch Räumlichen und Zeitlichen übrig bleibt, im Verein mit der Materie sich auch derselben Realität erfreut wie diese. Einstein selbst hat gelegent- lich ausgesprochen, daß der physikalische Raum auch nach der Allgemeinen Relativitätstheorie Realität habe, nur keine selbstän- dige. Das Räumliche und Zeitliche erhalten also einen Sinn, in dem sie nicht mehr bloß als ,Formen' in der gewohnten Bedeutung angesehen werden dürfen, sondern sie gehören jetzt zu den phy- sikalischen Bestimmungsstücken der Körper ; die ,Metrikc bedeutet nicht etwa bloß eine mathematische Messung des physikalisch Realen, sondern drückt selbst dessen Vorhandensein aus. Raum und Materie treten eben, wie Cassirer es durchaus treffend aus- drückt, „nicht mehr als verschiedene Klassen physikalischer Ob- jektbegriffe auf" (S. 61). Wenn man also der Meinung ist, die Einsteinsche Physik weise „in dieser Hinsicht weniger Wider- sprüche zur kantischen transzendentalen Ästhetik auf, als irgend eine frühere Physik" *), so scheint mir darin eine Verkennung der nichts weniger als eine Vorahnung der Vereinigung von Geometrie und Physik im erkenntnistheoretischen Sinne, hat vielmehr gar nichts damit zu tun. Mit ähnlichem Rechte könnte man hier auf die Cartesianische Identifizierung von Substanz und Ausdehnung hinweisen, die auch Cassirer erwähnt (S. 60), ohne daß er aber ihre wahre Bedeutung übertriebe. 1) Ilse Schneider, 1. c. S. 65. 106 Moritz Schlick, positiven Seite der Einsteinschen Raum- und Zeitlehre zu liegen. Es wäre auch verwunderlich, wenn die Kantsche Erkenntnistheorie in so deutlichem Widerspruch stehen sollte zur Newtonschen Naturlehre, deren philosophische Rechtfertigung eines ihrer vor- nehmsten Ziele war. — Mag aber auch die rechte Würdigung der allgemeinsten Re- lativität (Kovarianz gegenüber beliebigen Substitutionen in der Sprache der Theorie) von kritizistischen Prinzipien aus schlecht gelingen : vielleicht könnten sie doch insofern einen tragfähigen Unterbau Einsteinscher Lehren liefern, als sie wenigstens zu dem Grundsatz der Relativität aller Bewegungen (Kovarianz gegen- über einer bestimmten Gruppe von Substitutionen) in einem günstigen Verhältnis stehen. Natürlich ist von einem philosophischen System nicht zu verlangen, daß es diesen Grundsatz als Theorie durch- führe, wohl aber kann er sich aus ihm als unentbehrliches Postulat ergeben. Ist auch dies noch zu viel gefordert, so darf man zum allermindesten erwarten, daß jener Grundsatz, nachdem er von anderer Seite einmal aufgestellt war, sofort als kongenial erkannt und von dem System mit größter Energie angeeignet werde. Tat- sächlich wäre der Kritizismus hierzu aus seinen Prämissen heraus sehr wohl imstande gewesen; dennoch hat er in seinen historischen Erscheinungsformen von den eben aufgestellten Forderungen keine erfüllt. Es war vielmehr der Positivist Mach, der das allgemeine Relativitätsprinzip zuerst mit Nachdruck zu einem Postulat der Naturbeschreibung erhob. Er verlangte — und zwar wirklich aus philosophischen Gründen — eine solche Formulierung der Naturgesetze, daß z. B. die Rotation der Erde gegen die Fixsterne mit gleichem Recht als eine entgegengesetzte Drehung des Stern- himmels um die Erde aufgefaßt werden könnte. Um Kants Stel- lung zu diesem Gedanken kennen zu lernen — der ja zu seiner Zeit genau so möglich war — lese man die Metaphysischen An- fangsgründe der Naturwissenschaften, wo er im I. Hauptstück in der Anmerkung zum Grundsatz I, und im IV. Hauptstück im Lehrsatz 2 und der Allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie das Problem bespricht. Er fühlt dort (wie Leibniz, Huyghens und andere) durchaus das Bedürfnis, die Relativität aller Be- wegung aufrecht zu erhalten. Während aber Newton erkannte, daß dies mit seiner Mechanik unvereinbar sei und für sie folge- richtig (vermutlich nicht ganz leichten Herzens) die absolute Be- wegung postulierte, sucht Kant dadurch nach einem Ausweg, daß Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 107 er neben den Gegensatz der relativen und absoluten denjenigen der „wahren" und „scheinbaren" Bewegung setzte!1). Cassirer hat bereits in „Substanzbegriff und Funktionsbegriff" (1910) die Frage der Eelativität der Rotation behandelt (S. 230 ff.). Es ist höchst bemerkenswert, mit welchem Scharfsinn er schon damals die Konsequenzen der Machschen Auffassung überblickte. Er sagt nämlich (1. c. 246) : „Die positivistischen Bedenken gegen den ,reinen' Raum und die ,reine' Zeit beweisen daher nichts, weil sie zu viel beweisen würden: sie müßten, konsequent zu Ende gedacht, auch jede Darstellung physisch gegebener Körper in einem geometrischen System, in welchem es feste Lagen und Entfernungen gibt, verwehren". Hier und in den der zitierten Stelle vorhergehenden Entwicklungen werden also vom kritizisti- schen Gesichtspunkte aus im wesentlichen gerade die Konsequenzen verworfen, zu denen sich die Naturwissenschaft jetzt gezwungen sieht. Gewiß hat Cassirer Recht mit seiner Meinung, daß die Be- stätigung der Machschen Relativitätsbehauptung für sich noch keinen zwingenden Beweis für die Notwendigkeit einer empiristi- schen Interpretation der Einsteinschen Theorie liefere (S. 97) — aber ein höchst bedeutsames Indizium bleibt sie doch. Und zwar, wie ich glaube, kein trügerisches. Denn das erkenntnistheoretische Motiv, das Mach und Einstein (sei es mit Recht pder Unrecht) zu dem Postulat der Relativität aller Bewegungen führte, war der Satz, daß Unterschiede des Wirklichen nur dort angenommen werden dürfen, wo Unterschiede im prinzipiell Erfahrbaren vorliegen. Diese fundamentale Regel ist öfters ausgesprochen worden, auch von Metaphysikern wie Leibniz, bei dem sie gleich in zwei Gestalten erscheint, näm- lich als principium identitatis indiscernibilium und als principe de Tobservabilite (in letzterer Form führt es auch Cassirer S. 37 an) ; aber von der Aufstellung bis zum konsequenten Festhalten und Durchführen der Regel ist noch ein großer Schritt. Wird der Grundsatz jedoch in seiner wahrhaft fundamentalen Bedeutung erkannt und gewürdigt, so läßt er sich, wie ich glaube, zum obersten Prinzip aller empiristischen Philosophie erheben, zur 1) Ilse Schneider (l. c. S. 14) zitiert die entsprechende Kantstelle beifällig, ■weil sie Kant als Gegner der absoluten Bewegung erscheinen läßt, aber sie yer- gißt, daß jene Unterscheidungen gerade vom Standpunkt der Relativitätstheorie eine Ungeheuerlichkeit darstellen. 108 Moritz Schlick, letzten Richtschnur, die bei der Stellungnahme zu jeder Einzel- frage maßgebend sein muß, und deren unerbittliche Anwendung auf alle Spezialprobleme ein Verfahren von höchster Fruchtbarkeit darstellt. Ist diese Auffassung richtig, so wäre damit allerdings der Zusammenhang der Relativitätslehre mit der empiristischen Erkenntnistheorie als ein innerlicher, streng sachlicher, als nicht bloß äußerer und zufälliger erkannt. Im letzten Kapitel seines Buches betont Cassirer mit Nach- druck, daß der Raum und die Zeit der Relativitätstheorie eben Raum und Zeit der Physik sind, nicht der Wirklichkeit schlecht- hin, sodaß ihnen etwa der Raum und die Zeit der Psychologie als etwas gänzlich Heterogenes gegenüberstehen. Es ist in der Tat von größter Wichtigkeit, sich stets darüber klar zu sein, daß man von Raum und Zeit in völlig verschiedenen Bedeutungen reden kann — am wichtigsten gerade auch für den, dem es schließlich auf die Erkenntnis des Zusammenhanges dieser ver- schiedenen Bedeutungen ankommt. Wenn ich an andern Stellen1) den psychologischen Raum (und die Zeit) als das rein Anschauliche dem physikalischen als einer rein begrifflichen Konstruktion gegen- überstellte, so war ich mir wohl bewußt, daß die „Anschauung" bei Kant in einer ganz andern Weise abgegrenzt wird. In diesem Punkte bin ich von einer Reihe von Kritikern mißverstanden worden. Cassirer erklärt2) Kants reine Anschauung als eine be- stimmte „Methode der Objektivierung": das ist sie freilich auch, aber ihr Wesen erschöpft sich nicht darin. Gewiß wollte Kant alles Psychologische aus ihr entfernen - — aber ich werde mich niemals überzeugen können, daß es ihm gelungen ist. Denn es kann eben nicht gelingen3) ohne die Anwendung der einzigen Methode, die das rein Begriffliche der Geometrie vom Psycholo- gisch-Anschaulichen zu trennen ermöglicht : das ist die Methode der impliziten Definition, die erst in der modernen Mathematik ausgebildet wurde4). Ohne sie ist es nicht einmal möglich, die Idee eines reinen Begriffs zu fassen und in seiner Ablösung von allen psychologischen Momenten zu verstehen. Kants reiner An- schauungsraum enthält also notwendig solche Momente, sie geben dem Raumbegriff den Inhalt, ohne den er für Kant „leer" wäre. 1) „Raum und Zeit" 3, S. 81, „Allgemeine Erkenntnislehre", S. 301. 2) S. 123, 124, Anmerkung. 3) Wie sich z. B. aus den Ausführungen Selliens (1. c. S. 40) erkennen läßt. 4) Vgl. „Allgemeine Erkenntnislehre", S. 30 ff. Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 109 Sein Raum ist ihm zwar identisch mit dem Raum Newtons (dies ist auch die Meinung Cassirers, die ich stets geteilt habe ; Sellien *) jedoch, den Cassirer sonst zustimmend zitiert, scheint ihr zu widersprechen), aber der Newtonsche Raum ist auch bei ihm eben ein anschaulicher, noch nicht gereinigt von den Elementen, die wir noch als psychologisch bezeichnen müssen. So ist Kants reine An- schauung — wie es auch durchaus der verbreiteten Meinung von Raum und Zeit entspricht — ein Mittelding zwischen rein Begriff- lichem und psychologisch Anschaulichem; und da ich es für eins der wichtigsten Ergebnisse der modernen Theorie der exakten Wissenschaft halte (in diesem Punkte hat sich Henri Poincare besonders große philosophische Verdienste erworben), daß es solch eine Mischung, solch ein Mittelding eben nicht gibt, so mußte ich einerseits die Existenz einer reinen Anschauung im Sinne Kants leugnen (Allgem. Erkenntnislehre, S. 302) und durfte von einer Vermengung des physischen Raumbegriffs mit seinen sinn- lichen Repräsentanten sprechen (Raum und Zeit, S. 83) ; anderer- seits mußte ich erklären, daß in der Lehre von den bloß subjek- tiven Anschauungsformen eben insofern ein richtiger Kern zu finden ist, als sie noch von psychologischen Momenten nicht ganz entblößt sind. Diese Ansichten vermag ich also nicht aufzugeben. Die Verfolgung des Bedeutungswandels der Termini Raum und Zeit durch die verschiedenen Gebiete des Geisteslebens gibt Cassirer Gelegenheit, seine Betrachtung der Relativitätslehre groß- zügig in umfassendere Zusammenhänge einzuordnen und außer dem Lichte der speziellen Erkenntniskritik auch die Strahlen der syste- matischen Philosophie auf sie zu richten. So schließt das Buch mit einem Umblick, dessen Weite der Höhe des eingenommenen Standpunktes entspricht. Wir scheiden mit dem Eindruck, daß dieser Standpunkt über die Region des eigentlichen Kritizismus doch schon hinausliegt, und daß es Cassirer nur hierdurch gelang, der Relativitätstheorie philosophisch in dem Maße gerecht zu werden, wie es in dem geistvollen und gedankenreichen Buche geschieht. Gern willfahre ich der Aufforderung der Leitung der Kant- studien, bei dieser Gelegenheit noch über zwei andere Bücher zur Einsteinschen Lehre kurz zu berichten, denn es handelt sich um 1) 1. c. S. 16. Dort ist von der Zeit die Rede; Tom Raum aber gelten die Argumente in gleicher Weise. 110 Moritz Schlick, Schriften, von denen zu sprechen sich lohnt. Die erste, verfaßt von Max Born1), gibt eine glänzende, ausführliche Darstellung der Einsteinschen Lehre vom Standpunkt des Physikers aus. Sie füllt in überaus trefflicher Weise eine sehr fühlbare Lücke der Einstein -Literatur, denn während die bis dahin vorhandenen gemeinverständlichen Einführungen in die Theorie bei der Be- sprechung ihrer physikalischen Grundbegriffe sich auf das not- wendigste beschränkten, erscheint die Theorie in dem Bornschen Buche zum ersten Mal nicht von ihrem natürlichen Hintergrunde abgelöst, sondern es wird gerade auf ihre Einordnung in das System der Physik großes Gewicht gelegt, klar treten die Zu- zuammenhänge hervor, aus denen sie in Wirklichkeit erwachsen ist. Für den Nichtphysiker ist es von höchstem Werte, in diese Zusammenhänge eingeweiht zu werden, denn durch sie führt der naturgemäße Weg zum Verständnis. Born ebnet diesen Weg nicht nur durch Vermeidung aller höheren Mathematik, sondern selbst Logarithmen und trigonometrische Funktionen kommen nicht vor. Die Hauptsache aber ist: das Buch ist durch und durch das Werk eines philosophischen Kopfes. Das zeigt sich nicht etwa darin, daß Born den Gang seiner Darstellung durch philosophische Deu- tungen und Abschweifungen unterbräche, sondern in der Höhe der Gesichtspunkte, die den Aufbau bestimmen, und in der tiefen Besinnung, die aus der Behandlung des Gegenstandes überall her- vorleuchtet. Es zeigt sich ferner vor allem in der kurzen philo- sophischen Einleitung, die geradezu klassisch anmutet in der Wärme und der Prägnanz, mit der sie den Grundgedanken vor- trägt: daß das Absolute nur im Umkreis des Subjektiven zu finden ist, und daß der denkende Geist in die Sphäre der objek- tiven Geltung nur vordringen kann, indem er das Absolute opfert, um Erkenntnis des Relativen dafür einzutauschen. Fürwahr eine fundamentale Einsicht, die nicht nur in der theoretischen Wissen- schaft offenbar wird, sondern nach meiner Überzeugung sich auch in der praktischen Philosophie bewährt. Die zweite Schrift ist das Büchlein „Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori" von Hans R eichen bach (Berlin 1920). Es stellt zweifellos einen großen Fortschritt in der logischen Deutung der Einsteinschen Lehre dar. Reichenbach leuchtet durch eine 1) Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grundlagen ge- meinverständlich dargestellt, mit 129 Abbildungen und einem Porträt. Springer, Berlin 1920. Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 111 Art axiomatischer Methode in sehr scharfsinnigen und selbstän- digen Ausführungen in die logischen Grundlagen der Relativitäts- theorie hinein und liefert dabei durch Aufdeckung gewisser ver- steckterer Prinzipien (er spricht z. B. von einem „Prinzip des approximierbaren Ideals ", einem „Prinzip der normalen Induktion" usw.) einen wertvollen Beitrag zur Logik der exakten Wissen- schaft überhaupt. Er gelangt zu dem Resultat, daß Einsteins Theorie mit der ursprünglichen Kantschen Lehre nicht vereinbar sei, und er nimmt eine solche Umbildung des Aprioribegriffs vor, daß die Relativitätstheorie ihm nicht mehr widerspricht und, wie er meint, der wichtigste Grundgedanke der Kantschen Philosophie aufrecht erhalten bleibt. Diesen Grundgedanken glaubt er nämlich in der Einsicht zu finden, daß jede Erkenntnis nur durch die logi- sche Voraussetzung gewisser Prinzipien möglich wird, die ihren Gegenstand überhaupt erst konstituieren. Solche Prinzipien nennt er a priori, läßt aber das Merkmal der Apodiktizität fallen; sie sind also nicht notwendig, und fortschreitende Erfahrung kann Anlaß zu ihrer Modifikation geben. „Apriori bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht : für alle Zeit, und nicht : unabhängig von der Erfahrung" (S. 100). Nach dem oben (S. 98) Gesagten scheint mir der Boden des Kritizismus damit vollständig verlassen zu sein; und Reichenbachs Prinzipien a priori würde ich als Kon- ventionen im Sinne Poincares bezeichnen. Die Terminologie des Verfassers kann ich also nicht gutheißen, aber sachlich stimme ich in den meisten wesentlichen Ergebnissen durchaus mit ihm überein. Selbst in den Fragen, in bezug auf welche er in der Schrift gegen mich Stellung nimmt, bestejit in Wahrheit keine tiefgehende Verschiedenheit der Meinungen, wie eine briefliche Erläuterung beider Standpunkte nachträglich ergeben hat. Aber auch für den, der diesen Standpunkten fern steht, ist das Büchlein wertvoll, denn eine philosophische Leistung, die sich durch Ori- ginalität, Klarheit und Schärfe der Gedankenführung so auszeichnet wie die vorliegende, muß dem Leser auch dann Genuß und Vorteil bieten, wenn sie ihn zum Widerspruch anregt. Philosophie und Leben. Bemerkungen zu Heinrich Rickerts Buch: „Die Philosophie des Lebens". Von Max Frischeisen - Köhler. Seitdem Dilthey und Eucken, Nietzsche und Simmel dem Begriff des Lebens, den die zeitweise Vorherrschaft der bio- logischen Denkweise fast ausschließlich auf die organischen Er- scheinungen eingeschränkt hatte, den vollen Sinn wieder zurück- gegeben haben, den er bereits bei H e r d e r undGroethe, Fichte und den romantischen Denkern erreicht hatte, erheben sich allent- halben Ansätze zu einer „Philosophie des Lebens", die trotz der Vielfältigkeit der Tendenzen gemeinsame Grundzüge erkennen lassen. Schon der Wortgebrauch und die nächsten Formulierungen sind kennzeichnend. Das „Leben" und das „Erlebnis", das „Er- leben" und das „Ausleben" erfreuen sich einer außerordentlichen Beliebtheit. Über den „Sinn und Wert des Lebens", über „Er- kennen und Leben" handeln zwei vielgelesene Werke von Eucken. In einer „Lebensanschauung" hat Simmel vier Kapitel einer „Metaphysik des Lebens" gegeben. Und schon wagen sich wieder „Beiträge zu einer Philosophie des Lebens" hervor, wie einst, da Karl Philipp Moritz solche herausgab, und es sind sogar schon Vorlesungen über Lebensphilosophie gehalten worden, deren Ankündigung unwillkürlich die Erinnerung an Friedrich Schlegels „Vorlesungen über die Philosophie des Lebens" wach- ruft. Diese Bewegung findet sich keineswegs nur in Deutschland. Auch das Ausland bietet bemerkenswerte Parallelen, von denen bei uns der französische Philosoph des Lebens, HenryBergson, neben Gruyau am bekanntesten ist. Die streng wissenschaftliche Philosophie, ob sie von Kant oder von dem exakten Positivismus ausgeht, hat sich nun ihr gegenüber bisher wesentlich ablehnend verhalten. Insbesondere Philosophie und Leben. 113 hat der Neukantianismus in seinen verschiedenen Fraktionen eine schroff abweisende Haltung eingenommen. Aber natürlich genügt es auf die Datier nicht, die unter dem vieldeutigen Namen der Lebensphilosophie sich einigenden Tendenzen nur durch stolzes Schweigen zu ignorieren oder als Dilettantismus oder als „Psy- chologismus" zu diskreditieren. Es ist daher zu begrüßen, daß der Führer der südwestdeutschen Philosophenschule, Heinrich Rickert1), sich zu einer Auseinandersetzung entschlossen hat, welche unter Absehung von bloß historischen Schilderungen eine grundsätzliche „Darstellung und Kritik der philosophischen Mode- strömungen unserer Zeit" gibt. Damit ist das Problem einer Phi- losophie des Lebens prinzipiell gestellt. Wie Ricke rts Buch ur- sprünglich als Teil einer „allgemeinen Grundlegung der Philosophie" das von ihm bereits seit längerem erwartete „ System der Philoso- phie" einleiten sollte, beschränkt es sich nicht auf eine Einzelkritik, sondern entwickelt mit der begrifflichen Klarheit, die alle Arbeiten dieses Denkers auszeichnet, die Grundfrage in solcher Allgemein- heit, daß seine Ausführungen fortan den Mittelpunkt der weiteren Diskussionen bilden werden. 1. Ich gebe zunächst eine Übersicht über Rick er ts Gedanken- gang im engen Anschluß an seine Formulierungen. Das erste, was eine Kritik der Lebensphilosophie festzustellen hat, ist nach ihm, daß der moderne Lebensbegriff in der Regel zu unbestimmt ist, um ohne genauere Determination das Fundament einer wissenschaftlichen Philosophie zu bilden. Für die Wissen- schaft ist vor allem die Auseinandersetzung von zwei prinzipiell verschiedenen Begriffen des Lebens wichtig, von denen der eine eine sehr umfassende Bedeutung hat, der andere dagegen sich auf einen engeren Kreis von Lebenserscheinungen beschränkt. Jener geht auf das Unmittelbare, Anschauliche, Intuitive im Gegensatz zum Begriff, dieser auf das Organische, das Vitale, das Leben im Gegensatz zum Toten. Charakteristisch für unsere Zeit ist, daß in dem vieldeutigen Modeschlagwort sich intuitionistische und bio- logistische Momente mischen. Aber ihre reinliche Trennung ist für jede prinzipielle Auseinandersetzung Bedingung. Zunächst 1) Heinrich Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. Tübingen 1920. Kantstudien XXVI. 8 114 Max Fri8cheisen-Kö hier, freilich reicht auch schon der unbestimmte Lebensbegriff aus, um den Charakter der L^ebensphilosophie unserer Zeit nach einigen allgemeinen Zügen angeben zu können. Sie wird darauf ausgehen, mit dem Begriff des Lebens allein die gesamte Welt- und Lebens- anschauung aufzubauen. Sie erklärt das Leben für das eigent- liche Wesen des Weltalls und macht es zugleich zum Organon seiner Erfassung. Es ist der Standpunkt der Lebensimmanenz, der grundsätzlich kein Anderes oder kein Jenseits des Lebens kennt, sondern das Leben nur am Leben mißt. Auf ihm soll das Leben selber aus dem Leben heraus ohne Hilfe unserer Begriffe philosophieren. Damit ist nicht nur ein Antiintellektualismus oder ein Irrationalismus, sondern vor allem die Ablehnung jeder Form eines Systems gefordert. Die Welt verstanden als Allleben paßt in kein festes System hinein. Das lebendige Denken soll die Statik des Systems ablösen und uns damit von jeder starren und tötenden Systematik erlösen. Aber diese summarische Charakteristik ist reichlich allgemein. Sobald wir uns den einzelnen Vertretern der Lebensphilosophie zuwenden, wird deutlich, daß entweder die intuitionistische Ten- denz (wie etwa bei Dilthey, Simmel und Scheler) oder die biologistische Tendenz (wie etwa bei Nietzsche und Bergs on) vorherrscht. Die Kritik wird daher zunächst die Tragweite dieser beiden Tendenzen, sofern sie den Rang philosophischer Prinzipien beanspruchen, einzeln prüfen. Was heißt „Erleben" und was sind „Erlebnisse", aus denen allein eine Philosophie des Lebens sich aufbauen will? Versteht man erstens unter Erlebnis alles Wissen und Erfahren von Etwas, meint man also, daß alles Denken eines Denkbaren notwendig Erlebnis sei, dann wird der Lebensbegriff völlig leer; denn ein Wort, das jedes Denken eines jeden denkbaren Etwas bezeichnen soll, verliert notwendig die prägnante Bedeutung. Eine solche Terminologie, die nur die Neubenennung eines Sachverhaltes ist, der für jede Art von Denken gilt, reicht daher in keiner Weise hin, überhaupt irgend einen philosophischen Standpunkt abzu- grenzen. Schränkt man Erleben in etwas engerer Fassung ein auf „Gegeben" oder auch „Bewußt sein", so ergibt sich für eine Philosophie, die bei dem Gregebenen oder Bewußten stehen bleibt, der Standpunkt der Immanenz oder der reinen Erfahrung; aber ein Fundament für eine Philosophie des Lebens in irgend einer eigentümlichen Bedeutung gewährt dasselbe nicht. Philosophie und Leben. 115 Identifiziert man zweitens das Erlebnis mit dem Unmittel- baren, Ursprünglichen, d. h. den anschaulichen Lebensinhalten, in- dem man dabei von jeder, insbesondere jeder begrifflichen Form absieht, um das reine ungetrübte, unentstellte Leben in purer Intuition zu erfassen, so erhält man zwar einen charakteristischen und wohl abgrenzbaren Standpunkt der Betrachtung, der sich aber zu einer Philosophie, die Wissenschaft sein will, nicht ent- wickeln läßt. Denn je konsequenter man das Leben als reinen Inhalt der Anschauung im Gegensatz zu jeder Verstandesform zu erfassen sucht, um so mehr entfernt man sich damit vom wissen- schaftlichen Denken überhaupt. So richtig es ist, daß die Philo- sophie Inhalte braucht, und daß alle Inhalte, die wir begrifflich formen wollen, auch anschaulich erlebt sein müssen, so richtig ist auch, daß das bloß anschaulich intuitive Erleben der Inhalte für sich noch keine Philosophie ist. Irgend welche Verstandesformen bleiben unentbehrlich. Eine Philosophie, die auf sie wirklich ver- zichten würde, könnte überhaupt nicht in sinnvollen Sätzen zum Ausdruck gebracht werden. Absolute Formlosigkeit macht die Wissenschaft nicht lebendig, sondern tötet sie. Und auch das ist unmöglich, die Formen des Lebens, die nicht entbehrt werden können, in das Leben selbst hinein zu ziehen. Denn Lebensformen, d. h. Formen, die nur Leben sind, gibt es nicht. Lebendig ist allein der Lebensinhalt. Erstreben wir eine Wissenschaft vom Leben, so brauchen wir feste unlebendige Lebensformen, da andern- falls von einem lebendigen, sich verändernden Leben überhaupt nicht die Rede sein könnte. Weil es Veränderung gibt, sind die Formen p&&&. Veränderung unveränderlich. Die Welt als Ganzes ist nicht lebendig, sondern das Leben in der Welt ist lebendig. Es gibt Leben im All, aber das All selbst ist nicht Leben. Nun kann aber drittens das Erlebnis noch enger und be- stimmter als das Erlebte verstanden werden, das für uns beson- ders wesentlich, bedeutungsvoll, d. h. das mit einem Wert ver- knüpft ist. Damit werden die Erlebnisse in prägnanter Bedeutung aus der unübersehbaren Fülle sonst gleichgültiger Erlebnis inhalte herausgehoben. Aber diese Heraushebung ist rein subjektiv und individuell. Eine Philosophie, welche die wertvollen Erlebnisse zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Weltbetrachtung er- heben will, muß in allgemeiner, überindividueller, notwendiger und mitteilbarer Weise die geforderte Scheidung unter den Erlebnissen vollziehen. Ohne ein solches allgemeingültiges Prinzip der Aus- 8* 116 Max Frischeisen-Köhler, wähl gibt es keine Wissenschaft und daher können wir mit dem bloßen Erleben, auch wenn wir es anf die bedeutungsvollen In- halte einschränken, nicht zum Aufbau einer Philosophie des Lebens kommen. Wie immer wir also auch den intuitionistischen Lebens- begriff verstehen : das Ergebnis ist das gleiche. Eine Philosophie, die mit ihm allein auszukommen sucht, entbehrt der festen ord- nenden Form gegenüber der verwirrenden Fülle der Inhalte, die allein Wissenschaft ermöglicht. Ihr Prinzip ist das der Prinzipien- losigkeit. Philosophie als ein theoretisches Nachdenken über die Welt kann das Ziel, sie begrifflich zu beherrschen, sie zu organi- sieren und eindeutig zu bestimmen, niemals zu Gunsten einer Hin- gabe an den Anschauungsgehalt preisgeben, wenn sie sich nicht selber aufgeben will. Das bloße Erleben des Lebens ist noch kein Erkennen desselben. Der Dualismus von Leben und Begriff ist niemals aufzuheben. „Als Forscher haben wir das Leben be- grifflich zu beherrschen und zu befestigen und müssen daher aus der bloß lebendigen Lebenszappelei heraus zur systematischen Weltordnung". Gegenüber der intuitionistischen Tendenz besitzt nun die b i o- logistische von vornherein die große Überlegenheit, daß sie ein klares, in der Wissenschaft von den Organismen bereits entwickeltes Formprinzip besitzt. Ob es für die Begründung einer Philosophie des Lebens ausreicht, wird davon abhängen, ob man von den or- ganischen Lebensformen aus Formen und Normen für alles Leben und schließlich für die Welt gewinnen kann. Es ist der natura- listische Evolutionismus, der dies bejaht. Für die Gegenwart kommt vor allem seine neuere antidarwinistische Ausprägung in Betracht, die die aus der englischen Nationalökonomie stammenden Gesichtspunkte der Selektion und Anpassung, die mechanische Ten- denz und das Ideal der Lebensökonomie zurücktreten läßt, dafür vielmehr das Organische dynamisch als schöpferische Entwicklung auffaßt, als Wachstum und immer neue Kraftentfaltung, als Akti- vität und Machtsteigerung, die keiner Ruhelage zustrebt, sondern im heroischen Kampf und dem Aufsteigen der Vitalität selbst ihren Sinn hat. Aber wie immer die biologischen Begriffe des näheren bestimmt sein mögen: eine nur mit ihnen arbeitende Phi- losophie kann nicht den Anspruch einer universalen Erkenntnis der realen Welt erheben. Denn die Biologie beschränkt sich ihrem Wesen nach auf einen Teil des Weltganzen und nur dieser Beschränkung verdankt sie ihr festes Formprinzip. Der Biolo- Philosophie und Leben. 117 gismus als Philosophie erhebt dagegen den Teil zum Ganzen und verwickelt damit sich notwendigerweise in all die Schwierigkeiten, die jedem spezialistischen Universalismus, der aus einem Teil das Ganze erklären will, unvermeidlich sind. Auch kann sich der Biologismus nicht darauf berufen, daß er, zumal wenn er die me- chanisierende Lebensinterpretation ablehnt, wenigstens in der Be- trachtung des Organischen das Leben in seiner unmittelbaren Rea- lität erkenne und er daher wohl die biologischen Kategorien zu Weltallkategorien erweitern dürfe, um durch diese das Wesen der Wirklichkeit in der ganzen Welt zu erfassen. Denn mag es auch sein, daß die moderne Biologie dem Leben näher als ein abstrakter Mechanismus steht, so ist sie als eine Wissenschaft doch immer auf Begriffe des Verstandes angewiesen. Auch die Biologie besitzt wie jede Naturwissenschaft eine Lebensferne, um überhaupt als Wissenschaft möglich zu sein. Es ist ihr daher ebenso wenig möglich, den Kern der Welt in seinem begrifflich noch nicht be- arbeiteten Ansichsein zu ergreifen, wie der Physik oder der Chemie. Nur die Ungeklärtheit gewisser Begriffe, die der moderne Biolo- gismus benutzt, kann den Schein vortäuschen, daß wir es in ihnen nicht auch mit Produkten logischer Theorienbildung zu tun haben. Die biologistische Lebensphilosophie besitzt somit nicht ein besonderes Realitätsprinzip, das sie auch nur analogisch zum Prinzip einer Welterklärung erheben könnte. Sie besitzt aber auch kein Wertprinzip, das zur wissenschaftlichen Grundlegung einer Lebensanschauung dienen könnte. Denn auch ihr fehlt jedes Prinzip der Auswahl, um in der Fülle des Lebens sinnvolles und sinnloses Leben von einander zu scheiden. In dem Maße, in dem sie als objektive Forschung die anthropomorphistischen Schätzungen und wertteleologischen Begriffsbildungen ausscheidet, entschwindet ihr die Möglichkeit, Normen für die Lebensgestaltung aufzustellen. Das teleologische Moment, das die Biologie in der Organismen weit anerkennt, ist noch kein wertteleologisches Moment. Die Begriffe von Entwicklung und Entartung, vom aufsteigenden und vom niedergehenden Leben, von Gesundheit und Krankheit, bilden vom biologischen Standpunkt aus keinen Wertgegensatz. Auch die bloße Lebendigkeit ist für sich betrachtet wertindifferent. Und der Satz, daß der Sinn des Lebens das Leben selber sei, ist ein- fach sinnlos. Die biologischen Begriffe sind mit allen Kultur- werten verträglich und daher zur Begründung von keinem von ihnen brauchbar. Nur insofern Leben Bedingung aller Kultur ist, 118 Max Frischeisen-Köhler, kann ihm ein Bedingungswert zugesprochen werden. Auf ihn läßt sich aber kein Biologismus als Weltanschauung stützen. Auch wenn wir Lebendigkeit im Sinn von Lebenssteigerung und Macht- entfaltung verstehen, ist die bloße Lebendigkeit nicht deswegen schon erstrebenswert. Und ebenso ist das Preisen des „Willens zur Macht" ohne jedes theoretische Fundament; es ist ein reiner Akt der Willkür. So kommt der Biologismus, wenn er nicht durch eine Erschleichung Werte ohne Begründung in das Leben hineinsieht, über ein Wertchaos nicht hinaus und vermag die phi- losophische Aufgabe, den Wertkosmos herauszuarbeiten, prinzipiell nicht zu lösen. Am allerwenigsten kann aber vom Biologismus aus, wie das die moderne Lebensphilosophie nur zu gern tut, das System und der Wille zum System abgelehnt werden. Von einem außer wissen- schaftlichen Standpunkt aus ist der Kampf gegen das System ver- ständlich und unwiderleglich. Stützt er sich aber auf theoretische Gründe, so verwickelt er sich in einen unheilvollen Selbstwider- spruch. Denn die Ablehnung jedes Systems hebt zugleich jede Möglichkeit einer reinen Theorie, auch einer biologischen Theorie, auf. Es hilft auch nichts, dem philosophischen Denken zwar eine gewisse Systematik als Ordnungsschemata der Auffassung zuzu- gestehen, die aber als beweglich und veränderlich nicht einmal die Tendenz haben dürfen, sich zu einem starren System zu ver- festigen. Der Gegensatz zwischen Systematik und System ist undurchführbar. Es genügt für die reine Betrachtung, zumal wenn sie wie in der Philosophie universal sein soll, nicht, daß ein Ma- terial überhaupt irgendwie geordnet wird. Man muß vielmehr als theoretischer Mensch die eine Ordnung für richtiger als die andere halten und diese Überzeugung setzt voraus, daß es schließlich eine und nur eine Ordnung gibt. Sie mag uns zwar unbekannt sein, aber wir müssen sie als die wahre Ordnung voraussetzen, der sich allmählich anzunähern das Ziel aller wissenschaftlichen Ordnungs- versuche bildet. Das System ist nicht ein „Gehäuse", in dem der Philosoph aus Not oder Angst einen Halt sucht, das aber das fortschreitende Leben wieder sprengt und abwirft, sondern die leitende Idee jeder Weltanschauung, die Wissenschaft sein will. Daher darf der theoretische Mensch, falls_ er sich selbst versteht, nur für eine Weltanschauung Partei ergreifen, innerhalb welcher die reine Theorie einen Sinn hat. Aus alledem folgt, daß der Lebensmonismus in jeder Weise Philosophie und Leben. 119 ein unhaltbares Unternehmen ist. Ob wir das Leben intuitiv er- fassen oder ob wir biologisch vorgehen: immer müssen wir das Leben, wenn wir philosophierend es erkennen wollen, zu etwas Anderem, das nicht Leben ist, in Beziehung setzen. Nur ein Denken, das das Eine wie das Andere umspannt und in dieser Dualität das Wesen der Welt erfaßt, kann wahrhaft universell werden. Die Philosophie des bloßen Lebens dagegen kann zwar Ausdruck einer Lebensstimmung sein, aber zu einem positiven Aufbau vermag sie nicht zu gelangen. Ihre Bedeutung liegt daher zu allen Zeiten, wann immer sie aufgetreten ist, vornehmlich in einer Reaktion gegen einen einseitigen .Rationalismus. Insofern sie die Besinnung auf die anschauliche und lebendige Unmittelbar- keit des Lebens fordert, bereitet sie eine Einsicht in die Grenzen des bloßen Verstandeswissens vor. Sie lehrt das Unberechenbare, das Irrationale sehen, das es doch auch gibt. Sie bringt dem wissenschaftlichen Menschen neues Material zur begrifflichen Bear- beitung zum Bewußtsein. Und indem sie besonders das Indivi- duelle, die fortschreitende Entwicklung, den Tatcharakter des leben- digen Lebens betont, bildet sie gegenüber dem konservativen Prinzip der Stabilität, das dem mathematisch orientierten Denken nahe liegt, ein heilsames Gegengewicht. Und endlich rückt sie mit dem Begriff des Lebens auch den des Wertes in den Vorder- grund des Interesses. Da lebendiges Leben immer zugleich wer- tendes Leben sein wird, führt das Lebensproblem notwendig zum Wertproblem. Gestaltet sich aber die Lebensphilosophie zur Wert- lehre aus und versteht sie das Wesen der zeitlosen theoretischen Wertgeltung, so durchbricht sie das Prinzip der reinen Lebens- immanenz und bereitet damit den Weg zu einer wahren Philo- sophie des Lebens vor, die sich nur auf Grund eines Systems der Werte erreichen läßt. So führt die Kritik der Lebensphilosophie, indem sie ihre Grenzen feststellt, zu dem Ausblick auf eine notwendige Aufgabe, die aus ihr erwächst. Die Auseinandersetzung ist nicht nur ne- gativ. Echte Kritik verneint niemals nur, sondern scheidet ledig- lich das Unhaltbare von dem Richtigen. Daher kann und darf sie der Lebensphilosophie unserer Zeit nicht jede positive Bedeu- tung für die Wissenschaft absprechen wollen. Sie wird vielmehr zu erkennen haben, wo in der Modeströmung die Ansatzpunkte liegen, an welche die Philosophie anknüpfen kann. 120 Max Frischeisen-Köhler, 2. Rickerts G-edankengang ist klar und geschlossen. Der Hauptzweck, dem seine Schrift dienen soll, ist, zu zeigen, daß man beim Philosophieren über das Leben mit dem Leben allein nicht auskommt. Dieser Nachweis ist, so will mir scheinen, vollgültig erbracht. Gerade weil ich in manchen Einzelheiten Ricke rt nicht zu folgen vermag und seine Ausführungen in ver- schiedener Hinsicht der Ergänzung für bedürftig und fähig halte, möchte ich zunächst die volle Übereinstimmung mit der wichtigsten These seiner Schrift unterstreichen. Und wenn aus Gründen der Sache es stets Philosophie schwerer als andere Wissenschaften haben wird, ihren Charakter als Wissenschaft zu behaupten, wenn gerade die Intuition jederzeit eine gefährliche Einbruchsstelle für dunkle Erleuchtungen aller Art und der nie erlöschenden mythenbildenden Triebe bezeichnet, so dürfte eine so scharfe und temperamentvolle Ermahnung zu logischer Zucht und Verantwortlichkeit, wie sie hier gegeben ist, immer wieder, zumal auch in der Gegenwart, ganz besonders angebracht und verdienstvoll sein. Fraglich erscheint mir dagegen, ob Rickerts scharfsinnige Erörterungen das durch die Lebensphilosophie gestellte Problem in seinem gesamten Umfange umfassen und erschöpfen. Freilich kommt es ihm in erster Linie auf Überwindung einer „Modeströ- mung" an. Aber gerade die Energie, mit der er diese Überwin- dung zu einer großzügigen und einheitlichen philosophischen Aus- einandersetzung von grundsätzlicher Bedeutung erhebt, fordert dazu auf, über die zweifellosen Unzulänglichkeiten der fraglichen Lebensphilosophie den prinzipiellen Sinn ihres Unternehmens nach den Intentionen ihrer wirklich führenden Vertreter zu bestimmen. Die Auseinandersetzung mit ihr wird dann am fruchtbarsten sein, wenn sie an ihre stärksten Seiten anknüpft. Und da scheint mir zunächst die allgemeine Kennzeichnung, welche Rickert von der zeitgenössischen Lebensphilosophie gibt, nicht allen gedanklichen Motiven, welche sich in ihr verbinden, gerecht zu werden oder sie doch nicht in dem Umfang, den gerade eine systematische Klärung erheischt, zu würdigen. Wollen wirk- lich ihre namhaftesten Vertreter beim Philosophieren über das Leben allein mit dem Leben auskommen? Von Nietzsche mag hier ganz abgesehen werden, zumal Rickert ihn zwar für einen geistreichen Schriftsteller erklärt, aber nicht zu den großen Phi- losophen zu rechnen vermag. Aber gilt jene Formel auch nur für Philosophie und Leben. 121 Bergson? In der Schrift, in welcher Bergson am ausführ- lichsten über seine Methode Rechenschaft ablegt, in der „Einfüh- rung in die Metaphysik" wird zwar die Rekonstruktion des be- weglichen, allein durch einen intuitiven Akt zu erfassenden Wirk- lichen durch feste Begriffe des Verstandes und ihre Kombina- tionen abgelehnt, aber dafür ausdrücklich die Bildung von Be- griffen gefordert, die verschieden von den gewöhnlichen, geschmei- dig, beweglich, fast flüssig sind, um immer bereit zu sein, sich den flüchtigen Formen der Intuition anzubilden. Des näheren wird auf das Vorbild des Infinitesimalkalküls verwiesen, der prinzipiell darauf ausgeht, dem Fertigen das Werdende zu substituieren. Und dementsprechend wird für die Metaphysik gefordert, „quali- tative Differenzierungen und Integrier ungen" auszuführen. Man mag über dieses Vorhaben urteilen wie man will, aber man wird nicht verkennen können, daß mit ihm eine theoretische Aufgabe gestellt wird, die besonderer und gründlicher Prüfung wert ist. Ahnlich verhält es sich aber auch mit Dilthey. Selbst wenn man sich nur auf die bisher veröffentlichten Schriften stützt (wesentliche Ergänzungen und Fortführungen aus der späteren Zeit sind noch ungedruckt), dürfte die Behauptung, daß er auch als Philosoph Historiker geblieben sei und der Geschichte seine philosophischen Prinzipien entnehmen wollte, kaum berechtigt sein. Schon seine Abhängigkeit von dem Positivismus , welche seine Frühzeit kennzeichnet, und die ihm später eine Fessel geblieben ist, läßt dieses Urteil fraglich erscheinen. Gewiß, seine persön- lichste Anlage führte ihn wieder und immer wieder zur Geschichte, deren grenzenlosen Reichtum mitfühlend zu verstehen und darzu- stellen das Glück seines eigensten Schaffens war. Aber als Phi- losoph hat er, wie man auch über seine eigenen philosophischen Leistungen denken mag, nicht vor der Geschichte kapituliert. Das vielverbreitete Mißverständnis hierüber ist zum Teil wohl dadurch verschuldet, daß man vielleicht zu ausschließlich nur an seinen Versuch zu einer allgemeinen Weltanschauungslehre denkt. Dem- gegenüber ist zu betonen, daß Dilthey (wie er es z. B. in seiner Abhandlung über das Wesen der Philosophie in der „Kultur der Gegenwart" ausgeführt hat) Logik und Erkenntnistheorie als die grundlegende Arbeit der Philosophie und als Ergänzung dazu Philosophie als das System der immanenten Lebenswerte und das der gegenständlichen Wirkungswerte als selbständige und dauernde Aufgabe anerkannt hat. „Die Geschichte der Philosophie", so 122 Max Frischeisen-Köhler, faßt er das Verhältnis von Historie nnd System zusammen, „über- liefert der systematischen philosophischen Arbeit die drei Probleme der Grundlegung, der Begründung und Zusammenfassung der Einzel- wissenschaften und die Aufgabe der Auseinandersetzung mit dem nie zur Ruhe zu bringenden Bedürfnis letzter Besinnung über Sein, Grund, Wert, Zweck und deren Zusammenhang in der Weltan- schauung, gleichviel in welcher Form und Richtung diese Ausein- andersetzung stattfindet". Freilich, die Möglichkeit eine Weltan- schauung mit den Mitteln der Wissenschaft als ein allgemeingül- tiges System zu entwickeln, hat er immer bestritten. Hier wurde ihm die geschichtliche Einsicht in die unvermeidliche Relativität und Vergänglichkeit der metaphysischen Systeme (und nur um diese, nicht um das System im Sinn der methodischen Grundlegung der Kultur handelt es sich dabei) zum wichtigsten Instrument, um die von der Erkenntniskritik des 18. Jahrhunderts von Kant und dem Positivismus vollzogene Auflösung der Metaphysik zu ihrer endgültigen Widerlegung fortzuführen. Daß sich hierbei ein Widerspruch zwischen den schaffenden Geistern und dem geschicht- lichen Bewußtsein ergibt, entging ihm#so wenig, daß er geradezu diesen Widerspruch als „das eigenste still getragene Leiden der gegenwärtigen Philosophie" bezeichnete. Und wenn er nun dazu fortschritt, seine historische Phänomenologie der Metaphysik zu einer Typenlehre der Weltanschauungen auszubilden, so wollte er doch nicht nur, einem bloßen Instinkt folgend, diese friedlich neben einander stellen. Indem er vielmehr bemüht war, in diesen Typen eine spezifische Struktur aufzudecken, in ihrer Mannigfaltigkeit ein durchgreifendes Bildungsgesetz nachzuweisen, strebte er, auch wenn er dabei über psychologische Einkleidungen nicht hinauskam, einer Art von Kategorienlehre des metaphysischen Bewußtseins zu, die, wenigstens als Aufgabe, als eine nicht unwesentliche Vor- bereitung zu einer „Logik der Philosophie" angesehen werden kann. Angenommen selbst, daß seine eigenen Untersuchungen (vielleicht gerade weil er tiefer als die meisten auch das partielle und unveräußerliche Recht der nur relativ gültigen großen Welt- ansichten zu würdigen vermochte) nicht zum systematischen Ab- schluß gelangt sind ; angenommen weiter, daß möglicherweise seine systematische Kraft zur Auflösung dieser Aufgabe überhaupt nicht ausreichte; angenommen endlich, daß die psychologische Formu- lierung den auch logischen Sinn seines Unternehmens überdeckte (obwohl gerade Dilthey das aus polemischen Gründen nur zu Philosophie und Leben. 123 gern zitierte Schreckgespenst einer rein naturwissenschaftlichen Psychologie, die lediglich Kausalprozesse ohne Sinnbezug statuieren soll, immer bekämpft hat): so genügt das alles doch nicht, um ihm ohne Einschränkung die „Weltanschauung des Historismus", die vom Prinzip der Prinzipienlosigkeit beherrscht sei und daher sowohl antiphilosophisch als auch lebensvernichtend wirke, zuzu- schreiben. Eben darum trifft auch der von Rick er t mit Zu- stimmung zitierte Hinweis Husserls darauf, daß das geschicht- liche Denken über die Wahrheit oder die Unwahrheit eines Ge- dankens nichts entscheiden könne und somit in der Philosophie ebensowenig maßgebend sei wie in der Mathematik, Dilthey nicht. Philosophie als Weltanschauung ist eben nicht Mathematik, son- dern das ist ja gerade die These, auf welche Diltheys Überle- gungen abzielen, daß die metaphysischen Gedanken über das Verhältnis von Seele und Welt, von Wert und Sein und über den letzten Zusammenhang des Ganzen im Gegensatz zu den Wahr- heiten der Mathematik, die wie die Erkenntnisse aller Sonder- wissenschaften nur auf einen Teilinhalt, auf ein abstrakt isoliertes Gegenstandsgebiet gehen und eben darum zur Allgemeingültigkeit gebracht werden können, eine Totalität zum Ausdruck bringen wollen, die wir wohl durch Denken in ihre Elemente zerlegen, deren Einheit wir aber aus diesen Elementen nicht durch bloßes Denken gewinnen können. Metaphysik als eine dem großen Kunst- werk verwandte synthetische Schöpfung enthält daher auch immer etwas von Offenbarung und von Erfahrungen, die nur dem metaphy- sisch veranlagten Gemüt zugänglich sind, und ist immer auch Er- gebnis einer freien verantwortlichen Entscheidung, einer persönlichen Tat, die zugleich über alle Theorie hin ausgreifende Forderungen der Lebens- und Zukunftsgestaltung enthält. Dieses ewige durch seine Wissenschaftsform allein nicht erfaßbare metaphysische Be- wußtsein der Person, das sich in der Behandlung blos intellek- tueller Probleme nicht erschöpft, gewinnt Gestalt und Form aller- dings nur in der Geschichte. Zu welchen Leistungen dieses meta- physische Bewußtsein sich zu erheben vermag, ist daher nach Dilthey nur ihr, nicht einer vorgreifenden abstrakten Theorie, zu entnehmen. Und indem seine Weltanschauungslehre auf die Mannigfaltigkeit der geschichtlich hervorgetretenen und immer wiederkehrenden Typen der weltanschaulichen Bildungen hinweist, möchte sie, und das ist ihre positive Wendung, uns sowohl hinter den Systemen die Grundformen der nach ihrem Gehalt erfaßten 124 Max Frischeisen-Köhler, Weltanschauungen, wie auch die Mehrseitigkeit des Weltganzen sehen lassen, das bisher noch jedem Versuch, es in der Einheit eines widerspruchsfreien Systems darzustellen, gespottet hat: woraus denn erst die ganze Verantwortlichkeit einer wahrhaft charaktervollen metaphysischen Neuschöpfung unter den Bedin- gungen unseres Wissens erhellt. Nun betont zwar Rick er t immer wieder, daß es sich ihm nur um weitverbreitete Gedanken, nicht um einzelne Denkerper- sönlichkeiten und deren zureichende Charakteristik handele. Seine Argumentation gegen den Historismus als Weltanschauung wird daher davon nicht berührt, ob nun gerade Dilthey mit Recht als Repräsentant dieser Denkweise hingestellt wird. Aber unab- hängig davon scheint mir auch die Auswahl der getroffenen Ge- danken, die gewiß bei Ricke rt nicht prinzipienlos ist, nicht so getroffen, daß alle wichtigen für die Lebensphilosophie der Gegen- wart kennzeichnenden Gesichtspunkte zu hinreichender Berücksich- tigung gelangen. Wie Rick er t selbst zugibt, ist bei einer Unter- suchung über Recht und Bedeutung der Intuition als Erkenntnis- quelle in erster Linie Husserls Phänomenologie zu nennen. Denn sie fordert mit einem Radikalismus und einer logischen Schärfe wie keine andere Schule der Gegenwart das unmittelbare Sehen, das Sehen überhaupt als originär gebendes Bewußtsein, als die letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen, die Wesens- schau des vor allem theoretisierenden Denken selbst Gegebenen oder zur Gegebenheit zu Bringenden als Grundlage der Philo- sophie, sofern sie strenge Wissenschaft sein will. Indem von ihr alle indirekten symbolisierenden und mathematisierenden Methoden, der ganze Apparat von Schlüssen und Beweisen zurückgestellt werden und die wissenschaftliche Arbeit der Philosophie auf eine Sphäre direkter Intuition gewiesen wird, in der in schauender Haltung Gegebenes erfaßt und zur Explikation gebracht werden soll, wäre vorzüglich an dieser Phänomenologie, deren methodische Eigenart von ihrem Begründer bereits eingehend entwickelt und dargestellt worden ist, Sinn und Grenzen der Intuition überhaupt zu prüfen. Gerade weil Husserl die Behauptung, daß Philo- sophie überhaupt noch keine Wissenschaft sei, ja als Wissenschaft nicht einmal einen Anfang genommen habe, mit der äußersten Schroffheit und Schärfe vertritt, da nach ihm allein die Phäno- menologie das Feld der echten Vernunftkritik eröffnet und die Methodik kollektiver Arbeitsleistung im Sinn wahrer auf zeitlose Philosophie und Leben. 125 Wahrheiten gerichteten Forschung gewährt, liegt es am nächsten, von der phänomenologischen Position ans, auch wenn sie in ur- sprünglicher Intention nicht der Lebensphilosophie dienen sollte/ das Problem des unmittelbar schauenden Verständnisses und der begrifflichen Bearbeitung des Erschauten aufzurollen. Rick er t begnügt sich indessen mit der Feststellung, daß durch bloße Wesens- schau vereinzelter Phänomene der theoretische Kosmos nicht ge- wonnen werden kann und nach den bisherigen Publikationen Husserls die systematischen Gesichtspunkte für den Aufbau des Ganzen noch nicht erkennbar sind. Im übrigen geht er aber auf das Problem der Phänomenologie nicht ein. Dies ist deswegen um so mehr zu bedauern, als Husserl dem Begriff der Anschauung und Intuition eine Ausweitung gibt, die über die von Rickert berücksichtigten Begriffsbestimmungen noch hinausgreift. Der Be- griff der Anschauung verführt, wie er zunächst dem optisch-sinn- lichen Gebiet entnommen worden ist, nur zu leicht dazu, ihn auf den Sinn einer unmittelbaren Erfassung von Wirklichkeiten zu beziehen. Aber in Husserls Begriff der Wesensschau wird grundsätzlich diese Beziehung aufgehoben und die intuitive Erfas- sung von daseinsfreien Gegebenheiten gelehrt. Durch die von Husserl vorgeschlagene scharfe Scheidung von Tatsachen Wissen- schaften und eidetischen Wissenschaften könnte aber gerade die Lebensphilosophie eine methodologische Fortbildung erhalten, deren Bedeutung nicht davon abhängt, ob etwa die Anwendung, die Scheler von ihr gemacht hat, und gegen den sich Rickert mit besonderem Nachdruck wendet, zureichend ist oder nicht. Ebenso ist auffallend, daß Eucken keine besondere Berück- sichtigung erfährt. Rickert rechnet ihn nicht zu den Lebens- philosophen im engeren Sinn. Er meint, daß bei ihm die engste Fühlung mit der klassischen deutschen Philosophie grundwesent- lich ist; und wollte man den Lebensbegriff so umfassend nehmen, daß auch Euckens „Geistesleben" darunter fällt, dann würde das Schlagwort jede greifbare und prägnante Bedeutung verlieren. Aber diese Bestimmung und Begrenzung scheint einigermaßen will- kürlich. Es ist nicht einzusehen, warum die biologistische Lebens- philosophie, die durch ihre Bezugnahme auf einen bestimmten Teil- inhalt der Welt charakterisiert ist, einen Vorrang in der Be- handlung vor jener philosophischen Richtung haben sollte, welche von einem anderen Teil der Welt, nämlich dem geistesgeschicht- lichen Leben des Menschen ihren Ausgang und ihre Erfüllung 126 Max Frisch eiseD-Köhler, nimmt. Systematisch angesehen, ist diese letztere Richtung zweifel- los viel bedeutsamer als der Biologismus auch in seiner neueren Ausprägung, über den man ebenso wie über den älteren eigentlich getrost die Akten schließen könnte. Denn schon der Begriff der Anschauung erfährt durch Eucken wiederum nach einer anderen Richtung hin eine entscheidende Erweiterung. Für ihn steht (wie er etwa in „Erkennen und Leben" ausführt) nicht Anschauung eines Tatbestandes, sondern Werdenlassen eines Lebens, Miterleben der Wirklichkeit von Grund aus in Frage. Was gewöhnlich An- schauung heißt, erscheint ihm viel zu passiv. Seine Forderung einer inneren Bewältigung und vollen Durchleuchtung des Auf- stiegs zu wirklichkeitsbildendem Schaffen, die uns von der bloßen Abhängigkeit von den Eindrücken auf den Menschen frei macht, weist ersichtlich im geschichtlichen und ideellen Zusammenhang auf den Begriff der intellektuellen Anschauung, wie ihn Fichte entwickelt hat, zurück. Es ist bezeichnend, daß Rackert, wo er die intellektuelle Anschauung erwähnt, sie nur im Sinne der Mystik versteht und von dieser überdies meint, daß sie in der Modephilosophie keine Rolle spielt. Die intellektuelle Anschauung dagegen, welche Fichte als „Faktum des Bewußtseins" und als den „einzigen festen Standpunkt für alle Philosophie" ansah, geht nach seiner ausdrücklichen Erklärung (z. B. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre) gar nicht auf ein Sein, sondern auf ein Handeln. Sie ist ein unmittelbares, aber kein sinnliches Bewußt- sein. Und zwar das Bewußtsein eines produktiven Tuns, nämlich von den schöpferischen Tathandlungen des Bewußtseins. Wovon die Wissenschaftslehre ausgeht (so heißt es sodann einmal- in der Abhandlung „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung"), läßt sich daher nicht begreifen noch durch Begriffe mitteilen, sondern nur unmittelbar anschauen; wer diese An- schauung nicht hat, für den bleibt die Wissenschaftslehre notwendig grundlos und lediglich formal und mit ihm kann dieses System schlechterdings nichts anfangen. Indem Eucken diesen aktivi- stischen Sinn der Anschauung grundsätzlich wieder herstellt und von ihm aus entwickelt, „was den wirklichen Philosophen von dem mit Philosophie befaßten Gelehrten unterscheidet", der nur über die Dinge von außen her reflektiert, und indem er weiter fordert, daß das Gesamtbild, auf das unser Streben geht, nicht außerhalb sondern innerhalb des Denkens entstehe, ja es erst überhaupt her- zustellen sei, entwickelt er eine innere Verbindung von Denken Philosophie und Leben. 127 und Leben, die das Logische nicht ausschaltet, aber streng auf den Lebenskomplex bezieht, der im Bereich des Menschen als eine eigene Welt erzeugt wird und ihm aus den Bewegungen des eigenen Lebens zugeht. Hier ist, so scheint mir, der Anspruch einer auf die innere Anschauung des Lebens gestützten Lebensmetaphysik erhoben, deren methodische Möglichkeit bei einer Prüfung der Lebensphilosophie nicht umgangen werden kann. Aber selbst, wenn man deren Ausprägung in der Form, die ihr Eucken gegeben hat, nicht für zureichend hält, erscheint die Berücksichtigung aller Versuche, vom Begriff des Geistes aus den des Lebens zu vertiefen, in besonderem Maße darum erforderlich, weil durch den Begriff des Geistes das Philosophieren über das Leben vielleicht gerade die Ergänzung durch das „Andere", das jedenfalls der Begriff des Lebens in seinem biologischen Sinn nicht gewährt und dessen Unentbehrlichkeit für die Philosophie Rick er t nachgewiesen hat, erhalten kann. Dies fortschreitend immer deutlicher erkannt und herausgearbeitet zu haben, macht, wie mir scheint, vor allem die Bedeutung Simmeis aus. Auch Ricke rt schätzt Simmel von allen modernen Philosophen des Lebens am höchsten und wiederholt geht er auf seine Darlegungen ein. Aber ich weiß nicht, ob seine Auseinandersetzung mit Simmeis metaphysischem Lebensbegriff diesen nach seinem ganzen Gehalt erschöpft. Rickert spitzt seine Ausführung auf den Nachweis zu, daß Simmeis anscheinend so paradoxe Lehre von der „Im- manenz der Transzendenz" rein wissenschaftlich nicht durchzu- führen ist, weil sie uns an die Grenzen des Logischen, d. h. des widerspruchslos Denkbaren bringt. Und diese Grenzen können wir nicht überschreiten. Aber Rickert berücksichtigt dabei vor- wiegend nur die Antinomie von Leben und Form, von Kontinuität und Grenze, von unendlichem Strömen und Individualität. Wich- tiger aber erscheint mir der Versuch Simmeis, in seinen Begriff von Leben den Bezug auf die Idee, die Setzung ideeller Inhalte und Welten hineinzunehmen, durch welche das Leben, sein Wesen radikal ändernd, von der Stufe der Vitalexistenz zu der des Geistes sich erhebt. Es sind dies Gedankengänge, die unmittelbar an die Setzung des Nichtichs durch das Ich im Ich erinnern und die jedenfalls durch den Hinweis auf gewisse formal-logische Schwierig- keiten ihrer Darstellung nicht zu erledigen sind. Hier berühren wir letzte Fragen. Und ob es nun möglich ist, sie theoretisch abschließend zu beantworten: es ist doch bezeichnend, daß von 128 Max Frischeisen-Köhler, einer ursprünglich biologistischen Leben sphilosophie ans folgerecht der Anschluß an die große deutsche idealistische Tradition ge- wonnen werden kann. Eben deshalb darf sine Kritik der Lebens- philosophie sich nicht nur auf ihre biologistische Ausprägung mit einigen Ausblicken auf weitergreifende Bemühungen intuitionistischer Art begnügen, sondern ist doch wohl verpflichtet, das Problem der Lebensphilosophie so allgemein zu fassen, daß es das der Philo- sophie des geistigen Lebens mit umspannt. Daher wäre es auch von besonderem Interesse gewesen, nä- heres über die Stellungnahme Rick er ts zu der durch Troeltsch angebahnten Geschichtsphilosophie zu erfahren. Bekanntlich stand Troeltsch zeitweilig dem Gedankenkreis der südwestdeutschen Philosophenschule nahe. Aber ihre Geltungslehre genügte seiner auch von Dilthey beeinflußten Auffassung der geistigen Welt nicht. So streng Troeltsch an den methodischen Forderungen echter Wissenschaftlichkeit festhält, so wenig er geneigt ist, dem bloßen Erleben sich zu überlassen, so entschieden tritt er jedem das Leben und die Fülle der Geschichte vergewaltigenden Ratio- nalismus entgegen und für das Leben im Ganzen, Beweglichen, Schöpferischen und zwar im Erkennen wie in der Verantwort- lichkeit persönlicher Entscheidung und Tat ein. Deutlich zeichnen sich auch schon in seinen letzten Arbeiten die Umrisse einer Kategorienlehre des geistigen Lebens ab, welche der Forderung Diltheys nach einer „Kritik der historischen Vernunft" eine tiefere Erfüllung versprechen, als Dilthey sie zu geben ver- mocht hat, und die über die formale Logik der Geschichtswissen- schaften und die abstrakte Wertlehre der südwestdeutschen Schule unmittelbar auf Probleme einer Lebensphilosophie gerichtet ist. Nach alledem möchte der Kreis dieser doch weiter zu ziehen sein, als ihn Rick er t, indem er sie nur als Modeströmung wür- digt, beschreibt. Wenn man das aber tut, dann gewinnt die Frage nach der positiven Bedeutung, die der Lebensphilosophie für den Aufbau der systematischen Philosophie zukommen kann, eine Be- leuchtung, die, wie mir scheint, über Rickerts Entscheidung hinausführt. Wie hier abzugrenzen ist und die Verteilung der Gewichte zu erfolgen hat, das hängt vor allem davon ab, worin der Charakter der systematischen Philosophie, genauer worin ihre spezifische Aufgabe erblickt wird. Rick er t kennzeichnet nun das Wesen der Philosophie als einer Universalwissenschaft im Unterschied von den Spezial Wissenschaften durch vier Momente. Philosophie und Leben. 129 Die Philosophie ist die Wissenschaft, die das Ganze der Welt zu ihrem Gegenstand macht und also Begriffe für das Weltall zu entwickeln hat, so daß sich dieses in ihnen als eine Einheit dar- stellt. Aber zur Wissenschaft vom Weltall wird sie nur, wenn sie auch den ganzen Menschen und sein Verhältnis zur Welt mit- umfaßt und den Sinn des Menschenlebens deutet, der nur durch eine Kenntnis der Werte gewonnen werden kann, die ihm Sinn verleihen. Um das Weltganze ferner zu denken, müssen wir es so denken, daß es alle zeitlichen Weltteile und damit zugleich die Zeit selber umfaßt. Das Weltganze kann nicht in der Zeit sein, sondern umgekehrt: die Zeit ist im Weltganzen. Infolgedessen wird für die Universalwissenschaft auch das Verhältnis zum Zeit- losen oder Ewigen ein Problem. Soll endlich die Philosophie Wissen- schaft vom All sein, so muß sie einen streng systematischen Cha- rakter tragen, d. h. all ihre verschiedenen Begriffe und Urteile zu Gliedern eines einheitlich geordneten Gedanken - Ganzen zu- sammenschließen. Wie die Wirklichkeit uns zuerst gegenübertritt, bevor wir sie systematisch begreifen, ist sie überhaupt noch keine Welt, sondern eine Anhäufung von Bruchstücken oder ein Chaos. Die Philosophie aber hat die Welt in ihrer Totalität als Kosmos zu erfassen und nur durch das System kommt sie vom theore- tischen Chaos zum theoretisch begriffenen Kosmos. Denn Begriffe, die nicht Glieder eines Systems sind, beziehen sich nur auf Teile, und so lange es kein System gibt, fällt daher die Welt für uns in ihre Teile auseinander. Zusammengefaßt: „Die Philosophie sucht in Form eines Systems nach einer Weltanschauung, die so- wohl die Zeitanschauung als auch die Lebensanschauung umfaßt und so das zeitliche Leben im Zusammenhang mit dem über- zeitlichen Wesen des Weltalls verstehen lehrt. Mehr kann sie nicht wollen und auf weniger darf sie als universale Betrachtung sich wenigstens der Absicht nach nicht beschränken". Es ist nun aber charakteristisch, daß diese Aufgabenbestim- mung in den abschließenden positiven Andeutungen eine wesent- liche, ja grundlegende Einschränkung erfährt. Indem darauf hin- gewiesen wird, daß die Wirklichkeit heute in allen ihren Teilen von den Einzelwissenschaften als Material der Forschung beansprucht wird, daher die Erkenntnis der Wirklichkeitstotalität eine Auf- gabe ist, an der die Einzelwissenschaften in ihrer Gesamtheit dauernd zu arbeiten haben, also ein Unternehmen, das sie mit einem Schlage zu Ende führen wollte, von vornherein sinnlos Kantstudien. XXVI. 9 130 Max Frischeisen-Köhler, ist, ergibt sich, daß Philosophie universale Wirklichkeitserkenntnis nur noch in dem Sinn erstreben kann, daß sie über die letzten Ziele alles Wirklichkeitserkennens Klarheit zu schaffen sucht. So verwandeln sich ihr die universalen Wissenschaftsprobleme in theo- retische Wertfragen, der Begriff des Wirklichkeitsganzen in eine Erkenntnisaufgabe, ihre Universalität in die Forderung, die von der Gesamtheit der Einzeldisziplinen zu erarbeitenden Erkenntnisse in ihrem theoretischen Sinn und in ihren letzten umfassenden Zielen als ein einheitliches Ganzes zu deuten. Damit wandelt sich aber zugleich auch der Standpunkt der Kritik. Während zunächst Philosophie als eine Universalwissenschaft vorausgesetzt wurde, welche das G-anze der Welt zu ihrem Gegenstand macht, wird jetzt der Anspruch dahin ermäßigt, daß sie das Wirklichkeits- ganze nicht unmittelbar, sondern mittelbar, so weit die Wissen- schaft es als Ganzes überhaupt zu erfassen vermag, zu begreifen hat. Wäre sogleich dieser engere, der kritische Begriff der Philosophie zu Grunde gelegt worden, dann hätte sich ersichtlich die Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie, sofern sie un- mittelbar das Wirkliche zu erfassen oder das Ganze nach einem ausgezeichneten Teilinhalt zu deuten versucht, offenbar wesentlich vereinfachen lassen, da alsdann jeder Versuch, die Totalität des Seins direkt zu erkennen, ob er sich nun der Intuition oder bio- logischer Analogien bedient oder nicht, von vorn herein gerichtet erscheint. Hält man dagegen den Begriff der Philosophie als universaler Wissenschaft vom Weltganzen überhaupt für disku- tabel, dann reicht die gegebene Kritik nicht aus, um den Anspruch einer Lebensphilosophie, welche nicht sowohl vom Organischen als vom Geistesleben etwa im Sinn von Eucken und Simmel aus- geht, prinzipiell abzuweisen. Die große Bedeutung, welche dieser Wechsel des Standpunktes für die Beurteilung der Lebensphilosophie besitzt, zeigt sich darin, daß, wenn wir die kopernikanische Drehung in ihrer ganzen Tragweite vollziehen und dementsprechend Philo- sophie nur als Kulturkritik im Sinn einer erweiterten Erkenntnis- kritik gelten lassen, der Beitrag, den die Lebensphilosophie für den positiven Aufbau zu leisten vermag, von Rick er t offenbar zu hoch eingeschätzt wird; suchen wir dagegen von der koperni- kanischen Drehung wieder zu einer Philosophie der Welt zurück- zukehren oder wenigstens jene durch eine solche, d. h. durch eine Weltanschauung zu ergänzen, dann scheint ihr möglicher Beitrag wiederum zu gering bemessen. Philosophie und Leben. 131 Wenn Rickert für die geschichtliche Entwicklung der Phi- losophie eine Art Rhythmus festzustellen sucht, wonach (natürlich lediglich für die Durchschnittserscheinungen und im allgemeinen) das Schema einer Abfolge von Scholastik, Verstandesaufklärung und naturalistischer Reaktion die den großen schöpferischen System- bildungen folgende geistige Bewegung kennzeichnet und wenn er hierbei die modernen Geistesströmungen der letzten Phase dieses Schemas unterordnet, nur daß, was im 18. Jahrhundert „Natur" hieß, jetzt mit Vorliebe „Leben" genannt wird: so mag dies mit gewissem Vorbehalt zutreffend sein. Aber es ist nicht ersichtlich, welche positive Bereicherung eine rein kritische Philosophie, die ihrer Aufgabe und ihrer Grenzen sich bewußt bleibt, von einer solchen Reaktion zu erwarten hat. In den Einzelgebieten der Kultur, in deren geschichtlicher Entwicklung ein analoger Rhyth- mus zu erkennen ist, verhält es sich freilich anders. Besonders deutlich ist das in Religion und Kunst. Wenn die ersten Gene- rationen einer religiös oder künstlerisch schöpferischen Epoche dahingegangen sind, wenn neben die von ursprünglichem Enthu- siasmus ergriffenen Träger einer neuen Bewegung die zahlreichen Jünger und Nachfolger treten, die das Erworbene lehrhaft über- nehmen, weiter bilden und weiter geben, tritt allemal eine Erstar- rung und Verarmung ein. Die unmittelbar aus dem erregten Ge- mütsgrunde fließende Religiosität macht einer Religion der Tra- dition, der Sitten, des Gesetzes, der Dogmenbildung Platz, die Wirklichkeitsauffassung und -darstellung der genialen Phantasie weicht einer festen Formensprache, Konvention und ästhetischer Regelgebung. An die Stelle der Schöpfungen primärer Ordnung, die aus unmittelbaren Quellen des Lebens fließen, treten Produkte einer sekundären Ordnung, die reflexiv und reflektierend auf jene bezogen sind und ihren Gehalt durch deren Faktum, wie es sich vor allem in ihren äußeren Erscheinungsformen erfassen und über- mitteln läßt, empfangen. Es ist das Schicksal des doppelten Evan- geliums, das in vielfacher Abwandlung im einzelnen mit einer er- staunlichen Regelmäßigkeit überall wiederzukehren scheint. Die Folge ist, daß ebenso regelmäßig über kurz oder lang eine Reaktion einsetzt, ein Protest gegen die Scholastik und die Konvention und «in Ruf zur Rückkehr zur Ursprünglichkeit und zur Natur. Und das will allerdings hier eine neue Wegbereitung, eine wahrhafte Erweiterung, bisweilen eine vollkommen umgestaltende Bewegung besagen. Etwas ähnliches gilt aber auch für die positive Wissen- 9* 132 Max Fri seh eisen-K öhler, Schaft. Freilich läßt gerade die enge Beziehung, die zwischen Theorie und Erfahrung zumal in Physik und Chemie erreicht ist, die unauflösliche Verbindung, in welcher hier Forschung und Spe- kulation sich gefunden haben, diese Schwankungen in der Ent- wicklung einigermaßen zurücktreten. Aber ganz verschwunden sind sie auch hier nicht, nur daß sie sich hier mehr als eine Gegen- sätzlichkeit der Richtungen, die unter Umständen gleichzeitig nebeneinander bestehen können, denn als ein Rhythmus in der Aufeinanderfolge geltend machen. Deutlicher erkennbar ist ein solcher in den biologischen und vor allem in den historischen Wissenschaften, wo Gesamtauffassungen geschichtlicher Epochen, etwa des Hellenentums, der jüdisch- christlichen Religionsentwick- lung, des Mittelalters, die zeitweise dogmatische Geltung erlangt haben, durch ein neu einsetzendes und erweitertes Quellenstudium fast stoßartig erschüttert werden. Es handelt sich hierbei nicht nur um die unvermeidliche Revision und Fortbildung von Hypo- thesen auf Grund der fortschreitenden Erfahrung, sondern, wenn auch in abgeschwächtem Maße, um einen ähnlichen Wechsel in der Einstellung, um eine Reaktion gegen eine zur Dogmatik erstar- rende Theorie durch eine entschiedene Hingabe an die Quellen selbst und eine neu aus ihnen schöpfende Anschauung. So ist für Religion, Kunst und positive Wissenschaft ohne weiteres ersichtlich, welch eine gewaltige Bedeutung die „natu- ralistische Reaktion" für die Erweiterung des geistigen Horizontes, für die Erschließung neuer Seiten und Zusammenhänge, welche bisher verborgen oder durch ein autoritativ gewordenes System von Formen verdeckt waren, für den Durchbruch zu neuen Wegen des gestaltenden und schaffenden Geistes besitzt. Hier wird wirk- lich neues Material im weitesten Sinne des Wortes zu Tage ge- fördert, das die Enge einer geltenden Dogmatik sprengt und uns die Wirklichkeit umfassender und reicher sehen läßt. Aber die kritische Philosophie, die ihrerseits auf jede Art von Wirklichkeits- erkenntnis verzichtet und sich lediglich auf die Besinnung und Bestimmung nur der allgemeinsten Erkenntnisziele beschränkt, kann davon unmittelbar keine Förderung erwarten. Und" auch mittelbar scheint ein Gewinn nur in Frage kommen zu können, falls sie sich, was ja zweifelsohne Tatsache gewesen ist, allzu ein- seitig auf eine spezielle, vielleicht gar eine zeitgeschichtlich be- dingte Form der Wirklichkeitserkenntnis, wie etwa die Newtonsche Naturwissenschaft, bezog und darüber andere Erkenntnisweisen, Philosophie und Leben. 133 wie etwa die biologische oder die historische allzu sehr in den Hintergrand treten ließ. Hat aber die kritische Philosophie ihre Fragestellung auf alle Gebiete der Kultur ausgedehnt, dann kann grundsätzlich eine periodische Erweiterung des jeweiligen Mate- riales für ihre Probleme und die Rechtfertigung der konstitutiven Bedingungen, welche Erkenntnis (im erfahrungswissenschaftlichen Sinn des Wortes) und ihre Gegenstände überhaupt ermöglichen, nicht mehr beeinträchtigen oder sachlich weiter bringen. Der ver- änderliche Faktor der Kulturentwicklung wird für sie nur so weit in Betracht kommen, als sie in der Veränderung die von aller Veränderung unabhängigen, aber sie in gesetzmäßiger Richtung beherrschenden Prinzipien wieder und wieder aufweist. Die Phi- losophie als Erkenntnis- und Kulturkritik bringt ihrerseits das Neue, das eine Rückkehr zur Natur oder zum Leben aufdeckt, nicht selber unter Begriffe, da sie dies ein für allemal den Einzel- wissenschaften überlassen hat. Und daß und wie unter Begriffe zu bringen ist, das hat sie, sofern ihr überhaupt die Auflösung ihrer Aufgabe gelungen ist, bereits geleistet. So bliebe allenfalls nur noch die Erinnerung, daß die Welt unendlich viel mehr ist als das, was restlos in die Begriffe des Verstandes eingeht, die Warnung vor einem Panlogismus, der das Logische für die Sub- stanz der Welt selber und nicht nur für das hält, womit man die Welt denkt. Aber eine wahrhaft kritische Philosophie bedarf hierzu des Hinweises auf das lebendige Leben, das stets irrational ist, nicht. Und im übrigen läßt sich mit diesem Hinweis schlechter- dings nichts anfangen, da er nur zu schweigender Mystik, aber nicht zu irgend welchen Aussagen über dieses irrationale Leben, die ja sofort eine erkennt aismäßige , den Einzelwissenschaften an- heimfallende begriffliche Bearbeitung bedeuten würden, führt. Freilich, wenn wir die kopernikanische Drehung nicht mit- machen oder wenigstens zur Gewinnung einer Weltanschauung (wodurch die Arbeit der Erkenntnistheorie keineswegs aufgehoben wird) wieder rückgängig zu machen suchen, wenn wir Philosophie nicht nur als Erkenntniskritik, sondern zugleich auch in dem vor- kritischen Sinn als Universal Wissenschaft von der Welt anerkennen, dann ändert sich die ganze Sachlage. Dann kann, auch wenn die Philosophie an der Herrschaft des Logischen über die Welt fest- hält, eine durch Rückkehr zur Unmittelbarkeit der Natur oder des Lebens für sie von einer ebenso fundamentalen Wichtigkeit wie für die einzelnen Kulturgebiete werden, sofern durch diese 134 Max Frischeisen-Köhler, Rückkehr zumal im engsten Bund mit der forschenden Wissen- schaft uns eine Seite an dem Wirklichen aufgeschlossen wird, die bisher noch nicht gesehen und gewürdigt war. Ja, in diesem Zusammenhang gewinnt gerade gegenwärtig die Lebensphiloso- phie, mag sie nun überdies eine Modeströmung sein oder nicht, eine ganz einzigartige Bedeutung. Denn von allem abgesehen, was ihre verschiedenen Richtungen im einzelnen an neuen Er- kenntnissen und Aufschlüssen darbieten wollen: darin stimmen sie, wie weit sie sonst auch differieren mögen, überein, daß sie wiederum der Welt sich unmittelbar, dem Objekt aller Erkenntnis und nicht nur der Erkenntnis des Objektes, zuwenden. In dieser Hinsicht ist ihre gemeinsame Frontstellung in der Ablehnung einer bloß kritisch verfahrenden Philosophie klar und unverkennbar. Ihr geht es in erster Linie um Durchbrechung der auf Erkennen des Erkennens eingeschränkten kritischen Haltung. Sie will an die Sachen selbst heran. Ein ungeheurer Hunger nach Wirklichkeit treibt sie vorwärts. Und sie ist allerdings von der Überzeugung geleitet, daß das unmittelbar Gegebene kein bloßes „Erlebnisge- wühl", kein bloßes „ Chaos u ist, das allein durch die Begriffe des darüber reflektierenden Verstandes zur Bestimmtheit gebracht und zum Kosmos erhoben werden kann. Behauptungen dieser Art er- scheinen ihr vielmehr von vornherein eine dogmatische und über- dies unbeweisbare und unhaltbare Prämisse zu sein. Gewiß kämpft sie dabei einen Kampf nach zwei Fronten. Indem sie gegen den Kritizismus wie einst Schelling „den Durchbruch aus dem Netz des subjektiven Bewußtseins in das offene Feld der objektiven Wirklichkeit" unternimmt, wendet sie sich zugleich gegen jede Art von offener oder verkappter materialistischer Metaphysik und gegen eine einseitige mechanische Weltvorstellung, die etwa den Anspruch auf die allein zureichende Wirklichkeitserkenntnis er- hebt. Aber systematisch angesehen ist diese Auseinandersetzung mit einem Feind, der für die kritische Philosophie als ernsthafter Gegner schon längst nicht mehr in Betracht kommt, sehr viel we- niger wichtig als die Auseinandersetzung mit eben dem Kritizis- mus und allem „formalen" Idealismus. Dieser Anspruch begründet eine Bedeutung der Lebensphilosophie, deren prinzipielle Trag- weite aus Rickerts Darlegungen nicht erhellt. Wie unzuläng- lich und unfertig noch alles in dieser Bewegung sein mag, sie selber beginnt doch allenthalben, die bisher feste Position des Kritizismus zu erschüttern. Es ist die ernsteste philosophische Philosophie und Leben. 135 Frage der Gegenwart, wie weit derselbe sie zu halten und zu sichern vermag. Denn zugleich ist unverkennbar, daß der Kriti- zismus selber in ein kritisches Stadium eingetreten ist. Erwägt man, um nur einige Beispiele herauszugreifen, die Entwicklung etwa von Troeltsch oder betrachtet man die immer deutlicher hervortretende Wendung des Marburger Neukantianismus zu einer Metaphysik in Annäherung an Hegel, für welche auch die letzte überraschende und noch nicht abgeschlossene Entwicklung Natorps als ein bedeutungsvolles Symptom angezogen werden darf, so ist offenbar, daß wenigstens in den führenden Eichtungen des mo- dernen Kritizismus eine Krisis bevorsteht, wenn sie nicht schon offen ausgebrochen ist. Alles spricht dafür, daß wir uns in einer ähnlichen geschichtlichen Lage wie zu jener Zeit befinden, da das kantische System, das jeder Art von Dogmatismus ein Ende be- reiten wollte, selber der Ausgangspunkt für die größte Entwick- lung der Metaphysik, welche die neuere Zeit kennt, geworden ist. Und nun begegnet sich mit dieser immanenten durch die Verschär- fung und Vertiefung der eigenen Voraussetzungen des Kritizismus eingeleiteten Bewegung die Lebensphilosophie, die mit leidenschaft- lichem Pathos eine neue Axendrehung der gesamten philosophischen Einstellung fordert. Auch hierin tritt eine eigentümliche Ähn- lichkeit mit jener Epoche hervor. Denn es ist kaum zweifelhaft, daß es, wie schon die historische Abhängigkeit der modernen Lebensphilosophen von dem deutschen spekulativen Idealismus er- weist, verwandte Mächte sind, die heut wie einst den Kritizismus bedrohen und einer Philosophie der Welt, die aus wirklicher An- schauung der Welt entspringt und die Fesseln des formalen Idea- lismus wie einer mechanisch-naturalistischen Weltinterpretation zu sprengen sucht, sich zuwenden. Hier liegt, wie mir scheint, das eigentliche Problem, das die Lebensphilosophie unserer Tage uns stellt, und hierin, in der Neuforderung einer Revision der Frage- stellung wie der Prinzipien des Kritizismus, ihre wichtige Bedeu- tung. Die Lebensphilosophie mag eine Modeströmung sein; aber sie ist doch zugleich ein Anzeichen für ein tiefes Sehnen unserer Zeit nach einer inhaltlichen, sachlichen Auffassung des Wirk- lichen, dem weder die positivistische noch die kritizistische Zu- rückhaltung, bei aller Anerkennung des sittlichen Idealismus, der namentlich auch in letzterer sich bekundet, Genüge gewährt. Mag sie noch so sehr irren, wenn sie zu ungeduldig auf bloße Intuitionen sich stützt und zu vorschnell in einigen nichtmecha- 136 Max Frischeisen-Köhler nischen Analogien die zureichenden Symbole für das, was unser Herz wiederum aus den Dingen herauszuhören beginnt, zu finden glaubt. Aber sie ist doch ein Versuch und ein erstes Wagnis zu neuer Fahrt auf dem unendlichen Meer, das die kleine Insel der selbstgenügsamen sicheren, allgemeingültigen, logisch-formalen Erkenntnisse umbrandet. Wird der Kritizismus stark genug sein, diesem stürmischen Begehren nach neuer Welterfahrung und Welt Vertiefung gegenüber die von ihm als unverrückbar behaup- teten Erkenntnisgrenzen aufrecht zu halten? Oder wird er elastisch genug sein, um auch diese Wendung in sich aufzunehmen, ja viel- leicht mit dem so außerordentlich verfeinerten Rüstzeug seiner Methodik zu leiten und gegen den Überschwang und die unver- kennbaren Gefahren des Dilettantismus zu schützen? Hier ent- springen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die jedem, dem Phi- losophie mehr als eine bloß scharfsinnige Gedankenleistung, näm- lich eine Herzenssache ist, die Seele erfüllen. Ist doch auch noch gar nicht abzusehen, ob nicht eben da- durch der Begriff von System, der als das formale Merkmal der Philosophie in diesen Überlegungen eine so entscheidende Rolle spielt, eine wesentliche Änderung und Umgestaltung erfährt. Nur andeutungsweise mag dieser Punkt zum Schluß noch gestreift werden. Indem Ricke rt die Unentbehrlichkeit der Form des Systems für die wissenschaftliche Philosophie betont, hebt er zu- gleich hervor, daß jeder Philosophie des Lebens notwendig die Form des Systems fehlen muß. Aber was heißt System? Die Angabe, daß es ein geordnetes Ganzes von Begriffen sei, ist nicht gerade sehr aufklärend und jedenfalls nicht zureichend. Es ist sehr merkwürdig, daß wir, wo in der Gegenwart so viel über die Bedeutung des Systemgedankens geredet wird, eine einigermaßen erschöpfende Untersuchung auch nur der in der Geschichte bisher vorliegenden Systemformen noch nicht besitzen. Eine solche Unter- suchung , die ebenfalls eine wichtige Aufgabe einer künftigen „Logik der Philosophie" ist, wird eine ganze Mannigfaltigkeit von Systemformen zu scheiden haben. Sie wird zunächst die äußer- liche systematische Darstellung, die stets ein Produkt des nach- träglich reflektierenden Verstandes und daher vorzüglichstes Ge- schäft des schulmäßigen Betriebes ist, von dem inneren systema- tischen Geist zu trennen haben, der das Gefüge einer Weltansicht mit zwingender Konsequenz auch dann durchdringen und gestalten kann, wenn diese bisher noch niemals in formal korrekter und Philosophie und Leben. 137 logisch befriedigender Weise zur Darstellung gebracht worden ist. Es könnte sein, daß in sehr speziellen, gar nicht auf ein System abzielenden Untersuchungen, wie etwa in denen von Galilei, mehr von systematischem Geist als in einem ausgeführten System der Philosophie auch von Rang, wie es etwa das von Hobbes ist, lebt. Und weiter genügt ein Blick auf Piaton und Plotin, Descartes und Leibniz, Hegel und Spencer, um zu sehen, daß die Idee des Systems so wenig wie der Begriff irgend einer Form unabhängig von der Materie, die es gestalten und darstellen soll, bestimmt werden kann. Endlich greift fast unvermeidlich ein Werturteil über das, was man für den Charakter des „wahren" oder „echten" Systems hält, ein. Aber man wird sich hüten müssen, die besondere Systemform, die man selber für die allein richtige hält, als Kriterium für den Systemwert philosophischer Lehren überhaupt zu fordern. So lange alle diese Dinge nicht hinreichend geklärt sind, kann die allgemeine Behauptung, daß jeder Philosophie des Lebens notwendig die Form des Systems fehlen muß, nicht ohne weiteres als zu Recht bestehend angesehen werden. Immerhin mag, um wenigstens die hier auftretenden Schwie- rigkeiten anzudeuten, auf das Beispiel von Hegel hingewiesen werden. Niemand hat schärfer als Hegel in der berühmten Vor- rede zu der Phänomenologie des Geistes betont, daß „die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, allein das wissenschaft- liche System derselben sein kann". Und indem er sich vorgesetzt hat, daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, indem er fordert, die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen, lehnt er, wie man weiß, jedes unmittelbare Wissen des Absoluten, die Ekstase, das bloße Ahnen, das prophetische Reden, die Begeisterung, die wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar anfängt, schroff ab. Und doch kann man, wie Rick er t ausdrücklich gelegentlich zugibt, den jungen Hegel zu den Lebensphilosophen rechnen und eben von der Phänomenologie erklärt er, daß sie Gemeinsames mit den Modetendenzen zeigt. Es will ja auch in der Tat dieses System das Sein als lebendige Substanz, als sich entwickelnden Geist, als Entfaltung zum organischen Ganzen und in seiner Totalität, als in- neres Leben und Selbstbewegung des Daseins, als Ich oder das Werden überhaupt, d. h. die Substanz wesentlich als Subjekt er- fassen. Freilich bedarf es zu seiner Durchführung als Wissenschaft 138 Max Frischeisen-Köhler, Philosophie und Leben. einer Logik, welche weder die formale Logik, noch die Logik der Einzelwissenschaften, noch die transzendentale Logik ist. Die Idee des Systems realisiert sich für Hegel in der dialektischen Selbst- bewegung der Begriffe. Man mag nun alle Einwände, die gegen Hegels dialektische Methode und namentlich gegen ihre Ausar- tungen in seiner Schule erhoben worden sind, von vornherein zu- geben. Daß durch sie zum mindesten ein Problem ersten Ranges gestellt ist, das noch keineswegs als erledigt und abgetan betrachtet werden kann, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen. Wiederum ist bezeichnend, daß die moderne Lebensphilosophie von den ver- schiedensten Seiten aus wie unwillkürlich sich zu den Aufgaben einer dialektischen Logik fortgeführt sieht. Das heißt nicht, daß wir, wie Rickert es als möglich er- klärt, heute erst durch den Hegelianismus hindurchmüssen, ehe wir uns wieder zum selbständigen Philosophieren entschließen. Mit Recht betont Ricker t, daß ein Aufnehmen der Heg eischen Ideen für sich allein ebenso wenig befriedigen könnte, wie die Wiedererweckung irgend eines andern Denkers der Vergangenheit. Aber wenn er hervorhebt, daß auf jeden Fall für die zeitlosen Probleme aus Hegel mehr zu lernen sei als aus Zarathustra, so gilt das nicht nur im Gegensatz, sondern auch im Sinn einer posi- tiven Fortführung der Lebensphilosophie. Denn Hegel war zu- gleich ein Philosoph des Lebens, nämlich des geistig -geschicht- lichen Lebens und ein systematischer Denker und allein schon sein Beispiel beweist, daß die Lebensphilosophie, als „das in Ge- danken gefaßte Bewußtsein ihrer Zeit" begriffen, nicht wesensnot- wendig antisystematisch sein müsse. — Alle diese Bemerkungen schmälern natürlich das große Ver- dienst, das Rickerts Kampfesschrift sich erworben hat, nicht im geringsten. Sie möchten nur dazu anregen, die weitere Dis- kussion auf eine etwas breitere Basis zu stellen und damit die Probleme, um die es sich handelt, in ihrem vollen Umfang her- vortreten zu lassen. Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. Von Else Wentscher (Bonn a./Rh.). Am 7. Januar ist Benno Erdmann, mitten her ans ans um- fassender Tätigkeit, von uns gegangen. Wir Schüler hatten gehofft, ihm zu seinem 70. Geburtstag am 30. Mai die Blätter zu überreichen, in denen wir eine "Würdigung seiner Lehre versuchen wollten; jetzt bleibt uns nur, sie trauernd seinem Gedächtnis zu weihen. Die Fülle der Arbeiten, die wir Benno Erdmann verdanken, gehört den Gebieten der Psychologie, der Logik und der Geschichte der Philosophie an; Prof. E. Becher wird im 'Archiv für die gesamte Psychologie' über das erste Gebiet berichten; für die Logik darf ich auf einen demnächst in den Kant-St. erscheinenden Artikel von Dr. Rieffert verweisen; mir sei gestattet, auf Erdmanns Arbeiten aus dem Gebiet der Geschichte der Philosophie einzugehen. Der vor allem charakteristische Zug dieser seiner Forschung ist wohl die abso- lute Objektivität, die kein Zurechtrücken der Probleme, keine vor- gefaßte Meinung kennt, die mit äußerster, auch die kleinsten Züge erwägender Gründlichkeit dem Gegenstand gerecht zu werden sucht. Damit aber verbindet er den genialen Blick, der — ge- stützt auf umfassendste Geschichtskenntnis — die historischen Ab- hängigkeitsbeziehungen durchschaut und die Persönlichkeiten der Philosophen hineinstellt in die großen Gedanken- und Kulturzu- sammenhänge, denen sie entstammen. Erdmann hat von dieser seiner Methode der Geschichtsforschung mehrfach Rechenschaft gegeben1): weil Philosophie die wissenschaftliche Gesamt- Auffassung des Wirklichen ist, so spiegelt sich in jeder ihrer Perioden der gesamte Wissensbestand, ebenso wie das sittliche und religiöse 1) Vgl. Archiv f. Gesch. d. Phil. Bd. VII p. 342 ff. Ferner das Vorwort zu Erdmanns Ausgabe von Kants 'Prolegomena' und die Einleitung in das von Erd- aoann herausgegebene Tagebuch Berkeleys (Abh. der preuß. Akademie 1919). 140 Else WeDtscher, Bewußtsein der Zeit. Darum muß der Forscher in dem Lehr- bestand eines philosophischen Systems verschiedene Problemlagen unterscheiden: 1) eine Reihe von Voraussetzungen, die unbesehen aufgenommen und fest gehalten werden; durch sie ist das System in die breite Schicht der allgemeinen Überlieferung ein- gebettet. — Dazu kommt 2) eine Problem-Schicht, die der Philo- soph auf Grund kritischer Prüfung akzeptiert, sie entstammt der zeitgenössischen philosophischen und ein zel wissenschaftlichen Er- kenntnis und schließlich der gesamten Kultur der Zeit. Die 3. Problemlage bilden diejenigen Fragen, die der Philosoph selb- ständig weiter führt; diese geben dem System die Höhenlage im Verhältnis zu den andern Systemen. Ist es Sache des historischen Taktes, diese Probleme im Einzelnen zu scheiden, so muß der Forscher aber noch andere Gesichtspunkte bei der Unters achung der philosophischen Systeme anlegen: er muß sie ansehen als sich entwickelnde Ganze, und er hat diese Entwicklung festzu- stellen; wird doch 'ein Philosoph, wie jedes andere Objekt der Geschichte historisch nicht charakterisiert durch die reifste Aus- bildung, die er seinen Gedanken hat geben können, sondern durch die Entwicklungsgeschichte, die ihn zu derselben geführt hat'. Wir werden sehen, wie Erdmann diese methodologischen Forde- rungen in seiner eignen Geschichtsforschung in vollem Maß erfüllt. Aber er leistet mehr, als ihm selbst bewußt wird; er vergißt über der Auffindung der Entwicklungsbedingungen und der großen historischen Zusammenhänge, die wir bei einem Denker feststellen müssen, das Beste nicht : er sucht die Persönlichkeiten in ihrem eigensten Wesen intuitiv zu erfassen, und es ist ihm wie we- nigen gegeben, eines Menschen innerste Seele zu fühlen und, was er erforscht oder innerlich erschaut, in glänzender, lebensvoller Darstellung in Wort oder Schrift zu formulieren. — In dieser Vereinigung von Objektivität, umfassendem historischem Erkennen, tief dringendem Forschen und intuitivem Blick beruhte der eigen- artige Genuß, den seine historischen Vorlesungen und Seminar- stunden boten. — Aber der Gesichtspunkte, die wir für Erdmanns historische Forschung maßgebend finden, sind noch mehr: er sieht die Aufgabe der Philosophie - Geschichte darin , 'die kausale Entwicklung der philosophischen Probleme und ihrer Lösungsver-: suche zu reproduzieren', und in dem Wechsel der philosophischen Systeme den Fortgang zu Höherem zu erkennen. Darum fordert er als notwendige Vorarbeit für die allgemeine Geschichte der Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. 141 Philosophie Monographieen über die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Probleme; darum hat er in seinen Vorlesungen stets eine solche Problem-Entwicklung erkennen lassen, ebenso gibt er in seinen Schriften vielfach sehr wertvolle Andeutungen in dieser Richtung, so z. B. Arch. f. Gesch. d. Phil. VII p. 527 ff. die leitende Idee für die Entwicklung des Kausalproblems von der Scholastik bis zu Hume und Kant. Aus dem Allen ergibt sich ferner, daß Benno Erdmann Geschichte niemals nur mit rückwärts gerich- tetem Interesse betreibt, sondern in lebendigster Fühlung mit den philosophischen Problemen und ihrer Bedeutung für Leben und Wissenschaft. Auch der Historiker läßt stets den selbst von den Problemen lebhaft ergriffenen Philosophen deutlich erkennen. — Aus dieser ganzen Einstellung ergibt sich ihm ferner als einzig berechtigter Standpunkt der Kritik innerhalb der Philosophie- Geschichte derjenige der immanenten Kritik; es gilt nicht, so zeigt er oft, Widersprüche so schroff wie möglich darzustellen, oder sie gar von unsrer eignen Zeit aus hinein zu sehen, sondern begreiflich zu machen, wie dieselben innerhalb jener zeitlichen Bedingungen zu Denknotwendigkeiten werden mußten. Im Mittelpunkt der historischen Untersuchungen Erdmanns steht Kant, dem er weit mehr als ein Menschenalter hindurch die hingehendste Arbeit gewidmet hat. So erforscht bereits die Dissertation des 22 jährigen 'die Stellung des Dinges an sich in Kants Ästhetik und Analytik', und seine erste größere Schrift 'Martin Knutzen und seine Zeit' (Lpz. 1876) gibt neben einem Beitrag zur Geschichte der Wolffschen Schule einen solchen zur Entwicklungsgeschichte Kants. Das Buch schildert das geistige Milieu, aus dem Kant hervorgegangen, den Pietismus und die ebenso schwer wiegende Macht der Leibniz- Wolffschen Schule, deren hervorragendes Glied Kants Lehrer Knutzen war. Es läßt uns — eine glänzende Erfüllung der von seinem Vf. erhobenen methodischen Forderungen — die Problemlage unterscheiden, die Kant vorfand und die Antriebe, die ihm ihre Überwindung not- dig machten, und es legt den Grundstein zur Entwicklungsge- schichte Kants, die Erdmann dann in den Einleitungen zu seiner Ausgabe der 'Prolegomena', sowie zu den aus Kants Nachlaß von ihm erschlossenen zwei Bänden 'Reflexionen' eingehend fortsetzt. Diese Studien stellen auf Grund tief dringender Interpretation, unter Heranziehung der Briefe und Reflexionen, den Werdegang des Kritizismus fest: steht das Denken Kants bis zum Jahre 1760 142 Else Wentscher, fast völlig unter dem Einfluß des Leibniz-Wolffschen Dogmatismus, so bewirken von da ab seine eignen Untersuchungen über die Prinzipien unseres Erkennens, ferner Crusius' Polemik gegen Wolff, Newtons Grundlegung der mechanischen Naturauffassung und die englisch-französische Aufklärung eine Änderung seiner Gedanken, in der Richtung eines 'kritischen Empirismus'. Im Jahre 69 aber erlebt er, nach seinem eignen Urteil, eine neue 'Umkippung'; den inneren Anlaß dazu erblickt Erdmann in dem damals in Kant auf- tauchenden Antinomieen -Problem, das ihn schließlich zum transzendentalen Idealismus führt. Eingehend wird auch das Verhältnis von Hume und Kant von Erdmann erwogen !) und festgestellt, daß die Kritik des Kausal- und des Existenzbegriffes, die wir in Kants vorkritischen Schriften finden, völlig unabhängig von Hume ist, daß dessen Schriften vielmehr erst für ihn wirksam werden, nachdem er selbst die Grundgedanken des transzenden- talen Idealismus gewonnen hat, nachdem also in seinem eignen selbständigen Geist die Problemlage geschaffen war, in der ein solcher Einfluß für ihn fruchtbar werden konnte. Dann aber hat dieser Einfluß Humes auch Kants Übergang zum Kritizismus bewirkt, indem er ihn sicher machte, daß die Kategorieen keinen andern Gebrauch zur Erkenntnis haben als ihre Anwendung auf Erfahrung. — Im Jahr 1878 gab Erdmann zum ersten Mal die 'Kritik der reinen Vernunft' heraus. Diese seine Herausgabe der "Werke 2) und der Reflexionen bieten wiederum ein charakteristisches Bild von der vielseitigen Leistung des Gelehrten: ist die Er- schließung des Textes das Resultat äußerster philologischer Sorg- falt, so spiegelt sich in den ausführlichen Einleitungen, ebenso wie in seinem Buch 'Kants Kritizismus in der 1. und 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft' (Lpz. 1878) der geniale, alle Zu- sammenhänge überschauende Historiker, der alle die Forderungen, die er an die Methode erhebt, glänzend erfüllt. Wir verstehen aus dem vo^ ihm entworfenen Zeitbild, wie die Kritik ihren ersten Lesern als ein 'vollkommen inkommensurables Buch' er- scheinen mußte; wir erleben, wie — infolge der Kontroverse über Lessings Spinozismus — Spinoza erst damals in Deutschland bekannt wird, und wie darum die Wirksamkeit der Philosophie 1) s. auch E.s Artikel 'Hume und Kant um 1762'. Arch. f. Gesch. d. Phil. Bd. 1. 1888. 2) Im Jahre 1884 hat er auch die 'Kritik der Urteüskraft' herausgegeben und eingeleitet. Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. 143 Kants vielfach vermischt ist mit den aus Spinoza stammenden An- trieben (Schelling), und wir überzeugen uns, wie in den 'Prolego- mena' eine zweifache Redaktion vorliegt , die beide entstanden sind auf Grund der Aufnahme und der ersten Rezension, die Kants Hauptwerk gefunden hatte1). In Rücksicht auf die zeit- geschichtliche Problemlage gibt Erdmann eine eingehende Analyse der Kritik der reinen Vernunft; sie zeigt, unterstützt durch Briefe und Aufzeichnungen, daß der kritische Gedanke, die Grenzbe- stimmung unseres Erkennens durch das Gebiet möglicher Erfah- rung, für den Philosophen selbst den Schwerpunkt seines Systems bildet (vergl. auch die Einleitung des Herausgebers zur Krit. d. Urteilskraft). — In der Akademie- Ausgabe der Werke Kants hat Benno Erdmann die 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, die erste, sofern sie von jener abweicht, und die 'Prolegomena' herausgegeben. — Mit zwei tief durchdachten Kant gewidmeten Untersuchungen hat er uns noch in den letzten Jahren beschenkt : die eine bietet eine 'Kritik der Problemlage in Kants transzendentaler Deduktion der Kategorieen' 2), die andere sucht, 'die Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft' herauszuschälen. Das Problem der transzen- dentalen Deduktion, so zeigt Erdmann, hängt an den Kate- gorieen. Noch in der Dissertation von 1770 hatte Kant ange- nommen, daß unsere Verstandesbegriffe die Dinge erfassen, wie sie an sich sind. Im Brief an M. Hertz vom Februar 72 aber wirft er die Frage auf: wodurch werden uns denn jene Dinge gegeben, wenn nicht durch die Art, wie sie uns affizieren? Und wenn unsere intellektualen Vorstellungen auf unserer inneren Tätigkeit beruhen, woher kommt dann ihre Übereinstimmung mit Gegen- ständen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden? Hier haben wir also das Kategorieen - Problem in statu nascendi. Seine Lösung aber ist in den verschiedenen Redaktionen, in denen sie vorliegt, stets dieselbe: die Dinge an sich werden durch die Kategorieen zwar als Gegenstände gedacht, aber nicht er- kannt, weil unser Erkennen auf das gegebene Mannigfaltige der Sinne angewiesen und somit an die Grenzen der Erfahrung ge- bunden ist. — Wiederum macht Erdmann diesen Gedankengang 1) Vergl. auch B. Erdmann, 'Historische Untersuchungen über Kants Pro- legomena'. Halle 1904. 2) Sitzungsberichte der Preußischen Akademie 1915. 3) Abhandlungen der Preußischen Akademie 1917. 144 Else Wentschet, des Philosophen verständlich, indem er die historischen Vor- aussetzungen aufsucht, die sich darin bekunden: es ist zunächst die Überzeugung, daß das Mannigfaltige der Sinnlichkeit unab- hängig von der Synthesis des Verstandes gegeben sei, daß uns somit Gegenstände erscheinen können, ohne sich notwendig auf Verstandesfunktionen zu beziehen. Da die transzendentale Ästhetik aber erwiesen hatte, daß unsere Anschauungen nichts als Vorstellungen von Erscheinungen sind, so ist dieses Ergebnis, also der transzendentale Idealismus, die erste Voraus- setzung der Deduktion. Daraus aber ergibt sich sofort als zweite eine realistische Voraussetzung: aus dem Begriff einer Er- scheinung folgt, daß ihr etwas entsprechen müsse, was erscheint, es folgt somit das Vorhandensein von für uns freilich unerkenn- baren Dingen an sich. Ja es bleibt für Kant Voraussetzung, daß die Beziehung der Erscheinungen zu den Dingen an sich als kausale zu deuten sei. — Eine dritte Voraussetzung der transzen- dentalen Deduktion ist die tief in Kants Denken wurzelnde ra- tional-metaphysische Überzeugung, daß unsrer ratio apriorische Bedingungen eigen seien, die das Seiende als solches erfassen- Stammt dieser Gedanke aus der Leibniz - "Wölfischen Metaphysik, so wird die Überlieferung doch bei Kant dahin modifiziert, daß wir nur im reinen Denken die Dinge an sich erfassen , wäh- rend unser Erkennen durch die Anschauung und Erfahrung be- grenzt ist. Durch diese Scheidung von Erkennen und Denken überwindet Kant den Rationalismus also nur für das erstere und somit nicht völlig; vielmehr liegt seinem Kritizismus des Erken- nens ein Dogmatismus des reinen Denkens zu Grunde, der ihn nicht zweifeln läßt an der Existenz einer intelligiblen Welt von Substanzen. Eine vierte sachliche Voraussetzung der transzendentalen Deduktion ist die metaphysische Deduktion, die gegründet ist auf den Gedanken, daß der Verstand durch eben die Handlung, in der er verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil Einheit gibt, auch die allen Urteilen vorausgehende einheitliche Synthesis unsrer Vorstellungen zu Gegenständen überhaupt erst möglich macht. — Die letzte Voraussetzung aber ist eine methodologische: seine transzendentale Methode, die beeinflußt ist vom Logismus der Leibniz-Wolffschen Schule, und die im Gegensatz steht zum Psychologismus der Engländer. — Alle diese Voraussetzungen der transzendentalen Deduktion zeigen, daß in ihr die uralten philosophischen Gegensätze des Eationa- Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. 145 lismus und Empirismus vereint sind. Aber Kant bietet nicht, wie etwa die Aufklärung, eine eklektische Verbindung beider Gedankengänge, sondern eine originale Synthese, in der die philosophischen Systeme Glied für Glied in der Tiefe aufgewühlt und zu einem einheitlichen Ganzen verbunden werden. Auf diesem Wege hat Kant die Aufklärung überwunden. — In einer im Jahr 1917 erschienenen Akademie-Abhandlung sucht Erdmann 'die Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft', in tief eindringender Analyse heraus zu schälen. Er folgt dabei dem Wink, den Kant uns in der 'Architektonik der reinen Vernunft' gegeben hat, die gestaltende Idee eines Systems aus seinem Aufbau, aus der als Einheit gedachten Form des Ganzen zu suchen. Aus dieser Auffassung der 'Idee' eines Werkes ergibt sich, daß sie nur in einem solchen Gedanken gesucht werden kann, der das Lehr- gebäude durchgängig gestaltet, und der für alle seine Teile maßgebend ist. An diesem Maßstab gemessen,, scheiden drei Auf- fassungen aus, die wiederholt als Idee der Kritik der reinen Ver- nunft in Anspruch genommen worden sind: 1) die Frage 'wie sind synthetische Urteile a priori möglich?' Denn sie ist im Ver- hältnis zum Ganzen der Vernunftkritik untergeordnet. Darum fällt aber auch 2) der häufig dafür in Anspruch genommene Ver- gleich, in dem Kant seine Revolution des Denkens der Tat des Kopernikus gleichstellt, als solche durchgehende Idee weg; denn er hat — trotz alles Treffenden des Bildes — für den Aufbau des Ganzen zu wenig Bedeutung. Diese kommt dagegen dem Grundgedanken der transzendentalen Logik zu, er ist bestimmt lediglich von der reinen Vernunft selbst, denn er sucht nur die apriorischen Prinzipien auf. Zur Seele des gesamten Schematismus aber wird in allen drei Kritiken die Kategorieen- Tafel, die für den Aufbau der Analytik wie der Dialektik maß- gebend wird. Und hinzukommt die ethische Bestimmung der reinen Vernunft, wonach die Ethik der letzte Zweck der Meta- physik, und der Kritizismus somit die Grundlage für den Ausbau der Ethik ist. Dieser Aufbau des Ganzen zeigt also, daß die 'reine Vernunf ' mit nichts als mit sich selbst beschäftigt ist' ; er erweist, daß die transzendentale Dialektik das eingehend spezia- lisierte, kritisch gegen die dogmatische Metaphysik gerichtete Er- gebnis der Analytik ist; aber er zeigt sie außerdem ergänzt, und zwar spekulativ durch die Vernunft-Ideen und praktisch durch den Hinweis auf den letzten ethischenZweck aller Metaphysik. KantstudieD. XXVI. 10 146 Else Wentscher. — Haben wir so das Schema der transzendentalen Logik gewonnen, so müssen wir, um dasjenige des Gesamt Werkes zu finden, auch das Schema der transzendentalen Ästhetik berücksichtigen. Auch dieses zeigt die reine Vernunft als mit sich selbst beschäftigt; denn auch die Ästhetik sucht die apriorischen Bestandteile unseres Erkennens auf, und ihr Ergebnis, der transzendentale Idealismus, bildet den allein möglichen Boden für die transzendentale Logik, nämlich für die Deduktion der Kategorieen, die 'der syste- matisch und entwicklungsgeschichtlich bedeutsamste Teil' des Kri- tizismus ist. Ihr Prinzip, daß die Kategorieen 'als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden müssen', macht die in ihr liegende Theorie der Erfahrung zum Grundgedanken der Vernunfterkenntnis a priori. — Das Gesamtschema der Kritik bestätigt somit die Erklärung Kants, daß sie der 'Idee der systematischen Einheit der reinen Vernunft in synthetischer Konstruktion entnommen ist und auf die Kritik der reinen Ver- nunft abzielt. Lediglich in einer genaueren Bestimmung dieser Kritik, ihres Objekts und ihrer Methode haben wir demnach die Idee des Werks zu suchen' (p. 56). Und wir dürfen — nach Allem — sagen, daß diese Idee in dem auf der Grundlage des transzendentalen Idealismus geführten Beweis liegt, 'daß der spekulative Erkenntnisgebrauch der Vernunft, der sich in der Idee der Metaphysik realisiert, niemals weiter als bis zu den Grenzen möglicher Erfahrung reicht'. — Erdmann beleuchtet auch hier wieder das Neue der Leistungen Kants, indem er es einstellt in den großen historischen Zusammen- hang : die Scheidung der beiden Stämme unsres Erkennens in Spon- taneität und Rezeptivität geht zurück bis in die Anfänge der abend- ländischen Philosophie; eigentümlich für Kant aber ist innerhalb dieser Scheidung, daß auch die Rezeptivität, die Sinnlichkeit, aprioristische Momente enthält. Kants intelligibles Apriori, also dasjenige der Spontaneität, ist ein Glied der Lehre von den angeborenen Ideen, die bis auf Piatos avd[ivr]öig zurückgeht. Inso- fern gehört Kants Kritizismus in die Richtung eines 'genetischen Rationalismus' hinein. Von dem überlieferten Rationalismus aber scheidet ihn die metaphysische Zurückhaltung; sie verbietet ihm, irgendwelche angeborenen Erkenntnis -Inhalte anzunehmen; nur angeborene Formen des Anschauens und Denkens kennt er. — Wenn wir Benno Erdmanns Kant-Forschung überschauen, so finden wir sie durch alle die Züge ausgezeichnet, die wir ihren Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. 147 Urheber selbst von einer fruchtbaren Behandlung der Philosophie- Geschichte fordern sahen; sein Name wird in der deutschen For- schung mit dem Kants dauernd verbunden bleiben. Aber Erd- manns historische Studien gelten auch noch andern Geöieten, wie wir leider nur noch andeutend erwähnen dürfen. In dem von ihm mitbegründeten 'Archiv für Geschichte der Phil.' hat er längere Zeit den Jahresbericht über die historische Literatur geschrieben; diese Arbeiten, die vielfach mehr den Charakter von selbständigen Artikeln als von Referaten bewahren, haben bleibenden wissen- schaftlichen Wert1); denn Erdmann hat niemals nur kritisiert, sondern er hat auch da, wo er (zuweilen scharf!) absprach, immer zugleich gezeigt, wie die verfehlte Aufgabe gelöst werden müßte. In diesem Zusammenhang hat er besonders dem englischen Empi- rismus oft sein Interesse gewidmet, so hat er (Archiv II) gezeigt, daß Locke zwar auf Descartes beständig polemisch Rücksicht nimmt, daß im übrigen aber seine Gedanken mehr den positiven Einflüssen entstammen, die von Baco und Hobbes, sowie von Galilei und Newton auf ihn übergegangen sind. Dem Empiristen, der Erdmann vor allem kongenial war, Berkeley, hat er noch in den letzten Jahren hingebende Arbeit gewidmet, indem er sein Tagebuch aufs neue erschlossen, herausgegeben und eindringlich erläutert hat 2). Auch diese Darstellung von Berkeleys Philosophie im Lichte seines wissenschaftlichen Tagebuchs zeigt uns Erdmanns Forschergaben noch einmal deutlich: die ins Einzelste gehende philologische Sorgfalt — den historischen Weitblick, der den Denker und die Probleme im Zusammenhang der objektiven Entwicklung darstellt und das tief eindringende Verständnis, das uns die Seele dieses feinsinnigsten Engländers erschließt und uns für ihn ge- winnt. Erdmann zeigt, daß die leitenden Ideen des wissenschaft- lichen Tagebuchs von Berkeley wurzeln in einer religiös moti- vierten Umdeutung der empiristischen Lehren Lockes ; er läßt uns in diesen Gedanken die Reaktion gegen den Rationalismus der Spät- Scholastik innerhalb der neueren Philosophie erkennen, die das ganze 17. Jahrhundert durchzieht, und er weist vordeutend auf die Gedankenkette hin, die Berkeleys kritische Reflexionen zum Kausal- problem, zum Substanz- und Existenzbegriff verknüpft mit der 1) Dringend erwünscht wäre eine Herausgabe von Benno Erdmanns 'kleinen Schriften !'. 2) Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1919. 10* 148 Else Wentscher, Kritik von Hume. Als innersten Anteil seines Denkens aber er- weist auch das Tagebuch: das christlich - religiöse Bewußtsein; darum erinnert Berkeley auch in diesem Licht an Denker wie Pascal unä Malebranche. — Auch zu Descartes, Leibniz und Spi- noza hat Erdmann, im Archiv wie in Einzel-UntersuchuDgen, wert- volle Aufschlüsse gegeben1). Immer wieder zeigt er die Bezie- hungen auf, die die neuere Philosophie verbindet mit dem Funda- ment, aus dem sie hervorgegangen, der Scholastik, und anderer- seits mit den seit Ende des 16. Jahrhunderts aufblühenden Me- thoden exakter Forschung. — Aber nicht nur auf die Beziehungen zur Vergangenheit weist Erdmann hin; in lebendiger Darstellung zeigt er auch die Wege, die von den großen philosophischen Systemen zu unserer Gegen- wart führen. So stellt er in den mitten im Krieg in der Akademie gesprochenen 'Gedächtnisworten auf Leibniz' uns das Versöhnliche dieses Genius vor Augen, der in allen Wirrnissen und Enttäuschungen seines Lebens den Glauben an das Gute in der Menschheit hochgehalten hat, und dem es innerste Überzeugung war, daß nicht Streit und Haß, sondern Versöhnung der unvermeidlichen Gegensätze der Vater aller Dinge ist. Und eingehend erörtert er wiederum vor allem (in der 'Kritik der Problemlage in Kants transzendentaler Deduktion') die kritische Stellung, die wir auf Grund modernen Erkennens zu Kant einnehmen. Was uns vor allem von ihm trennt, ist die Tatsache, daß Kant dem uns heut beherrschenden Entwick- lungsgedanken noch völlig fernsteht. Denn unannehmbar wird aus diesem Grunde für uns die Voraussetzung, daß es ein sinnen- freies Denken, eine 'reine Spontaneität', eine nicht letzlich aus Er- fahrung abzuleitende apriorische Bedingung der Erfahrung über- haupt geben könne. Und damit fällt die weitere Voraussetzung Kants dahin, daß unser Erkennen sich aus zwei nicht auf ein- ander zurückführbaren Stammen aufbaue, und mit dieser zugleich die Scheidung in eine sinnliche und eine intelligible Welt. Unannehmbar ist von Kants Gedanken für uns ferner die Voraus- setzung, daß wir im reinen Denken das Seiende an sich erfassen ; wir haben darin eine aus der Überlieferung stammende 'metaphy- sische Resterscheinung' zu erblicken. Trennend steht zwischen 1) Vergl. auch : B. Erdmann, 'Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas'. (Genethliakon Berlin 1910.) Ders.: 'Gedächtnisworte auf Leibniz'. Sitzg.-Berichte der Preuß. Akademie 1916. Benno Erdrnann als Historiker der Philosophie. 149 Kant und uns auch das Moment, daß er die Mitwirkung der Außenwelt an der Bildung unseres Intellekts nicht genügend anerkennt; er betrachtet sie zwar als 'Gelegenheitsursache' für das Eintreten der Funktionen der Synthesis, aber auf die Frage: 1 woher stammt der spezielle Inhalt unserer Empfindungen?' weiß er nur die Antwort: aus der intelligiblen Kausalität der Dinge an sich, die doch andrerseits unerkennbar sein sollen. So versagt Kants Kritizismus bei dem Versuch, die objektiven Bedingungen begreiflich zu machen, die die allgemeinen subjektiven Bedingt- heiten unsres Erkennens zu dem Bestand unsrer Erfahrung formen. — Und welche Stellung haben wir, vom Gesichtspunkt modernen Erkennens aus, zu Kants Ethik einzunehmen ? Benno Erdmann gibt darüber Rechenschaft in dem Akademie- Vortrag : 'Kants Ethik und der moderne PflichtbegrifF *) : Kants Erhebung des sittlichen Bewußtseins in ein 'Reich des Absoluten' dürfen wir nur als den gedankentiefen Versuch auffassen, das Idealbild einer vollkom- menen Sittlichkeit 'in die Realität einer absoluten Wirklichkeit' zu verwandeln. Aber wir müssen uns bewußt bleiben, daß das Sittengesetz nicht aus der intelligiblen Eigenart der Vernunft überhaupt stammt, sondern aus der psychologischen Natur des Menschen, aus unserm Gemeinschaftsbewußtsein. Demgemäß haben wir den guten Willen, den wir mit Kant als Verkörperung der Sittlichkeit ansehen, inhaltlich zu bestimmen; und wir müssen ihn fassen als einen Willen, der zu jedem möglichen sittlichen Zweck angemessen ist. Als solchen aber können wir wiederum nur einen Zweck ansehen, der der sozialen Gemeinschaft dient, der sie stärkt und sittlich hebt. So müssen wir an die Stelle der von Kant gemeinten und nicht erreichbaren absoluten Ver- bindlichkeit des Pflichtbegriffes, die erfahrungsmäßig bedingte setzen, die in der Einschränkung auf unsre empirische Natur und die soziale Gemeinschaft gegeben ist. Und wir müssen ferner, wie schon Schleiermacher gezeigt hat, dem zu allgemein gefaßten Pflichtbegriff Kants ein individualistisches Moment einfügen; denn die Pflicht bindet jeden nach Maßgabe seiner Eigenart. — Unser modernes Erkennen ist aber endlich von Kant geschieden durch die Gewißheit, daß Neigung und Pflicht nicht in so schroffem Gegensatz stehen, wie er gemeint; denn unsre sozialen Gefühle 1) Deutsche Rundschau 1917. August-Heft. — Vergl. auch die Rede bei der Säkular-Feier : 'Immanuel Kant'. Bonn 1904. 150 ElseWentscher, Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. sind nicht die geschworenen Gegner, sondern wenn sie richtig ge- leitet sind, die natürliche Basis des sittlichen Bewußtseins. Mit diesen Modifikationen gewinnen wir die dem Wissen nnd Fühlen der Gegenwart entsprechende Fassung für Kants Idee der Sittlichkeit, den Pflichtbegriff. — Hat Benno Erdmanns historische Forschung uns ein allseitig fundiertes lebensvolles Bild von Kants Philosophie und seiner überragenden Persönlichkeit gezeichnet, so hat er, am Schluß dieser Lebensarbeit — gleichsam als Vermächtnis — uns auch die Wege gewiesen, die uns heut, trotz alles Trennenden, doch wieder zu Kant hinführen. Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström1). Von Beinhold Geijer (üppsala). Am 22. März 1866 starb als emeritierter Professor der bei weitem berühmteste und einzige schulbildende Philosoph Schwedens. Zahlreiche pietätvolle Schüler haben die philosophische Welt- und Lebensanschauung ihres Lehrers vom akademischen Katheder oder auch sonst in Wort und Schrift vertreten und weiter verbreitet. Auch haben sie BostrÖmsche Gesichtspunkte, Gredanken und An- deutungen mehr oder weniger frei und selbständig, daher bis- weilen voneinander etwas abweichend, weiter entwickelt und sie auf so verschiedene und anscheinend peripherische Gebiete wie die kirchlich - dogmatische Theologie, die positive Rechtswissen- schaft und die praktische Politik angewandt. Ja, sogar Dichter vom Range eines Viktor Rydberg und C. D. af Wirsen haben sich von dem hohen Flug und dem weiten Horizont der Boström- schen Gedankenwelt ergreifen und beeinflussen lassen. Der Bo- strömianismus (im weitesten Sinne) hat schon über zwei Menschen- alter hindurch einen mitwirkenden, ja auf seine Art bestimmenden Faktor im schwedischen Kulturleben gebildet. Oder wenigstens, um nicht zu viel zu sagen, einen starken Einschlag in der höheren 1) Der Aufsatz ist 1916 ursprünglich für die schwedische Zeitschrift „Ord och Bild" geschrieben worden, wo auch 1897 zur Hundertjahrfeier des Geburts- tages des Philosophen, 1. Januar 1797, ein ähnlicher Nachruf von Allen Vanne'rus erschienen war. Diese gekürzte Übertragung ist 1917 von H. Trau, Bremen, sprachlich und von D. Mahnke, Stade, sachlich bearbeitet worden. Das schwe- dische Original enthält mehrere interessante Abbildungen von Boström, seinem Geburtshaus in Pitea, seinen Wohnungen und seinem Grabmal in Uppsala, die hier leider nicht wiedergegeben werden können. 152 Rcinhold Geijt r. geistigen Bildung des schwedischen Volkes. Und ich will hinzu- fügen, dieser Einschlag besteht noch jetzt und dürfte erst nach langer Zeit, wenn überhaupt je, seine Aktualität und Bedeutung verlieren, obschon er natürlich nicht mehr dieselbe dominierende Rolle spielen kann wie in der Glanzperiode der „Boströmschen Schule" kurz nach des Meisters Tod. Von seinem philosophischen System hat Boström uns keine vollständige und im einzelnen ausgeführte Gesamtdarstellung schriftlich hinterlassen. Von ihm selbst im Druck herausgegeben ist nur folgendes: 1) Ein später auch selbständig erschienener Lexikonartikel „C. J. Boström och hans filosofi" ; 2) eine Reihe lateinischer Dissertationen, von denen die ungleich wichtigste seine Professorarbeit vom Jahre 1841 ist: „De notionibus religionis sapientiae ac virtutis earumque inter se nexu", sowie einige ur- sprünglich ebenfalls zu Disputationsthemen für philosophische Kandidaten bestimmte „Satser om lag och lagstiftning" (Sätze über Gesetz und Gesetzgebung); 3) schematische „Grundlinier tili den philosophiska statslärans propaedeutik", „Gr. tili den philo- sophiska statsläran", „Gr. tili den phil. civilrätten" (Grundlinien zum phil. Zivilrecht), bestimmt für den Gebrauch seiner Hörer; 4) Rezensionen und kleinere Aufsätze in Zeitschriften über reli- giöse und politische Fragen, sowie zwei stark polemische, aufsehen- erregende Broschüren über ähnliche Themen: „Anmärkningar om helvetesläran" (Anmerkungen zur Lehre von der Hölle, „unsern Theologen und Pastoren ernsthaft vorzuhalten", 1864) und „Aro Rikets Ständer berättigade att för Svenska Folket besluta och fastställa det nu hvilande sä kallade representations förslaget?" (Sind die Reichsstände berechtigt, für das schwedische Volk den jetzt vorliegenden sogenannten Repräsentations Vorschlag zu be- schließen und festzustellen ? — 1865.) In die von H. Edfeldt und G. J. Keijser in drei umfangreichen Bänden herausgegebenen „Skrifter af Christopher Jacob Boström" sind aus seinem literarischen Nachlaß außer den erwähnten auch „Grundlinier tili philosophiens propaedeutik, tili philosophiska reügionsläran" und „tili philosophiska criminalrätten" sowie ein „Schema av philosophiens historia" mit aufgenommen. Und später sind ältere und jüngere Nachschriften von Boströms Vorlesungen über Religionsphilosophie und Ethik besonders herausgegeben worden1). 1) 1916 hat Gustaf Klingberg in den Schriften des „K. humanistiska veten- Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 153 So zersplittert und schematisch formuliert, wie Boströms Philosophie zunächst vorliegt, könnte es scheinen, als ob man hier nicht von einem philosophischen „System" reden dürfte, sondern höchstens von Entwürfen zu einem solchen. Und doch zeigt sich bald bei einem nicht gar zu oberflächlichen Studium von Boströms Schriften, daß diese sämtlich von denselben Ge- sichtspunkten, letzten Voraussetzungen und höchsten Intentionen beherrscht werden und stets die gleichen Grundgedanken, nur von verschiedenen Seiten, beleuchten. Und wenn wir freilich kein gleichmäßig durchgearbeitetes, abgeschlossenes Ganzes bekommen haben (wo finden wir überhaupt ein solches? Stückwerk ist jeder philosophische Gedankenbau wie alle andern menschlichen Schöpfungen), so können wir doch ohne Übertreibung sagen, daß wir hier dem in einfachem, großem Stil entworfenen Grundriß einer wie aus einem Guß geformten Welt- und Lebensanschauung gegenüberstehen. IL Die allgemeine Art von Boströms Philosophie pflegt man nach seinem eigenen Vorgange als Idealismus zu bezeichnen. Und ihren eigentümlichen Charakter, ihre „difFerentia specifica" im Unter- schied von anderen geschichtlich gegebenen Formen des Idealismus, hat er selbst durch die Benennung als rationalistischen oder kürzer „rationellen Idealismus" angegeben. Allein beide Worte sind schon längst abgenutzt, daher zu schwebend und nichtssagend, um allein für sich genommen noch als wissenschaftliche Termini brauchbar zu sein. Im gewöhnlichen Leben verwendet man das Wort Idealismus meist in praktischer oder, allgemeiner, axiologischer Bedeutung. In der Philosophie dagegen gebraucht man es rein theoretisch zur Bezeichnung einer ontologischen Grundanschauung über „das wirklich und wesentlich Seiende", über das „An sich" im Gegen- satz zur „sinnlichen Erscheinungswelt". Im weitesten Sinne ver- steht man unter ontologischem Idealismus jeden Immaterialismus, der die raumerfüllende Körperlichkeit als Phänomen einer un- körperlichen Wirklichkeit betrachtet. Diese Negation kann nun auf zwei Weisen mit positivem Inhalt erfüllt werden. Der objektive Idealismus wird typisch dargestellt durch Piatons ßkaps förbund" die letzten „föreläsningar i etik" nach seinen (Klingbergs) eigenen, sehr vollständigen Aufzeichnungen herausgegeben. 154 Reinhold Geijer, Ideenlehre, wie diese gewöhnlich aufgefaßt wird. Danach ist das wahrhaft nnd wesentlich Seiende eine Welt zeitloser Gedanken- dinge, ein „hypostasiertes" System nnsinnlicher Begriffsinhalte, während die räumlich-zeitlichen Sinnendinge für bloße „Schatten- bilder" der ewigen Ideen erklärt werden. Auch Hegels „Pan- logismus", nach dem der letzte Grund und das innerste Wesen des Weltgeschehens ein sich mit dialektischer Notwendigkeit ent- wickelnder Gedankenprozeß ist, gehört hierher. Der subjektive Idealismus dagegen, der erst in der neueren Philosophie un- zweideutig hervorgetreten ist, könnte auch Panpsychismus oder Spiritualismus, noch besser Mentalismus oder Personalismus ge- nannt werden. Er geht aus von unserm Selbstbewußtsein, dem Ich als dem einheitlichen Subjekt aller seiner Wahrnehmungen und Gedanken, Gefühle und Willensäußerungen, und mündet in die Überzeugung aus, daß es re Vera nichts geben kann als eine An- zahl ähnlicher Subjekte und Geister, die zu einander in rein inner- lichen oder geistigen Beziehungen stehen, daß also alles Körperliche und Leblose als solches nur Erscheinung dieser Geisteswelt in und für unsern endlichen Geist, nur unsere „Idee" (in erweitertem Sinne, d. h. unser Vorstellungsinhalt) sein kann. Der Mentalismus hat seine klassische Formung in Leibnizens „Monadenlehre" er- halten. Er begegnet uns weniger allseitig, aber in einer be- stimmten Hinsicht weiter ausgeführt wieder in Berkeleys Polemik gegen jeden Ganz- oder Halbmaterialismus. Und eine Art des Mentalismus, nämlich radikaler Phänomenalismus, ist auch Kants sog. kritischer oder transzendentaler Idealismus, dessen eigentlicher Kern die Lehre von Zeit und Raum als apriorischen Formen unserer sinnlichen Anschauung ohne jede transzendente (oder trans- subjektive) Anwendbarkeit ist. Hiermit sind nun auch Boströms nächste Gesinnungsgenossen, besonders in Deutschland, erwähnt, zugleich die einzigen Philo- sophen (außer Piaton sowie seinen schwedischen Lehrern Biberg und Grubbe), auf die er sich nach Überwindung seiner schellin- gisierenden Jugendperiode noch beruft und mit denen er sich kritisch auseinandersetzt. Seine unverkennbare Verwandtschaft mit Leibniz hat er öfters betont. Auf Kants Lehre von der „transzendentalen Idealität" oder bloß phänomenalen Bedeutung und Gültigkeit des' Baumes und der Zeit verweist er wiederholt. Und den bei weitem wichtigsten seiner vielen „Beweise für die absolute Notwendigkeit und Wahrheit des Idealismus" baut er Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 155 auf den Berkeleyschen Satz : esse est percipi, nur seinerseits hin- zufügend: et vice versa. „Att vara är att förnimmas och att förnimmas är att vara; bügge uttrycken hava samma betydelse och omfattning" — d. h. Sein ist Vorgestellt- werden (im allerweitesten Sinne dieses Wortes) und umgekehrt; beide Ausdrücke haben dieselbe Bedeutung und denselben Umfang — so lautet schon § 4 in Boströms Grundlinien zur Propädeutik der philosophischen Staatslehre. Sein und Vor- gestellt-werden, will er sagen, sind äquipollente Begriffe, wenn man beide in voller Allgemeinheit nimmt. Dies ist ihm ganz selbstverständlich, denn alles Seiende muß für jemanden sein, wenn nicht für sich selbst, so wenigstens für einen andern; „Für -jemanden -Sein" aber ist dasselbe wie Von -jemandem -Vor- gestellt-werden ; und auch umgekehrt, alles irgendwie, klarer oder dunkler, Vorgestellte (perceptum) ist eo ipso auch gleichermaßen für den Vorstellenden (percipientem), sei es nun für seine Sinne, seine Erinnerung, seine Phantasie oder seinen Verstand, und wäre es auch nur als eine abstrakte Denkmöglichkeit oder, in Herbarts Terminologie, als „unter die Schwelle des Bewußtseins Gesunkenes". Denn alles das sind ja nur verschiedene, höhere oder niedere Formen dessen, was man im Schwedischen unter der gemeinsamen, zugleich aktivischen und passivischen Benennung „förnimmande", lateinisch percipere oder percipi, deutsch „Vorstellung im weitesten Sinne" zusammenfaßt. Bei Boström hat also das Wort percipi einen viel größeren Umfang als bei Berkeley, der nur nach dem esse körperlicher Dinge fragte und dieses für eine Mannigfaltigkeit von Sinneswahrnehmungen oder Sensationskomplexen erklärte. In Boströms Axiom über die Identität von Sein und Vor- gestellt-werden (das Vannerus offenbar mit dem „archimedischen Punkte" des Systems meint) liegt implicite die Voraussetzung eines vorstellenden Subjekts. Jede (konkret und individuell be- stimmte) Wirklichkeit besteht aus vorstellenden (perzipierenden) Wesen und ihrem Vorstellungsinhalt, oder schlechtweg aus „Gei- stern und ihren Vorstellungen". (In der lateinischen Disser- tation „De notionibus religionis etc." verteidigt Boström ausführ- lich die Lehre de unitate perceptionis et percepti ; z. B. in Buch 2, Kap. 2: „etenim hoc nos urgemus et contendimus, nihil quidquam esse et percipi praeter mentem et perceptionem, vel potius nihil esse et percipi, quod non sit perceptio; nam et mens ipsa sibi 156 Rein hold GMjex, perceptio est".) *). Wieder an andern Stellen läßt Boström die wahre Wirklichkeit aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit von mehr oder minder vollkommnen „Formen des Lebens und Selbst- bewußtseins" bestehen — auch zwei äquipollenten Begriffen, die sich nach Boström „nicht mehr von einander unterscheiden als z. B. das Licht vom Leuchten oder die Kraft von der Wir- kung". Er nimmt nämlich einerseits das Wort „Selbstbewußtsein" oder „conscientia" in so weitem Sinne, daß es nicht nur das aktuelle Bewußtsein von sich selbst (conscientia sibi sui), sondern das gemeinsame Prinzip oder erste und einfachste Ingredienz alles, auch des unbewußten oder „unterbewußten" Vorstellungs-, und somit alles psychischen Lebens überhaupt 2) umfaßt. Und anderer- seits erkennt er kein anderes Leben an als das innere, geistige oder psychische Leben. Denn, so argumentiert er, zwar äußert sich das Leben in der Erscheinungswelt immer als spon- tane Bewegung oder überhaupt Tätigkeit, aber dabei ist das Wesentliche- nicht die Bewegung oder Veränderlichkeit, sondern die Spontaneität oder Selbständigkeit der Veränderung; jede Selbständigkeit aber setzt notwendig ein „Selbst" oder ein „Ich" voraus. Ausdrücklich definiert er den Idealismus als „die Form der Philosophie, die das Absolute als Idee, d. h. geistig, und in seiner höchsten Form als Geist, faßt und die körperlichen Dinge als Erscheinungen des Geistigen ansieht". Damit dürfte klar genug bezeugt sein, daß Boströms ontologische Grund- anschauung als Spiritualismus oder Mentalismus bezeichnet werden muß. 1) Wenn Boström wirklich — was ich bezweifle — den subjektiven Per- zeptions- (resp. Wahrnehmungs- oder Denk-) Akt und dessen objektive Inhalts- bestimmtheit hätte vorbehaltlos identifizieren und beides für synonym erklären wollen, so wäre das recht übereilt und logisch unhaltbar gewesen. Zumindest könnte es durch Operation mit einer latenten „quaternio terminorum" zu irre- führenden Schlußfolgerungen verwandt werden. Vgl. meine Schrift „Filosofiens historiska huvudformer. I. Skiida världsförklaringar", Uppsala 1916, S. 136—144. 2) Wenn Boström dieses psychische Leben gewöhnlich nur aus Vorstellungen oder Perzeptionen bestehen läßt, so mag dies zwar von einer intellektuellen Ein- seitigkeit zeugen, tatsächlich sind darin aber Gefühle und Willensäußerungen ein- begriffen. Die ersteren werden von B. (in einer psychologisch freilich recht unbefriedigenden Weise) als „dunkle Vorstellungen" definiert. Und schon in der eben erwähnten lateinischen Dissertation wird an der betreffenden Stelle (Buch 1, Kap. 3) beiläufig angedeutet, unsere „perceptiones" könnten auch „praeterea determinatae" sein, u. a. als „volitiones et cupiditates et actiones". Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 157 Hiergegen bedeutet es wenig, wenn er bestimmt allen „sog. subjektiven Idealismus" abgelehnt hat. Denn in diesen Terminus legte er wie Kant den Sinn hinein, daß „alles, was wir wahr- nehmen, nur als eigene Fiktion des Geistes anzusehen sei", und bezog sich dabei wie Kant in erster Linie auf Berkeley, dessen einseitigen Idealismus sie beide mit oder ohne Grund als einen zum theoretischen Egoismus oder Solipsismus neigenden Illusio- nismus deuteten. Aber auch Kants eigenen „kritischen Idealismus" findet Boström unausgereift, insofern dieser mit seiner Rede von dem (theoretisch) unerkennbaren „Ding an sich" bei einem meta- physischen Agnostizismus landet. Boström dagegen will gel- tend machen, daß alles, was von uns wahrgenommen oder gedacht, kurz, was überhaupt vorgestellt wird und insofern „in unserm Geiste ist", nicht bloß „an sich", sondern „an und für sich" sein, demnach von sich selbst wahrgenommen oder gedacht werden und ein höheres oder niederes Maß eigenen, von unserm endlichen Bewußtsein unabhängigen „Lebens oder Selbstbewußtseins" haben muß. Er faßt also Kants „Welt der Dinge an sich" positiv als eine in sich zusammenhängende, dem endlichen Menschengeist zugleich transzendente und immanente Geisterwelt. Dieser sein Standpunkt ist über jede einseitig subjektive oder agnostisch negative Form des Idealismus prinzipiell ebenso erhaben wie über den ausschließlich objektiven Gedankengang, der mit oder ohne Grund in Piatons Ideenlehre *) hineingelegt wird. Und als eine solche höhere Synthese dieser geschichtlich gegebenen Einseitig- keiten dürfte Boström mit einem gewissen Rechte seine eigene Philosophie „den absoluten Idealismus" nennen. Auf sein Ver- hältnis zu Piaton werden wir noch einmal zurückkommen. Ehe ich aber weitergehe, kann ich nicht unterlassen, daran zu erinnern, daß Boström in seiner Leugnung auch der bloßen Denkbarkeit einer absolut tr ans subjektiven Wirklichkeit einen ebenso energi- schen Vorgänger in dem schwedischen Philosophen Prof. Benjamin Höijer gehabt hat, der darüber folgende denkwürdigen Worte geäußert hat: „Was ist eine Realität, die es nicht für eine In- 1) Eine solche rein objektive Deutung von Piatons Philosophie deckt aber „nicht den ganzen, reichen Inhalt des Gedankenlebens dieses weitumfassenden Geistes, das sich in seiner ununterbrochen fortschreitenden Entwicklung auch in andern als den zuerst eingeschlagenen Bahnen bewegt". Vgl. meine Schrift „Piaton, Biberg och Boström", (Schriften des Boströmbundes, Nr. 42, auch ge- druckt in meinem erwähnten Buche „Skiida världsförklaringar", S. 21—31). 158 Reinhold Geijer, telligenz, für mich oder für irgend ein Ich, ist? Vergebens würde ich mit dem feinsten Abstraktionsvermögen mein Möglichstes tnn, um eine solche Wirklichkeit zu denken. Wenn ich glaubte, diesen widersinnigen Begriff gefaßt und alle Gedanken von mir selbst oder sonst einem perzipierenden (förnimmande) Wesen abgesondert zu haben, wenn ich alle Dinge ihrer Prädikate oder Eigenschaften entkleidete, die ihr Verhältnis zu mir als Perzipierendem be- zeichnen, so könnte ich die Wirklichkeit doch nicht anders denken denn als eine Möglichkeit, angeschaut zu werden, sobald eine Intelligenz hinzukäme. Ist nun aber diese Möglichkeit selbst eine Perzeption und kann nicht ohne eine Intelligenz gedacht werden, so ist klar, daß ich niemals von dem Ich loskommen kann j ich nehme mein Ich fort und will doch als Zuschauer sehen, wie es dann aussehen wird!" Nachdem ich bisher die allgemeine Art des idealistischen Grundzuges in Boströms Philosophie auseinandergesetzt und zu- gleich in historische Beleuchtung gestellt habe, will ich jetzt erklären, warum er seine Philosophie insbesondere als „ratio- nellen Idealismus" charakterisiert hat. Meinerseits möchte ich dafür lieber sagen „äternistischen Idealismus". Rationalismus (nicht in erkenntnistheoretischer, sondern in ontologischer und metaphysischer Bedeutung) nennt man nämlich in Schweden jede Philosophie, die das wirklich Seiende nicht nur als unkörperlich — als Idee, Geist oder Geisterwelt — auffaßt, sondern auch sub specie aeternitatis, d. h. als erhaben über Zeit und Zeitbestimmt- heit, und insofern als rein vernünftig, d. h. von aller sinn- lichen Existenz artverschieden. Und bei Boström hat nun dieser Rationalismus (oder Aternismus) seinen prägnantesten Ausdruck bekommen, wenn er in seiner „rationellen Theologie" lehrt, daß die endlichen Geister in letzter Instanz realiter identisch mit den ewigen Ideen des persönlichen Gottes sind. „Ursprünglich und in des Wortes eigentlicher Bedeutung", heißt es im § 41 seiner Grundlinien zur Propädeutik der philos. Staatslehre, „gibt es nichts anderes als die unendliche Vernunft und ihren Inhalt, d. h. nichts als Gott und seine ewigen Ideen, die alle auch ein Sein besitzen als selbst lebende und selbstbewußte, somit als (im wei- testen Sinne) vorstellende oder vernünftige Wesen". Gottes in zeitloser Aktualität ruhende (subjektive) modi cogitandi, seine ewigen Gedanken oder Ideen, die ebenso absolut klar und deutlich sind, wie intuitiv, dem Inhalt nach konkret und individuell bestimmt, Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 159 sind eben Gedanken oder Ideen von Subjekten oder Geistern, die vollkommnere oder unvollkommnere (zeitliche) Vorstellungen besitzen und also relativ selbständig sind. In dieser Weise möchte ich am liebsten die knapp formulierte Lehre, daß die Ideen Gottes „selbst vorstellende Wesen" sind, umdeuten. Denn nur so, indem die anfängliche, wenigstens formal-logische Distinktion, welche B. selbst nicht immer beachtet, vielmehr (in seinen lateinischen Dissertationen) zu verwischen gesucht hat, festgehalten und klar durchgeführt wird, lassen sich einerseits alle Ideen Gottes als solche absolut vollkommen nennen und andererseits die vielen relativen und endlichen Geister, der ursprügliche Inhalt dieser göttlichen Gedanken, als ewiges Erkenntnisobjekt des allwis- senden Gottes denken, — um somit den sonst unversöhnlichen Streit zwischen Edfeldt und Nyblaeus über „die Ideenlehre" ihres gemeinsamen Meisters zu schlichten1). Dabei versteht sich von selbst, daß diese endlichen Geister, sobald sie „in und von Gott gedacht werden", alle volle und wahre Wirklichkeit besitzen, die man überhaupt einem Wesen zuschreiben kann , das nicht Gott oder das ens realissimum selbst ist. Hierdurch wird die schon aus andern Gründen verwerfliche Annahme einer zeitlichen Schöpfung überflüssig. Der Gegensatz zwischen essentia und exi- stentia ist überwunden, und damit fällt die Forderung eines „com- plementum possibilitatis" fort, die wegen dieses, vermeintlichen Gegensatzes von der Leibniz-Wolffschen Schule gestellt worden ist. Boström betont sodann den Gedanken, daß „die unendliche Vernunft und deren Inhalt" ein in sich geschlossenes und voll- ständiges „System" — nach dem allgemeinen Schema: „alles in allem" — ist, und sucht diesen Gedanken durchzuführen, indem er das Zahlensystem als Bild benutzt. Es ist also im großen und ganzen das platonische Ideensystem, dem er expressis verbis sozusagen in dem Selbstbewußtsein des persönlichen Gottes seinen „metaphysischen Platz" anweist. Eben dadurch wird diese Ideen- welt ausdrücklich in eine organisch in sich zusammenhängende Geistes- oder Geisterwelt oder besser gesagt in ein Reich der 1) Vgl. Skiida världsförklaringar, S. 138 ff. Hier habe ich auch einige andre dunkle und strittige Punkte in Boströms Philosophie beleuchtet, z. B. die Frage nach der Möglichkeit, eine zeitliche Wirklichkeit zeitlos aufzufassen, ferner Boströms Stellung zu der Frage, inwiefern und in welchem Sinne der unendliche Gott „sub specie aeternitatis" als ein nicht nur vorstellendes, sondern auch füh- lendes und wollendes Wesen gedacht werden kann. 160 Reinhold Geijer, Persönlichkeit verwandelt. Deshalb hat Boström nicht nötig, mit Leibniz von einer „prästabilierten Harmonie" oder sonst einer Erklärung der Wechselwirkung und Übereinstimmung der „end- lichen Substanzen" „mediante Deo" zu sprechen. Über die Art, wie Boström aus seiner Ideenlehre die meta- physische Erklärung der tatsächlichen Sinnenwelt ableitet, will ich nur einige Hauptpunkte hervorheben. Alle Ideen des unend- lichen Gottes sind als solche gleich absolut vollkommen. Als selbst lebende und vorstellende Wesen jedoch sind sie endlich und müssen deshalb sich selbst und die Ideenwelt in verschiedenem Grade inadäquat oder unrichtig auffassen. Diese Auffassung ist Phänomen, freilich im Unterschied von bloß zufälligem Schein ein „phaenomenon bene fundatum", insofern es einerseits in dem wesentlich Seienden und andrerseits in der ursprünglichen und unvermeidlichen Unvollkommenheit des Auffassenden ausreichend begründet ist. Eigentlich hat jedes endliche Subjekt seine beson- dere Erscheinungswelt, jedoch haben mehrere, die zu einer Gruppe mit gleichem Grundtypus gehören, auch eine gemeinsame Erschei- nungswelt. Unsere jetzige Erscheinungswelt wenigstens hat da- durch ein eigentümliches Gepräge, daß sie an Raum und Zeit gebunden ist, die Boström mit Kant als apriorische Anschauungs- formen der menschlichen Gattung auffaßt. Aber wenn auch der Mensch in einer räumlich-zeitlichen Welt lebt, so besitzt er doch daneben ein unauslöschliches Bewußtsein von einer andern, höheren Welt, die von jeder Zeit- und Raumbestimmtheit unabhängig ist. Und nur durch diesen unsinnlichen oder vernünftigen Lebensinhalt, der sich zunächst als dunkle Ahnung, als Gefühl oder Instinkt bemerkbar macht, ist der Mensch realiter ein vernünftiges Wesen, eine Persönlichkeit in höherem und eigentlicherem Sinne, wenn auch nicht in demselben höchsten Sinne wie die ab- solute Gottheitsperson. Ich will jetzt dem theoretischen Teile nur noch einige kurze Schlußbemerkungen über Boströms innerste Intentionen oder seine eigentlichen und tiefsten Überzeugungen hinzufügen, um diese dann durch seine praktische Philosophie erst in das rechte Licht zu stellen. Das ganze philosophische System Boströms beruht wesentlich auf dem Persönlichkeitsbegriff in dieses Wortes eben angedeuteter höherer und höchster Bedeutung; dieser Begriff ist das dem Systeme eigentümliche und es einheitlich zusammen- haltende Realprinzip. Heißt es doch im § 13 seiner mehrfach Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 161 erwähnten Grundl. zur Prop. der phil. Staatslehre: Streng ge- nommen „hat die wahre Philosophie mir vernünftige Wesen" oder Personen „zum Gegenstand und kann von den sinnlichen oder materiellen, den natürlichen Dingen nur insofern handeln, als sie bloße Phänomene für endliche vernünftige Wesen sin#a. Damit hängt eng zusammen, daß seine philosophische Welterklärung — im Gegensatz zu dem „Universalismus" und abstrakten Pantheismus der großen deutschen idealistischen Systeme (Fichtes, Schellings und Hegels) — ausgeprägt individualistisch und infolgedessen theis tisch ist, d. h. die aktuell selbstbewußte Persönlichkeit des einheitlichen, letzten Weltgrundes verteidigt. Noch genauer müßte man seine Anschauung Panentheismus nennen; denn einerseits wird Gott als überall mit- und gegenwärtigseiend ge- dacht, vor allem im eigenen innersten Innern des Menschengeistes, andrerseits wird betont, daß im allerinnersten wir selbst und alle andern endlichen Lebewesen „in ihm leben, weben und sind" 1). In seiner „rationellen Anthropologie" sucht Boström den oben definierten Unterschied zwischen einem sinnlichen und vernünftigen Lebensinhalt im praktischen und ethischen Gebiete ebenso durchzuführen wie im theoretischen. Indes darf man diesen Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft nicht rein dualistisch auffassen, denn er existiert nach B. nur für das endliche Be- wußtsein. Alle Sinnlichkeit ist ja Erscheinung einer unsinnlichen Wirklichkeit, die einzig und allein die wahre ist. Dies zu be- achten ist besonders wichtig innerhalb der Ethik, denn nur so wird es uns möglich verständlich zu machen, wie das Sittengesetz nicht die Unterdrückung und Vernichtung der Sinnlichkeit, son- dern ihre Umgestaltung und Veredlung fordert, damit sie als Organ und Mittel eines vernünftigen Lebens dienen kann. So bekommt Boströms Sittenlehre einen konkreten und individualisti- schen Charakter, im wesentlichen Gegensatz zu dem abstrakt for- malistischen und negativ rigoristischen Zug der Kantischen, an die sie sich sonst in mehrfacher Hinsicht anschließt. Besonders aber wird der individuelle Charakter der Sittlichkeit dadurch hervorgehoben, daß sie in so innige Verbindung mit der Reli- giosität gebracht und als ein Leben in rein persönlichem Ver- 1) Eine nähere Auseinandersetzung über den Begriff des Panentheismus und seine Anwendung auf Boström s. „Skiida världsförklaringar", S. 89—95, 102—4 und 111 ff. Vgl. auch J. Ljunghoff; Chr. J. Boström, Sverges Piaton; Uppsala 1916, eine besonders in religiöser Hinsicht verdienstvolle Monographie. Kantstudien. XXVI. 11 162 Reinbold Geijer, hältnis zu anderen Personen aufgefaßt wird. Wie Kant leitet auch Boström die verpflichtende Kraft des Sittengesetzes aus dem eigenen unsinnlichen Wesen des Menschen her ; aber jeder Mensch ist ja im Grunde eine individuell bestimmte Gottesidee und hat folglich sein „wahres Leben" in Gott und in der Verbindung mit dessen übrigen lebendigen Ideen. Darum muß jeder einzelne Mensch danach streben, auch für sich selbst das zu werden und zu bleiben, was er von Ewigkeit her in oder für Gott ist, oder m. a. W. seine ewige Idee (die sein „kategorischer Imperativ" ist) zu verwirklichen, so weit es schon hier in der Zeit möglich ist. Und nur so kann er das höchste Gut, die ewige Seligkeit, ge- winnen. Für die Menschheit als Ganzes wird als das höchste und letzte Ziel die Arbeit am Reiche Gottes aufgestellt, das voll- ständig erst dann verwirklicht ist, wenn jeder endliche Geist in seiner Entwicklung zu dem Grade der Vollendung gelangt, der ihm durch sein „ewiges Maß" bestimmt ist. Es bleibt noch übrig, etwas über Boströms philosophische Gesellschaftslehre zu sagen. Diese ist wohl der originellste Teil des Systems, wenn sie auch in ihrer allgemeinen Tendenz mit der Krause-Ahrensschen verwandt ist und wie diese manche Berührungspunkte mit Hegels „Philosophie des objektiven Geistes" und mit der ganzen „historischen Schule" in der politischen und juristischen Literatur des 19. Jahrh. besitzt. Eine Gesell- schaft muß nach Boström streng unterschieden werden von einer willkürlichen Vereinigung. Erstere ist nicht nur ein lebendiger Organismus, dessen Organe die Menschen sind, sie ist, so meint er, gerade so wie jeder einzelne Mensch in seiner Wahrheit, eine göttliche, selbst persönliche Idee. Als solche muß sie auch ihre eigentümliche Erscheinungswelt haben, von deren Beschaffenheit wir indes nichts Bestimmtes wissen können. Doch ist diese Idee für uns faßbar und hat für uns Bedeutung als Norm und Ziel unserer eigenen, freien, praktischen Tätigkeit. In dieser Weise macht sie sich in unserem Gewissen geltend und wirkt äußerlich durch ihren Repräsentanten in unserer Erscheinungswelt. Als eine solche „praktische Idee" ist jede Gesellschaft der Grand be- sonderer Pflichten und Rechte, die wir sonst nicht haben würden. Die Gesellschaft muß deshalb im Grunde selbst persönlich sein; denn nur ein übergeordneter vernünftiger Wille kann einem freien Willen Pflichten und Rechte geben. Die so aufgefaßten Gesell- schaften nennt B. „moralische Personen" und teilt sie ein in pri- Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. * 163 vate und öffentliche. Die ersteren (deren unterste die Familie und deren höchste das Volk ist) wirken für Ziele, die mit dem eigenen unmittelbaren Ziele des Individuums gleichartig sind. Sie wirken alle für sittliche Kultur, nur in verschiedenen Richtungen und auf immer höherer Stufe. Dieser Wirksamkeit aber der menschlichen Individuen und der privaten Gesellschaften soll die öffentliche Gesellschaft, d. h. in erster Linie der einzelne Staat, (sodann aber indirekt auch ein umfassenderes Staatssystem und / ein leider noch in allzu nebelhafter Ferne schwebendes, die ganze Menschheit umfassendes „System der Staatssysteme") eine ver- nünftige Form geben. Diese vernünftige Form ist das objektive Recht, das zwei Momente in sich birgt, nämlich die Selbständig- keit und die systematische Ordnung; deshalb hat der Staat nicht nur die Rechtsgrenzen zu bestimmen und aufrecht zu erhalten, sondern eine ebenso wesentliche Aufgabe ist die Organisation der Kulturarbeit. — Um den beschränkten Raum dieser Zeitschrift nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen, breche ich hier ab und bemerke nur noch, daß einer der kritischsten Punkte in ßoströms Staatslehre (außer der seiner Liebe zur schwedischen Vergangen- heit entsprungenen Verteidigung der alten Vierständerepräsentation als „der einzig vernünftigen" Form der Volksvertretung) die eben gestreifte Dualität zwischen Volk und Staat als toto genere ver- schiedenen Gesellschaften ist. Zuletzt nur noch einige Worte über Boströms historische Stellung und Bedeutung. Vannerus hat in „Ord och bild" 1897 darauf hingewiesen, daß Boströms System einen integrierenden Teil in der Weiterentwicklung der spekulativen Philosophie bilde, die von Kant ausgegangen sei und in den großen idealistischen Systemen Fichtes, Schellings und Hegels ihren ersten Niederschlag gefunden habe; sie bringe zugleich den spekulativen Idealismus, der sich seit den Tagen Piatons wie ein roter Faden durch die Kulturentwicklung hindurchgezogen habe, zu einem prinzipiellen Ab- schluß. Es darf daneben aber nicht vergessen werden, daß Boström auch in engem Zusammenhang mit seinen persönlichen Lehrern Biberg und Grubbe und indirekt wenigstens mit deren älteren schwedischen Zeitgenossen und Lehrern Boethius und Höijer stand 1). 1) Ob und wieweit B. von E. G. Geijer beeinflußt worden ist, bleibt eine oftene Frage. Nyblaeus ist geneigt sie zu verneinen. Indes begann G. seine be- rühmten Vorlesungen über „die Geschichte des Menschen" in demselben Jahre, in dem B. seine Professorarbeit „De notionibus religionis etc." schrieb. 11* 164 Reinhold Geijer, Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. In den Schriften dieser in ihrer Art bedeutenden schwedi- schen Philosophen finden sich schon fast alle leitenden Gesichts- punkte und Grundgedanken von Boströms Philosophie ausgesprochen, nur zerstreuter und weniger scharf fixiert als bei ihrem Schüler, der ihnen in der Fähigkeit zu weitumfassenden Synthesen und genialer Systematik überlegen ist. Bei seiner philosophischen Gedankenarbeit hat Boström also schon eine ganz bestimmte und ausgebildete einheimische Tradition weiterführen können. Sein philosophisches System bildet eine prägnante Kodifizie- rung, wenn ich mich so ausdrücken darf, und Vervollständigung dieser nationalen Tradition, das ausgereifte Resultat der Arbeit nicht nur des Meisters selbst, sondern auch seiner in derselben Richtung kontinuierlich fortschreitenden Vorgänger1). Und darin liegt, wie mir scheint, in geschichtlicher und vaterländischer Hinsicht zwar nicht seine einzige, aber doch seine hauptsächliche Bedeutung. Boströms Weltanschauung wird aus diesem Grunde auch im Nationalbewußtsein seines Volkes immer fortleben, zwar nicht als selbstgenügsames, orthodoxes Dogma, aber doch als lebenskräftiges Ferment des ganzen schwedischen Geisteslebens. 1) In Svensk filesofi, historik von E. Geijer (Schriften des Boströmbundes, Nr. 36) sind die Urteile, die hier in größter Allgemeinheit gefällt werden, mit einem meines Erachtens ausreichenden Material historischer Einzelangaben belegt und erhärtet. Kants Opus postumum nach Erich Adickes. Kants Opus postumum, dargestellt und beurteilt. Kantstudien, Ergänzungsheft 50. Reuther & Reichard, Berlin 1920. XX und 855 Seiten. Mk. 50.— von Hermann Schneider, Professor an der Universität Leipzig. Bei der Ausarbeitung einer Schrift über „Kant als Natur- wissenschaftler" trat der Verfasser auch an Kants „nachgelassenes Werk" heran, in der Hoffnung, „binnen kurzem auf etwa dreißig Seiten seinen wesentlichen Inhalt", so weit er naturwissenschaftlich war, „zusammenfassen zu können". Aus der beabsichtigten kurzen Beschäftigung mit dem Werk ist eine jahrelange, mühevolle Ar- beit geworden, deren erste reife Frucht in einer „Darstellung und Beurteilung des Werkes" im Umfang von über fünfzig Druck- bogen vorliegt ; der Verfasser fordert, als „unerläßliche Pflicht der Pietät" gegen Kant, eine „baldige, unverkürzte, streng wissen- schaftliche Gesamtausgabe" des „nachgelassenen Werkes". Man kann die Frage aufwerfen, ob es gerechtfertigt sei, eine Darstellung und Beurteilung in diesem Umfang der geforderten Ausgabe voranzuschicken ; ich glaube, daß dies in diesem Fall das einzig richtige Verfahren war. Kants „nachgelassenes Werk" ist ein formloser Haufen von Entwürfen und Bemerkungen aus den letzten Lebensjahren des großen Denkers; Kant selbst schwankte, ob er anordnen sollte, die Stücke zu veröffentlichen oder sie zu verbrennen; die Nachlaßordner fanden sie „der Redaktion nicht fähig". Später entspann sich ein Kampf um den Wert des Werkes; trotz begeisterter Verkünder seines einzigartigen Wertes, wie A. Krause, und ausgedehnten Veröffentlichungen daraus (R. Reicke), trotz der immer steigenden Flut der Arbeiten über Kant, schreckten die Formlosigkeit und der Gegenstand des Werkes, der eher der Physik, als der Philosophie anzugehören schien, dazu die unver- kennbaren Zeichen der Altersschwäche in einigen Blättern, die 166 Hermann Schne/ider, gerade philosophischen Inhalts waren, die Fachkreise zurück. Es galt, die gestaltlose Masse zu formen, erst durch eine äußere, zeit- liche Ordnung der Teile, nach philologischen Merkmalen, dann innerlich durch den Nachweis, daß hier wertvolle Gedanken zu Kants kritischer und naturwissenschaftlicher Arbeit versteckt lagen, die sich im Anschluß an frühere Werke gebildet hatten und in den Entwürfen weiter entwickelten. Das Werk mußte aufgeschlossen werden, so daß es zu weiterer Beschäftigung lockte — das war nur durch eine zusammenhängende Darstellung, nicht durch eine Herausgabe mit wissenschaftlichem Apparat möglich. Und wer die einzigartige Verbindung von philosophischer, natur- wissenschaftlicher und philologischer Veranlagung besaß, die zur Gewinnung des nachgelassenen Werkes für die Wissenschaft er- forderlich war, wer die Kenntnisse aus vielerlei Arbeitsgebieten erworben hatte und sie in den Dienst dieser Aufgabe stellte, dem verlieh die Größe und Eigenart der schöpferischen Formarbeit, die weit über die gewöhnliche Herausgebertätigkeit hinausragt, ein volles Recht, selbständig aufzutreten. Unsere „Darstellung und Beurteilung" von Kants nachge- lassenem Werk ist in vier, sehr ungleich lange Teile geteilt. Der erste Teil, eine geschichtliche Einleitung, stellt die bisherigen Schicksale des Werkes kurz und kritisch dar, eine Tragikomödie der Wertung einer Handschrift, bei der scharfe Schlaglichter auf allerlei Menschlichkeiten spekulativer Litteraten und fachbeflissener Gelehrten fallen; A. Krauses Verdienste um das Werk werden gebührend hervorgehoben. Der zweite Teil bringt die philologische Einleitung, in der die äußere zeitliche Ordnung der Stücke des Manuskripts, in meisterhafter Kleinarbeit durchgeführt, ihre Begründung findet. Von entscheidender Bedeutung für die Forderung einer Herausgabe des Werkes ist hier der Nachweis, daß ein zusammenhängender Entwurf (der sogenannte „ Oktav entwürfe ) des Werkes, in dem bereits alle Hauptfragen erörtert werden, mit Sicherheit 1796 entstanden ist, in einer Zeit, zu der Kant noch durchaus rüstig, jedenfalls nicht altersschwach war. Daran schließen sich 13 Ent- würfe auf Foliobogen, die sich über die Jahre 1797 — 1803 an- näherungsweise verteilen lassen. Die eigentliche Darstellung und Beurteilung des nachgelassenen Werkes enthalten Teil III und IV, die 5/e des Buches einnehmen. Der „vorwiegend naturwissenschaftliche und naturphilosophische Kants Opus postumum. 167 Teil der Op. p." ist im 3. Teil behandelt; Kant hat an ihm von 1796 bis zum Beginn des Jahres 1800 gearbeitet; so geht er mit Recht in der Darstellung dem „metaphysisch- erkenntnistheoretischen Teil des Op. p." voran, der 1800 — 1803 entstanden ist und im 2. Teil behandelt wird. Die Wissenschaft „vom Übergänge von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" (so sollte das nachgelassene Werk ursprünglich heißen) war bestimmt eine Lücke zu füllen, die der Systematiker Kant in der Transszendentalphilo- sophie beim Ausbau entdeckt zu haben glaubte : sie sollte den Schlußstein des Systems bilden und die metaphysische Begründung der Physik als strenge, systematische Wissenschaft vollenden. Nicht nur den allgemeinen Begriff einer Materie überhaupt, sondern auch sämtliche mögliche Arten der bewegenden Kräfte meinte er der bloßen Form nach, a priori, bestimmen und erschöpfend dar- stellen zu können. So sehen wir ihn in den »Entwürfen zunächst durch systematische Betrachtung des Begriffs der Bewegung eine Reihe zweigliedriger Entgegensetzungen von Kräften empirisch aufstellen, dann diese zu seinem bewährten Mittel zur Auffindung apriorischer Elemente, dem Kategorienschema, in Beziehung setzen, bis er zu einem „Elementar System der bewegenden Kräfte", erklärt durch eine umfassende Ätherthecrie, gesichert durch die Kategorien- tafel, gelangt. Die „Metaphysik der körperlichen Natur", die er 1786 ab- geschlossen hatte, sollte dadurch zunächst nicht als unabgeschlossen erklärt werden ; nur ein Brückenschlag zwischen Metaphysik und Physik sollte vorgenommen werden; eine „Architektonik der Naturforschung", ein Fachwerk der Begriffe, noch besser der „G-emeinörter der Naturforschung", eine Klassifikation vom „For- malen der Verknüpfung" und der „Totalität der Wissenschaft" aus sollte die Aufgabe der neuen Wissenschaft sein. In der Tat war aber der Rahmen der „Metaphysik der körperlichen Natur" durch das neue Unternehmen gesprengt; die bewegenden Kräfte sollten der Bewußtseinssystematik unterworfen, aus der Kategorien- tafel vollständig abgeleitet werden; neue apriorische Erkenntnisse sollten eingeführt und als unentbehrlich erwiesen werden, nachdem die alten feierlich als nicht erweiterungsfähig und durchaus voll- ständig erklärt waren. Das war nur möglich, wenn der Grund des kritischen Gebäudes erweitert, die transscendentale Deduktion der Möglichkeit der 168 Hermann Schneider. Erfahrung nachgeprüft und den neuen Bedürfnissen angepaßt wurde. August 1799— April 1800 hat Kant „in vielfach wiederholten, schwer verständlichen Gedankengängen" daran gearbeitet. „Sie laufen, kurz zusammengefaßt, darauf hinaus, daß einerseits eine apriorische und darum erschöpfende Übersicht über die allgemeinsten Eigenschaften und Arten der unsere Sinne affizierenden bewegenden Kräfte der Materie und der von ihnen ausgehenden Bewegungen deshalb möglich ist, weil die letzteren uns nur dadurch wahrnehm- bar werden, daß sie in uns gewisse körperliche Gegenwirkungen (Bewegungen) auslösen, die ebenso wie die Wahrnehmungen selbst der Systematik unseres Bewußtseins, d. h. den Kategorialfunktionen unterliegen. Man braucht also nur diese Wahrnehmungen und Gegenbewegungen in ein apriorisches System zu bringen, und trifft damit zugleich auch die bewegenden Kräfte der Materie überhaupt. Andererseits läßt sich auch ein apriorisches System der allge- meinsten materiellen Eigenschaften gewinnen : eine jede von ihnen ist Wirkung eines bekannten durch je eine der synthetischen Funk- tionen des Ich an sich hervorgebrachten Kombination bewegender Kräfte ; eine jede solche Kombination ruft in unserem empirischen Ich (unserem Ich als Erscheinung) eine gewisse Summe von Emp- findungen hervor, an denen wieder dieselbe (jedesmal verschiedene) Art der synthetischen Funktionen sich betätigen muß, um sie in bestimmter Weise zu objektivieren und uns auf Grund davon am betreffenden Erfahrungsgegenstand die entsprechende allgemeinste materielle Eigenschaft erleben zu lassen ; die letzteren unterliegen also ebenso wie die synthetischen Funktionen, denen sie ihr Dasein verdanken, der Bewußtseinssystematik unseres Ich und lassen sich deshalb gemäß dem Kategorienschema vollzählig und mit absoluter Sicherheit bestimmen." „Es tritt hier eine bedeutsame Weiterentwicklung der Lehre von der Synthesis zutage: Kant behauptet nunmehr, daß unsere synthetischen Bewußtseinsfunktionen als transscendentale Bedin- gungen nicht nur das Objekt-Sein überhaupt, d. h. die Vereinigung der Kräfte zu Kräftekomplexen bezw. die Vergegenständlichung der Empfindungen bestimmen, sondern auch das So-Dasein der Kräftekomplexe bezw. Erfahrungsgegenstände, d. h. ihre Ausstat- tung mit gewissen allgemeinsten materiellen Eigenschaften." „Der ganzen neuen transscendentalen Deduktion liegt die im Op. p. auch sonst konsequent durchgeführte Auffassung zugrunde, daß dasjenige, was unsere Sinne affiziert und worauf wir mit Kants Opus postumum. 169 unseren Empfindungen- Wahrnehmungen reagieren, nicht in etwas Bewußtseins-Transscendentem (Dingen an sich) zu suchen ist, son- dern vielmehr in den empirischen "materiellen Objekten und ihren bewegenden Kräften. Diese empirischen Objekte müssen natürlich als ihrer sekundären Sinnesqualitäten, die ja nichts anderes als unsere räumlich geordneten und vergegenständlichten Wahrneh- mungen sind, entkleidet gedacht werden. Was übrig bleibt, ist gemäß Kants dynamischer Theorie der Materie als eine Summe von Kraftzentren zu denken, die, mit solchen und solchen Kräften ausgerüstet, in bestimmter Weise im Raum verteilt und vermöge der apriorischen synthetischen Funktionen der transscendentalen Apperzeption unseres Ich an sich zu körperlichen Einheiten (Kräfte- komplexen) verbunden sind. Sie stellen die Art dar, wie auf Grund einer Affektion des Ich an sich durch die Dinge an sich diese und ihre räum- und zeitlosen, rein innerlichen Verhältnisse jenem erscheinen. Die empirischen Objekte sind meinem empirischen Ich gleichgeordnet und stehen mit ihm in Wechselwirkung, beide sind Teile der Erscheinungswelt des Ich an sich." „Unser Ich wird also in doppelter Weise affiziert: durch Dinge an sich und durch Erscheinungen. Und die synthetischen Funk- tionen betätigen sich gleichfalls in doppelter Weise: erstens an dem durch Affektion seitens der Dinge an sich dem Ich an sich gegebenen Inhalt, der sich unter ihrer Einwirkung zu Kräfte- komplexen ordnet, zweitens an den durch Affektion seitens der letzteren im empirischen Ich hervorgerufenen Empfindungen, die unter ihrer Einwirkung zu Erfahrungsgegenständen verbunden werden." (Adickes. S. 237— 239.) Ich glaube, diese Ausführungen über die neue transscendentale Deduktion wörtlich anführen zu sollen, nicht nur weil sie wohl den Kern des nachgelassenen Werkes in philosophischer Hinsicht ent- halten, in der knappsten und doch inhaltreichsten Fassung, die nur durch eine langjährige Beschäftigung mit dem Werk zu ge- winnen war, sondern auch deshalb, weil der Verfasser in der Lehre von der doppelten Affektion unseres Ich, wie er sie hier kurz darstellt, den Schlüssel zu Kants Erkenntnistheorie gefunden zu haben glaubt ; eine demnächst erscheinende Schrift soll das Problem ausführlich behandeln. Für die weitere Entwicklung des „nachgelassenen Werkes" kommt die Affektion des Ich besonders als Selbstaffektion in Be- tracht; „nicht darin, daß das Subjekt vom Objekt (per receptivi- 170 Hermann Schneider, tatem) affiziert wird, sondern daß es sich selbst (per spontaneitatem) affiziert, besteht die Möglichkeit des Überganges von den M. A. d. N. zur Physik" ; und allgemeiner: „der Akt, durch welchen das Subjekt sich selbst in der Wahrnehmung affiziert, enthält das Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung." Die Selbstaffektion des Ich ist eine Affektion des empirischen Ich durch das Ich an sich, die wieder doppelt ist; einmal „setzt" das Ich an sich dem empirischen Ich die einzelnen Vorstellungen, d. h. es führt seinen an sich zeitlosen Inhalt in die Form der Zeit über; zweitens werden die so „gegebenen" Vorstellungen unter eine Apperzeption gebracht, geordnet und zur Bewußtseinseinheit verschmolzen. Die Lehre von der ersten Art der Selbstaffektion, von der Abhängigkeit der Wahrnehmungen und Gegenbewegungen von der Bewußtseins Systematik, ist verhältnismäßig weit ausge- führt ; drei Typen dieser Art lassen sich in den Entwürfen unter- scheiden; und die Möglichkeit, apriorische Systeme der Wahr- nehmungsarten und bewegenden Kräfte aufzustellen, wird stark betont. Weniger entwickelt erscheint im Vergleich die Lehre von der zweiten Art der Selbstaffektion, damit die Möglichkeit eines apriorischen Systems der Haupteigenschaften der Materie und materiellen Gegenstände. Die neue transscendentale Deduktion gab einesteils der Wissen- schaft vom Übergänge die feste Grundlage, andernteils führte sie zu einer Durchsicht der früher gewonnenen Anschauungen von den Grundlagen der Erfahrung unter dem Gesichtswinkel dieser Wissen- schaft. Der Schlußstein des großen Baus sollte gelegt werden; es war natürlich, dabei das Ganze nochmals zu überblicken: dabei bot sich eine Möglichkeit, allerlei Einwürfen von Schülern, die zu neuen Formeln geführt hatten, zu begegnen, ihre teilweise Be- rechtigung anzuerkennen und allerlei Gefahren für die Transscen- dentalphilosophie, die von dieser Seite her drohten, zu bannen; sehr fein weist der Verfasser darauf hin, daß vielleicht für den alten Denker auch die Jahrhundertwende bei der Absicht, sein System abzuschließen und seine Schule geeinigt zurückzulassen, eine Rolle spielte. Kant war weit entfernt von dem Wunsche, sein Lebenswerk in den Grundlagen zu ändern; alles Grundlegende sollte unver- ändert gelten; da ihm aber die Einstellung auf die Wissenschaft „vom Übergange" eine Stelle bot, von der aus er manche Formeln, besonders Fichtes, als berechtigt gelten lassen konnte, nahm er die Kants Opus postumum. 171 Gelegenheit wahr ; die Teile seiner Lebensarbeit, an die die Jungen angeknüpft hatten, waren ja sein Werk, wie die, die sie bekämpften; ihre inneren Notwendigkeiten fühlte er, wie die Schüler ; hatte er früher der Logik der eigenen theoretischen Ergebnisse an be- stimmten Stellen Halt geboten, weil sein Tatsachensinn oder die Rücksicht auf die Gottes- und Sittenlehre vorherrschten, so fiel jetzt durch die fertigen früheren Werke, die zur Wirkung ge- kommen waren, durch die besondere Einstellung der „Übergangs- wissenschaft" und durch sein Alter manche Hemmung weg; er durfte in der Darstellung nur Logiker, Systematiker sein, besonders in seinen Entwürfen, die nur der Klärung vor sich selbst dienen sollten. So überschaut er seine Lehre von Raum und Zeit, findet aber keinen Grund, an ihr etwas zu ändern. In der Lehre vom Ding an sich kann er zugeben, daß Dinge an sich nur zur lückenlosen, streng logischen Einteilung der Erfahrung und zur Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori unentbehrlich gehören, daß sie zwar gedacht werden müssen, aber ganz leer, nur „ Ge- dankendinge" seien, daß über ihr Dasein und die Affektion durch sie nichts ausgesagt werden kann — theoretisch wenigstens; jeder- mann wußte ja, daß er von ihrem Dasein und ihrer Erkennbarkeit wissenschaftlich fest überzeugt sein durfte, daß die Kritik der praktischen Vernunft ohne sie unmöglich war ; aber hier- kam ja nur die systematische Geschlossenheit der Theorie, die Spontaneität des Ich, nicht die Praxis, die Gottes- und Sittenlehre in Frage. In der Lehre von der Selbstaffektion des Ich kann er beinahe mit Fichte sagen: „Das Ich setzt sich selbst"; er kann die „Selbst- setzung" als Tatsache ausführlich erörtern, eine ganze Reihe von Bedeutungen in scharfsinnigen Unterscheidungen berühren; das Ich „setzt sich", indem es sich selbst zu seinem Gegenstand macht, nach seinen formalen Erkenntnisbedingungen oder nach seinem Bewußtseinsinhalt, als Empfindungen und Wahrnehmungen und als ganze Erfahrungswelt; es. „macht sich selbst", als Gestalter seiner Erfahrung und seiner wirklichen Persönlichkeit ; wir können ja nur das verstehen, was wir selbst machen können. Indem er so die „Selbstsetzung" zugibt, ihre Bedeutung und ihren Tatsachen- gehalt logisch vielseitiger herausarbeitet, als seine Schüler, kann er deren dogmatischen Idealismus, wie ihre Skepsis umso schärfer ablehnen. In den letzten Jahren (Dezember 1800 — April 1803), die Kant, 172 Hermann Schneider, immer stärker behindert durch Altersbeschwerden, an dem nach- gelassenen Werk arbeitet, wird die Wissenschaft „vom Übergange" ein bloßer Teil eines „Systems der Transscendentalphilosophie". Für dies ist Kant bemüht, einen allgemeinverständlichen, möglichst deutschen Titel zu finden; in Dutzenden von Fassungsversuchen treten bald „Gott, Welt und Mensch", bald „die reine Philosophie" (gelegentlich auch als „Wissenschaftslehre") stärker hervor. Dann beschäftigt ihn die Bestimmung des Wesens der Trans scendental- philosophie, besonders im Verhältnis zur Metaphysik, zuletzt mit dem Ergebnis, daß im höchsten Begriff beide eins sein müssen. Die Lehre von der Selbstsetzung wird auf die Entwicklung der Ideen aus der reinen Vernunft und auf die freie, sittliche Per- sönlichkeit ausgedehnt. Endlich wird der Gottesbegriff die Haupt- sorge des alten Denkers ; er der sein Lebenswerk immer als einen Gottesdienst angesehen hatte, beendet es in Gottesanschauung; ein ganz reiner Gottesbegriff, nur auf den kategorischen Imperativ gestellt, ist die letzte Frucht seiner wissenschaftlichen Arbeit; von Gottes Dasein ist dabei nicht die Rede; das steht ihm un- erschütterlich fest. Ich habe versucht, die Darstellung von Kants nachgelassenem Werk (möglichst mit den Worten des Darstellers) kurz zusammen- zufassen; auf die Beurteilung einzugehen, verbietet leider der Raummangel; schon die Darstellung der Darstellung mußte bei einem Werk dieser Art in dieser Kürze unzulänglich bleiben. Ich bin zufrieden, wenn es mir gelungen ist, einige Umrisse des philo- sophischen Gehaltes sichtbar zu machen und ein Gefühl für den reichen Inhalt und die Bedeutung des Werkes, wie für die Größe der Leistung des Darstellers zu wecken. Kants nachgelassenes Werk wird die Wissenschaft lange beschäftigen; die Philosophie wird seinen Erkenntnisgehalt zu untersuchen haben, an sich und im Zusammenhang mit Kants Lebensarbeit und den Fortbildungen derselben durch seine Schüler; die Individualpsychologie findet in ihm Stoff zur Lehre von der Arbeitsweise des Genies als Denker, von seinem Kampf mit dem Alter und seinem Verfall ; die Physik wird sich heute, wo die Lehre vom Äther wieder in vollen Fluß gekommen ist, vielleicht mit Kants Athertheorie fruchtbringend auseinandersetzen ; wie Kants ganze kritische Philosophie (besonders als Erkenntnistheorie) als eine Reihe von neuen metaphysischen und einzel wissenschaftlichen, psychologischen und entwicklungs- wissenschaftlichen, Keimen gefaßt werden kann, die er formal in Kants Opus postumum. 173 eine Einheit zwingt, so kann man im nachgelassenen "Werk Keime zur Psychophysik und Hirnphysiologie (Gegenbewegungen), sowie zu einer Wissenschaftslehre zwischen Metaphysik und Einzel- wissenschaften finden. „Kants Vermächtnis an Mit- und Nachwelt u „baldmöglichst in würdiger Gestalt erscheinen zu lassen" ist, auch in unserer Zeit des Elendes, eine „unerläßliche Pfjicht" ; möchte sich der Verfasser unserer „Darstellung und Beurteilung", der uns diese Pflicht bewiesen hat, bereit finden lassen, die immer noch sehr schwierige Herausgabe des Werkes zu übernehmen, die er allein in vollkommener Weise zustande bringen kann. Besprechungen. Erkenntnistheorie und Logik. Berg, Ernst. Das Problem der Kausalität. Berlin: Simion 1920. 101 S. gr. 8°. (Bibliothek für Philosophie, hrsg. von L. Stein, Bd. 19.) Verfasser will an Stelle von getrennten Dingen, die auf unbegreifliche Weise auf einander einwirken (Kausalität), eine Welt-Einheit setzen, die gesetzmäßigen Veränderungen unterliegt. Verfasser ist also strenger Deter- minist. Sein Kampf gegen das Kausalitätsgesetz erscheint deshalb nicht recht verständlich. Kausalität und Gesetzmäßigkeit wurden bisher stets als gleichbe- deutend angesehen. Will Verfasser dies nicht anerkennen, so hat er die Pflicht, eine neue Definition der Gesetzmäßigkeit zu geben. Betrachtet man alles Einzelne als Ausfluß der metaphysischen Substanz, so erscheint die Einwirkung eines Dinges auf das andere auch nicht so unbe- greifbar, wie dem Verfasser. Die Kausalität regelt dann die an der Substanz vor sich gehenden Veränderungen. Sie ist das Band, das alle Einzelerscheinungen umschließt. Die völlige Leugnung der Selbständigkeit der Individuen, ihre Gleichsetzung mit einem Teil der Welt- Einheit , erregt auch Bedenken in ethischer Hinsicht. Tatsächlich wird das Individuum nicht als Teil der Welt betrachtet, sondern als Entelechie, die für ihr Handeln verantwortlich ist. Daraus, daß etwas notwendig geschieht, folgt noch nicht, daß es ethisch berechtigt ist, wie Verfasser S. 93 seiner Schrift ausführt. Verfasser erkennt als Vorgänger in seiner Weltansicht nur Nietzsche an. Ihm schwebt anscheinend folgende Stelle1) vor: „Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie — in Wahrheit steht ein Continuum vor uns. . . . Ein Intellekt, der Ursache und Wirkung als Con- tinuum . . . der den Fluß des Geschehens sähe — würde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen". Man wird aber darauf er- widern müssen, daß ein Kampf gegen das Kausalitätsgesetz so lange verfehlt ist, als wir tatsächlich gezwungen sind, nach dieser Kategorie zu denken. Auch der Begriff des Gesetzes, den Verfasser an Stelle der Kausalität setzen will, fordert, daß das Naturgeschehen in diskrete Akte zerlegt wird, ohne die ein Begreifen der Natur nicht möglich ist. Trotz dieser prinzipiellen Bedenken spricht aus der Schrift ein origineller Denker, und diese ist wert, gelesen zu werden. Frankfurt a. M. Walther Rauschenberger. Bloch, Werner, Einführung in die Relativitätstheorie. Aus Natur- und Geisteswelt Bd. 618. B. G. Teubner, Lpzg. u. Berlin, 1918. 100 Seiten. Von den leicht verständlichen Darstellungen der Relativitätstheorie ist das Büchlein von Bloch eine der besten. Inhaltlich sind seine Ausführungen bis in jede Einzelheit vollkommen korrekt, der Leser hat an der Schrift also einen absolut zuverlässigen Führer ; formal zeichnet sie sich in Stil und Gedankenaufbau durch große Klarheit aus, sie ist daher auch ein angenehmer Führer, der die bequemsten Wege zum Ziel zu finden weiß. Bloch trifft durchaus den richtigen Grad und Ton der Popularität, er hat keine Scheu vor einfachen ma- 1) Fröhliche Wissenschaft (Taschen-Ausgabe), S. 180. Besprechungen (Berg — Driesch). 175 thematischen Formeln und umgeht leichte Rechnungen nicht, die aber jedem ver- ständlich sein müssen, der die Prima einer höheren Lehranstalt besucht hat. Die systematische Darstellung des Büchleins beschränkt sich auf die „Spezielle" Relativitätstheorie, nur die letzten zehn Seiten handeln von der „Allgemeinen" Theorie und geben nur die charakteristischsten Züge davon wieder. Diese Selbst- beschränkung des Verfassers möchte man bedauern wegen der außerordentlichen physikalischen und philosophischen Wichtigkeit der Sache, zumal eine eingehen- dere Schilderung auch in gemeinverständlicher Form ganz wohl möglich ist, wie Einsteins eigene populäre Darstellung des Gegenstandes beweist und wie auch der Referent in seiner Schrift über Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik ge- zeigt zu haben hofft. Der Verfasser geht auf die philosophische Bedeutung der speziellen Theorie in einem kurzen Absatz besonders ein und weist dabei sehr richtig auf die doppelte Bedeutung des Wortes „Zeit" hin. Man dürfe den Zeit- begriff des Physikers und des Philosophen nicht miteinander verwechseln, da sie ganz verschiedene Dinge seien. Nur würde man hier, glaube ich, statt Philosoph wohl genauer Psychologe sagen; dem Philosophen fällt vielmehr die Aufgabe zu, den psychologischen und den physikalischen Zeitbegriff mit gleicher Vorurteils- losigkeit zu untersuchen und beide miteinander in Einklang zu bringen. Diese Aufgabe scheint mir freilich durch den Satz des Verfassers: „Die Philosophie sucht .... nach Merkmalen der Zeit a priori" (S. 84) nicht erschöpfend zum Ausdruck gebracht zu sein. Noch einmal sei das kleine Buch als eine wirklich leicht verständliche und nach Form und Inhalt vortreffliche Einführung in die Spezielle Relativitätstheorie empfohlen. Rostock. M. Schlick. Driesch, Hans, LogischeStudien über Entwicklung. (Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Heidelberg 1918, Verlag von Carl Winter.) 70 S. In dieser neuen Arbeit D.'s wird ein besonderer Ausschnitt aus der „Natur- ordnungslehre" dargestellt, der manches in der „Ordnungslehre" (Jena 1912), „Wirk- lichkeitslehre" (Leipzig 1917) und anderswo Gesagte in äußerst fruchtbarer Weise ergänzt und neu formuliert. Die für die Arbeiten dieses Autors so charakteri- stische begriffliche Schärfe und vorsichtige Art des Denkens, die streng scheidet zwischen sicher Wißbarem und nur Vermutbarem, bei letzterem aber alle in be- tracht kommenden Möglichkeiten sorgfältig erwägt, zeichnet auch diese Arbeit aus und macht sie zu einem hervorragenden intellektuellen Genuß. Im ersten Teil der Arbeit erörtert der Verf. die rein logische („naturlogische") Seite des Entwicklungsbegriffs. Unter Entwicklung im weitesten Sinne (für den allein er das deutsche Wort gebraucht) versteht er „die Reihe der Verände- rungen eines als dasselbe ganze geltenden Dinges oder Dingkomplexes, durch welche es oder er aus einem weniger mannigfaltigen in einen mannigfaltigeren Zustand überführt wird". Es kann nun dreierlei Arten von Entwicklung geben. Zunächst Kumulation ( regellose Mannigfaltigkeitserhöhung , bei der jeder Mannigfaltigkeitszuwachs des sich entwickelnden Ganzen zurückführbar ist auf einzelne äußere Vorgänge; sie bewirkt „äußerlich Ganzes"), dann Evolution {regelhafte Mannigfaltigkeitserhöhung; sie bewirkt „Wesensganzes"). Evolution kann wieder sein maschinell, wenn eine „Maschine", d.h. ein räumliches System materieller Kräfte ihr zugrunde liegt, oder nichtmaschinell, wenn letzteres nicht zutrifft. Bei der nichtmaschinellen Evolution, der philosophisch interessantesten Ent- wicklungsform muß die Logik die Annahme eines nichtmateriellen Faktors, einer Entelechie fordern. Streng genommen kann nun hierbei nicht von einer Entwick- lung des materiellen Systems (denn nur an ihm entwickelt sich etwas), aber auch nicht von einer Entwicklung der Entelechie (denn die bleibt ihrem Wesen nach dieselbe), gesprochen werden. „Nur mit Rücksicht auf ihr Wirken auf die Ma- terie" entwickelt sie sich: die Entelechie entwickelt sich nicht ihrer essentia, sondern ihrem actu nach. Metaphysik oder „Wirklichkeitslehre", wie D. sagt, könnte vielleicht anderes behaupten, sie könnte ein „se faire" des Immateriellen 176 Besprechungen (Driesch). annehmen (Bergson); aber das ist unentscheidbar. Echte Epigenesis gibt es also für die Logik nicht, sondern nur Evolution, wenn auch nicht notwendig raum- haft vorgebildete, maschinelle Evolution; denn echte Epigenesis wäre Mannigfal- tigkeitserhöhung eines Systems ohne Gründe. Nachdem nun noch einige bedeutsame Probleme, die sich an die nichtma- schinelle Evolution anschließen (der Organismus und die Zeit, Kausalität und Ent- wicklung u. a.) erörtert sind, geht D. im zweiten Teil seiner Arbeit zu der Frage der „empirischen Erfüllung" über, d. h. er fragt, ob und wo die verschiedenen Formen der Entwicklung in der Natur verwirklicht sind und vor allem, an welchen Kriterien wir erkennen, ob es sich um Kumulation, maschinelle oder nichtmaschi- nelle Entwicklung haudelt. Und gerade die Erörterung dieser Kriterien ist vom Verf. mit bewunderungswürdiger gedanklicher Schärfe herausgearbeitet. Die wich- tigsten Ergebnisse sind die folgenden. Kumulation ist leicht zu erkennen. Sie ist überall dort vorhanden, „wo sich bei einer Entwicklung einzelne Zuwüchse an Mannigfaltigkeit auf ein- zelne Geschehnisse, welche das sich als dasselbe entwickelnde Ding oder Dinggefüge von außen her trafen, zurückführen lassen. Wo das nicht der Fall ist, besteht Evolution". Außer diesem negativen Kennzeichen für Evolution (maschinelle und nichtmaschinelle) bestehen nun aber noch zwei positive : 1) Vor- handensein des betreffenden Entwicklungssystems in vielen Exemplaren und 2) Re- gulation. (Das erste Kennzeichen erlaubt in seiner Allgemeinheit allerdings erst die Wahrscheinlichkeitsannahme der Evolution, während das zweite ein sicheres Kennzeichen dafür ist.) Zwischen den beiden Formen der Evolution (maschineller und nichtmaschi- neller) zu entscheiden, ist schwerer, wenn nicht eine „Maschine" als zugrunde- liegend direkt nachgewiesen werden kann, was praktisch in der Naturwissenschaft wohl nie zu erreichen ist. Auf das Gegebensein eines nichtmaschinellen Evolutions- systems kann dann erst, aber muß dann auch geschlossen werden auf grund des Nachweises, daß gewisse Verhaltungs weisen des sich entwickelnden Dinges den gesetzmäßigen Folgen irgendeiner Maschine überhaupt, d. h. all dem, was aus dem Vorhandensein irgendeiner Maschine „geometrisch-kinetisch" ableitbar ist, wider- sprechen. Was maschinell erklärbar sein soll, muß materiell vorgesehen gedacht werden können, muß „grundsätzlich Resultante materieller Konstellationen sein können". Es sind nun zweifellos Regulationen überhaupt an einer Maschine denkbar. Immer aber muß es sich um bestimmte Regulationen auf bestimmte Stö- rungen des Betriebes oder des Baus (Wegnahme von Teilen) handeln ; undenk- bar sind jedenfalls Regulationen auf beliebige Störungen hin (Wiederbildung beliebig großer und beliebig gestalteter weggenommener Teile oder gar harmo- nische Umbildung des nach beliebiger Verstümmelung zurückbleibenden Restes zu einem verkleinerten Ganzen u. a.). Weitere Kriterien ergeben sich nun bei der Untersuchung der Herkunft der Systeme. D. kommt dabei zu dem Schluß, daß es maschinell undenkbar ist, „daß ein System , selbst aus einem „Keim" erstanden , erst einen ~ Urkeim" und dann durch Teilung desselben Keime produziert, welche zur Bildung von Systemen, welche dem ursprünglichen System gleich gebaut sind, fähig sind". Nachdem in einer überaus durchsichtigen und gut gegliederten „tabella- rischen Uebersicht" noch einmal die an einem System überhaupt, die an einer Maschine denkbaren und die an einer Maschine nicht denkbaren Fälle von Regu- lation zusammengefaßt worden sind, wird zum Schluß die Frage nach der „Er- füllung", nach der Verwirklichung der nichtmaschinellen Evolutionsform in der Natur beantwortet. Daß das Naturganze nicht als Evolution betrachtet werden kann, daß „der höchste Wunsch der Logik: das ordnungsmonistische Ideal" nicht erfüllbar ist, wird festgestellt. Auch für das Anorganische gilt das Gleiche. Nur Kumulationen sind festzustellen (Flüsse, Gebirge u. s. w.). Die interessante Frage, ob es nicht wenigstens gewisse Ganzheitszüge im Unbelebten gebe, wird gestreift. Im Reiche des Organischen ist nun aber der sichere Nachweis erbracht Besprechungen (Driesch). 177 (durch die bekannten Forschungen D.'s selbst), daß es hier nichtmaschinelle Evo- lution gibt, wenigstens beim organischen Einzelwesen : die hier festgestellten Fälle von Regulationen zeigen die Kriterien, die eine maschinelle Erklärung unmöglich machen. Schwieriger ist die Frage bei der Gesamtheit der Lebewesen : Ist Phylogenie Kumulation oder Evolution ? Eine sichere Entscheidung ist deshalb ausgeschlossen, weil die beiden Kriterien der Evolution (Vorhandensein vieler Fälle und Regu- lation) hier nicht angewendet werden können, das erste nicht, weil es Phylogenie nur einmal gibt, das zweite nicht, weil eine Regulation bei der Unbekanntheit des Entwicklungszieles nicht erkannt werden kann. Was sich aber hier wenig- stens vermutungshaft beibringen läßt, ist vom Verfasser zusammengestellt worden. Fortpflanzung, fremddienstliche Zweckmäßigkeit (Becher), gewisse morphologisch- systematische Züge werden als Anzeichen für den ganzheitlichen Charakter der Gesamtheit der Lebewesen betrachtet, die Unmöglichkeit, die Phylogenese mit Zufall (darwinistisch oder lamarckistisch) zu erklären als Anzeichen für den evo- lutiven (also nicht kumulativen) Charakter derselben. Noch schwieriger liegen die Dinge bei der Menschheitsgeschichte. Auch hier können wir uns aus ähnlichen Gründen nur in Vermutungen bewegen. Das sittliche Bewußtsein, die Heterogonie der Zwecke u. a. sprechen für den ganzheit- lichen Charakter der menschlichen Gemeinschaft. Jedenfalls kann nach D. Ge- schichte nur unter dem Gesichtspunkte der Entwicklung logisch bearbeitet werden. Die von Windelband und Rickert vertretene Beziehung der historischen Tatsachen auf Werte hat „nur die Methodik und Struktur der Geschichtsschreibung, aber nicht die letzte logische und metaphysische Verarbeitung des eigentlichen geschichtlichen Gegenstandes im Auge". Wichtige Erörterungen über den Begriff der Möglichkeit, des Verhältnisses von Person und Ueberperson (ein mit Phylogenie und Geschichte auftretendes, sehr wichtiges Problem) u. a. beschließen die gedankenreiche Arbeit. München. Dr. Paul Fla s kam per. .Driesch, Hans, o. ö. Professor an der Universität in Köln, Wissen und Denken. Ein Prolegomenon zu aller Philosophie. Verlag von Emmanuel Reinicke. Leipzig 1919. 148 S. In dieser kleinen Schrift behandelt Driesch in systematischem Zusammen- hange und als Selbstzweck, was er schon in seinen größeren philosophischen Werken (so in der -Ordnungslehre" unter dem Titel einer „Selbstbestimmungs- lehre") zur Grundlegung seines Systems entwickelt hat. Der Gedanke, daß in der Weise, wie ich um etwas weiß, nichts von Aktivität, von einem Tun des Ich steckt, wird konsequent durchgeführt und von diesem Ausgang der Ansatzpunkt für alle weitergehenden Denk - Setzungen aufgewiesen. Der „Urtatbestand", das Cartesische cogito, wird so formuliert: „Ich habe bewußt und zugleich meines Habens bewußt eine geordnete Fülle des Etwas" (S. 8). Dabei wird betont, daß das „dreieinige" „Urgeheimnis" nichts von Ding und Eigenschaft, von vielen „Ich", von Allgemeingültigkeit, von „Bewußtsein überhaupt", von Spontaneität und Rezep- tivität enthält. Diese Begriffe sind erst an späterer Stelle, auf dein Boden be- sonderer Wissenschaften (Psychologie und Metaphysik) im Rahmen des Ich-Gehabten aufzuweisen. Der Ausdruck „ich habe" für die Bewußtseinsbeziehung, der den Gegensatz zur Tätigkeit markieren soll, ist von Rehmke entlehnt, im „metho- dischen Solipsismus" als Ausgang weiß sich der Verf. mit Volkelt einig. Daß das Gehabte unmittelbar „mit Ordnungszeichen durchsetzt" gehabt wird (nicht etwa erst Ordnung durch Ich-Tätigkeit in ein „Chaos der Empfindungen" hinein- gebracht wird), gibt die Grundlage für die „Ordnungslehre" als „Lehre von dem Ordnungszeichen am Etwas als unmittelbar gehabtem Etwas". Eine Lehre von Ordnungszeichen, von Gegenständen, sofern sie in Ordnung gesetzt werden, ent- steht deshalb, weil der „Vorwunsch" des Ich, das Etwas restlos als „in Ord- nung" zu schauen derart, „daß es trotz seiner vielleicht bestehenden Mannigfal- tigkeit ein Ganzes ist, und zwar in jeder Beziehung", (das „ordnungsmonistische Kautstudien XXVI. 12 178 Besprechungen (Dricsch). Ideal") unerfüllbar ist. Für die „Sonder-Ordnungszeichen" d. h. die Ordnung be- dingenden unzerlegbaren Bedeutungen (Beispiele: dieses, solches, bezogen, Zahl, neben, die Grade, die Parallele, grün, Lust — die Unzerlegbarkeit wird man hier wohl zumindest bei den Parallelen bezweifeln dürfen) ist der Unterschied von Anschaulich und Unanschaulich unwesentlich, da beides in der gleichen Weise schlicht „gehabt" ist, nicht das eine gelitten, das andere getan. Das Urteil wird als „besondere, in ihrer Besonderheit festgehaltene und gesetzte Beziehung", der Schluß als eine, ausdrücklich als eine gesetzte, Beziehung zwischen Beziehungen gefaßt. Da aber alles „Gehabte" zugleich ein Gesetztes sein soll, so glaubt Dr. damit den Unterschied zwischen Vorstellung und Urteil zu Gunsten des Urteils aufgehoben. Die Redeweise von einem „Sein" der gehabten Gegenstände wird als irreführend abgelehnt, im Rahmen der Ordnungslehre, spezialisiere sie sich nun als Logik oder Mathematik, handelt es sich nur um ich-gehabte Gegenstände, ohne daß diese Ich - Bezogenheit ausdrücklich hervorgehoben wird. Was das selbständige „Sein" der Gegenstände, der Mathematik z. B., vortäuscht, das sind die Ordnungszeichen des „Erledigt-seins" und der „Identität". Das Charakte- ristische der philosophischen Einstellung ist, daß sie das „ich habe" immer im Auge behält. Vom zeitlosen „ich habe" führt die Zeit zu Natur und Seele. Unter dem Gehabten findet sich Solches mit „Damals-Zeichen" (Erinnertes), nach früher und später in eine eindimensionale Reihe geordnet. Zu sagen „ich hatte", wäre un- genau; denn Ich in der Vergangenheits-Form ist als „mein Selbst" ein nur Ge- habtes, niemals wie das Ich im „Ich habe" erlebt. Aus der Punkt-Reihe der Damalszeichen wird durch Uebertragung des mathematischen Stetigkeits-Begriffes die stetige Zeitlinie. „Beharrlich" oder „dauernd" ist, was, selbst stetig, in der stetigen Zeit steht. „Werden" ist „ein Anderssein an einem Beharrlichen in Zu- ordnung zur stetigen Zeitreihe". Natur entsteht, wenn ich mir die Aufgabe stelle, die zunächst zusammenhanglosen „Etwas -Inhalte", das „gehabte Es" in sich zu verknüpfen derart, „daß es in gewisser Hinsicht als das mit sich sel- bige verharrt oder in der Zeit dauert und in anderer Hinsicht sich verändert oder wird". So wird Natur definiert als „die Gesamtheit aller derjenigen durch unmittelbar gehabte Inhalte gemeinten mittelbaren Gegenstände, welche in sich Geschlossenheit des Seins und Werdens besitzt und sich verhält, als ob sie selbständig für sioh bestünde" (S. 42). Im Begriff der „Seele", von dem sich kaum etwas Positives aussagen läßt — sie steht dauernd in der Zeit, erschöpft sich nicht im Haben und Gehabt-haben, sondern enthält auch „Unbewußtes", aber nicht Naturhaftes — sieht Dr. einen für die Psychologie unentbehrlichen Ord- nungsbegriff. Hier erst gewinnen die Begriffe Bedeutung, die vom Ich verbannt sind: Seelenvermögen, Tätigkeit, Leiden, Wissen als potentieller Besitz u. s. w. Die Tatsache des Wissenserwerbes und Irrtums wird vom Standpunkt des schlichten Habens ohne Ich-Tätigkeit so erklärt : Wenn ich ein zuerst für A Gehaltenes her- nach als B erkenne, so ist nicht mehr gegeben als zwei Setzungen, von denen die zweite einen gewissen Ton der „Erledigung" trägt, ein gewisses unanschauliches Zeichen, welches bedeutet, daß „mein Selbst" vordem A geschaut hatte, das an- gesichts der Setzung B aber nicht alles „in Ordnung" ist. (Im Beispiele vom Mann und Baumstamm S. 62 scheint eine sinnstörende Verwechslung unterlaufen zu sein.) „Irren" ist also kein tätig erlebter Inhalt, sondern ein Wissen um ein Kennzeichen an einem früher von meinem Selbst gehabten Inhalt, nämlich um die Nicht-Endgültigkeit des für endgültig Gehaltenen. Die durchaus unverbesserbaren „Urordnungszeichen" sind die Kategorien (wie: dieses, solches, verschieden, so viel). Dagegen sind die „Naturordnungs- begriffe" (wie: Ding-Eigenschaft, Ursache- Wirkung), wenn auch praktisch unver- besserlich, doch nicht letzte Kategorien wegen ihrer Zusammengesetztheit. Sie gelten „praktisch apriori" „sobald die Bedeutungen von ihnen selbst und von Natur überhaupt ... erfaßt worden sind und sobald »geglaubt« wird, daß Natur nicht plötzlich chaotisch werde" (S. 75). (Das scheint mir eine Inkon- sequenz; wenn Natur eben das ist, was unter dem Gesichtspunkt des geordneten Zusammenhanges mit gewissen der gehabten Inhalte gemeint wird, kann sie ihrem Besprechungen (Driesch). 179 Begriffe nach gar nicht chaotisch werden.) Sie sind auch nicht Voraussetzungen der Möglichkeit der Erfahrung, sofern das „ordnungs-monistische Ideal" denkbar bleibt, sondern sie sind nur „für unsere Erfahrung, angesichts unseres Gege- benen" unerläßlich. Von den Natur-Kategorien unterscheiden sich die empirischen Naturbegriffe durch ihre ausdrücklich zugegebene Verbesserbarkeit, die sich aus der Forderung ergibt, daß Natur ein Zusammenhang und, was über sie ausgesagt wird, zu einander passend und so „setzungs-sparsam" wie möglich sein soll. Denn es ist sparsamer zu sagen: „Ich habe mich geirrt" als „Das Naturwirk- liche hat sich in seinem Sosein geändert" (S. 79). Um mehr an Endgültigkeit mit Rücksicht auf Ordnung zu erzielen, darf man „die gleichsam" für sich bestehenden Natur- und Seelenbestandteile ein wirklich für sich Bestehendes anzeigen" lassen. Diese „Wirklichkeits-Tönung" ist das Charakteristische der Metaphysik. Doch bleibt alle Metaphysik ich-gehabt und muß alle Erfahrungs-Inhalte als ich-gehabte benutzen. Während den ord- nungshaften Bedeutungsbegriffen oder Bedeutungskomplexen „schlichte Endgültig- keit" jenseits aller Kriterien zukommt und „Richtigkeit" bei Natur- und Seelen- wirklichem an die Kriterien der Widerspruchslosigkeit und größt-möglichen Ein- fachheit gebunden ist, glaubt Dr. „echte Wahrheit" nur mit Beziehung auf das Wirkliche der Metaphysik definieren zu können: „Wahr ist ein einen wirk- lichen Gegenstand meinender bewußtgehabter Inhalt, wenn und insofern seine Bestandteile den Kennzeichen des Gemeinten entsprechen" (115). Dafür aber gibt es kein Kriterium! Eine eingehende Würdigung dieser Gedanken wäre nur im Zusammenhange mit den systematischen Werken des Verf., vor allem der Ordnungs- und Wirk- lichkeitslehre, möglich, da man den Wert einer Grundlegung am besten daran erkennt, was auf diesem Grunde errichtet wird. Hier seien nur einige grund- sätzliche Bemerkungen gestattet. Wenn die Lehre vom „Bewußtsein überhaupt" als metaphysisch zu Gunsten des „kritischen vorläufigen Solipsismus" so scharf abgelehnt wird, so wäre es doch nötig genauer anzugeben, wodurch sich das Ich vom „Bewußtsein überhaupt" unterscheidet, als es durch die Erklärung : „Ich ist — nun eben »Ich« ; wer nicht weiß, was das heißt, dem ist nicht zu helfen" (S. 9) geschieht. Wenn ausdrücklich gesagt wird, daß „Ich" in keinem Gegensatz zum „Du" zu nehmen ist, und wenn es so scharf von „mein Selbst" geschieden wird, so ist damit doch der Boden des Sol i p s ismus verlassen. Ob man übrigens das erkenntnistheoretische Subjekt lieber „Ich" oder „Bewußtsein" nennt, ist wohl nicht mehr als ein Wortstreit. Wesentlich dagegen ist die Frage, ob zur Bedeu- tung „Natur" die bloß „gleichsam selbständige", die „alsob"-Existenz gehört. Wenn wir, wie doch bei solchen phänomenologischen Analysen zu verlangen ist, das Gegebene schlechthin hinnehmen, dann werden wir in der Annahme von be- wegten und wirkenden Körpern im Räume kaum etwas von „als ob" und „gleich- sam" finden, sondern die Natur wird schlechthin als „wirklich" gedacht. Das feststellen heißt nicht die Metaphysik des naiven Realismus für endgültig er- klären, sondern in der empirischen Wirklichkeit trotz ihrer Ich-Bezogenheit, trotz- dem sie nur „Zusammenhang mit der Wahrnehmung nach Gesetzen der Erfah- rung" bedeutet, die einzige Wirklichkeit sehen, von der wir über die Bewußtseins- wirklichkeit hinaus sinnvoll sprechen können. Das heißt die Idee einer noch wirklicheren Wirklichkeit, die Kennzeichen, besitzt, „welche nicht im eigentlichen Sinne ich-gehabt werden können, obwohl sie vielleicht auch, aber in mir unzu- gänglicher Form, gehabt d. h. gewußt werden" (S. 135) als eine prinzipiell nicht zu bestätigende transzendierende Hypothese ablehnen. Schließlich sei noch bemerkt, daß der Unterschied zwischen bloßer Vorstellung und setzendem Urteil nicht da- durch aufgehoben wird, daß sich mit der Vorstellung die Setzung des Bewußt- seinsaktes, nicht ihres Gegenstandes verbunden, findet. Bedeutsam erscheint, was .zum Schluß noch einmal hervorgehoben werden soll, die Lehre Dr., daß die Bewußtseinsbeziehung keine Tätigkeit ist, sondern ein schlichtes „Haben und daß Ordnung im „Gehabten" vorgefunden, nicht erst an einen formlosen Stoff herangebracht wird. Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz. 12* 180 Besprechungen (Frost — Geyser). Frost, Walter, Universitätsprofessor in Bonn, Schopenhauer als Erbe Kants in der philosophischen Seelenanalyse. Nachweis einer empi- rischen Anwendbarkeit der transzendentalen Methode. Bonn 1918, Univ.-Druckerei und Verlag Carl Georgi. Der Verf. glaubt einige Umdeutungen an Kants Begriff des Transzenden- talen vornehmen zu müssen. Er meint, man würde großen Philosophen nicht gerecht, wenn man sich nur an die Hauptbaulinien ihres Systems halte. Man müsse von den Künstlern eine freiere Art erlernen, philosophische Systeme zu deuten. Als Beispiele werden Wagner und Goethe herangezogen. Um die Wissen- schaftlichkeit der Philosophie bemühte Denker werden Frost hierin wohl kaum zustimmen. Es handelt sich für den Verfasser um gewisse feinere psychologische Reflexionen Kants und ihre Deutung im Zusammenhang des apriorischen Geistes- lebens. Als Beispiel dient zunächst die Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Hier begnügt sich Kant nicht damit, als das beherrschende Einheitsprinzip des Aesthe- tischen die apriorische Urteilskraft aufzuzeigen, sondern sein Interesse geht auch noch dahin, zu „untersuchen, in welchem Verhältnis das ästhetische Fühlen zu allen anderen Seelenkräften steht" (S. 13 u. 14). Und zwar nicht nur um die systematische Ordnung handelt es sich, sondern um das organische Lebensver- hältnis dieser Beziehungen. An anderer Stelle formuliert der Verfasser: „Es handelt sich um das Verhältnis des Ich zu seinen apriorischen Prinzipien, um das transzendentale Leben der Seele in ihren verschiedenen Funktionen" (S. 19/20). In derselben Problemrichtung liegt bei Kant der Begriff des Erhabenen, das aprio- rische Gefühl der Achtung sowie die Postulate der praktischen Vernunft. Weiter werden einige entsprechenden Analysen Schopenhauers angeführt, seine Reflexionen über das Weinen und seine Theorie der Willensverneinung. Aber bei Kant und Schopenhauer fehlt eine hinreichende Legitimation und systematische Einstellung dieser Art von Seelenanalysen. Der Verfasser hält diese Methode für ein Mitt- leres zwischen der rational-transzendentalen Methode und der empirisch-psycho- logischen Methode. — Es fehlt der Arbeit eine tiefere und wissenschaftlich-exakte Fassung des Transzendentalbegriffs. Die transzendentale Methode, wie sie z. B. von Cohen in überzeugender Klarheit herausgearbeitet worden ist, schließt die Bezogenheit des Apriori auf die Erfahrung eo ipso in sich, auf alle Erfahrung, auch auf die des Seelenlebens. Der Verf. müht sich in seinen etwas losen Gedanken- gängen vor allem um zwei Problemgruppen, die von der wissenschaftlichen Kant- philosophie bereits seit einiger Zeit scharf und klar herausgearbeitet worden sind; einmal das Problem der Transzendentalpsychologie, einer die apriorischen Funk- tionen der Psyche eruierenden und systematisierenden Subjektslogik (vgl. dazu Natorps „Allgemeine Psychologie"); und dann das Problem der Realisierung des Apriori im zeitbestimmten psychologischen Individualleben (vgl. dazu Münch „Er- lebnis und Geltung"). Diesen methodisch tief bohrenden Arbeiten gegenüber bringt das vorliegende Heftchen nichts wesentlich Neues, jedoch sind die diesbezüglichen Hinweise auf transzendentalpsychologische Ansätze bei Kant dankenswert. Heidelberg. Dr. Emil Kraus. Geyser, Joseph, Dr., o. ö. Professor der Philosophie an der Universität Frei- burg i. B., Ueber Wahrheit und Evidenz. 8°. (VIII u. 98 S.) Freiburg 1918, Herdersche Verlagshandlung. Mk. 3.20. Das Wort Evidenz gehört zu denjenigen, die von manchen Philosophen gern durch Anführungsstriche ausgezeichnet werden. Man empfindet allgemein, daß er zu den wichtigsten, aber auch zugleich fragwürdigsten Begriffen der theoretischen Philosophie gehört, ohne doch meist die Folgerung daraus zu ziehen, seine grund- legende Stellung im System der Erkenntnistheorie allererst zu untersuchen. Nir- gend begegnet man so vielen Vorurteilen als diesem Begriffe gegenüber. Nur in einem verhältnismäßig kleinen Kreise, nämlich bei Brentano und seinen Schülern, bei Marty, Meinong, Kastil u. a., besonders aber Husserl ist man ihm näher nach- gegangen. — Geyser nun, der schon in seiner Psychologie und in seiner Logik, sowie den „Alten und neuen Wegen" sich mehrfach mit dem Problem auseinander- Besprechungen (Geyser). 181 gesetzt hat, sucht in diesem Schriftchen die fundamentale Bedeutung der Evidenz tür die Erkenntnistheorie zu zeigen. Er steht, um es vorwegzunehmen, dem Standpunkt der Phänomenologie sehr nahe und kommt auch nicht wesentlich darüber hinaus. Er sieht die Ursache der herrschenden Irrtümer und Mißdeu- tungen vor allem, — mit Recht — in der Verkennuug und Vermischung ihres doppelten, logischen und psychologischen Charakters. Es steht fest, daß die Evi- denz, obzwar sie auf die Subjektsbeziehungen des Denkens geht, dennoch ein echter Begriff der Logik ist und der eigentlich logischen Behandlung unterliegt. Bekanntlich haben ihm neuere Autoren (Rüssel, Kynast) das Daseinsrecht in der Logik abgesprochen. Dennoch besteht er dort zu Recht. Dies hat seinen Grund darin, daß diese Subjektsbeziehungen der Denkformen nicht einfach und tatsächlich neben ihrer logisch-gegenständlichen Beziehung herlaufen, sondern eine notwendige Folge derselben sind, also mit ihm in einem sachlichen Zusammenhang stehen und daher aus ihm a priori erkannt werden können. So ist z. B. die Wahrheit an sich eine gegenständliche Bestimmtheit des Urteilssinnes. Das Subjekt nun nimmt zu dieser Gegenständlichkeit Stellung in dem Akte des Fürwahrhaltens. Während die Wahrheit oder Falschheit eines Urteilsinhaltes unabhängig von diesem Fürwahrhalten ist, müssen zu dem Akte des Fürwahrhaltens Akte des Begründens hinzutreten. Diese finden sich in der „Evidenz". Die logische Evidenz ist nicht identisch mit dem Akte des Fürwahrhaltens, mit dem er so oft in dem Begriff der Gewißheit vermengt wird, sondern mit dem Grunde, der diesen Akt logisch rechtfertigt. In der Tat erweist sich auch in der geschichtlich-literarischen Ent- wicklung — auf die übrigens G., gemäß dem Charakter seiner Schrift nirgend Bezug nimmt, der Evidenzbegriff zumeist äquivalent mit dem der sachlichen Be- gründung. Für den Logiker aber kommen nur diese, inneren und wesensmäßigen Zusammenhänge der Begründung in Betracht, die Lehren darüber bilden eine deduktiv- apriorische Disziplin und sind „alles andere als Psychologie". Im be- sondern findet nun G. die Bestimmung der Evidenz naturgemäß aus derjenigen der Wahrheit. Diese lautet: „Die Wahrheit eines Urteils ist darin gelegen, daß es dem Gegenstande einen Sachverhalt zuschreibt, den es an diesem tatsächlich gibt". Das Evidenz wirkende Moment liegt in der „Tatsächlichkeit". „Die Evi- denz besteht darin, daß der vom Urteilsakt intendierte gegenständliche Sachverhalt in seinem eigenen Selbst diesem Akte gegenwärtig ist. Hier haben wir die Grund- these des phänomenologischen Intuitionismus und Objektivismus aller Richtungen, nämlich die Berufung auf „Gegebenheit", durch welche sie überall psychologische Elemente in sich aufzunehmen scheinen. In der Evidenz sehen alle diese Denker ein „Schauen", „Erfassen" usw. von Sachverhalten in Gegenständen. Dieses beruht darauf, daß der dem Sachverhalt gegenwärtige (immanente) Sachverhalt mit dem intendierten gegenständlichen Sachverhalt eins und identisch sein d. h. daß er in diesem bestehen soll. Die „Leibhaftigkeit" des Sachverhaltes ist das entscheidende Kriterium. — Leider bleibt nun Geyser, so weit er auch den Begriff sonst verfolgt, bei diesem Ergebnis stehen, ohne die logischen und erkenntnis- theoretischen Bedingungen und Voraussetzungen dieser Zusammenhänge näher zu zergliedern, und hierin besteht für mich der Mangel der Schrift. Bekanntlich liegen in diesem Begriff der „Gegebenheit" eine Fülle von Schwierigkeiten, an die der logizistische Gegner des Intuitionisraus sich zu halten pflegt. Andrerseits führt die Anerkennung der Gegebenheitsvoraussetzung der Evidenz zu Folgerungen, die von allergrößtem Einfluß sind auf die erkenntnistheoretische Gesamtanschauung überhaupt. Wenige kurze Hinweise mögen genügen. Alle Berufung auf Gegeben- heit in der Evidenz ist hinfällig, sofern nicht zugleich für das Soseinsurteil die Bestimmtheit der Gegebenheit mit vorausgesetzt wird! Dieser Annahme wider- spricht z. B. der objektive Idealismus in der Form des Marburger Methodenabso- lutismus, welcher ja die „Bestimmtheit" des Gegenstandes verwandelt in eine Auf- gabe der bloßen Denkbestimmung der Gegenstände. Wirklich ist in diesem System weder sachlich noch historisch ein Platz für die Evidenz zu zeigen. Nur an einem Punkte weist auch die Evidenztheorie hin auf den unendlichen Prozeß - Charakter der Wahrheit, nämlich insofern die Gegenstände hier als Correlate schöpferischer Intentionen gedacht sind und als solche in funktioneller Beziehung 182 x Besprechungen (Gey&er). zu Akten stehen, deren Vollzug niemals gänzlich vollziehbar erscheint. Nun besteht die Gegebenheit „bloßer Begriffe" in der völlig eindeutigen Einordnung in dieses System der begrifflichen Intentionen, das seinerseits nicht realisierbar, eine Fiktion, besser ein Ideal ist. Muß die Evidenz, um eine objektive, absolute und endgül- tige zu sein, verankert werden in dieser idealen allumfassenden Systematik, so wird sie selber, um mit Schmidkunz zu reden, „nur im Unendlichen vollziehbar", sie ist selber ein „Ideal". Damit ist dem wilden Intuitionismus, der der Methode spottet, der Boden entzogen ! Die Systematik nun beruhte auf der formalen Iden- tität der durch gleiche Akte gleich bestimmten Urteilssinne. In dieser formale» Identität kann sich die auf letzte Gegebenheiten stützende Begründung der Evi- denz nicht erschöpfen, sondern muß zu einer synthetischen ihre Zuflucht nehmen, die die Möglichkeit einer Uebereinstimmung und Identität zwischen Intention und Gegebenheit überhaupt und prinzipiell erklärt. Diese letzte Voraussetzung liegt in der postulierten Identität des Bewußtseins, dem Akt und Gegebenheit als Rea- litäten angehören: die Identität zwischen Akt und Sinn ist dadurch bedingt, daß sie beide „Stücke" eines identischen Bewußtseins sind. — Wie schwerwiegend und folgenreich also die Stellung zum Evidenzproblem ist, wird man schon aus diesem Wenigen ersehen. Wahrhaft ist sie das Schiboleth in dem erkenntnistheoretischen Parteienkampf. Von dieser Tragweite gibt auch das Werk von Geyser eine Vor- stellung und so kann es für so manche ein kräftiger und wirksamer Stachel er- kenntnisphilosophischer Erregung sein. Es bietet im einzelnen eine Fundgrube reicher Belehrung, die sich besonders bezieht auf das Verhältnis der Evidenz zu dem psychologischen Begriff des Erlebnisses, der Gewißheit, dem Problem der Grade der Evidenz, der Subjektivität oder Objektivität der Evidenz der Wahr- nehmung und der Grundsätze u. a. In der Reinlichkeit der Trennung psycholo- gischer und logisch-erkenntnistheoretiscber Methoden und Gesichtspunkte liegt ein Hauptvorzug der Schrift. Berlin. Wilhelm Reimer. Geyser, Joseph, Dr., o. ö. Professor a. d. Universität Freiburg i. B., Eido- logie oder Philosophie als Formerkenntnis. Verlag Herder & Co. Freiburg i. B., 1921, 51 S. Das erkenntnistheoretisch prinzipielle und darum schon am Anfang in der Philosophiegeschichte heimische Begriffspaar Form-Materie wird in diesem „phi- losophischen Programm" zum beherrschenden Gesichtspunkt für die Bestimmung des Umkreises philosophischer Probleme überhaupt gemacht. Diese Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie geht von der „Urtatsache" der „Bewußtseins- bezogenheit des Subjekts auf Objekte" aus, dem Cartesischen Prinzip dabei eine Wendung auf die Mannigfaltigkeit der bewußten Objekte gebend ; die im Rahmen der aristotelischen Unterscheidung zwischen tätiger und leidender Vernunft ge- führte Analyse dringt zu einer näheren Fixierung dieser Bewußtseinsbezogenheit vor, indem der Einheit des Bewußtseins nicht nur die Mannigfaltigkeit der Ob- jekte, sondern auch eine Mannigfaltigkeit des Bewußtseins von den Objekten gegenübergestellt wird. Eine Entwicklung paralleler Gedanken aus dem Carte- sischen Prinzip findet sich übrigens schon bei Leibniz, Philos. Schriften, ed. Ger- hardt, IV, S. 357. Da der Begriff des bloßen Etwas beiden Mannigfaltigkeits- reihen gemeinsam und von ihnen vorauszusetzen ist, sowie bestimmten Formprin- zipien genügen muß, um giltiger Begriff zu sein, wird die F o r m kraft ihrer Ver- flechtung logischer und phänomenologischer Gesetzlichkeit zum Prinzip aller Er- kenntnis erhoben. Dieser Formbegriff umfaßt daher nicht nur die logischen Vor- aussetzungen jedes Begriffs, das bloß Begriffliche an ihm, sondern auch die Gesamtheit aller vermöge der Beziehung aufs Bewußtsein bestimmten Inhalts- momente. Infolgedessen muß der Verf. seinem Formbegriff als Materie ein Unbestimmtes, erst zu Bestimmendes im „vollkommen nackten Etwas" entsprechen lassen. Schon der Ausdruck weist hier in die sachliche Nähe des Urmaterials und der formgebenden Kategorie E. Lasks, der die Logik phänomenologisch be- handelt hat. Besprechungen (Geyser — Grau). 183 Geformte Materie, also Erkanntes, kann nun wiederum Materie für eine weitere, hinzutretende Formung werden, sodaß sich in einem erkannten Gegen- stande ein ganzes System von Forderungen entdecken läßt; und damit entfaltet sich das Problem der „Struktur" des Gegenstandes. Die Bestimmung dieser Struktur, als gesetzmäßiges Verhältnis der allgemeinen Formen des Bewußtseins zueinander in der Gegenstandserkenntnis, ist die Aufgabe der Eidologie, die daher mit der Gegenstandslogik zusammenfiele, wenn es erlaubt wäre, diesen phänome- nologisch gefärbten Formbegriff mit dem logischen gleichzusetzen. Die logisch primären dieser Formen sind die Urformen des Seins, des Wahren, des Guten u. s. w. ; aus ihnen entstehen durch „Funktionsbesonderung" die Kategorien, die also nicht auf den Erfahrungsgegenstand eingeschränkt bleiben, weil diesem, logisch koordiniert, die Gegenstände der anderen Urformen an die Seite treten. Die Arbeit, die dem phänomenologischen Ideenkreise Husserls und seiner Schüler nahesteht, spiegelt die bisher ungeklärte Stellung der phänomenologischen Grundbegriffe zum Geltungsbegriff als dem Grundbegriff der Logik wieder. Daher könnte m. E. eine genauere Durchführung des obigen Programms nicht auf eine scharfe Sonderung des Geltungsproblems, in seiner ganzen Weite als Problem der Geltungsformen der gesamten Bedeutungsmannigfaltigkeit gefaßt, von der Bezogen- heit der Bedeutungsmannigfaltigkeit auf ein sie erfassendes Bewußtsein verzichten. Erwähnt sei noch, daß die Herbartsche Eidolologie von ganz anderen Voraus- setzungen ausgeht und in der Analyse des Ichbegriffs auch zu einem völlig ver- schiedenen Ziele, einer metaphysischen Fundierung der Psychologie, zu gelangen sucht. Breslau. R. Kynast. Grau, K., J., Grundriß der Logik (Aus Natur und Geisteswelt 637. Bdch.). Teubner. Leipzig 1918. 140 S. 1.50 Mk. Dieser „Grundriß" verfolgt wesentlich pädagogische Zwecke. Es handelte sich darum, den Schülern und Studenten, sowie dem philosophisch Interessierten überhaupt einen kurzen, brauchbaren Leitfaden in die Hand zu geben, der ihn über die Hauptfragen der Logik orientiert. Vollständigkeit war nicht beabsich- tigt, auch bei dem geringen Umfang nicht zu erreichen. Es kommt dem Verfasser weniger darauf an zu untersuchen als darzustellen, weniger darauf, Probleme zu lösen als zu zeigen, wie aus gegebenen Lösungsversuchen neue Probleme ent- stehen. Der Verfasser lehnt sich stark an die Untersuchungen von Benno Erd- mann an, dessen Standpunkt er selbst wohl am nächsten steht, ist aber mit Erfolg bemüht, die verschiedenen z. Zt. mit einander streitenden Richtungen der Logik (die formale, die metaphysische nnd erkenntnistheoretische, psych ologisierende, mathematische, Inhalts- und Umfangs-Logik, induktive und deduktive Logik) zu Worte kommen zu lassen. Die Einleitung beschäftigt sich mit der Stellung der Logik im System der Philosophie, mit Begriff und Aufgabe der Logik und mit den geschichtlichen Voraussetzungen der neueren Logik. Die Darstellung selbst zerfällt in zwei Teile (I. Logische Elementarlehre, II. Logische Methodenlehre). Teil I behandelt in der üblichen Weise die Lehre vom Begriff, vom Urteil und vom Schlußverfahren, Teil II stellt zunächst das wissenschaftliche Untersuchungs- verfahren, dann das wissenschaftliche Beweisverfahren dar. Auf Einzelnes einzu- gehen hat keinen Zweck, da eine solche Auseinandersetzung zu sehr durch den eigenen Standpunkt beeinflußt ist. Als Beispiel sei erwähnt das Verhältnis von Frage und Urteil (S. 68 f.), wo man auch umgekehrt wie der Verfasser behaupten kann, daß das Urteil die Frage voraussetzt. Jedes Urteil ist eine fertige Aus- sage, die als solche das Problem (= die Frage) voraussetzt. Natürlich ließen sich auch manche der gebrachten Beispiele kritisieren, aber man tut gut, nach dem Ganzen zu urteilen und dieses ist als wohlgelungen anzusehen. Es ist eine solide Arbeit, die hier vorliegt, die den Zwecken der bekannten Sammlung wohl entspricht. Bei den Literaturangaben ist zu bemängeln, daß alle möglichen Ar- beiten zweiten Ranges genau angeführt werden, während es unter der Ueberschrift „Zum System der Logik" heißt: „Paul Natorp in mehreren Schriften". Das Werk 184 Besprechungen (Grau — Hasse). Natorps „Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften Leipzig 1910* hätte augeführt werden müssen. Berlin. Artur Buchenau. Hasse , Heinrich , Privatdozent an der Universität Frankfurt a. M. , Das Problem der Gültigkeit in der Philosophie David Ilumes. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der Erkenntnistheorie. München 1919, Verlag: Ernst Reinhardt. 192 S. 12,90 Mk. Eine historisch-kritische Untersuchung, die der Behandlung eines einzelnen Problems im Rahmen eines bestimmten Systems nachgeht, hat, wie Verf. ein- leitend bemerkt, nur dort eine Berechtigung, wo dem Problem gemäß den Grund- sätzen dieser Philosophie eine gewisse Selbständigkeit und feste Bedeutung zu- kommt. Daß das für das Gültigkeitsproblem im Rahmen des Humeschen Denkens gilt, scheint mir noch nicht erwiesen, wenn gezeigt wird, daß sich innerhalb der durchaus deskriptiv - psychologisch gemeinten Aufstellungen Humes allenthalben nicht nur Urteile über Gültigkeit und Ungültigkeit finden — das ist ja bei dem skeptischesten Denker unvermeidlich, wenn er nicht die Konsequenz völliger &rogif zieht — , sondern auch Aufstellungen von Kriterien der Berechtigung. Denn trotz- dem fehlt bei Hume, wie Verf. selbst betont (S. 17), völlig die Erkenntnis der eigenartigen, von allen Tatsachenfragen unabhängigen Bedeutung der Gültigkeits- frage. Daraus folgt aber, daß weder für die Behandlung dieses Problems die Humesche Philosophie, noch für das Verständnis dieser Philosophie die Behand- lung dieses Problems der richtige Ausgangspunkt ist. Dagegen treten bei einer solchen Hervorhebung der positiven Aufstellungen Humes die Schwächen und Mängel seiner Leistung, deren Bedeutung ja in der Anregung, nicht in der Beant- wortung von Fragen in erster Reihe gelegen ist, deutlich hervor. So liefert die gründliche Arbeit Hasses trotz der Vorbehalte, die ich machen zu müssen glaubte, einen wertvollen Beitrag zur Kritik des Humeschen Skeptizismus. Hasse gibt eine kurze Darstellung aller erkenntnistheoretischen Lehren des Treatise und des Essay und prüft die in ihnen enthaltenen Kriterien unter einem an R. Richter und H. Cornelius orientierten Gesichtspunkt. Hier sei nur das Wesentlichste hervorgehoben. Wenn Hume zunächst die Berechtigung der Ideen untersucht, so ist damit verkannt, was schon Aristoteles wußte, daß von Richtigkeit und Unrichtigkeit erst beim Urteil die Rede sein kann. Aus dem „Fundamentalsatz", daß alle Vor- stellungen aus unmittelbaren Eindrücken (impressions) stammen, wird die lo- gische Regel abgeleitet, alle Vorstellungen dadurch zu prüfen, daß wir nach den Eindrücken fragen, aus denen sie stammen, und diejenigen als fiktiv auszuschalten, bei denen wir solche legitimierende Eindrücke nicht finden können. Hasse zeigt, daß hier unvermerkt anstelle des genetischen Zusammenhanges, der doch, wenn der Fundamentalsatz richtig ist, ausnahmslos für jede Vorstellung, und sei sie noch so verworren und fiktiv, gegeben sein müßte, die repräsentative Beziehung tritt. Die Vorstellungen vertreten Eindrücke und sind bedeutungslos, wo sich dieser bedeutungshafte Zusammenhang mit den Eindrücken nicht aufweisen läßt. Das ist der eigentliche erkenntnistheoretische Sinn des Humeschen Gedankens, der aber von ihm nicht zur Klarheit gebracht wird, weil er ihn eben nicht von dem psychologisch-genetischen Grundsatz sondert. Die unbedingte Geltung der apriorischen Sätze (relations of ideas) soll auf der Unvorstellbarkeit des Gegenteils beruhen. Was bedeutet diese Unmöglichkeit des Vorstellens, wenn Notwendigkeit nichts weiter ist als ein gewohnheitsmäßiger Zusammenhang? Darauf bleibt uns Hume ebenso die Antwort schuldig wie auf die Frage nach der Gültigkeit der Erfahrungserkenntnis, die doch das Haupt- thema des Essay bildet. Wir finden hier nur die Theorie der Entstehung der Kausalurteile durch Gewohnheit. Die logischen Bedenken dagegen werden damit beschwichtigt, daß der Instinkt sicherer führe als die Vernunft. Freilich ist dieser absolut alogische Standpunkt schon verlassen, wenn daneben von der Prü- fung der Berechtigung von Erwartungen durch vernünftige Wahrscheinlichkeits- erwägungen gesprochen wird. Besprechungen (Hasse — Höffding). 185 Die Ansichten Humes über die Urteile, die das Erfahrbare überschreiten, sind auch nicht eindeutig und widerspruchsfrei. Sie werden zwar im allgemeinen als völlig außer dem Bereich unserer Erkenntnis liegend abgelehnt, andere Stellen hinwieder geben die Analogie zur Erfahrung als Kriterium der Berechtigung solcher metaphysischer Hypothesen an. Nach all dem kann die Lektüre von Hasses Buch insbesondere den zeitge- nössischen Denkern empfohlen werden, die* in der philosophischen Entwicklung von Hume über Kant einen Rückschritt sehen und eine positivistische Erkenntnis- lehre mit dem Motto: „Zurück zu Hume!" begründen wollen. Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz. Höffding, Harald, DerTotalitäts begriff. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung^Leipzig 1917, Verlag von 0. R. Reisland). 126 S. 3,20 Mk. „Die Wurzel des Erkenntnisproblems liegt in dem Umstände, daß die Wahr- heit .... ein Ganzes sein muß". Dieser Gedanke ist sowohl die Grundlage wie auch die Quintessenz der Studie Höffdings. Der „gemeinsame Typus alles Ge- dankenlebens .... kann allgemein als eine Totalitätsbildung bezeichnet werden*1. Ebendas zeigt Höffding an der Hand von den verschiedenen Kategoriengruppen und damit auch von den diversen Wissenschaftsgebieten. „Schon die fundamentalen Kategorien", so führt der Autor aus, „fordern von allem, das erkannt werden soll, daß es mit einem anderen zusammengefaßt und diesem gegenüber als kontinuierlich oder diskontinuierlich und als ähnlich oder verschieden aufgefaßt werden könne". Das Nachdenken, „das mit Analyse anfängt", hat zur Voraussetzung „ein unmittelbar Gegebenes", bei dem bereits „das Gesetz der Synthese in Geltung" ist, also eine Totalität, deren Analyse zu neuen Totalitätsbildungen führt. Bei dieser Analyse treten nächst den fundamentalen die formalen Kategorien in Aktion. Sie stehen also gleichfalls unter dem Gesichtspunkt der Totalität und damit auch die Wissenschaftgebiete der Logik und Mathematik. „Begriff, Urteil und Schluß bezeichnen verschiedene Formen und Grade logischer Totalität". Gerade auch der Gesetzesbegriff, der in der modernen Forschung an die Stelle des Klassenbegriffs getreten ist, zeigt seinen Totalitätscharakter ganz unverkennbar. Er ist insofern ein typischer Individualb egriff, als er das Gesetz der zu ihm ge- hörigen konkreten Individualbegriffe enthält, und er ist folglich dadurch charak- terisiert, daß er „sich zu den entsprechenden konkreten Individualb egriffen nicht wie eine Art zu ihren Individuen, sondern wie ein Ganzes zu seinen Teilen ver- hält". Auch Raum und Zeit sind „keine bloßen Allgemeinbegriffe", sondern typische Individualbegriffe. Das Wahrheitskriterium dieses formalen Denkens in der reinen Logik und Mathematik ist — negativ gefaßt — der Widerspruch ; von ihm kann aber nur die Rede sein, wenn „die einander widersprechenden Glieder zu einer versuchten Totalitätsbildung zusammengehalten werdend Wird das Kri- terium positiv als Identität verstanden, so offenbart sich nicht minder die Tota- litätsnatur des Gedanklichen ; denn die Identitätsfunktion des Denkens liegt gerade darin, daß durch Substitution und Elimination neue Totalitäten geschaffen werden, etwa durch den Uebergang vom Grund zur Folge. „Grund und Folgen (z. B. eine Reihenbildung und die neuen, aus ihr folgenden Verhältnisse) machen eine logische Totalität aus". Werden nun „qualitative und sukzessive Verschiedenheiten auf dem Wege der Analogie unter logische und mathematische Gesichtspunkte gestellt" und nach dem Verhältnis von Grund und Folge aufgefaßt, so liegt Kausalität vor. Wir kommen damit zu den realen Kategorien. Ursache und Wirkung sind „Glieder einer realen Gedankentotalität". Vor allem zeigt sich das Totalitätswesen der Kausalbestimmung darin, daß das einzelne Kausalverhältnis nur durch Einglie- derung in einen übergeordneten Kausalzusammenhang verstanden werden kann. Es kommt darauf an, einerseits „das Verhältnis zwischen den Gliedern einer und derselben Kausalreihe zu finden" und sodann „das Verhältnis zwischen den ver- schiedenen Kausalreihen, die zusammen das Resultat bestimmen, zu analysieren". 186 Besprechungen (Höffding). Noch mehr als in der mathematischen Naturwissenschaft, an die man bei diesen Ausführungen über das Kausalproblem in erster Linie denken könnte, erweist der Totalitätsbegriff seine Fruchtbarkeit in der biologischen Naturwissenschaft sowie in der Psychologie und Soziologie; hier konkretisiert sich die allgemeine Tota- litätstendenz des Denkens zu einer speziellen Kategorie der Totalität. Nur als Totalitäten können der Organismus, die Persönlichkeit und die Gemeinschaft be- griffen werden. Es stehen sich hier*der Mechanismus und der Vitalismus in der Biologie, der Assoziationismus und der Spiritualismus in der Psychologie, der Individualismus und der Sozialismus in der Soziologie gegenüber, nämlich je nachdem man die Totalität aus ihren Elementen oder die Elemente aus der Tota- lität erklären will. Einzig „ist es die Gesetzeserkenntnis, soweit eine solche möglich ist, die über die streitenden Auffassungen hinausführen kann" ; denn „auf dem sozialen wie auf dem psychologischen und dem biologischen Gebiete gilt es, das Gesetz, oder richtiger die Gesetze, mittels welcher ein Totalzusammenhang als solcher hervortritt, zu finden". Wenn nun gefragt wird, ob die Voraussetzungen für die Entstehung und Erhaltung einer Totalität vorhanden, ob die vorliegenden Umstände hierfür günstig oder ungünstig sind, so stellt sich der Wertgesichtspunkt ein. Der Totalitäts- begriff kommt damit in engste Berührung auch mit der Kategorie des Wertes und folglich mit der Ethik, Geschichtsphilosophie u. s. w. In allen diesen Diszi- plinen, ja, überhaupt kann von Werten einzig gesprochen werden im Hinblick auf eine Totalität und ihre Bedingungen. Es gibt „für jede Totalität einen Gegensatz zwischen Wert und Wirklich- keit, indem die inneren Elemente und die äußeren Umstände ihr Bestehen ent- weder stützen oder hemmen können", sowie einen solchen „zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit", und die Bestimmung dieser Gegensätze stellt „die positive Seite der Untersuchung einer Totalität" dar; die negative liegt darin, daß jedwede Totalität nur „durch ihr Verhältnis zu einem von ihr selbst Verschiedenen" fest- gelegt zu werden vermag. Der letztere Umstand bewirkt es, daß eine absolute Totalität nicht aufgefunden werden kann, und der Totalitätsbegriff ist, von hier aus gesehen, ein Grenzbegriff. „Ein absoluter Abschluß würde den eigenen Ge- setzen des Gedankens widersprechen" ; jede Kategorie ist „eine ,Idee* in kan- tischer Bedeutung des Wortes, d. h. ein Gedanke, der stets neue Aufgaben stellt und in keiner Anschauung und in keinem abgeschlossenen Begriffe dargestellt werden kann, .... ein Arbeitsgedanke, der nur insoweit vorliegende Aufgaben löst, daß er zugleich auf neue Aufgaben hinweist". Mit dieser Auffassung der Erkenntnis als einer unendlichen Aufgabe steht Höffding offensichtlich auf neukantischem Boden. Ueberhaupt ist sein Verhältnis zum Kritizismus modernster Prägung ein recht nahes. In diesem hat der System- begriff mehr und mehr eine entscheidende Bedeutung gewonnen, so zum Beispiel ganz besonders in Arthur Lieberts Werken. Höffdings Totalitätsbegriff zielt aber letzten Endes auf gar nichts anderes ab als auf den Systembegriff; die totalitäts- bildende Tendenz des Denkens ist in der Sprache der kritischen Erkenntnistheorie die systematisierende Funktion der Vernunft. Freilich ist der Unterschied im tiefsten Grunde wohl doch mehr als ein bloß terminologischer. In der Erkenntnislehre des Kritizismus bezeichnet das System den Gegensatz zum Ganzen; es handelt sich um den Gegensatz zwischen logischer Apriorität und psychologischer Aposteriorität. Die logische Einheit der Erkenntnis ist eine apriorische; sie beruht auf der grundlegenden Einheit des die Elemente korrelativ und damit als Systemglieder verknüpfenden Prinzips. Die psychologische Einheit der Erkenntnis ist hingegen eine aposteriorische; sie liegt in der nachträglichen Verbindung der den psychischen Totalprozeß des Denkens zusammensetzenden elementaren Partialprozesse. Wie stark nun auch die logisch-erkenntnistheoretischen Impulse bei Höffding fraglos sind, so will es dennoch scheinen, als ob es sich für ihn weniger um die logische Erkenntnis- funktion als um den psychischen Denkprozeß handele, und von hier aus wird es denn auch verständlich, warum bei ihm an die Stelle des Systembegriffs der der Totalität tritt. Besprechungen (Höffding — Koppelmann). 187 In dieser Hinsicht sind seine Ausführungen über das Verhältnis von Psycho- logie und Erkenntnistheorie sehr interessant. Zwar sagt er, man könne „aus der Psychologie keine Erkenntnistheorie deduzieren", es „entwickele sich der erkenntnis- theoretische Gesichtspunkt allmählich zur Selbständigkeit" ; aber er hält an einem „Anfangspunkte" fest, der „psychologisch" ist „oder . . . auf einem der Psycho- logie und der Erkenntnistheorie gemeinsamen Gebiete" liegt. Er lehrt den Zu- sammenhang von Psychologie und Erkenntnistheorie im Hinblick darauf, daß „das wissenschaftliche Denken" nur „eine durch bestimmte Aufgaben bedingte besondere Ausformung" des „gewöhnlichen menschlichen Bewußtseinslebens" ist. Darum erklärt er auch : „Die Frage nach dem ersten Anfang der Wissenschaft fällt weg", und er behauptet: „Es kann schwierig sein, zwischen Anschauen und Urteil eine scharfe Grenze zu ziehen". Psychologisch ist das ganz gewiß richtig; aber in logischer Hinsicht kann und muß „zwischen Anschauen und Urteil eine scharfe Grenze" gezogen und damit auch der „erste Anfang der Wissenschaft" bezeichnet werden. Aus dem psychologistischen Einschlag erklärt sich auch Höffdings Unter- scheidung zwischen formaler und realer Wahrheit sowie die Auffassung, daß die letztere eine bloße Analogie zu jener sei. Endlich hängt damit auch noch eine Schwierigkeit zusammen, die sich an den Begriff des „unmittelbar Gegebenen" bei flöffding knüpft. Dieser meint, daß man „schon im unmittelbar Gegebenen .... die Gesetze und Formen, die der Arbeit des Nachdenkens zugrunde liegen, spüren" könne. Ja, er sagt sogar, „auf dem organischen, dem psychischen und dem sozialen Gebiete" finde man „unmittelbar gegebene Totalitäten", sei die Totalität „ein vorliegendes Erlebnis", handele es sich um Erlebnisse, „die von Anfang an, aller denkenden Bearbeitung voraus, mit dem Gepräge der Totalität hervorträten und nicht nötig hätten", ihr „Gesetz von dem Gedanken zu borgen". — So zeigt sich auch hier die Verwandt- schaft zwischen psychologistischen Tendenzen und einer ontologistischen Meta- physik ! Allein neben den großen positiven Werten, die Höffdings Studie eigen sind und zum Teil durch ihre vorangegangene Analyse ins Licht getreten sein dürften, sind es nicht zum mindesten auch gerade solche Schwierigkeiten, die ungemein anregend wirken ; denn diese Schwierigkeiten sind keine anderen als die , mit denen die Philosophie von jeher kämpft und um deren Ueberwindung sich die gesamte philosophische Forschung unserer Tage müht. Mit dieser steht Höffding in engster Berührung; seine Auseinandersetzungen mit Cohen, Heinrich Maier, Rickert, Driesch, Bergson u. s. w. machen die Schrift höchst interessant und for- dern zu intensivster Mitarbeit auf. Berlin- Wilmersdorf. Kurt Sternberg. Koppelmann, Wilhelm, Professor an der Westfälischen Wilhelms - Univer- sität in Münster i. W. Untersuchungen zur Logik der Gegenwart. II. Teil : Formale Logik. (Berlin 1918, Verlag von Reuther & Reichard). 4dl S. Nachdem in den „Kantstudien" Bd. XXIII, Heft 1, S. 128/135 der erste Teil von K.'s groß angelegtem Werk zur Anzeige gelangt war, liegt nunmehr auch der zweite zur Besprechung vor. Mehr noch als in jenem anderen Bande, der erkenntnistheoretischer Natur ist und die allgemeinen Prinzipien der Er- kenntnis entwickelt, treten naturgemäß die Vorzüge und auch die Schwächen der K.'schen Untersuchungen in diesem Band hervor, der die Lehre von der An- wendung jener allgemeinen Prinzipien in den einzelnen Wissenschaften als for- male Logik bringt. Diese bestimmt K. in der ausführlichen Einleitung zu seinen Betrach- tungen „als die Lehre von den formalen Gesetzen und Mitteln resp. Bedingungen des Gedankenaustausches". Um den gedanklichen Verkehr soll es sich also handeln, um die „Formen der richtigen, klaren und einfachen Mitteilung des Ge- dachten". Man weiß, wie große Zweifel an dem Charakter, ja, an der Existenz- berechtigung der formalen Logik, die Kant noch ohne Bedenken als selbstrer- 188 Besprechungen (Koppelmann). standlich hinnahm, sich bei der modernen Fortbildung des Kantischen Kritizismus ergeben haben ; man sieht nun aber auch, auf welche Weise K. die formale Logik zu retten strebt. Sie ist ihm nicht die Wissenschaft vom Gedachten, von der Erkenntnis; denn dann würde sie unweigerlich mit der Erkenntnistheorie zu- sammenfallen, wie es sich denn ja in Wirklichkeit wohl auch verhalt. Mit der Uebermittlung der Erkenntnisse soll sie sich nach K. befassen. Dadurch wird zwar ihre Bedeutung als eine besondere, wenn auch methodisch von der Er- kenntnislehre abhängige Disziplin sichergestellt; zugleich will es aber scheinen, als ginge sie damit ihres reinen theoretischen und folglich auch ihres spezifisch philosophischen Charakters verlustig. Schon im ersten Band des K.'schen Werkes ist ein starker pragmatistischer Einschlag ganz unverkennbar; er zeigt sich inso- fern, als die Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, daß sie die Wirklichkeit berechenbar machen und auf diese Weise die Orientierung in ihr ermöglichen solle. Hieraus erklärt es sich, und es ist nur konsequent, daß nun auch im zweiten Bande das Problem aus dem Bereich des Theoretisch-Methodi- schen in den des Praktisch-Normativen verpflanzt wird, daß an die Stelle des Problems der reinen Erkenntnis das der Mitteilung von Erkenntnissen tritt. Diese geschieht vor allem durch die Sprache, und so nimmt K. die Sprache als hauptsächliches Werkzeug des wissenschaftlichen Verkehrs in seine Definition der formalen Logik auf: „Die formale Logik in dem soeben entwickelten Sinne hat es mit den Gesetzen oder, wenn wir uns noch unzweideutiger ausdrücken wollen, mit den Normen des durch die Sprache vermittelten Gedankenaustausches zu tun". Diese Definition darf aber nicht zu eng gefaßt werden ; außer dem sprachlichen berücksichtigt K. auch den ideographischen Ausdruck der Ge- danken. Es finden sich bei ihm ebenso interessante wie lehrreiche Meditationen über Evolution und Bedeutung von Ideographie und Sprache, besonders in ihrem Verhältnis zur Logik. Allein man darf trotz K.'s Versuches einer scharfen Grenz- absteckung zwischen Logik und Sprachwissenschaft Zweifel darein setzen, ob es ihm gelungen ist, beide hinreichend auseinanderzuhalten. Zwar wirft er aus- drücklich den Logikern vor, daß sie „von des Aristoteles Zeiten an bis in die Gegenwart hinein mit wenigen Ausnahmen viel zu sehr an der Sprachform geklebt haben", und sein Bestreben, diesen Fehler zu vermeiden, ist unverkennbar und im einzelnen gewiß auch oft von Erfolg gekrönt; allein er sollte einmal in Er- wägung ziehen, ob nicht im Prinzip er, der „unter Urteil die sprachliche oder ideographische Formulierung eines Gedankens resp. einer Erkenntnis" versteht, der „das Urteil . . . aus Wörtern oder ideographischen Zeichen zusammengesetzt" sein läßt, der Gefahr einer Verquickung von Logik und Grammatik mehr erlegen ist als beispielsweise Kant, in bezug auf den er die ebenso seltsame wie unbe- rechtigte Behauptung aufstellt, daß er „die sprachliche Form der Urteile zur Ableitung seiner Kategorientafel, die sprachliche Form der Schlüsse zur Ableitung seines Systems der transzendentalen Ideen in Beziehung brachte". Indem K., wie soeben dargelegt, im Urteil eine Zusammensetzung von Wörtern sieht, muß er die Lehre vom Begriff der vom Urteil voranstellen ; denn die Wörter können und dürfen natürlich erst zusammengesetzt werden, nachdem über ihre Bedeutungen, über die durch sie ausgedrückten Begriffe, Klarheit geschaffen ist. Es ist bekannt, daß sich neuerdings — sofern nicht die völlige Gleichwertigkeit von Begriff und Urteil proklamiert wird — in steigendem Rtaße die Tendenz durchgesetzt hat, das Schwergewicht auf die Urteilslehre zu legen, und zwar so- wohl von Seiten der kritischen wie auch von Seiten der psycho logistischen Logik. K. will davon nichts wissen. Was er in dieser Absicht vorbringt, ist gegenüber den Motiven, welche die psychologistische Logik veranlassen, die Urteilslehre in den Mittelpunkt zu stellen, durchaus überzeugend ; aber die Gründe, aus denen die Logik des Kritizismus sich entschlossen hat, das Urteil dem Begriff gleich- resp. überzuordnen, werden dadurch keineswegs entkräftet, auch nicht durch die dies- bezüglichen Ausführungen an einer späteren Stelle. Bevor K. aber noch an die Lehre vom Begriff herantritt, entwickelt er zu- nächst einmal in seinem ersten Kapitel „die obersten Gesetze des Gedanken- verkehrs." Es handelt sich um die bekannten „Denkgesetze", die jedoch von Besprechungen (Koppelmann). 189 ihm nicht als Formen der Erkenntnis, sondern der Erkenntnisübermittlung ver- standen werden. So lautet bei ihm das Identitätsprinzip: „Beim Gedanken- austausch müssen die BedeutuDgen, welche die Beteiligten mit den Wörtern oder ideographischen Zeichen bez. mit den gebräuchlichen sprachlichen oder ideo- graphischen Formulierungen verbinden, identisch sein und bleiben". Auf das „Bleiben" legt K. einen ganz besonderen Wert : „Durch den Zusatz „und bleiben" soll angedeutet werden, daß die Wortbedeutungen resp. Begriffe nicht allein nicht verändert, sondern auch nicht erweitert werden dürfen." Es ist gewiß richtig, daß jede Erweiterung des Begriffsinhalts „durch den individuell völlig verschie- denen Fortschritt der Erkenntnis ausgeschlossen" ist und sein muß ; es gibt aber nicht nur einen subjektiven, sondern auch einen objektiven Fortschritt der Er- kenntnis. Wäre sich K. des in objektivem Sinne verstandenen unendlichen Pro- gressus, der dem Wesen der Erkenntnis eignet, ihres Prozeßcharakters hinreichend bewußt geworden, so würde er gesehen haben, daß die objektbestimmende Identität sich mit einer objektiven Erweiterung des bestimmenden Begriffs sehr wohl ver- trägt, daß sie überhaupt nicht eine bloße Form der Erkenntnisübertragung, son- dern ein Grundgesetz der Erkenntnis selbst ist. Wie dem Prinzip der Identität, so dürfte K. auch dem des Widerspruchs nicht ganz gerecht werden. Um „Widersprüche in unseren Aussagen", nicht um solche in der Erkenntnis selbst handelt es sich hier für K. Sie brauchen „durchaus nicht immer in unlogischem Denken ihren Grund zu haben, sie können auch aus nachlässiger oder ungeschickter Handhabung der Ausdrucksmittel, die uns zur Verfügung stehen, entspringen. Die Widersprüche, welche auch bei be- deutenden Denkern gar nicht so selten sind, müssen gewiß zum großen Teil gerade hierauf zurückgeführt werden." Die Widersprüche, die sich bei großen Geistern — z. B. bei Kant, auf den sich K. in diesem Zusammenhang bezieht — aus der eigentümlichen Struktur der Probleme, aus der immanenten Problematik des Gegen- ständlichen ergeben, die treibende Kraft des Widerspruchs beim Aufbau des Gegenständlichen selbst läßt K. unberührt. Auch die Sätze vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Grunde werden von ihm nicht als Fundamentalgesetze der Erkenntnis resp. Objektivität, sondern als bloße Normen des geistigen Verkehrs betrachtet. Immerhin wird man seine in Verbindung mit dem letzten Satz auftretenden Ausführungen gegen die psychologistische Evidenzlehre nur voll und ganz unterschreiben können. Nach der Erörterung der genannten vier Gesetze wird im zweiten Kapitel das Augenmerk auf „die Hauptklassen der Wortbedeutungen" gerichtet. Es werden zuerst die „Wörter für Kategorien" behandelt. Kategorien sind — immer nach K. — dadurch kenntlich, daß sie niemals als echte Prädikate gebraucht werden können; denn sie geben keine Antworten, dienen vielmehr der Stellung von Fragen und Problemen. Es werden Sinnes- und Verstandeskategorien von- einander unterschieden. Die ersteren (Farbe, Geruch usw.) beziehen sich auf die sinnlichen Wahrnehmungen und bleiben in der Sphäre der Subjektivität; die letzteren (Lage, Dauer, Ursache usw.) dienen dem Aufbau der objektiven Wirk- lichkeit aus den gegebenen sinnlichen Wahrnehmungen resp. Wahrnehmungs- ordnungen. Die Lösung der von den Sinneskategorien bezeichneten Aufgaben wird durch die „Wörter für sinnlich Wahrgenommenes" (für die einzelnen Farben, Gerüche usw.) versucht, welche keine eigentliche Erkenntnis enthalten und ver- mitteln; die Lösung der von den Verstandeskategorien bezeichneten Aufgaben wird durch die „Begriffe" (zur Bestimmung der Lage, Dauer, Ursache usw.) ge- leistet, welche allein wahre Erkenntnis liefern und mitteilen. .Diese K.'s gesamte Untersuchungen beherrschende Unterscheidung erscheint aber als nicht unbedenklich. Der Festlegung von sinnlichen Wahrnehmungen dient alles logisch- wissenschaftliche Verhalten; selbst die abstraktesten Begriffe, wie wenig sie auch aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen, stehen doch in einem Verhältnis zu ihr, soll ihnen überhaupt Bedeutung zukommen. Andererseits geht es nicht an, den wissenschaftlichen Konstituierungen der Farben, Gerüche usw. die begriffliche Dignität abzusprechen. Gewiß sind auf diesem Boden viel- fach noch nicht Begriffe von befriedigender wissenschaftlicher Exaktheit erreicht 190 Besprechungen (Koppelmann). worden; allein man ist immerhin auf dem Wege dazu oder strebt doch zum mindesten dahin. K. dürfte dem Wissenschaftscharakter der modernen Psychologie nicht ganz gerecht werden. Das Gleiche gilt hinsichtlich des Wissenschaftscharakters ven Zoologie und Botanik in Anbetracht dessen, was K. über „gemischte Wortbedeutungen" oder „Halbbegriffe" ausführt. Als solche Gebilde sieht er an „auf dem Gebiete der Zoologie und Botanik zahlreiche Wortbedeutungen, bei denen freilich auch ein Begriff, etwa Vogel oder Säugetier, zugrunde liegt, der dann aber durch die Ver- wendung von bloßen Sinnesqualitäten spezialisiert worden ist." Es mag richtig sein, „daß Buche und Eiche, Fichte und Kiefer, Pferd und Esel, Ziege und Anti- lope von den meisten Menschen durch die sinnlich wahrgenommenen Formen voneinander unterschieden werden"; das bezieht sich aber nur auf die psychische Entstehung der betreffenden Vorstellungen. Diese scheint K., der an anderer Stelle Psychologie und Logik scharf zu sondern strebt, hier nicht genügend von der logischen Bedeutung der betreffenden Begriffe fau trennen. Pferd und Esel im Sinne der Wissenschaft sind als gesetzliche Zusammenhänge gewisser Merk- male doch echte Begriffe! Im Uebrigen liegt die Sache ja wohl so, daß etwas entweder ein Begriff ist oder nicht, und die K.'schen „Halbbegriffe" dürften gegen den — richtig aufgefaßten — Satz vom ausgeschlossenen Dritten verstoßen. Als letzte Klasse der Wortbedeutungen werden die „Bezeichnungen für Einzelobjekte (Eigennamen und Stoffnamen)" genannt, wobei sich u. a. eine an- regende Auseinandersetzung mit Rickerts Theorie der individualisierenden Be- griffsbildung auf historischem Gebiete findet. Auch zu diesen Ausführungen über die Eigen- und Stoffnamen ließen sich allerlei Anmerkungen machen, die aber mit Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Raum — leider — unterdrückt werden müssen. Statt dessen mag sich die Betrachtung dem dritten und vierten Ka- pitel zuwenden, deren Thema „die Begriffsbildung" ist. Zunächst werden die „Begriffe zur Unterscheidung und Vergleichung" erörtert, nämlich die Zahl-, die Maß- und — interessanter Weise auch — die Münzbegriffe, sodann die „Begriffe zum räumlichen Aufbau der Wirklichkeit", d. h. die der Lage, Gestalt und Größe resp. der Lage-, Gestalts- und Größenverhältnisse. Von der Begriffsbildung in der Mathematik (Arithmetik und Geometrie) richtet sich die Untersuchung zu der in der mathematischen Naturwissenschaft (Chemie und Physik); es handelt sich um die „Begriffe zum zeitlichen Aufbau der Wirklichkeit", um die zur Be- stimmung von Zeitlage, Zeitgestalt und Zeitgröße. Schließlich folgen die „Be- griffe zum teleologischen Aufbau der Wirklichkeit", Begriffe der Biologie, Medizin, Psychologie, Rechtswissenschaft, Ethik, Theologie, aus der „Welt der Technik und überhaupt dessen, was die Menschen planmäßig und willkürlich schaffen" (Uhr, Luftschiff) sowie von „menschlichen Einrichtungen und Veranstaltungen" (Aktiengesellschaft, vor allem Staat). Durchweg wird höchst verdienstlich die „Selbständigkeit oder Autonomie der Begriffsbildung" stark betont; durchweg wird aber auch leider nicht minder stark das Ziel der Begriffsbildung aus- schließlich als ein „denkökonomisches" angesprochen, ihre Aufgabe einzig darein gesetzt, die Wirklichkeit zwecks Ermöglichuug praktischer Orientierung in ihr „berechenbar" zu machen. Ob man bei einer solchen biologistisch-pragmatistischen Einstellung überhaupt von „Selbständigkeit oder Autonomie der Begriffsbildung" sprechen kann und darf, mag dahingestellt bleiben. Immerhin: die Spontaneität der Begriffsbildung wird in entschiedener Weise verfochten, und im fünften Kapitel, das eine „Auseinandersetzung mit anderen Thoorien der Begriffsbildung" bringt, findet sich eine prachtvolle Abrechnung mit den empiristischen Abstraktionslehren. Sie stellt das Glanzstück des K.'schen Buches dar. Wesentlich schwächer und nur wenig überzeugend sind aber K.'s Einwände gegen die Marburger und Badener Schule, welche sich auf die Stellung dieser Schulen zu dem Problem des Verhältnisses von Begriff und Urteil einer- seits und zu dem Problem einer möglichen Begriffserweiterung andererseits be- ziehen. Es ist davon im vorigen bereits gesprochen worden. An die Untersuchung der Begriffe schließt sich im sechsten Kapitel die Besprechungen (Koppelmann — Lewin). 191 von „Frage und Urteil" an. Diese Zusammenstellung hat ihren Grund darin, daß nach K. „das Urteil als Ausdruck einer Erkenntnis stets als Antwort auf eine Frage aufgefaßt werden kann," Als erste von drei Hauptgruppen der Urteile stellt K. die analytischen Ur- teile heraus. Seine Auffassung dieser muß Bedenken erregen. Wenn er sagt: „Die Fragen, nach denen die echten analytischen Urteile orientiert sind, laufen sämtlich darauf hinaus, welche Bedeutung in der Psyche des Urteilenden mit einem Ausdruck verbunden sei", wenn er meint, daß es sich bei den analytischen Urteilen „um die Angabe der Bedeutung handelt, welche von dem urteilenden Subjekt selbst mit dem betreffenden Worte verbunden wird", so wird das logisch- objektive Problem offensichtlich ins Psychologisch-Subjektive hinübergespielt. Auch die K.'schen „Wahrnehmungsurteile" bergen Schwierigkeiten in sich, nämlich alle die Schwierigkeiten, die von Kants Gegenüberstellung der Wahr- nehmungs- und Erfahrungsurteile her bekannt sind. Der Zweifel, der im vorigen in bezug auf K.'s Unterscheidumg zwischen Sinnes- und Verstandeskategorien resp. zwischen Wörtern für sinnlich Wahrgenommenes und Begriffen geäußert wurde, bezieht sich naturgemäß auch auf die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisurteilen. Diese bilden nach K. die dritte Urteilsklasse. Bei ihnen müssen die apriori- schen (die mathematischen usw.) und die aposteriorischen (die empirischen Einzel- urteile nebst ihren Zusammensetzungen und die empirischen Allgemeinurteile) voneinander gesondert werden. Im Anschluß an die soeben geschilderte Urteilseinteilung werden im sie- benten Kapitel „Begründung und Beweis" der Urteile behandelt. Hierbei ver- dient volle Zustimmung der Standpunkt K.'s, daß alle Urteile, selbst „die Axiome der Euklidischen Geometrie", begründet werden können und müssen; auch wird es vielen aus dem Herzen gesprochen sein, wenn er den syllogistischen Figuren- kram wie noch „so manches andere in der traditionellen Logik" als bloße „Spielerei" bezeichnet. So fehlt es in dem auf jeden Fall beachtenswerten K.'schen Werke trotz manchem, woran Ausstellungen vom Standpunkt wahrhaft kritischer Logik aus unvermeidlich sind, nicht an solchem, das man freudig begrüßen kann. Zu den bereits genannten Vorzügen im einzelnen gesellen * sich andere, die durch das Ganze gehen. Die schon bei der Anzeige des ersten Bandes rühmend anerkannte Weite des von K. beherrschten Gesichtsfeldes tritt in diesem zweiten Bande beinahe noch mehr hervor; selbst die Geschichtswissenschaft, deren Ignorierung in der Besprechung des ersten Teils mit Bedauern konstatiert wurde, ist jetzt doch wenigstens in der vorher erwähnten Auseinandersetzung mit Rickert berück- sichtigt worden. — Die durchgängige Klarheit und Anschaulichkeit der mit vielen einfacheren Beispielen ausgestatteten Darlegungen ist ein weiterer Vorzug des Buches. Seine Brauchbarkeit für den, der Fühlung mit der modernen Logik zu gewinnen strebt, wird noch dadurch erhöht, daß bei der Erörterung verschiedener Fragen die gegensätzlichen Antworten, die man auf sie gegeben hat, einander gegenübergestellt werden. Überhaupt ist daran festzuhalten, daß der Wert des Werkes mehr in der instruktiven Aufrollung und Entwicklung der Probleme liegt als in dem Weg, den K. zu ihrer Lösung einschlägt, oder gar als in den von ihm beigebrachten Lösungen. Berlin- Wilmersdorf. Kurt Sternberg. Lewin, Knrt, Privatdozent an der Universität Berlin. Die Verwandt- schaftsbegriffe in Biologie und Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume. Abhandlungen zur theoretischen Biologie, herausgegeben von Dr. Julius Schaxel. Heft 5. Berlin , Verlag Gebr. Bornträger. 1920. 34 S. Das Heftchen ist ein Teil einer noch zu veröffentlichenden größeren „wissen- schaftstheoretisch vergleichenden" Arbeit. Was ihm eine mit dem geringen Um- fang kontrastierende und, wie wir glauben, erhebliche Bedeutung für die Logik, 192 Besprechungen (Lewin). besonders die Kategorienlehre, verleiht, ist nicht nur die Forderung einer ver- gleichenden Wissenschaftstheorie ; dieser Gedanke ist auch anderweitig schon ausgesprochen worden und liegt heute gewissermaßen „in der Luft". Das wesent- liche Moment erblicken wir in der nachdrücklich vertretenen methodischen For- derung, daß nicht ohne weiteres gleichlautende Begriffe verschiedener Wissen- schaften wegen ihrer äußeren Aehnlichkeit als „wissenschaftstheoretisch äquivalent" angesehen werden dürfen, sondern daß der Grundsatz der ver- gleichenden Morphologie entsprechende Anwendung finden muß, nach dem nur „homologe" Objekte in Parallele gezogen werden dürfen. Diese Homologie, diese Aequivalenz ist in jedem Falle durch sorgfältige Untersuchung nachzu- weisen. Wie diese Forderung zu verstehen ist, wird nun in sehr scharfsinniger Weise an einer Untersuchung der Verwandtschaftsbegriffe in Physik und Biologie dargelegt, wobei in die Physik auch die Chemie einbegriffen wird. Nur die Grundgedanken seien kurz hervorgehoben: In der Chemie wird als Verwandtschaft einmal die Affinität oder „Fähigkeit zur Vereinigung", zweitens die Aehnlichkeit des Verhaltens unter verschiedenen Bedingungen, die „Eigenschaftsähnlichkeit", bezeichnet. Ein Beispiel der 1. Art bilden etwa Chlor und Wasserstoff, eines der 2. Art Chlor und Brom. Beide Begriffe fallen keineswegs zusammen : Stark affine Stoffe sind sogar in der Regel eigenschaftsunähnlich. In der Biologie gibt es dagegen vier verschiedene Verwandtschaftsbegriffe, von denen nur zwei wissenschaftstheoretisch den beiden chemischen äquivalent sind; diese beiden stellen Ausprägungen der „Eigenschaftsbeziehung" dar. Organismen gelten als verwandt, 1) „wenn sie selbst oder ihre Geschlechtsprodukte sich zur Bildung neuer Organismen real vereinigen" können (Vereinigungsfähigkeit), und 2) wenn sie gleiche oder ähnliche Eigenschaften haben, einem gleichen oder ähn- lichen „Typus" angehören. In einer interessanten, den Kernpunkt der gegen- wärtigen Diskussion über den Darwinismus berührenden Untersuchung wird ge- zeigt, daß in enger Uebereinstimmung mit der Chemie biologisch eine „Typen- verwandtschaft" anzusetzen ist, die unabhängig von der tatsächlichen, geschicht- lichen Entwicklung ist und systematischen Charakter hat. Bei einem so zu fordernden „ideellen Stammbaum", der „nicht nur die zufällig entstandenen, sondern die überhaupt möglichen Organismen umfassen" müßte, handelt es sich also nicht darum, daß die geschichtliche Entwicklung gerade diesen bestimmten Verlauf genommen hat, sondern in „Aequivalenz" zur „Ableitbarkeit" von Ver- bindungen oder Elementen in der Chemie darum, daß eine ideelle begriffliche Ableitung möglich ist. Es ergibt sich also ein „natürliches System", das mit dem phylogenetischen nicht identisch ist oder wenigstens zu sein braucht. Ueber seine Durchführbarkeit wird der Fortgang der Biologie entscheiden müssen. Außer diesen beiden Begriffen finden sich in der Biologie noch andere, in denen Verwandtschaft als „Existentialbeziehung" gefaßt wird. Für diese sind die bei den vorgenannten Begriffen wesentlichen Gleichheiten oder Unähnlich- keiten des Verhaltens oder der Entwicklung gleichgültig. Solche Beziehung kann zwischen Gebilden bestehen, die entweder aus einander hervorgegangen sind oder aber gemeinsame Vorfahren oder Nachkommen besitzen. Im letzteren Falle ist weiter zu unterscheiden zwischen „Gattenschaft" (Connubialverwandtschaft) und „Blutsverwandtschaft" (consanguinitas). Diesem entspricht in Physik und Chemie keine äquivalente Beziehung. Unter einander sind sie durch verschiedene Arten von Existentialreihen gekennzeichnet, an denen die grundlegende Verschiedenheit von Biologie und Geschichte zu Tage tritt. Aus der Verkennung dieser Tatsache ergibt sich die Erklärung für die Unvollkommenheit aller bisherigen Stammtafeln und der Vorschlag einer „chronologischen Stammtafel", über deren Wert und wissenschaftliche Zweckmäßigkeit aber nicht die Philosophie, sondern die Biologie zu entscheiden haben wird. Dresden. Privatdozent Dr. Walter Blumenfeld. Besprechungen (Moog). 193 Moog, W., Privatdozent an der Univ. Greifswald, „Logik, Psychologie und Psychologismus". Halle a. S., (Max Niemeyer) 1920. VIII + 306 S. Der I. Teil dieses Werks ist stellenweise anders und noch unerweitert im Archiv f. d. ges. Psychologie Bd. 37 (1918), Heft 4 erschienen, der andere Teil ist dreimal so stark. Beide Teile gehören wie kritische mit positiven Aufstellungen zusammen (2). Wie M. schon in einem Aufsatz der Kant-Studien (23. Jahrg. 1918, Einheit und Zahl, S. 302 f.) als sein Hauptaugenmerk „das System als das pri- märe, apriorische Einheitsprinzip" (136) heraustreten läßt, so ist auch das vor- liegende Werk „wissenschaftssystematisch" gerichtet. Der I. Teil zeigt, wie die moderne Philosophie bei der Auseinandersetzung mit zentralen Fragen zu einer Zweiteilung versucht ist : die derjenigen entspricht, welche alle philosophischen Strömungen den zwei Gruppen: Idealismus (Kritizis- mus) und Realismus (Positivismus) zuordnen läßt (1) und sich im Besonderen — namentlich seit Aufschwung des Kantianismus einer- und der Naturwissenschaft anderseits — in der Gegenüberstellung von Logik und Psychologie bekundet (2): so spricht Kant von psychologiefreier Logik und einer angewandten mit psycho- logischen Prinzipien (4); so sieht sich M. insbesondere angesichts der Unter- scheidung philosophischer von empirischer Psychologie bei Lipps und Natorp zur wissenschaftssystematischen Frage veranlaßt: was die Glieder solcher Unter- scheidung mehr als den Namen gemein hätten (45, 58, 245), und ob nicht das philosophische Glied nicht nur keine eigentliche Psychologie mehr, sondern geradezu Logik oder doch durch diese ersetzbar sei und zwar zu Gunsten um- fassenderer Einheit (46, 59), ebenso fragt M., ob Cohen nicht aus unzulänglicher begrifflicher Darstellung doppelt Abschluß suche (55), und betont z. B. gegen Natorp, daß die Logik auch als Abschluß gelten kann (58), mit Aufstellung einer „allgemeinen Psychologie" indes das Philosophische das Psychologische verdränge (60), wie Lipps seine „Psychologie als Grundwissenschaft" zu trans- zendentaler Logik mache (46). Umgekehrt verleite der Name Psychologie, auf Umfassenderes übertragen, zu Psychologismus (45). Als ein Verdienst Cohens wird erwähnt, daß sich von der transzendentalen Methode aus der Psychologismus zu einem System der Erkenntnis außerstande zeige (53). Als Fortschritt Natorps über Lipps hinaus wird hingestellt, daß bei Lipps die Psychologie „grundlegend" auftrete, nicht mehr aber bei Natorp (58). Metaphysizierender Psychologismus wird u. a. bei Husserl (34), Lipps (43, 48) und Natorp (59) konstatiert. Indem Psychologismus mit Rehmke als metaphysisch verhüllter Dualismus gefaßt wird (73), erscheint Rickert schon im Ansatz einer Transzendenz als in psycholo- gistischer Selbstverwicklung befangen (63) ... ja selbst Kants Lehre von „Syn- thesis" und Unterscheidung von „analytischen und synthetischen Urteilen", da „Synthesis" doch irgendwie eine „innere Tätigkeit des Bewußtseins" voraus- setze (74). Auch Wundts Heranziehung von Genetischem wird als solche für Psychologismus erkannt (71). Immerhin läßt der I. Teil annehmen, daß sich die moderne Logik zur Anerkennung der Durchschlagskraft des Psychologismus- Vorwurfs durchgerungen hat (36). Der II. Teil verwirft materiale wie formale Einteilungsgründe für Wissen- schaften und gliedert diese teleologisch - systematisch (137, 142). „Die Wissen- schaften ordnen sich . . . nach logischen Bestimmtheitsstufen" (143). „Wenn man die Gegenstände" der obersten, philosophischen „Wissenschaftssphäre > ideale < nennt, so" ist doch „ihr . . Sein . . nichts Existentiales, sondern . . der systematische Geltungszusammenhang, in den sie eingeordnet sind" (144). Die Verbindung /.wischen ihr und den „Einzelwissenschaften . . stellt die Mathematik her" (148), material - systematisch : die Psychologie (236, 275). Die „Geisteswissenschaften" erscheinen als „Subjekt - petal" (161), die „Naturwissenschaften": als „subjekt- fugal" (162). — „Es bestehen keine primären konstitutiven Beziehungen von der Psychologie zur Logik" (274, 154); doch kann „bei der Eruierung des einzelnen Praktischen und Normativen die psychologische Beziehung von Nutzen sein" (277), und damit mittelbar auch die Logik in ihrem faktischen Aufbau gefördert werden, . . selbst experimentelle . . Denkpsychologie darf nicht als unnütz bezeichnet Kant stndien. XXVI. 13 194 Besprechungen (Moog — Moog). werden (allerdings wird man über den engen Bezirk wie ihn z. B. die Külpe'sche Schule bearbeitet, hinauszukommen suchen müssen)". Bei allem Logismus wird doch Logizismus zurückgewiesen (27, 34, 43, 52, 78, 135, 216), . . ja der Psychologismus von mancher Kritik zunächst entlastet, um hinterher triftiger widerlegt zu werden. So zeigt sich, daß es ein zweifel- hafter Diens't an der Logik ist, ihr mit Husserl alle Logizität zuzuweisen und so in der Psychologie etwa nur Relativität, Anthropologismus anzutreffen; viel- mehr wird dadurch die Verwandtschaft zwischen Logischem und Realem verkannt (15, 53, 54). „Die Natur wäre nicht Natur, noch die Gesetzmäßigkeit der Natur Gesetzmäßigkeit, wenn sie nicht als solche logisch wären" (203). „Nicht einmal das Empirische könnte als Empirisches bestimmt werden, wenn es nur Empirisches und nicht auch Logisches wäre" (260). So steht die Logik auch über den Gegen- sätzen zwischen Subjekt und Objekt (144), Materie und Form (208), richtig und unrichtig (226), empirisch und ideal; theoretisch und praktisch; allgemein, beson- ders und Abstraktionstheorie (233), reflektiert und unreflektiert (266). Die Er- kenntnistheorie wird mit Fug der Logik eingeordnet (65, 231): beachtenswert sind hierüber insbesondere die Bemerkungen zur Abbildtheorie (81, 286). Die logische Grundlegung ist autonom, insbesondere gegenüber den psychischen Akten (59), da sie darin, mit Kant zu reden, nicht „entspringt", obzwar „anhebt" (258). Zu wünschen wäre eine Untersuchung dieser Autonomie z. B. mit Rücksicht auf Rehmkes „Grundwissenschaft" und Ziehens „Gignomenologie". — Rezensent er- blickt unter wenigen Vorbehalten in dem Werke einen unübergehbaren Markstein des Psychologismusstreits, und hofft, daß Forschungs- wie Darstellungsarbeit durch denktechnische Vervollkommnung mathematisch -logischer Hilfsmittel immer ex- akter, einstimmiger in der Richtung führt, wie sie die Worte bezeichnen: „im Denken des Erlebbaren liegt das Ziel der Philosophie, nicht im Denken des Erlebbaren" (59). Stuttgart. Dr. K. F. Endriß. Moog, W., Privatdozent an der Univ. Greifswald. Das Verhältnis der Philosophie zu den Einzeiwissenschaf ten. Halle a. S., (Max Niemeyer) 1919. 24 S. Im Gegensatz z. B. zu Külpe und Ostwald ist die Philosophie für M. keine vorbereitende und von Einzelwissenschaften eng abhängige Zusammenfassung (12, 11, 15), oder Wissenschaft als ihr Objekt voraussetzende Riehl'sche „Wissen- schaftslehre" (16), noch > kritische Ergänzung < im empiristischen Sinne Machs (12), harmonisierende Induktion wie bei Wundt und Külpe (13, 14), oder metho- disch veränderte Fortführung von Wirklichkeitsproblemen wie bei Rickert (17); sondern — abgesehen von vorstufenmäßiger Weltanschauung — Wissenschaft (23, 24). „Wissenschaft wird in ihrem Wesen nicht durch das empirische Ma- terial bestimmt", sondern vom System aus (14). Diesen Wesenszug hat die Philo- sophie sonach nicht voraus ; auch besteht ebendeswegen kein methodischer Unter- schied, wie ihn Rickert auf Wert- und Sinnprobleme stützt, denn metaphysische Probleme „sind in gleicher Weise Erkenntnisprobleme" (17). Obwohl M., Rickert und Boutroux z. B. in Vergleich ziehend, bei Husserl Philosophie > als strenge Wissenschaft < unterstrichen sieht; bezweifelter doch auch die „Hinlänglichkeit" phänomenologischer Methode (24). — „Philosophie braucht die Beziehung zum Leben nicht zu lockern" (24). Die geschichtliche Entfaltung der Philosophie kommt übersichtlich und lebendig zur Darstellung (6 — 20), was die Schrift — zumal mannigfache Beziehungen zu Einzelberufen betont werden — für Seminar- zwecke empfehlen dürfte. „Noch weiß z. B. der Jurist vielfach nicht, wie sehr seine Wissenschaft nicht nur auf philosophischen Grundlagen ruht, sondern auch . . philosophischer Erkenntnis bedarf": „bei der Gesetzesauslegung und Urteils- formulierung ist . . oft spezielle logisch- wissenschaftliche Erkenntnis nötig" (21). Mit Fug wird hervorgehoben, daß die Philosophie . . insbesondere die Mathe- matische Logik nicht auf mathematischen Voraussetzungen beruhen kann, sondern die Mathematik philosophische Grundlagen benötigt (19). „Die Einzelwissen- Besprechungen (Moog — Phalen). 195 ■Schäften können aus inneren, objektiven Gründen nicht für sich dastehen" (15). — „Einzelnes und Allgemeines sind relativ, die Philosophie aber geht auf das letzte Allgemeine" (16), und „diese Beziehung ist in ihrer reinsten Form die logisch ableitende der allgemeinen Logik" (17). „Eine Begründung . . kann das Einzelne nur durch Allgemeines empfangen", durch die „Idee der Erkenntnis", „das logische Prius vor den Einzelwissenschaften" (15). „Eine solche allgemeine Wissenschafts- lehre muß Logik und Methodologie der Wissenschaftlichkeit überhaupt sein, . . die Prinzipien aller Erkenntnis enthalten . ." und zwar nicht bloß formal, wie z. B. Zeller die Methodologie von inhaltlichen Voraussetzungen trennen will (16). — Bequeme Lesbarkeit macht die Schrift zu einem geeigneten Uebergang auf M.'s schwierigeres Werk „Logik, Psychologie und Psychologismus." Stuttgart. Dr. K. F. Endriß. Phalen, Adolf, Professor an der Universität Uppsala, Das Erkenntnis- problem in Hegels Philosophie, Inaugural-Dissertation. Uppsala 1912. Akad. Buchdruckerei. 458 S. Preis zur Zeit 8,25 schwed. Kronen. Wenn der Weg von Kant über Fichte zu Hegel der Ausdruck einer mit immanenter logischer Notwendigkeit fortschreitenden Entwicklung der Kantischen Lehre ist (siehe : Liebert, Wie ist krit. Philosophie überhaupt möglich ? S. 33), dann könnte es sein, daß auch die heutige deutsche Philosophie, fünfzig Jahre nach dem „Zurück zu Kant", wieder nahe bei Hegel steht. Darum muß die Ab- sicht zeitgemäß sein, den Nerv dieses Fortgangs von Kant zu Hegel herauszu- präparieren, zumal wenn sie sich mit dem Gedanken verbindet, diesen ganzen Prozeß zwar als in sich konsequent, seine Voraussetzungen aber als verfehlt nachzuweisen. Diesen Versuch hat der schwedische Forscher in vorliegendem geistvollen Werk gemacht, welches in der Hegelforschung u. E. einen Höhepunkt darstellt 1). Phalen erbringt zuerst einen Beweis (S. 15 — 136) für seine Grundannahme, daß das Hauptproblem Hegels das erkenntnistheoretische ist, daß alle wichtigeren Begriffe bei Hegel erkenntnistheoretisch charakterisiert sind und daß sein Ge- dankengang nur die konsequente Entwicklung der Voraussetzungen ist, die von vornherein im Erkenntnisproblem, wie dieses schon Kant gestellt hat, liegen. Dieses Problem wird (S. 7) als „die Frage nach der Möglichkeit für das Subjekt, seine Uebereinstimmung mit etwas von ihm unabhängigem Objektiven zu wissen" formuliert, und es werden sowohl die Kantische (Wie kann Erkenntnis objektive Gültigkeit haben?) als auch die Hegel'sche (Wie ist Erkenntnis des „Dinges an sich" möglich?) Fassung desselben auf obigen allgemeinen Ausdruck reduziert. Phale'n ermittelt aus den Bedingungen des Problems, daß von diesem bei Hegel verschiedene Auffassungen vorliegen müssen : eine, die das Problem nur als „pro- pädeutisch", eine andere, die es als „der Wissenschaft angehörig" faßt. Zugleich wird klar, daß die ganze Methode Hegels — als eine solche der „Subjekt- Objek- tivität" — eben eine Methode nur zur Lösung dss Erkenntnisproblems sein kann, wie auch, daß für Hegel selbst sein Hauptproblem notgedrungen sowohl das er- kenntnistheoretische ist als auch nicht ist. Da es nun Phale'n auch gelingt, den Erkenntnisgegensatz als in den wichtigsten Trilogien der Hegel'schen Logik hervortretend nachzuweisen (S. 184—227), so kann er nun von seiner Grund- annahme aus eine wirkliche Erklärung des ganzen Systems versuchen (S. 293—389), welche die Hegel'sche Philosophie nicht einfach als Nest von Widersprüchen und Hegel selbst als „logisch Schwachsinnigen" behandelt, sondern die inneren Motive bloßlegt, welche genau zu der dialektischen Entwicklung führen mußten, die Hegel nur furchtlos und folgerichtig durchgeführt hat. Alle die ständig wiederkehrenden Doppelgedanken und Zweideutigkeiten, welche die Verzweiflung aller Kommen- tatoren bilden und denen gegenüber die Kritik sich bisher darauf beschränkt hat, sie einfach zu konstatieren, enthüllen sich in Phalön's Interpretation als voll- 1) Insbesondere seien die Bearbeiter der Hegelpreisaufgabe auf das Buch hingewiesen. 13* 196 Besprechungen (Phaldn — Rauschenberger). kommen konsequent, indem nämlich gezeigt wird, wie man mit Hegel' s Voraus- setzungen nicht, ohne sich zu widersprechen, seine Entwicklungen leugnen kann (S. 241). Als die letzte Quelle des Irrtums in diesem ganzen Fortgang erscheint der Subjektivismus in Form einer letzten Annahme, „daß das Subjekt nur sich selbst auflassen kann" (S. 335). Das Erkenntnisproblem aber hat eben von vorn- herein eine solche Struktur — basierend auf dieser letzten Annahme — , daß ein jeder, der es sich stellt und in seiner Behandlung desselben nicht von allem An- fang an. zur Einsicht in die Unmöglichkeit der Voraussetzungen gelangt, aus denen überhaupt das Problem hervorgeht, den ganzen Gedankengang, welcher schließlich zur Dialektik führt, annehmen muß und ihn nicht, ohne mit sich in Widerspruch zu geraten, leugnen kann. Wje man sieht, ist Phalen's Behauptung ziemlich weitgehend und sehr geeignet, dem gegenwärtigen Gang der Philosophie zu Hegel hin Schwierigkeiten zu machen; erscheint doch der ganze Kantische Standpunkt mitbetroffen (S. 250—262). Von hier aus zeigt sich auch erst der Untertitel, den Phalen seinem Buche gibt : „Die Erkenntniskritik als Metaphysik" im richtigen Licht. Sowohl in der Kantischen Fassung des Erkenntnisproblems in der Analytik (Wie können subjektive Bedingungen des Denkens objektive Gültigkeit haben?), wie auch in den verschiedenen Fassungen der Neukantianer soll nach Phalen implicit ausgesprochen sein, daß die Einheit des Bewußtseins schließlich eins sein soll mit der des Objekts und umgekehrt, soll eine Erklärung liegen, wie etwas von dem Bewußtsein Unabhängiges möglich ist oder bewußt werden kann. Daraus ergibt sich: „Soll das Objekt aus dem Subjekt erklärt werden, so setzt man voraus, daß es ein Problem ist, wie es überhaupt etwas von dem Bewußtsein Unabhängiges geben kann. Dies ist aber nur dann ein Problem, wenn man meint, daß das, was aufgefaßt wird, eben von dem Bewußt- sein abhängig ist". Das Problem, das Kant durch seine Analyse lösen will, läuft dann, wie Phale'n meint, auf die, nur vom Standpunkt des Subjektivismus aus sinnvolle Frage hinaus, wie die Auffassung des vom Subjekt Unabhängigen möglich ist, mit anderen Worten: auf die Forderung, mit Hilfe einer konstruierenden Methode (S. 393) aus dem Subjekt das Objekt und damit den ganzen Inhalt der Erkenntnis herzuleiten (S. 349). Kant freilich hat diese extremen Folgerungen niemals gezogen. Hegel aber führten sie zu seiner Methode der „Subjekt-Objek- tivität" mit allen dialektischen Konsequenzen. Es liegt also schon auf dem transzendentalphilosophischen Standpunkt, insofern dieser vom Subjekt als dem einzig Unmittelbar gegebenen, dem Einzigen, das unabhängig von anderen (S. 292) aufgefaßt werden kann, ausgeht, die innere Notwendigkeit vor, daß das erkenntnis- theoretische Problem Kant's in das metaphysisch-kosmologische Fichte's, Schelling's und Hegel's umschlägt. Es ist unmöglich, von dem reichen philosophischen Inhalt dieses Buches, welches in den letzten Kapiteln auch den persönlichen Entwicklungsgang Hegels und ebenso die ganze Hegelliteratur in die Betrachtung einbezieht, in kurzen Worten einen Begriff zu geben. Der Verfasser hofft, binnen kurzem auf die Philosophie Phalen's näher eingehen zu können. Jedenfalls wäre es sehr zu wünschen, daß dieses, an deutscher Philosophie genährte Werk des ausländischen Verfassers auch in Deutschland die gebührende Beachtung fände. Innermanzing, Niederösterreich. Franz Kröner. Rauschenberger, Walter, Dr. jur., Der kritische Idealismus und seine Widerlegung. Quelle und Meyer, Leipzig, 1918. 108 Seiten. Der kritische oder transzendentale Idealismus erfährt eine immer stärker werdende Opposition. Das Buch von Dr. Walter Rauschenberger „Der kritische Idealismus und seine Widerlegung" steht fast ganz auf dem Boden des transzen- dentalen Realismus, diesem bis vor kurzem noch so wenig beachteten Standpunkt E. v. Hartmann's«, und versucht, von dieser Ebene aus Sturm zu laufen gegen das starke Bollwerk des Kant'schen Standpunktes, der bis jetzt vielen noch als un- bezwinglich galt. Zunächst sucht der Verf. die von Kant festgehaltene Idealität der Zeit als Besprechungen (Rauschenberger). 197 aus einseitiger Beweisführung herrührend nachzuweisen. Auch ihm ist eine unzeitliche Tätigkeit ein Widerspruch in sich. Kant hat sich aber schon damals dem Urteil „einsehender Männer", die im Wechsel unserer eigenen Vorstellungen, also in der Veränderung etwas wirkliches erblickten, verschlossen und ist bei seiner Behauptung, daß das Bewußtsein die Zeit aus sich erzeuge, geblieben. Danach könnte es keine Zeiträume geben, in denen keine Subjekte des Erkennens vorhanden sind. Unsere Auffassung vergangener Zeiten gehöre bereits zur phä- nomenalen Betrachtungsweise. Aber wenn man diesen Phänomenalismus weiter denkt, so kommt man zu dem Ergebnis, daß subjektlose Zeiten niemals existiert haben können. Die ganze mathematische Naturwissenschaft würde zusammen- stürzen, wenn man diese Konsequenz ernst nimmt. Rauschenberger gibt selbstverständlich zu, daß unser Bewußtsein das einzige absolut gewisse sei und bleibe, daß wir uns aber das Tor zu den feinsten Er- kenntnissen verschließen würden, wenn wir auf dieser engen Erfahrungsbasis •stehen blieben, „wenn das positivistische Erkenntnisprinzip der Weisheit letzter Schluß wäre". Um nicht vollständig in Skeptizismus zu versinken, bedarf es der Anerkennung der Wahrscheinlichkeit neben der Gewißheit, und die „Ethik der Erkenntnis" legt uns die Verpflichtung auf, den Umfang unserer Erkenntnis nach allen Seiten zu erweitern, um zu positiven, aufbauenden Resultaten zu gelangen, selbst auf die Gefahr hin, daß diese nicht den Anspruch auf apodiktische Ge- wisheit erheben können. Eine Wahrscheinlichkeit, die der Gewißheit nahe kommt, ist von ebenso großem Werte wie die Gewißheit selbst, die ja nur in den aller- seltensten Fällen, wenn überhaupt, gewährleistet wird: wir handeln und leben nur auf Wahrscheinlichkeiten hin, die wir aber vorläufig als . Gewißheiten be- handeln wie z. B. die Meinung, daß wir am nächsten Tage noch am Leben sein werden. Hartmann war wohl der erste Denker, der den Anspruch der Geltung der Wahrscheinlichkeit auf philosophischem Gebiet erhob, damit allen Anfeindungen der Positivisten und Idealisten, die nur in der apodiktischen Gewißheit die Ehre der Wissenschaft gewahrt sehen, einen festen Schild entgegenstreckend. Ich be- grüße es mit Freuden, daß jetzt von allen Seiten sich die Stimmen mehren, die auch hier auf seine Seite treten. Wir können, so meint Rauschenberger, uns vielleicht noch die ganze ma- terielle Welt als unser eigenes Vorstellungserzeugnis vorstellen, nicht aber die Bewußtseinsvorgänge anderer Subjekte, die nur als etwas durchaus von uns ver- schiedenes, in das wir keine Einsicht haben, erscheinen, worüber uns auch das Prinzip der Phänomenalität nicht hinweghilft. Die Kategorien Kants haben alle eine Beziehung zur Zeit, sind also auch nicht ideal, da die Zeit nicht ideal ist. Alle Bestimmungen der Dinge an sich sind nicht nur an das Subjekt geknüpft, sondern haben auch transzendentale Gültigkeit. Wäre es anders, wäre das Sein der Dinge raumlos und zeitlos, gäbe es dort weder Einheit noch Vielheit, weder Kausalität noch Substanz, so hätte es allerdings nichts mehr mit uns gemein. R. ist aber garnicht der Ansicht, daß Kant das Ding an sich als eine bloße Idee betrachtet habe ; Kant hat im Streit gegen Fichte diese Auffassung mit vollem Bewußtsein zurückgewiesen und sagt in der Kritik d. r. Vernunft, daß es ungereimt sei, von Erscheinung zu reden, ohne die Existenz eines Dinges anzu- nehmen, das da erscheint. Auch Hartmann rechnet Kant zu den Vorgängern seines transzendentalen Realismus; von Kant stammt sogar diese Bezeichnung. Kant nimmt für die körperlichen Dinge an sich, die er allerdings nur dem Daß nach für erkennbar hält, während bei den Geistern auch das Was erkennbar sei, transzendente Kausalität an , damit ist aber schon der reine Idealismus auf- gegeben. Den reinen Logikern gegenüber betont R. das von der Marburger Schule so streng verpönte psychologische Moment bei Kant. Das Subjekt ist eine psy- chische Realität, die Behauptung Kants, daß Raum und Zeit Anschauungsformen des Subjekts seien, ist ein psychologischer Gesichtspunkt; die Vermischung der psychischen und logischen Betrachtungsweise ist Psychologismus, ebenso die Ab- rückung des Dinges au sich von allen humanen Denkformen, die damit also rein auf das psychische Gebiet verwiesen werden. 198 Besprechungen (Rauschenberger — Schneider). Es wird sich jetzt nur noch ein Streit zwischen Unterarten des transzen- dentalen Realismus abspielen können, aber die Existenz der Dinge an sich und ihre realen Beziehungen zum Bewußtsein werden nicht mehr geleugnet werden können. Damit "aber ist der kritische oder transzendale Idealismus in der Wurzel gebrochen. Berlin. Alma von Hartmann. Schneider, Ilse, Dr., Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und Einstein. Berlin, Julius Springer 1921. 75 S. 12 Mk. Von den nun schon ziemlich zahlreichen Untersuchungen über das Verhältnis der Kant'schen Philosophie zur Relativitätstheorie unterscheidet sich die kleine mit großer Klarheit und Sachkenntnis geschriebene Schrift dadurch, daß sie den historischen Kant mit dem lebendigen Einstein vergleicht und nicht dem einen zu Liebe aus dem andern einen Popanz macht. Nach einer kurzen Wiedergabe der Raum-Zeit-Lehre Newtons werden Kants Anschauungen über Raum, Zeit und Bewegung dargestellt, und zwar nicht nur, wie es gewöhnlich geschieht, nach der „Kr. d. r. V.", sondern auch nach den vorkantischen Schriften und vor allem nach den „metaphysischen Anfangsgründen". In der sehr prägnanten Darstellung der Einstein'schen Theorie ist ein Punkt gebührend hervorgehoben, der meist beim Uebergang von der speziellen zur verallgemeinerten Theorie nicht genügend klargestellt wird, nämlich, daß die Eigenzeitdifferenz in benachbarten Weltpunkten nach der allgemeinen Theorie genau in derselben Weise mit Maßstäben und Uhren meßbar ist wie. in der speziellen Theorie (S. 46 f.). Für den Vergleich der Kant'schen und der Einstein'schen Raum-Zeit-Lehre sind zwei Probleme von entscheidender Bedeutung; 1) Das der absoluten Be- wegung und des absoluten Raumes, 2) das der Geltung der euklidischen Geo- metrie. Die Verf. legt allen Nachdruck darauf, daß Kant's „absoluter Raum4* von dem Newton'schen wesentlich verschieden ist und nur dieser, nicht jener durch die Relativitätstheorie eliminiert wird. Das trifft gewiß zu, wenn wir uns an die Erklärung der „Phänomenologie" halten: „Der absolute Raum ist also an sich nichts und gar kein Objekt, sondern bedeutet nur einen jeden anderen rela- tiven Raum, den ich mir außer dem gegebenen jederzeit denken kann." Wenn aber Kant trotz der Leugnung des absoluten Raumes als einer empirisch auf- weisbaren oder an irgend welchen Wirkungen erkennbaren Realität die durch Zentrifugalkräfte ausgezeichnete Kreisbewegung zwar nicht als „absolute" von der „relativen", aber doch als „wirkliche" von der „scheinbaren" Bewegung unterscheidet, so scheint es mir doch etwas zu viel gesagt, daß er sich „über diesen Punkt vollkommen klar gewesen" ist (S. 13). Es ist doch gewiß nicht bedeutungslos, daß Kant an einer Stelle, die die Verf. als entschiedene Ablehnung der absoluten Bewegung anführt, wo der absolute Raum „kein Gegenstand der Erfahrung und überall nichts" genannt wird, nicht die Bewegung überhaupt, sondern „die geradlinigte Bewegung ohne Beziehung auf irgend etwas Em- pirisches, das ist absolute Bewegung" für „schlechterdings unmöglich" erklärt. Das Paradoxe in Newton's Deutung der Trägheitskräfte sah Kant freilich, und wäre gewiß nicht damit einverstanden gewesen, wenn man nun, nachdem die Auflösung dieses Paradoxons der Physik gelungen ist, philosophische Einwendungen zu Gunsten der „absoluten" Bewegung mit seiner Autorität decken will. So bemerkenswert die Stellen aus den vorkritischen Schriften sind (S. 69 f.), in denen Kant von der Möglichkeit spricht, daß die geometrischen Gesetze, speziell die Dimensionenzahl, von physikalischen Gesetzmäßigkeiten abhängen könnten, so ist doch die Annahme der apriorischen Geltung der geometrischen Axiome für die empirische Welt, die der transzendentalen Aesthetik zu Grunde liegt und durch sie erklärt werden soll, grundsätzlich verschieden von Einstein's Auffassung, wonach die Geometrie nur so weit a priori gewiß ist, als sie nicht von wirklichen Körpern handelt, und, soweit sie von wirklichen Körpern handelt, nur die Wahrscheinlichkeit aller Erfahrungserkenntnis beanspruchen kann. Doch betont die Verf. (S. 67/68) mit Recht, daß die unbedingte Geltung der euklidischen Besprechungen (Schneider — Stapel — Thalheimer). 199 Axiome als synthetischer Sätze a priori nicht das Fundament ist, auf dem das ganze System ruht und mit dem es steht und fällt (wie es nach der Darstellung der „Prolegomena" scheinen könnte). Freilich bricht noch ein zweiter Pfeiler zusammen, wenn die Schwierigkeit der 1. Autonomie, die durch den kritischen Idealismus überwunden werden sollte, in Einstein's kosmologischer Hypothese, die in zwei Schlußabschnitten einleuchtend auseinandergesetzt wird, ihre Lösung findet. Das Endergebnis der Untersuchung stimmt mit dem Cassirer's überein, (dessen Buch über die Kelativitätstheorie erst nach Abschluß der Arbeit er- schienen ist) : Es gibt keinen unlösbaren Widerspruch zwischen Kantischer Philo- sophie und Relativitätstheorie. Wie immer man sich zu dieser Frage stellen möge, man wird in der gründlichen und klaren Schrift einen wertvollen Beitrag zu ihrer Lösung sehen müssen. Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz. Stapel, Wilhelm, Dr., Eants Kritik der reinen Vernunft ins Gemeindeutsche übersetzt, 1. Band (Die Vorreden von 1781 und 1787 und die Lehre von Raum und Zeit [transzendentale Aesthetik]). Verlag des Deutschen Volkstums. Hamburg 1919. 190 S. geh. 7 Mk., geb. 9 Mk. Diese „Uebersetzung" Kants bekennt selbst, daß sie nicht der Wissenschaft, sondern Kant und unseren Gebildeten dienen will. In ihr steckt eine tiefe Liebe zu Kant und ein energischer Wille, ihn denen nahezubringen, die zwar nicht seinen Stil, wohl aber seine Gedanken zu verstehen imstande sind. Immerhin hat eine solche „Uebersetzung" ihre Gefahren. Kant ist nämlich gar kein un- deutlicher Schriftsteller, seine Gedanken sind deutlich in seinen Sätzen nieder- gelegt; wenn man sich die Mühe gibt, ihn zu verstehen, gibt es im ganzen Kant kaum einen Satz, der nicht einen eindeutigen Gedanken enthielte. Unklar ist höchstens die Form der Sätze, ihre Gliederung in sich. Eine „Uebersetzung" (wenn man überhaupt dies verwegene Wort gelten lassen will) dürfte sich also höchstens an die Form und Gliederung der Sätze wagen, um ihr allzuverstricktes Ineinander für den ungeschulten Blick übersehbar auszubreiten. Stapel aber ändert nicht bloß die Form der Sätze, sondern kommentiert auch die Ge- danken, indem er neue eigene Sätze einschiebt, die notwendigerweise nicht mehr als Uebersetzung Kants, sondern nur als subjektive Erläuterung seiner Gedanken gelten können. So ist der S. 15 — 17 der Stapeischen Schrift reichende Absatz nichts als eine populäre und die feinsten Kantischen Gedanken durchaus ver- einseitigende und verflachende Darstellung, die zwar einen Teil dessen ungefähr richtig wiedergibt, was Kant gemeint hat, aber gerade dem Differenzierten und dem Logik und Psychologie hier noch ungetrennt umfassenden Stand- punkte des Denkers nicht gerecht wird. Es heißt aber nicht, Kant übersetzen, wenn man all die Schwierigkeiten und logischen Tiefen, die doch keine logischen Undeutlichkeiten sind, verneint zu Gunsten einer zwar sehr leicht verständlichen aber einseitigen Betrachtung. Charlottenburg. HellmuthFalkenfeld. Thalheimer, Alvin, The Meaning of the Terms 'Existence' and 'Reality'. A Dissertation submitted to the Board of University Studies of the John Hopkins University. Baltimore 1918. 116 S. Der Verfasser begründet die Notwendigkeit einer Definition des Begriffes „Existenz" (der Ausdruck „Realität" wird synonym gebraucht) damit, daß dieses Wort im Laufe der philosophischen Entwicklung in den verschiedensten Bedeu- tungen gebraucht worden sei. Im Anschluß an F. Brentano erklärt er die meisten Urteile als Aussagen von Existenz, die sonach gar keinen bestimmten Sinn hätten, solange wir diesen Begriff nicht präzisierten. Der Bedeutungswandel soll durch einen historischen Ueberblick nachgewiesen werden, der zeigt, wie bald das Dauernde, bald das sinnlich Wahrnehmbare, bald das, was in Beziehungen steht, einem geordneten Zusammenhang angehört, als das allein Existierende an- 200 Besprechungen (Thalheimer — Wertheimer). gesehen wurde. Mir scheint aber dadurch nicht erwiesen, daß man das Verschiedene, das man für wirklich hält, auch in verschiedenem Sinne für wirklich halten müsse. Thalheimers Kritik beschränkt sich darauf, die Unbestimmtheit des Exi- stenz-Begriffes in allen diesen Anwendungen hervorzuheben. Die eigentliche Schwierigkeit aber sieht er in dem Problem des ontologischen Beweises. Er meint, man dürfe Existenz nicht durch irgendwelche Qualitäten A, ß, C definieren, weil wir sonst irgend einen Begriff mit diesen Merkmalen ausgestattet denken und so das Reich des Existierenden beliebig vermehren könnten. Bestände diese Schwierigkeit, so ließe sie sich durch keine Definition von Existenz wegschaffen — können wir doch den Begriff' eines „existierenden Zentauren" bilden, wie immer Existenz definiert sein möge — , sie besteht aber gar nicht, wie wir seit Kant's Kritik wissen. Daß ein existierender Zentaur existiert, d. h. daß ein Zentaur existiert, wenn er existiert, ist eine analytische Wahrheit, aber ob ein solcher existierender Zentaur existiert, darüber läßt sich aus dem Begriff des „exi- stierenden Zentauren" so wenig entnehmen wie aus dem Begriff des Zentauren selbst, von dem er gar nicht verschieden ist. Th. aber glaubt, daß hier nur die Bezugnahme auf das Moment des Glaubens hilft, und gelangt so zu folgender sonderbaren Definition. Zur Existenz gehört 1) eine bestimmte Stelle in Zeit und Raum; 2) unter den Subjekten, welche das Ding zum Gegenstand des Be- wußtseins haben, muß es mehr geben, welche daran glauben, als welche nicht daran glauben. Damit glaubt er aber noch nicht die Schwierigkeit des „wirk- lichen Zentauren" vermieden und fügt hinzu 3) i c h muß daran glauben ! Durch die Bestimmug 2) soll der Protagoräische Subjektivismus vermieden werden. Zum Schluß wird betont, daß es von unserem Belieben abhängt, wie wir Existenz ^de- finieren, daß wir also in diesem Sinne die Wirklichkeit nach unserem Belieben bevölkern können und daß die Entscheidung der Hauptfragen der Philosophie Realismus oder Idealismus, Existenz des Dings an sich usw. von dieser willkürlich zu wählenden Definition abhängt. Es wird sich also empfehlen, die Definition des Verf. anzunehmen, da sich dann die größten Welträtsel durch einen einfachen Glaubensakt und ein Referendum mit absoluter Majorität entscheiden lassen. Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz. Wertheimer, Max, Privatdozent a. d. Universität Berlin, Ueber Schluß- prozesse im produktiven Denken. Vereinigung wissenschaftlicher Ver- leger, Berlin u. Leipzig 1920. 22 S. Preis 3,60 Mk. Als Anmerkungen zum modus barbara bezeichnet W. seine Abhandlung, die als Festgabe zu Stumpfs 70. Geburtstag gedacht ist. Er zeigt, daß die Schlüsse dieses modus, die die Schullogik mit dem unsterblichen Beispiel vom sterblichen Cajus in den Ruf großer Banalität gebracht hat, im praktischen und wissenschaft- lichen Denken häufig einen erheblichen Fortschritt der Erkenntnis in sich bergen, und untersucht die Bedingungen, unter denen dieser Fall eintritt, wo also eine petitio principii garnicht bewußt wird oder werden kann. Besonders einfach ist die Sachlage, wenn im Obersatz keine „Erkenntnis" sondern eine (mehr oder we- niger willkürliche) „Bestimmung" (Gesetz, Verordnung, Nominaldefinition) auftritt. Der Obersatz gilt allgemein, ohne daß die conclusio konstatiert ist. Insofern bedeutet ihr Vollzug einen Fortschritt im Denken. In der Rechtswissenschaft, besonders in der Urteilsfindung, tritt diese Form normal auf. Etwas anders liegt der Fall häufig im geschichtlichen Denken. Es komme etwa den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe ein bestimmtes Merkmal o. dgl. zu. Auf Grund einer bis dahin unbekannten Quelle erweist sich plötzlich S als zu dieser Gruppe gehörig. Demzufolge rückt seine Handlungsweise, sein Charakter urplötzlich in völlig andere Beleuchtung, es entsteht eine „Umzentrierung" des geschichtlichen Bildes. Gerade diese Umzentrierung, dies „Einschnappen" ist offenbar psychologisch sehr inter- essant und häufig scharf zu beobachten. W. zeigt es an einer ganzen Reihe auch mathematischer Beispiele, die sehr geschickt ausgewählt sind. Geometrische Fi- guren, algebraische Ausdrücke werden durch einen „Kunstgriff" in einer von der Norm abweichenden Weise aufgefaßt : der Kreis als Polygon mit unendlich vielen Besprechungen (Wertheimer — Uexküll). 201 Seiten, eine unendliche Reihe als Summe oder Differenz zweier bekannter Reihen, auf die dann bekannte Obersätze Anwendung finden. Die so erfolgende Umzen- trierung ist aber offenbar nicht beliebig, sondern steht bereits unter ganz be- stimmten Gesichtspunkten, durch die der Gegenstand in seiner Struktur ver- ändert erscheint, u. zw. derart, daß sich nun wissenschaftlich fruchtbare Aufschlüsse über diese Struktur gewinnen lassen. In der Herstellung solcher „sinnvoll gefor- derter Brücken" liegt der Wert des Mittelbegriffs für das produktive Denken; sie sind oft bereits durch die richtige Fragestellung bezeichnet, die damit ihre theoretische Würdigung erfährt. Die Abhandlung ist in einem von der üblichen trockenen Darstellung solcher Probleme auffallend abweichenden, fast feuilletonistischen Stil geschrieben, der «die Lektüre sehr anziehend und anregend macht. Wer nicht nur auf die „Geltungs- logik" eingeschworen ist, die der Verf. witzig als eine „Logik für den lieben Gott" bezeichnet, wird an dem geistvollen Schriftchen seine Freude haben. Dresden. Privatdozent Dr. Walter Blumenfeld. Uexküll, J. von, Theoretische Biologie. Berlin, Gebr. Paetel, 1920, 260 Seiten, Preis geh. 20 Mk., geb. 27 Mk. Ein neues Buch Uexkülls erinnert mich jedesmal an das Wort des alten Schieiden, daß die Botanik die Lehre von den Pflanzen und nicht die Lehre von den Büchern über die Pflanzen sei. Uexküll ist „originell", und zwar im wahrsten Sinne des Wortes und nicht nur so obenhin und unbestimmt gemeint: er geht stets von der origo, vom Ursprung alles Naturwissens aus, nämlich vom Gegenstand, dem er sich schlicht schauend hingibt; nicht gibt es für ihn Schulen, Lehrmeinungen, Dogmen. Daher hat er uns immer etwas Bedeutsames zu sagen und wirkt befruchtend auch da, wo man ihm vielleicht nicht folgen kann. Sein neues Werk ist wieder so recht eines „ab origine". Versuchen wir, seinen wesentlichen Inhalt, mit einigen kritischen Bemerkungen untermischt, kurz darzustellen. Uexküll will auf Kantischem Boden stehen. Er faßt Kant aber durch- aus psychologisch und streng subjektivistisch, was er unseres Erachtens für seine biologischen Zwecke allerdings darf, denn man kann Kant auch so fassen. In den drei ersten Abschnitten wird von Raum, Zeit und Inhaltsqualitäten gehandelt. Raumesdata sind uns die durch Haut und Auge vermittelten Lokal- zeichen und die durch Muskelempfindungen (besser: Gelenkempfindungen?) vermittelten Richtungszeichen, von denen stets zwei einem Lokalzeichen zugeordnet sind, welche aber auch ohne Beziehung auf diese gegeben sein können. Es ergibt sich weiter die Richtungsebene und der Raum als Gesetz. Das Atom ist Lokalzeichen und Sinnesqualität; er nennt es materialen Punkt. Die Möglichkeit anderer subjektiver Räume für Tiere wird zugegeben; vielleicht haben sie weniger als drei Richtungsebenen. Den Raumeszeichen schließen sich die Momentzeichen an; alle diese Zeichen zusammen geben die Ordnungs- qualitäten. Der Reichtum eines Weltbildes, hängt ab von der Zahl der inhalt- lich bewußt erlebten „Zeichen" aller Art. Bedeutsam für alles folgende ist der Begriff der Melodie im weitesten Sinne als der gesetzlichen Reihe der Richtungs- zeichen , und derjenigen der Symphonie als ihrer gesetzlichen Gemeinsam- keit. Für die Biologie gibt es so viele Welten wie es Subjekte gibt. Merkzeichen ist eine eben als solche unterscheidbare Inhaltsqualität, am Dinge entspricht ihr das Merkmal. Jede fremde Umwelt baut sich für uns aus unseren Merkzeichen auf, da andere Merkzeichen uns ja nicht zugänglich sind. Merk weit ist die Summe alier einem Tiere zugänglichen Merkzeichen des Beobachters, Wirkungswelt die Summe der Merkmale (des Beobachters), auf die es wirken kann. Nicht alles, was für uns Merkmalsträger ist, ist das für das Tier. Ich kann also nur von einer Umwelt, aber nicht von einer „Erscheinungs- welt" des Tieres reden, da ich seine Qualitäten nicht kenne; denn, wie gesagt, 202 Besprechungen (Uexküll). ich kenne ja nicht des Tieres Merkzeichen, sondern kann nur wissen, welche von meinen Merkmalen in seiner Umwelt eine Rolle spielen. Abschnitt 4 handelt von „Gegenstand und Lebewesen". Der qualitätslose Atomismus wird abgelehnt (vgl. oben die Definition des Atoms), „sekundäre" und „primäre" Qualitäten sind von gleichem Range. Große Bedeutung wird Kants Lehre vom „Schematismus", in psychologischer Formung, beigelegt; es gibt nach U. auch Raumschemata. Das antizipierte Schema ist Voraussetzung der "Wahr- nehmung un-d der Handlung. Falsche Schemata, welche falsche „Melodien" zur Folge haben, spielen oft, z. B. in der Dämmerung eine Rolle. (Hier sehr viel gutes Einzelne.) Gegenstände sollen solche „Objekte" heißen, deren Bauart durch bloße Kausalität nicht verständlich wird, also z. B. „Gebrauchsgegenstände". Die Leistungen der letzteren nun sind bloße „Gegenleistungen", kennen wir doch ihre Hauptfunktion und können sie auf Grund dieser einteilen. Anders bei den Lebe- wesen als „Gegenständen". Hier kann nicht nach der Funktion, sondern muß auf Grund der Morphologie eingeteilt werden; diese aber ist rätselhaft und nicht aus der Analogie zu technischen Gegenständen herzuleiten. Funktional ist im Lebendigen alles gleich vollkommen, aber der Mannigfaltigkeit nach gibt es doch „höhere" und „niedere" Formen. Die Funktionen müssen analysiert werden; aber darum ist nicht ein Tier ein Reflexbündel; übermaschinelle Fähigkeiten kommen dazu. Das Protoplasma setzt hier ein ; es macht maschi- nelle Apparate und löst sie auf (Pseudopodien der Amoebe, Verdauungsapparat, der Infusorien). Alles ist Epigenese. Der Physiologe untersucht die Zwangsläufigkeit, der Biologe die Planmäßigkeit der Lebewesen. Die Welt der Lebewesen (Kap. V): Merkwelt eines Tieres ist die Summe seiner Merkmale; bei Ausübung der Steuerung bildet es seine Innen- welt, die Summe seiner Wirkungen ist seine Wirkungswelt. Merkwelt und Wirkungswelt sind die Umwelt. Das Funktionsleben gliedert sich in Kreise (Heimat, Nahrung, Feind, Ge- schlecht); die einzelnen Kreise sind besonderen oder mehreren Sinnesorganen zugleich zugeordnet. Für Schwämme ist z. B. Chemisches und Mechanisches „das- selbe" Merkmal, nämlich „schädlich". „Merkmal" ist nicht gleich Reiz, sondern wird erst aus den Antworten des Tieres erschlossen. Die Nervenerregung ist überall gleich, die Person des Nerven bestimmt den Reiz — [hier können wir Bedenken nicht unterdrücken]. Oft wirken Formumrisse als besondere Reize z. B. bei Feinden; in solchem Falle ist im Zentralorgan ein „anatomisches Schema" anzunehmen, das mehrere sensible Nerven zu höherer Einheit zusammenfaßt. Eine räumliche Merkwelt kommt so zu Stande. Aber das Gefüge des Zentralsystems ist nicht fest, sondern wird vom Protoplasma reguliert, wenigstens bei der echten Handlung. Hier greift eine „objektiv wirkende Regel" , nämlich eben die Hand- lungsregel, ein. Man mag sie mit dem Ref. „Psychoid" nennen, ohne aber ent- scheiden zu können, ob sich eine fremde Apperzeption hier als „Naturfaktor" äußert. Wichtig ist der Begriff der Vernichtung des Merkmals z.B. im Ge- schlechtskreis, wie denn z. B. die Gottesanbeterin das Männchen nach der Kopu- lation auffrißt: der Geschlechtskreis macht dem Nahrungskreis Platz. Vollkommenheit ist nicht Allmacht, sondern hur lückenlose Ausnützung der Mittel. Man sollte nicht von „Zweckmäßigkeit, sondern von Weisheit oder Harmonie reden. Abschnitt VI behandelt die E ntstehung der Lebewesen. Ein schon be- stehendes Gefüge ist nach der Funktionsregel mechanisch tätig. Aber die Entstehungsregel tritt dazu ; durch die Experimente des Ref. sei ihr selbstän- diges Dasein erwiesen: im Keim ist kein „Gefüge", sondern die Regel. Wichtig ist die Lehre von den „Zeichen" für Entstehung und für Leistung. So ist z. B. eine Fuge ein Zeichen für die Entstehungsregel an Werken der Technik, Faserdehnung ein Leistungszeichen an einem Bogen; organisch sind die sieben Halswirbel bei allen Säugern Entstehungs-, die Knochenstruktur aber Leistungszeichen. Besprechungen (Uexküll). 203 Die Mosaik- und die chemische Theorie der Formbildung werden alle beide abgelehnt. Mendel habe den Nichtmechanismus des Organischen schon be- gründet. Das „Gen" gilt als „durch Impulse aktiviertes Ferment", Impuls aber ist der „unräumliche Veranlasser räumlicher Vorgänge". Bei Entstehung des Organismus ist „eine Einheit vorhanden, die nach einer autonomen Regel das Geschehen beherrscht". Das Dasein des Gefüges hemmt dann die Gefügs- bildung. Vom ,kritischen Punkt' an folgt das Wachsen statt der Entstehungs- der Funktionsregel. Alle Planmäßigkeit entsteht durch „Subjekte": der Keim ist ein Subjekt, die Entwicklungsstadien bestehen aus Subjekten aber sind keine, das Ende ist wieder Subjekt. Aus dem sehr bedeutsamen 7 ten, von der Art handelnden Abschnitt greifen wir nur das Wesentlichste heraus. Phaeno- und Genotypus werden nach Johannsen unterschieden. Sodann wird das Wort ,Entwicklung' sehr eingehend erörtert: Es darf nur „Auswickeln" bedeuten; dann gilt es aber höchstens von der Bildung von Kassen aus Arten, aber nicht von der Ontogenie, welche ja Epigenese ist und bei der die Faltenbildung zunimmt, während sie bei einer „Ent"-wicklung abnehmen müßte; die Ontogenie möchte eher „Ver-"wicklung heißen. Bei Betrachtung der Phylogenie gilt es sich vor allem klar zu werden, daß es keine unfertigen Arten gibt (es gibt nur unfertige Individuen). Steigerung der Mannigfaltigkeit ist das Hauptkennzeichen der Stammesgeschichte. Vielleicht entstehen in ihr keine neuen Gene, sondern es wechselt nur die „Melodie der Impulsfolge" derart, daß anfangs nicht alle Gene benutzt wurden; vielleicht verliert auch allmählich das Klavier Tasten. Nur material stammen also die Säuger von Fischen ab. Warum ändert sich die Melodie? Wir wissen das nicht. Der Verf. meint, der Lamarekismus denke sich den phylogenetischen Prozeß wohl ähnlich wie er, doch sei dieser zu anthropomorph. Endlich Teil VIII: Die Planmäßigkeit. Lediglich bei den Reflexen be- steht nur eine Betriebsregel, bei allen anderen organischen Bewegungen kommt Gefüge bildung dazu. Die eingehende Erörterung von Reflex, Instinkt, plastischer und Erfahrungs-handlung ist im Buche selbst nachzulesen. Wo greifen die Handlungs-impulse ein, die formativen taten das ja bei den Genen? Die Ant- wort ist : im Protoplasma des Zentralorgans. Das Nervenprotoplasma verhält sich wie eine Amoebe. Ist doch übrigens schon die Zellteilung nicht mechanisch er- klärbar; sie kann nicht auf einem „Gefüge" beruhen, da sich dieses ja selbst teilen müßte; auch würde eine Maschine sich abnutzen. Die Baufolge ist nie im Material gegeben. Der innere Rhythmus kennt die Gesetzlichkeit der Welt, welche das Tier psychologisch nicht kennt — das eben ist „Weisheit". Man sollte nicht von Anpassung, sondern von Einpassung reden; sie entsteht nach innerem Plan, nicht von außen aufgezwungen und nicht allmählich. Der Gesichtspunkt von „Versuch und Irrtum" paßt nie und nimmer auf Formentstehung. Endlich trägt Uexküll auch noch kurz seine Staatstheorie'vor, die wir aus anderen Schriften von ihm kennen. Von den Produktions-, Tausch-, Steuerungs-, Sinnes- und Handlungs„organen" des Staates wird geredet. Volk (Freiheit, Gleich- heit, Brüderlichkeit) und Staat (Zwang, Ungleichheit, Unterordnung) werden scharf geschieden. Warum, so fragt unser Autor endlich,. hat Kant keine „Kritik der Willens- kraft" geschrieben? Weil wir von dieser nichts wissen, denn von Willensim- pulsen erfahren wir nichts. — Eine Kritik im Ganzen kann es nicht geben, wo der Berichterstatter in allem Wesentlichen mit dem Verfasser geht. Höften wir, daß Uexkülls schönes Werk eine recht weite Verbreitung bei Biologen und bei Philosophen findet; beide können es brauchen, auch diese, denn auch bei ihnen ist, in neukantischem Gewände, der dogmatische Mechanismus immer noch weit verbreitet und hemmt jede einheitliche "Weltauffassung. Und auch Belehrung über das Lebendige über- haupt können viele Philosophen gut gebrauchen; so ein Wissen obenhin genügt eben zur philosophischen Bewältigung der Lebensprobleme nicht ; was dabei heraus- 204 Besprechungen (Uexküll — Whitehead). kommt oder vielmehr nicht herauskommt, sehen wir ungefähr jedes Jahr einmal wieder. Was das Aeußere des Buches angeht, so dürfte für eine zweite Auflage ein die wesentlichsten Begriffe berücksichtigendes Register und ein breiter angelegtes Inhaltsverzeichnis erwünscht sein. Hans Driesch (Cöln). Whitehead, A. N., The Concept of Nature, Tarner. Lectures delivered in Trinity College, November 1919. Cambridge, University Press, 1920. X u. 202 Seiten, Preis 14 Sh. Dieses Werk bietet eine durch Einstein angeregte, aber von seinen Aus- führungen unabhängige allgemeine Relativitätstheorie. Die Geschwin- digkeit des Lichts als solche spielt keine ausgezeichnete Rolle in ihr, obwohl die bekannte Invariante c eine wichtige Rolle in ihr spielt als Beziehung zwischen Raumeinheit und Zeiteinheit, und der Raum wird euklidisch gefaßt. Das Buch ist voll von eigenem Denken und, schon allein wegen der Menge der neu definierten Begriffe, nicht leicht kurz darzustellen. Man liest am besten die zusammenfassenden Abschnitte VIII und IX, welche selbständige Vorträge neben den Tarner Lectures wiedergeben, zuerst. Natur wird, unseres Erachtens gar zu einfach, definiert als das, was wir „bei der Wahrnehmung durch unsere Sinne beobachten" ; freilich wird sie dann für sich behandelt, ohne Beziehung auf ihr Wahrgenommensein. Weil das der Fall sein soll, wird der Unterschied zwischen „subjektiven" sekundären und „ob- jektiven" primären Qualitäten abgelehnt als falsche „bifurcation of nature"; als falsche „theory of psychic addition". Alle Qualitäten sind objektiv; wo rot ist, da ist auch ein bestimmtes rein raumzeitliches Ereignis, so müsse es heißen (unseres Erachtens mit Recht). Von Aristoteles, der überhaupt nach Ansicht des Verfassers, die wir zwar nicht teilen, dem Plato durch die geringere Flüssigkeit seiner Begriffe nachsteht, stamme letzthin das übliche Streben nach Auffindung einer Substanz, d. h. einer Materie in Zeit und Raum, ^iese Lehre von den „bits of matter" in Raum und Zeit sei zu ersetzen durch eine Relationstheorie dieser beiden. Die wahren Relata seien Geschehnisse (events), Raum und Zeit seien Abstrak- tionen davon. Vom event ist der Ausgang zu nehmen. Der Begriff Raum erwächst aus den wechselseitigen Beziehungen der Ge- schehnisse in dem einen Geschehnis: ,die Gesamtheit der gegenwärtigen Natur*. Gleiches gilt von der Zeit. Die events nämlich haben passage und duration; es gibt verschiedene f amilies of duration und daher verschiedeneZeitsysteme. Ein moment (im Gegensatz zur duration) ist „all nature in an instant" ; zwei Mo- mente begrenzen eine duration. Zeit ist in der Natur, nicht Natur in der Zeit. Von großer Bedeutung wird der Begriff des instantanen Raumes und der Succession solcher Räume. Also nicht, wie die alte Lehre will, das Momentan-präsente ist die Urausgangs- tatsache, sondern dieses : „something is going on than-there" — (das ist gleichsam des Referenten Formel Jetzt-Hier-So ins Bergs on sehe übersetzt; übrigens betont der Verfasser diese Verwandtschaft mit Bergs on). Ein objeet sei eigent- lich „out of time". Das wichtige und schwierige Kapitel IV muß man selbst lesen. Hier ersteht der Begriff der Parallele, und zwar zunächst für die Zeit, dann, und zwar in euklidischem Sinne, für den Raum, wie denn überhaupt alle Raumesordnung von Zeitordnung herstammt. Räume also sind abstrahiert aus den facts der Natur, den events. Nun kann freilich Bewegung kein fact sein, wenn nicht auch Ruhe es ist ; so gibt es denn also auch absolute position, aber jeweils einem bestimmten Zeitsystem zugeordnet. Kongruenz ergibt sich in euklidischer Form. Immer wieder wird die Ausgangs- frage betont ; „Was ist es, dessen wir bei unserer Sinneswahrnehmung von Natur gewahr werden (that we are aware of)" ?. Was dem einen ein Punkt ist, ist dem Besprechungen (Whitehead — Weyl). 205 anderen eine Linie. Ein physisches öbject ist die Tiabitual occurrence of a cerlain set of sense objects in one Situation. Zeit und Raum sind also nur Ausdrucksmittel für die Beziehungen zwischen den Geschehnissen. Die Welt läßt sich zwar in event particles zerlegen, ist aber nicht aus diesen aufgebaut. Event particles sind points of instantaneous space. Es gibt unbestimmt viele {indefinite) diskordante Zeitordnungen. Eine wesentliche Abweichung von Einstein bedeutet die Einführung des Begriffs eines zwischen den event particles bestehenden impetus. Das eigentlich Präsente ist also die duration. Die Größe c besagt, daß Zeit und Raum really comparable sind; sie bestimmt, wie schon gesagt, die Be- ziehung zwischen den Zeit- und Raum-einheiten. Aber das Licht spielt keine andere Rolle dabei als etwa der Ton. Man darf Whiteheads interessantes Werk eine phänomenologisch (oder gar psychologisch) gegründete Physik nennen. Am bedenklichsten erscheint uns die allzu rasche Definition des Begriffs Natur , von der wir im Eingange redeten. Auch können wir die duration, wenn das Wort „Verlauf" bedeuten soll, durchaus nicht als Urgegebenes ansehen; ich habe bewußt eine ungeheure Mannigfaltigkeit des In- und An -einander der Inhalte, aber keine Mannigfaltigkeit des Nach- einander. Das Nach-einander, also auch die duration, ist, wie uns scheint, eine sehr zusammengesetzte Konstruktion. Diese Einwände nehmen aber dem scharf- sinnigen Buche Whiteheads nichts von seiner großen Anregung für Physiker und Philosophen. Hans Driesch (Cöln). Weyl, Hermann, Raum, Zeit, Materie, Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie. Berlin, 1918. Verlag von Julius Springer. VIII u. 234 S. 14 Mark. Weyl hat recht, wenn er das Vorwort seines Buches mit den Worten be- ginnt: „Mit der Einsteinschen Relativitätstheorie hat das menschliche Denken über den Kosmos eine neue Stufe erklommen." Die Theorie ist in der Tat von so großer philosophischer Tragweite, daß ein Erkenntnistheoretiker, und vollends ein Naturphilosph, der ihren Sinn nicht restlos erfaßt hätte, als für seine Auf- gabe ganz unzulänglich ausgerüstet anzusehen wäre. Deshalb muß jedes Mittel, das in die Tiefe jener großartigen Theorie hineinführt, den Fachgenossen mit aller Dringlichkeit empfohlen werden. Weyl's Buch ist ein solches Mittel, und wer es zu lesen versteht, wird diesem Führer mit dem größten Genuß und Nutzen folgen. Der Verfasser steht durchaus über seiner Materie; sein Werk ist das erste zusammenfassende Lehrbuch über den Gegenstand. Es behandelt ihn in erster Linie vom Standpunkt des Mathematikers und bringt dadurch die for- male Schönheit und die Systematik des Aufbaus der Theorie am besten zur Geltung. Aber auch in physikalischer Hinsicht überschaut der Leser überall die weitesten Horizonte. Uns aber ist das wesentlichste: die ganze Darstellung ist von echt philo- sophischem Geiste getragen. An den Anfang und ans Ende des Buches stellt der Autor sogar einige spezifisch philosophische Ausführungen; freilich möchte er mir in ihnen, wo er frei schwebend den exakt-wissenschaftlichen Boden ver- läßt, weniger glücklich erscheinen. In der Einleitung gibt er einige erkenntnis- theoretische Erörterungen in lebendigem Stil und in Husserl'scher Terminologie, woraus aber nicht zu schließen ist, daß Husserl's Philosophie in irgend einem be- sonders innigen Verhältnis zur Relativitätstheorie stände. Weyl kommt auch in der Folge nicht darauf zurück. — In den Schlußbemerkungen stellt er als ein wichtiges Resultat der Untersuchungen hin: „Die Physik handelt garnicht von dem Materiellen, Inhaltlichen der Wirklichkeit, sondern, was sie erkennt, ist lediglich deren formale Verfassung". Diesem Satze wird man insofern zustimmen können, als jede echte Erkenntnis es in bestimmtem Sinne nur mit Formalem zu tun hat, indem sie Beziehungen zwischen Wirklichkeitselementen aufdeckt, nicht aber Wirkliches unmittelbar kennen lehrt, wie das Erleben, die 206 Besprechungen (Weyl). Anschauung es tut. Man wird aber jenem Satze widersprechen müssen, wenn der Begriff des Formalen so ausgelegt wird, wie Weyl es gleich darauf zu tun scheint, indem er die Physik mit der formalen Logik vergleicht und meint, daß jene sich zum Reich der Wirklichkeit verhalte wie diese zum Reich der Wahrheit : „Ihre Gesetze werden ebenso wenig in der Wirklichkeit jemals verletzt, wie es Wahrheiten gibt, die mit der Logik nicht im Einklang sind: aber über das Inhaltlich -Wesentliche dieser Wirklichkeit machen sie nichts aus. . . ." Wie läßt sich das vereinen mit der Tatsache, daß die Physik nicht reine Mathematik, sondern eine empirische Wissenschaft ist, daß also jeder ihrer Sätze — und natürlich auch die Relativitätstheorie — durch die Erfahrung bestätigt werden muß und durch sie widerlegt werden kann? Ich möchte glauben, daß Weyl nicht das hat sagen wollen, was man aus diesem Schlüsse seines Buches bei wörtlicher Interpretation herauslesen müßte, sondern daß ihm nur die Wahrheit vorschwebte, daß die Physik lediglich Relationen zum Gegenstande hat, nicht absolute Gegeben- heiten wie das anschauliche Erlebnis. Das ist aber nicht ein Mangel der phy- sikalischen Methode, sondern es gilt m. E. letzten Endes von jedem Erkennen, weil es so im Begriff und Wesen der Erkenntnis überhaupt liegt. Diese wenigen Bedenken bezüglich der Formulierung sind aber auch das Einzige, was ich gegen Weyl's Darstellung zu erinnern hätte: der wichtigste philosophische Gehalt steckt doch in seiner Behandlung des eigentlichen Themas, aus der uns die allgemeinsten Prinzipien der Mathematik und Physik klar und groß als erkenntnistheoretische Wahrheiten entgegentreten — denn allgemeinste Physik, wie überhaupt allgemeinste Wissenschaft, ist schon Erkenntnis- theorie. Einzelne wohl gesicherte Ergebnisse der Philosophie der Mathematik finden bei Weyl eine überaus treffliche Darstellung. So vor allem die Wahrheit, daß die Geometrie in keiner Weise das anschauliche Wesen des Raumes zu erfassen und zu erschöpfen vermag. Der Raum der Geometrie ist eine begriffliche Kon- struktion (ein dreidimensionales Größengebiet), die zur exakten Beschreibung un- zählig vieler erdenkbarer Gebilde dienen kann — Weyl greift als solche u. a. heraus: „Lösungssysteme linearer Gleichungen", „Gasgemische" usf., und der „an- schauliche Raum" ist nur eins von diesen Beispielen, die Geometrie stellt nur eine ihnen allen gemeinsame Ordnung dar: „von dem, was den Raum der An- schauung zu dem macht, was er ist in seiner ganzen Besonderheit und was er nicht teilt mit . . . „Gasgemischen" und „Lösungssystemen linearer Gleichungen", enthält die Geometrie nichts" (S. 23). Da also der Raum der Geometrie schlechthin unanschaulich ist, so kann niemals irgend eine Geometrie, sei sie euklidisch oder nichteuklidisch, Anspruch auf absolut einzige Geltung für den Raum unserer Anschauung machen. Um der Sache willen sei die Bemerkung gestattet, daß eben hierdurch der öfters gehörte, auch von V. Henry in den Kantstudien (XXIII, S. 351 ff., Be- sprechung meiner Schrift über „Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik") gegen die Relativität der Raumbestimmungen erhobene Einwand seine Erledigung findet. Nach diesem Einwand soll die Anschauung uns doch eine bestimmte Geometrie als die allein richtige aufzwingen müssen, obwohl die Erfahrung dies nicht tue. — Darüber muß man sich auf jeden Fall klar sein: wer an eine (durch die Anschauung zwangsläufig bestimmte) Geometrie glaubt, muß die All- gemeine Relativitätstheorie verwerfen, weil die letztere die Verwendung ver- schiedener geometrischer Maßbestimmungen in der Natur schlechthin fordert, und er muß die Konsequenzen tragen. Es geht nicht an, zu sagen, man stehe als Physiker auf dem Boden der Allgemeinen Relativitätstheorie, lehne aber als Philosoph oder als Mathematiker die geometrische Relativität des Raumes ab, denn sie ist integrierender Bestandteil der Einstein'schen Theorie, und die ist entweder wahr oder falsch. Das Erkennen ist nur eines. Jede echte Erkenntnis ist als solche allgemeingültig, aus welcher Einzelwissenschaft sie auch stamme, und wenn die Physik eine Wahrheit über Raum und Zeit findet, so gilt sie auch für den Geisteswissenschaftler. Verbindet letzterer mit den Worten Raum und Zeit (nicht mit den Begriffen, wie Henry a.a.O. S. 354 sagt) einen andern Besprechungen (Weyl — Wundt). 207 Sinn, etwa den des Anschaulichen, so kann das wohl Anlaß zu Mißverständnissen geben, aber sachlich nichts ändern. Weil die Geometrie im modernen Sinne über das anschaulich Räumliche überhaupt nichts aussagt, haben Psychologie und Geisteswissenschaften hier völlig freie Hand; deshalb kann aber auch die An- schauung (nicht bloß die Erfahrung) dem geometrischen Raum, welchen die Physik benutzt, keinerlei Gesetze aufzwingen. Ich hatte diesen Schluß im letzten Kapitel der oben erwähnten Schrift (S. 55 der ersten, S. 81 der dritten Auflage) gezogen; Henry hat seine Kritik nur an die Ausführungen der ersten Kapitel angeschlossen. Wir wollen aus dieser Abschweifung die Lehre ziehen, den philosophischen Gehalt der relativitätstheoretischen Sätze nicht deshalb zu unterschätzen, weil sie den Einzelwissenschaften der Mathematik und Physik entstammen, sondern sie im Gegenteil recht zu studieren, damit ihre Weltanschauung bildende Kraft sich voll auswirken kann. Sie, werden von Weyl in wahrhaft souveräner Weise vor- geführt und begründet. Seine Darstellung, wie schon der Titel seines Werks, läßt trefflich hervortreten, daß die moderne exakte Wissenschaft nicht bloß die Begriffe von Raum und Zeit gänzlich modifiziert, sondern auch, was weniger be- kannt ist, nicht minder den Begriff der Materie. In Zukunft wird keine Natur- philosophie ihrer Aufgabe gerecht werden können, die nicht auch diese Seite der neuen Ergebnisse voll berücksichtigt und Rechenschaft zu geben sucht von jenen noch dunkelen Verhältnissen, die Weyl sehr schön auseinandersetzt in seinen Darlegungen über die Beziehung zwischen „Materie" und „Feld", über den Gegen- satz von „Substanzphysik" und „Feldphysik". Um zu feigen, mit welcher Kühn- heit auch exaktes Denken sich in der Relativitätstheorie zu Höhen erhebt, die den mutigsten Metaphysiker schwindeln machen könnten, will ich noch einige Sätze aus dem letzten Kapitel zitieren (S. 220): „. . . es kann also prinzipiell geschehen, daß ich jetzt künftige Ereignisse miterlebe, die zum Teil erst eine Wirkung meiner künftigen Entschlüsse und Handlungen sind. Auch ist es nicht ausgeschlossen, daß ... die Weltlinie meines Leibes in die Nähe eines Welt- punktes zurückkehrt, den sie schon einmal passierte. Daraus würde dann ein radikaleres Doppelgängertum resultieren, als je ein E. T. A. Hoffmann aus- gedacht hat." Weyl's Buch stellt hohe Anforderungen an den Leser. An mathematischen Kenntnissen setzt es zwar nicht viel voraus, nur das gewöhnliche Handwerkszeug der höheren Analysis, denn ein großer Vorzug des Werkes besteht gerade darin, daß die zur Beherrschung der Theorie nötigen komplizierteren mathematischen Hilfsmittel alle erst im Buche selbst abgeleitet werden; jedoch in hohem Maße wird vom Leser die Fähigkeit verlangt, mathematischen Gedankengängen ab- straktester Natur zu folgen. Wer sie mitbringt, wird unter allen Umständen aus dem Buche sehr vieles lernen und hohen philosophischen Gewinn davontragen1). Rostock. M. Schlick. Wundt, Wilhelm, Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. 3 Bände. 1. Band: Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie. 4. neubearbeitete Auflage. Stuttgart 1919, Verlag von Ferdinand Enke. 654 Seiten, br. 30 Mk.; geb. 36 Mk. (+ 10 % Sortiments-Aufschlag). Fast überwältigt steht man vor dem Umfang des Lebenswerkes, das sich an Wundts Namen knüpft. Wohl wahr, daß seinen Büchern eine letzte, aufwühlende Tiefe fehlt, daß der Pulsschlag aufbohrenden Grübelns in ihnen nicht spürbar ist, daß sie dem Auge nicht neue Welten von ungeahnter Weite eröffnen: trotzdem bleibt noch genug, um unsere volle Bewunderung für sie wachzurufen. Nicht nur die Zahl der von Wundt bemeisterten Gebiete und demgemäß auch die Zahl 1) Anmerkung bei der Korrektur. Seit dies Referat (vor mehr als zwei Jahren) geschrieben wurde, hat Weyls Buch seine Anziehungskraft auf die Leser schon in drei neuen Auflagen bewährt. 208 Besprechungen (Wundt — Ziehen).? seiner Bücher, von denen fast jedes viele Hunderte von Seiten umfaßt, sondern auch die Kraft und Klarheit, die logische Disziplin und Umsicht, die Sicherheit und technische Reinheit seiner Untersuchungen nötigen gleichermaßen zur Be- wunderung. Wie muß ein Geist organisiert sein, über welche Arbeitsökonomie muß er verfügen, um derartige Leistungen hervorzubringen. Nun hat uns seine bis in das Greisenalter unverwelkliche Arbeitsfrische eine Neubearbeitung des 1. Bandes seiner Logik geschenkt. Das Vorwort trägt das Datum: Januar 1919. Gestorben ist Wundt Anfang September 1920. Kein Zeichen schwächer werdender Kraft des beinahe achtzigjährigen Gelehrten macht sich in dem umfangreichen Buche geltend. Da es sich um ein in der philo- sophischen Welt längst eingebürgertes Grundwerk handelt, seien hier nur seine Leitgedanken ganz knapp wiedergegeben. Aufgebaut sind die Untersuchungen nicht im Anschluß an die logische Tradition, die nur hin und wieder heran- gezogen und benutzt worden ist, sondern ihre Grundlagen liefern „das lebendige Zeugnis des Denkens in der Sprache sowie die gesicherten und erfolgreichen Me- thoden des Erkennens in der wissenschaftlichen Forschung" (S. V). „Neben der Aufzeigung der tatsächlich von dem wissenschaftlichen Denken geübten Gesetze des Erkennes bat sich das vorliegende Werk die Aufgabe gestellt, jene von den positiven, insonderheit den exakten Wissenschaften stillschweigend angenommene Erkenntnistheorie in ihrer logischen Eigentümlichkeit zu entwickeln und zu be- gründen" (S. VII). Von zwei einflußreichen Richtungen in der neueren Logik unterscheidet es sich besonders deutlich : Von John Stuart Mills empiristisch- psychologistischer Logik, die auf einer „ziemlich oberflächlichen Assoziationspsycho- logie" beruht, und von Franz Brentanos und seiner Schule (Husserl) tho- mistisch gefärbter, also eine Erneuerung des scholastischen Schematismus be- fördernder Logik als reiner Begriffswissenschaft. Gegenüber der empiristisch- psychologistischen Logik vertritt Wundt den Standpunkt, daß „während die Psy- chologie uns lehrt, wie sich der Verlauf unserer Gedanken wirklich vollzieht", die Logik festzustellen habe, „wie er sich vollziehen soll, damit er zu wissen- schaftlichen Erkenntnissen führe" (S. 1). Hiernach ist ihm die Logik eine nor- mative Wissenschaft, ähnlich der Ethik. Gegenüber der formalistischen Rich- tung Bolzanos betont er, daß es unerläßlich sei, die in dem Betrieb der Wissen- schaften in Anwendung befindlichen allgemeinen Erkenntnisprinzipien und die in der wissenschaftlichen Forschung tatsächlich befolgten Verfahrungs weisen genau zu berücksichtigen. Aus diesem Grunde müssen auch die Gesetze des logischen Denkens, sollen sie nicht als gegebene, unerklärbare Tatsachen gelten, bei ihrem Ursprung in der inneren Erfahrung aufgesucht werden. So hat die wissenschaft- liche Logik nach Wundts Ueberzeugung folgende Teile: 1) Darstellung der logischen Normen; 2) eine psychologische Entwicklungsgeschichte des Denkens; 3) eine Untersuchung der Grundlagen und Bedingungen der Erkenntnis; 4) eine Analyse der logischen Methoden wissenschaftlicher Forschung. Die durch diese Angaben bezeichneten theoretischen Grundforderungen finden nun in dem Werke eine bis aufs Einzelne gehende, weitausgespannte, von unerschütterlicher wissenschaftlicher Ruhe und Bestimmtheit getragene Erfüllung. Es beruht auf einer verblüffenden Beherrschung des ganzen Kreises der wissenschaftlichen Er- kenntnis, deren Grundlagen und Methoden in seltener Vollständigkeit aufgedeckt und in ihrer logischen Bedeutung und praktischen Geltung zu klarer Entwicklung gebracht werden. Berlin. Arthur Lieber t. Ziehen, Th., Dr., o. ö. Professor an der Universität Halle, Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik. Bonn 1920, A.Marcus und E.Webers Verlag. VIII u. 866 S. br. 47,50 Mk., geb. in Ganzleinen 55,50 Mk., in Halbfranz. 59,50 Mk. Im 1. Teil seines umfangreichen Werkes bietet Ziehen nach einleitenden Bemerkungen über die Aufgabe der Logik eine „allgemeine Geschichte" derselben (S. 17—240), welche, wenn auch nicht ganz lückenlos, so doch in weitestem Um- Besprechungen (Ziehen). 209 fange die neueste Literatur berücksichtigt. Im 2. Teil folgt dann eine „Er- kenntnistheoretische, psychologische, sprachliche und mathematische Grundlegung der Logik". Was zunächst die erkenntnistheoretische Grundlegung betrifft, so hat die Erkenntnislehre oder „Gignomenologie", wie Z. sie nennt, die Aufgabe, „das Gegebene und seine Veränderungen" (wozu auch die Denkvorgänge gehören) „nach Aehnlichkeiten zu ordnen und dadurch zu den allgemeinen Klassen und Gesetzen des Gegebenen zu gelangen. Die Logik hat an den Ergebnissen dieser gignomenologischen Untersuchungen insoweit ein wesentliches Interesse, als die Abgrenzung ihres eigenen Gegenstandes, des Denkens, zu diesen Ergebnissen gehören muß, wofern das Denken überhaupt ein besonderer, abgegrenzter Gegen- stand ist". Freilich sind diese Ergebnisse fast in jeder Beziehung strittig und „nicht einmal über die Formulierung der Grundfrage besteht irgendwelche Einig- keit". Trotzdem hat die Logik die Pflicht und das Recht, eine erkenntnis- theoretische Grundlegung ihres Gegenstandes zu „versuchen". Diese kann freilich nur in dem Sinn eine Grundlegung sein, „daß sie für die Gesetze der Logik er- kenntnistheoretische Gesichtspunkte aufstellt, welche für die Deutung der logischen Gesetze grundlegend sein können", nicht in dem, daß sie die Gesetze der Logik von erkenntnistheoretischen Sätzen abhängig macht. Ziehen will nun so verfahren, daß er „aus der Geschichte der Philosophie die wichtigsten bisher aufgestellten erkenntnistheoretischen Abgrenzungen des Denkens kritisch zusammenstellt und dann unter allen Vorbehalten und ohne Bindung einer bestimmten den Vorzug gibt". Die wichtigsten erkenntnistheoretischen Standpunkte sind nach ihm der psychophysische Dualismus, der „Egotismus", der Idealismus, der Phänomenalismus, der Logizismus und endlich sein eigener, der „Binomismus". Dieser bestreitet, daß die Gegenüberstellung „psychisch-materiell" berechtigt sei, leugnet im Gegen- satz zum „Egotismus", daß ein universales Ich oder individuelle Ichs als be- sondere Wirklichkeiten irgendwie existieren, behauptet dem Phänomenalismus gegenüber, daß die Zerlegung des Gegebenen in unerkennbare Dinge an sich und apriorische Anschauungs- und Denkformen nicht zulässig sei, will vielmehr nur zwei Hauptarten gesetzlicher Beziehungen im Gegebenen anerkennen, die Kausal- gesetze und die „Parallelgesetze", welche letzteren sich im einfachsten Falle z. B. auf „die Zuordnung einer bestimmten Sinnes qualität zu einer bestimmten Hirn- rindenerregung" beziehen. Unter die Parallelgesetze fällt aber nicht nur das Empfinden, sondern auch das gesamte Denken, denn auch bei diesem handle es sich „um Rückwirkungen von Rindenelementen". Auf Ziehens Kritik der gegnerischen Standpunkte oder auf seine eigene extrem empiristische Erkenntnislehre (vgl. z. B. S. 257 die sonderbare Wider- legung des Kantischen a priori) im einzelnen einzugehen ist um so weniger nötig, als er S. 261 nochmals „nachdrücklich" betont, „daß die Lehren der formalen Logik auch unabhängig von diesem oder jenem erkenntnistheoretischen Standpunkt als solche zu recht bestehen, und daß die erkenntnistheoretische Grundlegung im wesentlichen nur die Stellung der logischen Lehren im Gesamtsystem der Philo- sophie betrifft". Die „Psychologische Grundlegung" wird eingeleitet durch die Bemerkung, daß die Psychologie für die Logik unentbehrlich sei, weil alle Untersuchungen der letzteren „von den tatsächlich gegebenen Denkvorgängen des einzelnen Indi- viduums, also psychologischen Vorgängen, ausgehen". Die psychologische Grund- legung verfolge daher den Zweck, „die sichergestellten Untersuchungsergebnisse der Psychologie bezüglich der Denkvorgänge zusammenzustellen, soweit sie für die Logik in Betracht kommen". Stark eingeschränkt wird die Bedeutung der dann folgenden Ausführungen durch die Feststellung, „daß keineswegs Uebereinstimmung besteht über dasjenige, was als sichergestelltes Untersuchungsergebnis der Psycho- logie betrachtet werden kann. Je weiter wir uns von der Psychologie der Empfindungen entfernen und der Psychologie der Vorstellungen und Denkvor- gänge nähern, um so größer wird der Zwiespalt der Meinungen". Ziehen will selbstverständlich allenthalben seine eigene Ansicht zugrunde legen, aber doch auch die abweichenden Auffassungen anderer Forscher berück- Kautsmdion XXVI. 14 210 Besprechungen (Ziehen). sichtigen. Ich hebe zunächst hervor, was er über „Generalisation", d. i. Bildung von Allgemeinvorstellungen sagt. Sie besteht darin, „daß mehr oder weniger zahlreiche individuelle Erinnerungsbilder auf Grund von Aehnlichkeit in einer ganz besonderen Weise zu einer Einheit zusammengefaßt werden. So bilde ich z. B. aus den Erinnerungsbildern vieler einzelner Fahrräder die Allgemeinvor- stellung (Generalvorstellung) Fahrrad". Im Verfolg der Erörterung spricht Z. dann auch von einer „Allgemeinvorstellung Wasserstoffatom", wobei unklar bleibt, inwieweit dieselbe auf „Erinnerungsbilder" zurückgehen soll. Meines Erachtens besitzen solche Allgemeinvorstellungen, auch wenn sie — was nicht unbestritten ist — wirklich vorhanden sind, nicht die „grundlegende Bedeutung für einen großen Teil der Logik", die ihnen von Ziehen und anderen zugeschrieben wird. Denn mit der Bildung der Begriffe, welche hier in erster Linie in Betracht kommen würden, haben diese Allgemeinvorstellungen jedenfalls wenig zu tun. Angenommen, das Kind hätte durch irgendwie geartete Zusammenfassung von hundert Erinnerungsbildern verschiedener Uhren eine Allgemeinvorstellung ge- bildet, so hätte es für den Begriff Uhr (Instrument zum Messen der Zeit) noch nicht die mindeste Grundlage. Wenn es dagegen auch nur bei einer ein- zigen Uhr den Zweck „begriffen" hat, so besitzt es mit einem Schlage den Begriff Uhr und ist imstande, ihn auf die dem Aussehen nach verschiedenartigsten Uhren, Taschenuhren, Wanduhren, Turmuhren, ja selbst auf Sonnen- und Sanduhren anzu- wenden, obwohl nicht einzusehen ist, wie von diesen allen eine auf Erinnerungs- bildern beruhende zusammenfassende „Allgemeinvorstellung" möglich sein sollte. Auch für die logischen Urteile gibt es, wie Ziehen in Uebereinstimmung mit anderen Forschern meint, eine psychologische Grundlage, nämlich die „Ideen- assoziation". Er unterscheidet zwei Formen derselben, die „disparate Ideen- assoziation" und die „Urteilsassoziation". „Wenn jemand in mir z. B. durch Zuruf die Vorstellung Kose weckt und mir fällt Frühling ein, so handelt es sich um eine disparate Assoziation. Wenn ich auf denselben Zuruf hin denke: die Rose blüht im Frühling, so liegt eine Urteilsassoziation vor". Zwischen beiden finden sich zwar in der Praxis mannigfache Uebergänge, aber prinzipiell sind sie doch leicht zu unterscheiden. „Bei der disparaten Vorstellungsfolge > Rose . . . rot < verknüpft keine der drei Differenzierungsfunktionen die Vorstellungen Rose und rot, und insbesondere steht es mir frei, die Rose als an einem Orte und zu einer Zeit und das Rot als an einem anderen Orte und zu einer anderen Zeit befindlich zu denken ; bei dem Urteil > die Rose ist rot < werden die Vorstellungen Rose und rot durch die Differenzierungsfunktionen mit einander verbunden, indem das rot auf Rose irgendwie bezogen wird, und insbesondere werden Rose und rot als an demselben Ort und zu derselben Zeit befindlich gedacht". Die „Diffe- renzierungsfunktionen", von denen hier die Rede ist, sind nach S. 344 die ana- lytische, die synthetische und die vergleichende. Diese Neigung, der logischen Urteilslehre eine psychologische Grundlegung zu geben, oder, worauf es im Grunde hinausläuft, auch das logische Urteil in Abhängigkeit von psychomechanischen Prozessen zu bringen, führt m. E. schon darum zu Schwierigkeiten, weil die logischen Urteile, mit denen die Wissenschaften operieren, Begriffe voraussetzen und die in den Wissenschaften verwendeten Be- griffe, wie oben schon angedeutet wurde, nicht auf psychomechanischem Wege entstehen können. Den näheren Nachweis habe ich im 3., 4. und 5. Kapitel des 2. Bandes meiner Untersuchungen zur Logik geliefert, wo die Begriffssysteme der wichtigsten Wissenschaften im einzelnen untersucht worden sind. Wir werden nach meiner Ueberzeugung in den wichtigsten Fragen der Logik niemals zu- sammenkommen, solange die Logiker ihre Deduktionen nicht auf die Praxis der Wissenschaften beziehen. Aehnliche Bedenken habe ich gegen den Versuch Ziehens, der Lehre vom Schluß einen psychologischen Unterbau zu geben. Die Einmischung psychologischer Gesichtspunkte wirkt verwirrend. In den beiden folgenden Kapiteln, der „sprachlichen" und der „mathe- matischen" Grundlegung der Logik (S. 402—416) behandelt Z. kurz die Be- ziehungen zwischen Sprechen und Denken, das Problem einer logischen Ideal- sprache und den Grundgedanken der mathematischen (algebraischen) Logik. Besprechungen (Ziehen). 211 Nach diesen vorbereitenden Untersuchungen kommt Z. im 3. Teil zur Sache selbst und zwar mit einer „autochthonen Grundlegung der Logik". Es handelt sich dabei darum, „auf dem Boden der erkenntnistheoretischen und psycholo- gischen Grundlegung eine dem speziellen Ziel der Logik angepaßte allgemeine Grundlage für die spezifisch logischen Untersuchungen zu gewinnen". Diese haben es mit der formalen Richtigkeit der Denkakte zu tun. Als Kriterium für dieselbe genügt nicht die innere Widerspruchslosigkeit. Die Quelle des formal unrichtigen Denkens erblickt Z. in der durch die Veränderlichkeit der Vorstellungen ermöglichten Vorstellungs Verwechslung oder „Alienation". „Die sog. Quaternio terminorum, ein logischer Fehler, der in der Verwendung eines Terminus in doppelter Bedeutung besteht, kann daher geradezu als ein- fachstes Paradigma für alle Unrichtigkeiten der Denkakte überhaupt gelten". Dieser Gefahr der „Alienation" zu begegnen hilft der Logik das „logische Identitätsprinzip". Es gibt nach Z. auch ein „gignomenologisches Identitäts- gesetz", welches darin besteht, daß es unmöglich ist, zu denken und zugleich nicht zu denken. Insoweit kann man von einer „Eindeutigkeit des psychischen Geschehens, speziell des Denkens" sprechen. Ueber dieses psychologische Gesetz geht die Logik, um sich vor der Gefahr der „Alienation" zu schützen, hinaus, indem sie „zu der tatsächlichen momen- tanen Eindeutigkeit die ideale Annahme einer dauernden Eindeutigkeit, d.h. Unveränderlichkeit" hinzufügt, d. i. „den veränderlichen tatsächlichen Ding- vorstellungen unveränderlich gedachte logische Vorstellungen" gegenüberstellt. „Jedem Gegenstand ordnen wir auf Grund des neuen Prinzips ein oder , wenn entsprechende materiale Grundlagen vorhanden sind, mehrere unveränderliche A.'s (Gesamtvorstellungen, desgl. Merkmal-, Gattungsvorstellungen) zu". Diese eindeutigen „Idealvorstellungen" nennt Z. dann „Normalvorstellungen" oder auch Begriffe. Im 1. Kapitel des 4. Teils wendet sich Z. sodann einer näheren Ausführung der Begriffslehre zu. Sie enthält im einzelnen treffende Bemerkungen, ohne daß man im Ganzen viel Neues erfährt. Dasselbe gilt von der Lehre vom Urteil, welches er zusammenfassend definiert als „ein wenigstens zwei Begriffe (Normal- vorstellungen) enthaltendes psychisches Gebilde, dessen Begriffe durch Differen- zierungsfunktionen konstant verknüpft und speziell bezüglich ihrer Individual- koeffizienten in konstanter Weise als vollständig oder partiell sich deckend ge- dacht werden, und das sowohl als ein sukzessiver Prozeß wie als ein fertiges Ergebnis aufgesetzt werden kann". Zusammenfassend möchte ich Ziehens Werk als ein bemerkenswertes Beispiel einer psychologistisch gerichteten Behandlung der Logik bezeichnen. Der wissenschaftliche Wert des Buches beruht m. E. hauptsächlich auf den sorgfältigen historischen Nachweisen, die sich keineswegs auf die im 1. Teil gebotene, die älteren geschichtlichen Darstellungen in dankenswerter Weise ergänzende „allgemeine Geschichte der Logik" beschränken, sondern auch den einzelnen Kapiteln angefügt sind. Wenn man über literarische Fragen Belehrung sucht, wird man sie, durch die ausführlichen Register unterstützt, in den meisten Fällen in dem Ziehen'schen Werke finden. Münster. Wilhelm Koppel mann. 14* Selbstanzeigen. Apel, Max, Dr., Einführung in Kants Kritik der reinen Ver- nunft. 72 Seiten. 4 Mk. u. Sortimentszuschlag. Volksschulbuch - Verlag Char- lottenburg. — Das Büchlein enthält Stellen aus der Vorrede zur 1. u. 2. Auflage, der Einlei- tung, der transzendentalen Aesthetik und der transzendentalen Deduktion nebst ausführlicher Erläuterung. Das Heft will so eine Einführung in das Studium der kritischen Philosophie geben und kann als Ersatz meines vergriffenen Kommentars zu Kants Prolegomenen dienen. Dr. Max Apel. Birnbaum, Karl, Psychopathologische Dokumente. Selbstbekenntnisse und Fremdzeugnisse aus dem seelischen Grenzlande. Berlin, Verlag J. Springer 1920. Die vielgestaltigen Beziehungen des Pathologischen — pathologisch nicht nur in dem engen Alltagssinne der Geisteskrankheit — zu den Erscheinungen des geistigen und kulturellen Lebens haben zwar von jeher aufs stärkste das Interesse gefesselt, sind aber wirklich gründlich bisher nur insoweit gewürdigt worden, als sie sich auf die Minder werte, die Verfallserscheinungen: Selbstmord, Vagabun- dage, Prostitution, Verbrechen usw. erstrecken. Ihr Gegenpol: die menschlich reizvolleren und kulturell bedeutsameren Zusammenhänge mit den seelischen II o c h- werten wurden teils glatt vernachlässigt, teils wie in dem Lombrososchen Schlag- wort von „Genie und Irrsinn" viel zu grobschlächtig erfaßt und bearbeitet, als daß die gerade hier vorliegende Kompliziertheit des Zusammenspiels, die Fülle beziehungsreicher Nüanzen und die Subtilität der daran geknüpften Problemstel- lungen voll zur Geltung kommen konnte. . Die Psychopathologischen Dokumente versuchen hier ein neues Fundament zu schaffen, dessen weiterer Ausbau vielleicht einmal wird übersehen lassen, mit welchem Formenreichtum das Pathologische in alle geistigen Lebens- und Kultur- sphären — künstlerische, religiöse, weltanschauliche usw. — ausstrahlt, und mit welcher Vielgestaltigkeit es sie beeinflußt. Sie bieten zunächst ein einwandfreies Material dar, indem sie, stets auf die Quellen zurückgreifend, aus Lebensurkunden aller Art : aus Tagbüchern, Briefen, Memoiren u. dgl. allenthalben aus dem in- neren und äußeren Leben überragender Menschen herausholen, was irgend welche Beziehungen zum Abnormen aufweist. Sie ordnen dann weiter die so gewonnenen psychopathologischen Erscheinungen derart, daß ihre fließenden Uebergänge, ihre äußeren Analogien und inneren Zugehörigkeiten zu jenen Hochwerten von selbst sich herausheben und herausschälen. Was sich gegen die hierbei geübte Auffas- sung und Verwertung des heiklen Begriffs des Pathologischen prinzipiell ein- wenden läßt, darauf einzugehen, ist hier nicht der Ort. Nur das eine sei aus- drücklich gesagt: die von Laien dem Irrenarzte so oft vorgeworfene Neigung zur Identifizierung von überragender Persönlichkeit und Leistung mit Geisteskrankheit liegt der Arbeit sowohl der Tendenz wie dem Ergebnis nach völlig fern. Aufgabe und Ziel, wenn auch nur andeutungsweise erreicht, geht vielmehr dahin, durch die vom Pathologischen gegebenen Sondergesichtspunkte gewisse bisher ungenügend beachtete und berücksichtigte bedeutsame Wesensseiten im geistigen Wertbereiche charakteristisch herauszuheben. In diesem Sinne fallen beispielsweise bezeich- nende Schlaglichter auf die Psychologie des schauspielerischen, des dichterischen Schaffens, der schöpferischen Leistung überhaupt, auf Inspiration, religiöse Kon- version, Prophetie usw., ebenso wie Persönlichkeitstypen von kulturellem Wert und Eigenprägung : der Abenteurer, der Fanatiker, der Erotiker, der Heilige, der moderne Dekadent von hier aus in psychologisch neuartiger Beleuchtung er- scheinen. Indem so nach E. Th. Hoffmanns Worten „die Natur grade beim Ab- normen Blicke vergönnt in ihre schauerlichste Tiefe", läßt sie zugleich erkennen, daß jene allgemein vertretene Anschauung, die Jodl in die Worte gefaßt hat: „Vom Pathologischen aus gelangt man nie zum Großen, sondern immer nur zum Kleinen, nie zum Unsterblichen, sondern immer nur zum Vergänglichen", in mehr als einer Hinsicht revisionsbedürftig ist. K. Birnbaum. Selbstanzeigen (Birnbaum — Fischer). 213 Feldkeller, Paul, Dr., Ethik für Deutsche. Gotha 1921, Friedrich Andreas Perthes. 61 S. Verfasser ist überzeugt, daß Eckehart und Kant, Fichte und Nietzsche die- selbe Ethik verkünden und nur verschiedene Begriffssysteme, verschiedene Koor- dinatengitter an ein und dieselbe Sache anlegen. An die Stelle der positiven Gebotsethik setzt er darum die „negative Ethik", den Monotheismus der Einen, namenlosen, durch keinen Begriff faßbaren Tugend, an Stelle der üblichen Integral- ethik (der Ethik der „letzten Schritte") eine Kants und Fichtes „rigoristische" Intentionen weiterbildende Differentialethik, an die Stelle der modernen zweideutig schillernden Sozialethik eine Führerethik. Durch dialektische Weiterbildung des Autonomiegedankens und des radikalen Formalismus gelangt diese Ethik (ebenso wie der konsequent durchgeführte Freirechtsgedanke, siehe England) zu einer der jesuitischen in allem entgegengesetzten Kasuistik — womit sich dann der schrauben- förmig rotierende globus intellectualis wiederum einmal um volle 360° gedreht hätte. Schönwalde (Mark). Paul Feldkeller. Fischer, Ludwig:, Dr. phil., 1) Wirklichkeit, Wahrheit und Wissen. Berlin 1919, E. S. Mittler & Sohn. VIII u. 199 S. 15 Mk. 2) Das Vollwirkliche und das Alsob. Berlin 1921, E. S. Mittler & Sohn. VIII u. 102 S. 15 Mk. Die Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft der reinen Vernunft ist nach Kant zweifach: 1) ein System aller Begriffe und Grundsätze zu geben, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen ; 2j ein begriffliches System alles Gege- benen zu entwickeln. — Das erste System wäre eine Ordnung der Allgemein- begriffe, die auf einer vollständigen „Zergliederung aller Begriffe mit allem was daraus gefolgert werden kann" beruht. Diese Ordnung müßte die volle Bedeutung jener Begriffe und alle ihre wechselseitigen Beziehungen nach einheitlichem Leit- gedanken aufdecken. — Das zweite dagegen, das System alles Gegebenen, wäre eine „Physiologie der reinen Vernunft", d. i. eine „rationale Naturbetrachtung". Kant hat diese Doppelaufgabe selbst nicht mehr gelöst, wenngleich er viel nach der Lösung getastet hat bis zu seinem Ende. Die Kritik der reinen Ver- nunft sollte nur eine „Vorbereitung" sein zum ersten Teil der Aufgabe, und sollte anstelle der vollständigen Zergliederung und Klarstellung nur eine „Her- zählung aller Stammbegriffe" geben. Kant bediente sich dabei einer etwas ver- wickelten psychologischen Grundanschauung, die er ungeprüft übernehmen durfte, da sie ihm nur zum Auffinden der Begriffe dienen sollte. Er wies aber selbst schon darauf hin, daß den verschiedenen von ihm vorausgesetzten Vermögen der Erkenntnis eine gemeinsame Wurzel wohl zukommen werde, die aufzusuchen aber zur Lösung seiner beschränkteren Aufgabe nicht nötig war. Eine vollständige Aufdeckung und Zergliederung aller Stammbegriffe unseres Denkens muß sich von der Kantschen Systematik der Aufzählung offenbar frei machen und muß zu einer höheren Einheit zu führen suchen. Mein Buch „Wirklichkeit, Wahrheit und Wissen" will nun eine Lösung des oben angeführten ersten Teils der Kantschen Aufgabe liefern. Das andere Buch „Das Vollwirkliche und das Alsob" dagegen gibt die Grundlage und einen kurzen Umriß für die Lösung des zweiten Teils. Das Ergebnis des ersten Buchs kann ich hier nur bildlich andeuten als die Aufdeckung eines weiten allgemein-begrifflichen Felds, das von einem Netz von Beziehungsfäden durchzogen ist, das die vielfältigsten Verbindungen zwischen den einzelnen Knotenpunkten herstellt. Damit sind die wechselseitigen Beziehungen der Stammbegriffe nach allen Richtungen hin klargestellt und alle denkbaren Um- formungen und alle Folgerungen, die man daraus ziehen könnte, werden unmittelbar an die Hand gegeben. Das ist also eine allgemeine begriffliche Ordnung unseres Denkens, oder, da dieses sich immer nur auf „Erfahrung" beziehen kann: allgemeine begriffliche Ordnung unserer Erfahrung. Jenes Begriffsnetz kann man nun von den verschiedensten Ausgangspunkten durchwandern und bekommt dann ganz verschiedene Ansichten und Ordnungsweisen, die je nach Wahl des Ausgangspunkts mehr oder weniger einfach und übersichtlich 214 Selbstanzeigen (Fischer). sein können. Als günstigster Ausgangspunkt, als eine Art „Ordnungspol", in dem alle Fäden zusammen laufen, von dem aus sich daher alle Beziehungen am klarsten und einfachsten überblicken lassen, ergibt sich ein ganz allgemeiner Ur- begriff, dessen Form sich in allen Knotenpunkten des Netzes wiederspiegelt. Das von diesem Punkt aus gesehene Gesamtbild nenne ich die natürliche begriff- liche Ordnung unserer Erfahrung. In dieses umfassende Gesamtbild nun gehen die Ergebnisse der Kantschen Kritik restlos und ungezwungen ein, abgesehen natürlich von der besonderen Fär- bung, die sie bei Kant durch sein heuristisches psychologisches Leitgebilde be- kommen, dessen tieferer Sinn sich nun ebenfalls offenbart. Im Schlußkapitel gebe ich einen schematischen Ueberblick über das ganze Netz, und es zeigt sich dabei (wenn wir im Bilde bleiben wollen), daß die Kategorien Kants nicht selbst Knotenpunkte des Netzes, sondern vom Ordnungspol auslaufende Hauptblickrich- tungen oder Beziehungsfäden sind, die das ganze Begriffsfeld in Gruppen teilen. Es zeigt sich aber weiterhin, daß die verschiedenen Ordnungen, die* man bekommt, je nachdem man das Netz vom einen oder andern Ausgangspunkt durchwandert, und die man als verschiedene Transformationen derselben Grundordnung auffassen kann, ganz verschiedenen Weltanschauungen entsprechen. Ich habe das im ersten Buch nur andeutungsweise, im zweiten aber zum Schluß etwas ausführlicher gezeigt. Man hat in den philosophischen „Systemen" oft einen irrationalen Anteil zu erkennen geglaubt, um dessen willen sie von der Philosophie als strenger Wissenschaft auszuschließen und dem Gebiet der Ge- schichte und der Psychologie zu überweisen seien. Dieser Anteil läßt sich nun- mehr zum weitaus größten Teil als rational nachweisen und man kann es unter gewissen Vorbehalten als eine lösbare Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft ansehen, jedem philosophischen System seine genaue Stellung im Gesamtbild der natürlichen Ordnung anzuweisen. Viele Hauptzüge verschiedener Systeme, die sonst sich zu widersprechen oder unvergleichbar zu sein scheinen, kommen dabei fast restlos zur Deckung miteinander. In meinem zweiten Buch gebe ich nun ein ausführlicheres Beispiel einer solchen Betrachtung der natürlichen begrifflichen Ordnung von einem vom Ord- nungspol verschiedenen Ausgangspunkt; und zwar wähle ich einen grade ent- gegengesetzt liegenden Standpunkt, — den „Gegenpol" könnte man ihn nennen; und das neue Bild der Zusammenhänge nenne ich ein Kehrbild. Es entspricht dem Sinne nach dem, was Kant als zweiten Teil aufstellt: seiner rationalen Natur- betrachtung. Grundbegriff des Kehrbilds ist das „Vollwirkliche". Ich entwickle zunächst diesen Begriff ausführlich und zeige sein Verhältnis zum Ordnungspol. Das Voll- wirkliche ist verwandt dem Kantschen Ding an sich. Es ist ein Randbegriff, den wir seiner allgemeinen Form nach noch erfassen, aber nicht mehr mit Erfahrungs- stoff erfüllen können. Wir können ohne ihn zwar nicht auskommen ; aber jeder Versuch, ihn anschaulich zu erfüllen, führt zu einer unvollendbaren Stufenleiter bedingter Formen: Als ob- Formen. Vollwirklichkeit und Alsob bilden ein Paar sich wechselseitig bedingender und ergänzender Begriffe, die erst durch ihre Gegenüberstellung ihre wahre Bedeutung vollständig offenbaren. Der Vollwirklichkeitsbegriff wurzelt in dem Netz der Allgemeinbegriffe, das ich im ersten Buch entwickelte. Andrerseits aber ist er auch unlösbar verwachsen mit den Grundbegriffen der Naturwissenschaft. Er erscheint dort als das, was die Naturwissenschaft durch eine fortschreitende nie vollendbare Kette von Bildern als das hinter allen Erscheinungen Stehende herauszustellen und als letztes mög- liches Erkenntnisziel zji erringen sucht. Die Klarstellung dieses Begriffs nach seiner allgemeinen Bedeutung und das sich dann auf ihm als Ausgangsbegriff aufbauende Weltbild führt zu einer Ordnung der Grundbegriffe der Naturwissen- schaft. Ludwig Fischer. Selbstanzeigen (von Lippa — Mezger). 215 Ton Lippa, Lazar, Geheimer Regierungsrat, Der Aufstieg von Kant zu Goethe. Die Philosophie und Naturbegründung des geistigen Weltbildes. Berlin, E. S. Mittler & Sohn. 1921. Das Buch ist die Frucht zehnjähriger Arbeit. Ich wollte eine Widerlegung der Sozialdemokratie schreiben, überzeugte mich aber, daß sie ganz dem wissen- schaftlichen Weltbilde entspricht, sich aus ihm in sorgfältiger und gewissenhafter Begründung folgerichtig entwickelt hat. Das wissenschaftliche Weltbild wird von der herrschenden Philosophie getragen. Um mit der Wurzel zu beginnen, ent- schloß ich mich zu einem Neuaufbau der Philosophie. Für die Grundlegung bot sich mir das Geschehen. Es ist frühere und gegenwärtige Tätigkeit, und alle Tätigkeit ist gedacht und Denken. Das Körperliche ist dabei die Form, zu und in der sich Denken und Tätigkeit bestimmen. Alles Tun hat einen Täter. Andrer- seits ist das Geschehen eine offensichtliche Ordnung und Einheit. Also eine Phi- losophie der Uebereinstimmung nach den Gesetzen der Tätigkeit und mit dem Denken als Wegweiser zum geistigen Weltbild. Der Haupttitel rechtfertigt sich: 1. Los von Kant, weg von seinem bildne- rischen zu Goethes gegenständlichem Denken, von der Gebundenheit an die Be- wußtseinsbildung, wie sie für die Wissenschaft, die Lehre der Sachlichkeit zu- treffend ist, zur Goetheschen Augenwahrheit, seinem Naturschauen, das von solcher Beschränkung auf das Erscheinungsgemäße frei, zur vollen Bewertung des Geistigen gelangt, der Festlegung des Seins auf das körperliche Dasein entgeht und der Philosophie die nötige Weite gibt. 2. Auf den Schultern Kants von der aufs Verstandesgebiet beschränkten Wissenschaftsstufe des Denkens empor zu seiner Goetheschen Stufe, zur Allzügigkeit Goethes, zur Erfassung aller, auch der geistigen Werte. Kants Postulate weisen den Weg. Das Leben fordert den Fortschritt von der Verstandeskühle Kants zur Begeisterung und Herzenswärme Goethes, dessen große philosophische Bedeutung mehr herausgestellt wird, als es bisher geschehen ist. Meinen Zweck glaube ich erreicht, das wissenschaftliche Weltbild nebst Abstammungs- oder Entwicklungslehre und Lyells Erdentwicklung — alles schöne Gedanken, aber ihre Durchführung durchdenken, heißt sie fallen lassen — zerstört zu haben. Das geistige Weltbild kann nur Voraussetzungen und Umrisse geben. Wenn ich auch die Gottesbeweise durch einen neuen, den autologischen oder Selb- ständigkeitsbeweis verstärkt habe, es bleibt ohne eigentliche Inhaltgebung. Das Bedürfnis danach weist auf die religiösen Geltungen hin. Die Philosophie steht als Ursprungsforschung und Quellenschätzung zwischen der Vordergrundschau der Wissenschaft und der Offenbarungsgeltung der Theologie. Meine Philosophie ist nicht die des Christentums und kann es grundsätzlich nicht sein, aber sie ist die Philosophie zum Christentum. Und das ist uns bitter nötig, darum rechtfertigt sich die Widmung auf dem Titelblatt: Dem deutschen Volke zu seiner Wieder- aufrichtung. Lazar von Lippa. Mezger, Edmund, Dr. jur., Staatsanwalt und Privatdozent, Sein und Sollen im Recht. Tübingen, bei J. C.B.Mohr (Paul Siebeck), 1920. (106 Seiten.) Untersucht wird die Frage, ob und inwieweit aus dem „Sein" das „Sollen" des Rechts folgt. Der Erste Abschnitt behandelt den subjektiven Ausgangspunkt des rechtlichen Sollen s. Der „einfache Subjektivismus" (I), der im „Rechts- gefühl" den letzten Maßstab des „richtigen Rechts" erblickt oder mit Radbruch und Kantor owicz im „rechtsphilosophischen Relativismus" endigt, wird abge- lehnt. Eingehende Besprechung erfährt der „kritische Subjektivismus" (II), wie er auf neukantischer Grundlage von Rudolf Stammler in umfassender Lebensarbeit als ein Gebäude von imposanter Großartigkeit errichtet worden ist. Stammler hat nach Ansicht des Verfassers die Notwendigkeit einer „kritischen" Grundlegung der Rechtslehre abschließend und überzeugend dargetan. Dies gilt zunächst von Stammlers „Rechtsbegriff" als dem obersten Bestimmungsgrund des „seienden" Rechts. Seine „Rechtsidee" dagegen, der Leitstern des „Seinsollenden", 216 Selbstanzeigen (Mezger— Schlemmer). des „richtigen" Rechts, leidet an einer ungerechtfertigten Uebertragung der Er- kenntnispostulate auf das Wollen (25—28) und führt damit zu einer unhaltbaren „Logisierung der Werte" (30—32). Der Zweite Abschnitt bespricht den objektiven Ausgangspunkt des rechtlichen Sollen s. Verf. unterscheidet drei Formen des Objektivismus. Der „kulturelle Objektivismus" (I) sucht im Anschluß an Hegel die Ableitung des rechtlichen Sollens aus objektiv gegebenen Kulturwerten. Er ist der Stand- punkt der historischen Rechtsschule. In seinem Mangel an erkenntniskritischer Schärfe führt er zur Preisgabe der sittlichen Autonomie (37) und damit — auch in der Form, die ihm V. Liszt gegeben hat — zu einer „Philosophie der inneren Haltlosigkeit" (4C). Der „materialistische Objektivismus" (II), der nur die „ma- teriellen" Faktoren oder mit Karl Marx nur das „materielle" Streben des Menschen als maßgebend anerkennen will, ist ebenfalls ganz „unkritisch": er ist sehr „wäh- lerisch" in seinen Motiven, verschleiert aber eben diese grundlegende Tatsache der Wahl, der „Zwecksetzung" (56). Konsequenter ist deshalb der „naturalistische Objektivismus" (III), etwa derjenige von Herbert Spencer. Er bemüht sich — hierin umfassender als die beiden anderen Formen des Objektivismus — , die G e- samtheit der gegebenen Natur seinen Betrachtungen zu Grunde zu legen und gelangt damit nahe an die Wahrheit. Aber auch er übersieht, daß in der Ge- samtheit des Geschehens einer Tatsache die logische Priorität vor allen andern Tatsachen zukommt: der menschlichen Zwecksetzung (64). Der Dritte Abschnitt versucht den eigenen Aufbau des recht- lichen Sollens. Der „Ausgangspunkt" (I) des Verf. ist ein subjektiv- kritischer. Für das „Erkennen" gilt ihm als „relatives Apriori" die Notwen- digkeit durchgängiger Kausalbetrachtuug, für das „Wollen" der Primat teleolo- gischer Zwecksetzung. Der „Endzweck des Rechts" (II) ist trotz der hohen Be- deutung, die das Rechtsgefühl für das praktische Rechtsleben besitzt, ein ratio- naler. Verf. findet ihn in Annäherung an v. Jhering in der „sozialen Lebens- erhaltung und Lebens ent wicklung" als dem obersten Zweck alles Rechts (79). Die „Verwirklichung dieses Endzwecks" (llt) geschieht im erkennenden Erfassen der „sozialen Gesetze", deren Bestehen Vesf. gegen die wider sie gerich- teten Angriffe nachzuweisen sucht (81 ff). Das „Wesen des Sozialen" (IV) wird in der „Wechselwirkung", in der „Verbindung" der Individuen unter Ableitung dieser Denkform aus der Kategorie der Kausalität gefunden. „Individualismus und Sozialismus" (V) stellen keine grundsätzlichen, unerreichbaren Gegensätze dar: im Individuum liegt alles Leben der „Gesellschaft" beschlossen, aber in der „Anpassung" an das soziale Ganze, in der „Vereinigung" der Einzelnen zur Rechtsgemeinschaft vollzieht sich erst die Vollendung. Die „Praxis des richtigen Rechts" (VI) lehrt in Anklängen an die Theorie des Naturrechts die Schöpfung neuen Rechts aus der Erforschung des psychisch-sozialen Wesens des Menschen. Wie die Neuschöpfung des Rechts ist aber auch die „Auslegung" geltender Rechts- normen, also die Jurisprudenz im eigentlichen Sinne, da sie niemals lediglich Be- stehendes wiedergeben kann, verwiesen auf die „Lehre vom richtigen Recht". Tübingen. E. Mezger. -, Schlemmer, Hans, Studienrat, Die religiöse Persönlichkeit in der Erziehung. (Eine religionsphilosophisch-pädagogische Untersuchung.) Band III der Philosophisch-pädagogischen Bibliothek. Verlegt bei der Mundus-Verlagsanstalt G. m. b. H., Charlottenburg. 1919. 68 S. Soll die Bedeutung der religiösen Persönlichkeit in der Erziehung klargelegt werden, so handelt es sich zunächst darum, festzustellen, welche systematisch- prinzipielle Bedeutung der Religion in der Struktur des menschlichen Geistes zukommt. Diese religionsphilosophische Untersuchung macht den ersten Teil meiner Schrift aus, worauf dann in einem zweiten Kapitel die konstitutiven Züge der religiösen Persönlichkeit aufgezeigt werden. Nunmehr entfaltet sich das Problem nach zwei Seiten hin. Wie wird eine religiöse Persönlichkeit gebildet? und: Welche Rolle spielt eine religiöse Persönlichkeit bei der Bildung anderer? Selbstanzeigen (Schlemmer — Schneider). 217 Die Lösung beider Fragen fußt natürlich ganz auf der im Eingang gegebenen Wesensbestimmung der Religion und des homo religiosus, führt dann aber weiter auch in die praktischen Fragen der Möglichkeiten, Wege und Faktoren religiöser Erziehung, des religiösen Einschlags der Jugendbewegung u. s. w. Alles natürlich in gedrängtester Kürze, aber so, daß überall die grundlegenden prinzipiellen Ge- sichtspunkte möglichst heraustreten. Charlottenburg. Hans Schlemmer. Schneider, Hermann, a.o. Professor an der Universität Leipzig, Metaphysik alsexakteWissenschaft. Heft 3 : Die Lehre vom Handeln. Leipzig, Felix Meiner (in dessen Verlag auch Heft 1 und 2 übergegangen sind) 1921. 164 Seiten. Zur „Lehre von der Gegebenheit" (angezeigt: Heft 1 K.-St. XXIV, 4, Seite 412 *) ; Heft 2 K.-St. XXV, 2/3, Seite 291) tritt als zweiter Hauptteil der Metaphysik die „Lehre vom Handeln". Auch sie besteht aus vier Erfahrungstatsachen (No. 5—8) und den Folgen daraus für's richtige Handeln und Bearbeiten allgemein. Die Tatsachen sind, daß der Mensch Zwecke setzt (5), daß er Befriedigung, eigene und die anderer Men- schen erstrebt (6), daß er frei ist (7) und daß er ausdenkt und ausführt (8); aus ihnen folgen für's richtige Handeln allgemein die Merkmale der Richtigkeit all- gemein, Zweckgemäßheit und Befriedigendheit, die Freiheit, richtig oder unrichtig zu handeln, so wie die Stücke des richtigen Handelns, richtig Ausdenken und richtig Ausführen, und deren Verhältnis ; für's richtige Bearbeiten allgemein ergibt sich, daß es „richtiges Ausdenken" und frei ist, daß es in einer Auswahl wesent- licher Züge aus dem Gegenstand vom Zweck aus besteht und auf Befriedigung der Menschen abzielt. • Wie die „Gegebenheitslehre" im Inhalt Kants „Kritik der reinen Vernunft" entspricht, so behandelt die „Lehre vom Handeln" die Fragen der „Kritik der praktischen Vernunft", also namentlich die der Willensfreiheit (Tatsache 7) und des Sittlichen (Tatsache 8). Ich glaube, nachgewiesen zu haben, daß die Freiheit des Menschen eine einfache Tatsache unserer inneren Erfahrung ist, so daß die Annahme einer besonderen Art von „Forderungstatsachen" (Postulaten der prak- tischen Vernunft) für sie unnötig wird; der Zwang des deterministischen Dogmas hält einer genauen Bestimmung des Tatbestands der Freiheit und einer strengen Kritik seiner Beweise nicht Stand. Kants Sittenlehre erfährt eine neue Beleuch- tung, bei der besonders die scharfe Scheidung von Güter- und Sittenlehre als entscheidende Großtat hervortritt; wie sich aber seine Begründung der exakten Einzelwissenschaften (Mathematik und Physik) aus metaphysischen Tatsachen nicht aufrechterhalten ließ, sondern in der „Gegebenheitslehre" eine Sonderung der metaphysischen und einzelwissenschaftlichen Grundbegriffe vorgenommen werden mußte, so läßt sich Sittenlehre nicht aus metaphysischen Tatsachen ableiten ; 'Ethik und Mstaphysik haben nichts miteinander gemein. Wenn die Trennung streng und richtig durchgeführt ist, lassen sich metaphysische Tatsachen, die durch die Beimischung der Ethik unterdrückt waren, wie die des Zwecks, voll und rein herausarbeiten ; auch die Lehre von Theorie und Praxis und vom Vorrang (Primat) der einen oder anderen, bei Kant nur berührt, kommt zur Entwicklung; das „theoretische Verhalten" zerlegt sich in zwei Inhalte, die verschiedenen metaphy- sischen Tatsachen, der 1. und 5. (zwecklose Hingabe an den Gegenstand) und der 8. (richtiges Ausdenken, bestimmt richtiges Ausführen), zugehören. Mit diesem 3. Heft ist mein Werk über Metaphysik (es ist 500 Seiten stark geworden) vollendet; eine Zusammenfassung seines Inhalts, der Folgen aus allen acht Tatsachen der Metaphysik, beschließt den Band. „So lang es Menschen gibt, sind sie bemüht gewesen und werden sie bemüht sein, „richtig allgemein zu handeln", d. h. ihre Zwecke zu erreichen und sich und 1) Ich benutze die Gelegenheit, einen sinnstörenden Druckfehler in Zeile 25 dieser Anzeige von Heft 1 zu verbessern: in Tatsache 1 muß „anschaulich- bestimmt" stehen, nicht „ausdrücklich-bestimmt". 218 .Selbstanzeigen (Schneider — Van der Vaart Smit). andere Menschen zu befriedigen, und „richtig allgemein zu bearbeiten", d. h. den Gegenstand der menschlichen Erfahrung kennen zu lernen, um ihn zu nützen. Das ist dem Menschen, schon als kleines Kind und als Tiermensch, so selbstver- ständlich, daß er das „richtige Handeln und Bearbeiten allgemein" übt, ohne zu bemerken, daß hier etwas zu lernen oder zu lehren ist. Seine ganze Aufmerk- samkeit gilt dem „besonderen richtigen Handeln und Bearbeiten", den einzelnen Zwecken und Befriedigungen, den Einzelwissenschaften und Künsten. Diese bilden sich aus und werden als wertvoller Besitz bewußt; eine Wissenschaft „vom rich- tigen Handeln und Bearbeiten allgemein" gibt es nicht, nur Wissenschaften von Gott, Natur und Seele, vom güterlichen und vom sittlichen richtigen Handeln. Ganz langsam erst wird durch den Kampf um Glauben und Wissen, durch das Versagen der Einzelwissenschaften in bestimmten Fragen, die sie behandeln, ob- gleich sie sie nichts angehen, und bei Versuchen, zur Gesamtübersicht der Er- fahrung (System) zu kommen, klar, daß hier ein Arbeitsgebiet für eine eigene und strenge Wissenschaft abzugrenzen und zu bestellen ist. Die Uebung des richtigen Handelns und Bearbeitens allgemein ist das älteste und wichtigste menschliche Tun, die Grundlage für alle Erfolge, ja für das bloße Leben des Menschen; die Wissenschaft davon ist die jüngste (letztfertige) und strengste (weil meist-erprobte) von allen Wissenschaften, die oberste im System, als die vom Allgemeinsten des menschlichen Handelns, die die Gesamtübersicht unserer Erfahrung (formal) krönt und abschließt. Ich denke, daß es mir gelungen ist, in zwanzigjähriger Arbeit, die wissen- schaftliche Metaphysik, die strenge Erfahrungswissenschaft vom richtigen Handeln und Bearbeiten allgemein, erstmals ganz und in sich geschlossen hinzustellen und dadurch ihre Selbständigkeit und Daseinsberechtigung wissenschaftlich vollends zu erweisen. Leipzig. Hermann Schneider. Van der Vaart Smit, H. W., Dr. theol. an der Freien Universität zu Amster- dam-Holland, „Die Evolutions-Theorie". 1921. 60 Seiten. Diese Kritik der Evolutionstheorie nimmt ihren Ausgang von der Philosophie Hermann Lotzes und sucht eine wirkliche „Lebens-Philosophie" zu geben gegenüber der dürren Rationalistik der Evolutions- Theoretiker. Die Schrift teilt sich in drei Teile je nach dem Gebiet der Evolutionstheorie a) Natur, b) Geschichte, c) Religion. Diese Dreiteilung erinnert an die Einteilung Lotzes im Mikrokosmus und zielt hin auf den Anschluß an die kalvinistische Theologie Hollands. Der Verfasser will insbesondere den Gedanken der „Praeformation" (teil- weise, soweit er das Logische betrhTt, in Anschluß an Hans Driesch), geltend machen gegenüber den „Diesseitigkeitsbestrebungen" der IJvolutionisten und sucht mit diesem Gedanken fortzuschreiten zu einer „Transcendental-Ideologie". Die Schrift ist verfaßt in holländischer Sprache. Ihr Verfasser ist in Hol- land der Vertreter der Lotzeschen Philosophie und schrieb im Jahre 1917 eine Doktor-Arbeit über: „Die Naturphilosophie und der Theismus" (171 Seiten), in welcher er zum ersten Mal seine „Ideologie" zu entwickeln suchte. Diese „Ideo- logie" teilte sich in a) Ontologie, b) Aetiologie, c) Teleologie und hat in breiten Kreisen Interesse erweckt. In den Kriegsjahren hat 0. Loewe (Wesel) das Buch ins Deutsche übersetzt (bis jetzt aber noch nicht verlegt). Seitdem hat der Ver- fasser fortwährend diese Transcendental-Ideologie vertreten in Polemiken mit mehreren neo - Kantianistischen Gelehrten in Holland; er behauptet, daß die Ge- dankenlinie Augustinus-Leibniz-Lotze die richtige Protestantische Linie gibt gegenüber der aristotelisch - thomistisch - römischen Philosophie. Jedoch man bleibe nicht bei Lotze stehen. Lotze gibt reiche Anregungen, aber kein end- gültiges System, dessen Ausbau zur Transcendental-Ideologie eine aussichtsreiche Aufgabe bildet. Das oben erwähnte Büchlein über „Evolutions- Theorie" deutet einige dieser Perspektiven an. Selbstanzeigen (Van der Vaart Smit — Benjamin). 219 In Süd -Afrika hatten — ganz unerwartet — diese Gedanken bereits Auf- nahme und Verständnis gefunden. Die „Evolutions-Theorie" wird schon jetzt — einen Monat nach Erscheinung — ins Afrikanische übersetzt. Zu bedauern ist, daß obwohl die holländische Philosophie von der deutschen Philosophie gründlich Kenntnis nimmt, die Beziehungen der deutschen Philosophie zur holländischen nur sehr oberflächlich sind. Auch die Kant-Gesellschaft, welche in den letzten Jahren viele Mitglieder in Holland gewonnen hat, hat diese Bezie- hungen bis jetzt noch nicht vertiefen können. Hoffentlich ändern sich durch den bevorstehenden Besuch von Prof. Dr. Liebert in Holland diese Verhältnisse, zum mindesten soweit die Kant-Gesellschaft in Frage kommt, hoffentlich auch anderweitig. 's Graveland-Holland. Dr. H. W. van der Vaart Smit. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deut- schen Romantik. Neue Berner Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, herausgegeben von Richard Herbertz. Bd. 5. Bern 1920, Verlag von A. Francke. Der Gegenstand der Arbeit ist der romantische Begriff der Kunstkritik, dar- gestellt im Lichte eines metahistorischen d. h. absolut gestellten Problems. Dieses Problem lautet: welchen Erkenntniswert besitzt für die Theorie der Kunst der Begriff ihrer Idee einerseits, der ihres Ideals andrerseits? Unter Idee wird in diesem Zusammenhang das a priori einer Methode verstanden, ihr entspricht dann das Ideal als das a priori des zugeordneten Gehalts". Das genante Problem selbst kann in der vorliegenden Arbeit nicht eigentlich erörtert werden, es taucht vielmehr erst im Schlußkapitel auf. In einer Vergleichung des Goethe'schen Begriffs des Ideals (oder Urphänomens) mit dem romantischen der Idee sucht dieses die reinste Sinnbeziehung des philosophie-geschichtlichen Verlaufs auf jenes metahistorich gestellte Problem klarzulegen. Es heißt da: „Die Frage des Ver- hältnisses der Goethe'schen und der romantischen Kunsttheorie fällt zusammen mit der Frage des Verhältnisses des reinen Inhalts zur reinen Form. In diese Sphäre ist die angesichts des Einzelwerkes oft irreführend gestellte und dort niemals genau zu lösende Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt zu erheben. Denn diese sind nicht Substrate am empirischen Gebilde, sondern relative Unterscheidungen an ihm, auf Grund notwendiger reiner Unter- scheidungen der Kunstphilosophie getroffen. Die Idee der Kunst ist die Idee ihrer Form, wie ihr Ideal das Ideal ihres Inhalts ist. Die systematische Grund- frage der Kunstphilosophie läßt sich also auch als die Frage nach dem Ver- hältnis von Idee und Ideal der Kunst formulieren". Natur und Kunst sind Kontinuen der Reflexion, Reflexionsmedien. Daher ist „die romantische Theorie des Kunstwerks die Theorie seiner Form. Denn die begrenzende Natur der Form haben die Romantiker mit der Begrenztheit jeder endlichen Reflexion identifiziert und durch diese einzige Erwägung den Begriff des Kunstwerks innerhalb ihrer Anschauungswelt determiniert". Von dieser Erkenntnis aus wird die Exposition ihrer wichtigsten kunsttheoretischen Begriffe, der Ironie, des Werks, der Kritik unternommen. Für die letztere ergibt sich als Aufgabe die Auslösung und Darstellung der Reflexion über das Werk in diesem selbst. Unter der Voraussetzung nämlich, daß das Kunstwerk ein gleich lebendiges Zentrum der Reflexion ist, erscheint eine Potenzierung dieser Reflexion, welche die Romantiker zugleich als die gesteigerte Selbsterkenntnis des Reflektierenden auffassen, als möglich. Dieser Sachverhalt begründet ihre Theorie der Kritik, welche sich demnach von der heutigen depravierten und richtungslosen Praxis der Kunstkritik nicht nur durch ein hohes Niveau, sondern zugleich durch methodische Besinnung unterscheidet. Diese erlaubt, wie im Ver- lauf der Darstellung sich zeigt, durchaus eindeutige Merkmale für die echte Kritik aufzustellen. Eine Analyse der romantischen Theorie der Prosa stellt den Zusammenhang her, in welchem die Schätzung des Romans als des Gipfels der Poesie mit der hohen Ausbildung der Kritik, zugleich mit bedeutungsvollen Tendenzen der gegenwärtigen Literatur steht und führt durch die Darstellung der Prosa als der „Idee der Poesie" zu dem Schlußkapitel „die frühromantische Kunstkritik und Goethe" über. Walter Benjamin. Mitteilungen. Richard Falckenberg -f. Von Hermann Leser-Erlangen. In der Stille der letzten Herbstferien ist der geschätzte Lehrer an der Erlanger Universität und bekannte Verfasser der vielbenutzten, im In- und Auslaud gelesenen „Geschichte der neueren Philosophie" Richard Falcken- berg plötzlich heimgegangen. In seinem geliebten Jena, das der Geist unserer Klassiker umschwebt, ist er am 28. September vorigen Jahres im fast vollendeten 69. Lebensjahre gestorben; und dort haben wir ihn auf dem hochgelegenen Friedhofe zur letzten Ruhestätte begleitet. Die erhebende Trauerfeier, zu der sich ein auserlesener Kreis von Freunden und Verehrern des Verstorbenen eingefunden hatte, konnte bei aller Wehmut des Scheidens kein herbes Gefühl aufkommen lassen. Sie war seinem Wunsche und seiner Angabe gemäß vom Zauber der Töne, die er selbst in Theorie und in großem pianistischen Können beherrscht hatte, umsponnen und so in das verklärende Licht der Schönheit gerückt wie die Berge ringsum, auf denen das milde durchsichtige Licht der scheidenden Herbstsonne lag. Die Feier war das Symbol seines Lebens und Sterbens. Beides zum Kunstwerk zu gestalten, entsprang einem unmittelbaren Drange seines Wesens, und das Ideal der Euthanasie schwebte ihm ausgesprochenermaßen noch in seiner Todesstunde vor. Zwei Genien hatten ihn durchs Leben geleitet. Beiden war er so ergeben, daß sie zeitweilig mit einander streiten konnten, als es sich um die Berufswahl handelte. Er entschied sich für die philo- sophische Laufbahn, ohne dem künstlerischen Genius untreu zu werden. Nur um so reiner konnte er ihm huldigen; und dankbar blickte er in seiner Todesstunde auf beide zurück. Von Jena war er ausgegangen, und gern kehrte er in den Ferien dahin zurück, mit dem dortigen Idealismus und mit seinem Lehrer Eucken in Freundschaft verbunden. Geboren am 23. Dezember 1851 in Magde- burg, kam er nach Absolvierung des Gymnasiums in Dessau 1872 als Studiosus nach Jena, wo er von dem im gleichen Jahre nach Heidelberg gehenden Kuno Fischer für die Philosophie und für ihre geschichtliche Ge- stalt gewonnen wurde und Fortlage hörte und außerordentlich schätzen lernte. Nachdem er seine philosophischen Studien in Leipzig, Halle, Er- langen und Göttingen fortgesetzt und an der letztgenannten Universität starke Eindrücke von Lotze erhalten hatte, kehrte er nach Jena zurück, promovierte hier 1877 und habilitierte sich drei Jahre später mit seiner Ar- beit über Nikolaus Cusanus (erschienen 1880). Seit 1886 Herausgeber der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, wurde er nach Er- Mitteilungen. 221 scheinen seines Geschichtswerkes zum a. o. Professor ernannt und erhielt zwei Jahre später gleichzeitig einen Ruf nach Erlangen und Dorpat. Er nahm den ersteren an und begann seine fruchtbare Lehrtätigkeit mit der 1890 erschienenen Antrittsrede „Ueber die gegenwärtige Lage der Philo- sophie". Er war in erster Linie Lehrer und alles, auch die schriftstellerische Produktion, ordnete sich seinem philosophischen Lehrberufe unter. Ich erinnere noch an seine Herausgabe von „Frommanns Klassiker der Philo- sophie" (seit 1896), an seinen Aufsatz über „Euckens Kampf gegen den Naturalismus" (aus der Luitpold-Festschrift von 1901) und vor allem an sein „Hilfsbuch zur Geschichte der (deutschen) Philosophie seit Kant" (2. Aufl. 1907). Ein philosophischer Führer der akademischen Jugend wollte er sein und ist er vielen geworden. Es gibt verschiedene Wege der philosophischen Führung, und es ist schon viel über den besten de- battiert worden. Falckenberg beschreitet den Weg der Geschichte, gangbar gerade bei der Philosophie. Und gerade auf diesem Wege konnte ihm der künstlerische Genius die Hand reichen, und er verhalf ihm zu jener Klarheit und Abrundung, die seine Schriften wie seinen Vortrag aus- zeichneten. Wie im klassischen Griechentum war es bei ihm das ästhe- tische Element, das alles erleuchtete und verklärte, die Schwere des Stoffes milderte, ihn darstellungs- und aneignungsfähig machte, ihm das Grelle und Herbe nahm. Aber ohne ihn zu verwaschen ! Die künstlerische Abklärung war vor allem das Zeichen eigener persönlicher Verarbeitung, die aber der wissen- schaftlichen Exaktheit und Akribie durchaus nicht im Wege stand. Sein Hauptwerk zeigt es deutlich. Und dabei hatte er einen feinen Instinkt für das spezifisch Philosophische an der Philosophie, das zu allem Wissen- schaftlichen und Wissenschaftsmethodologischen hinzukommen muß, soll dieses bei all seiner sonstigen Bedeutsamkeit dem Vorwurf philosophischer Unerheblichkeit entgehen. Auf dieses spezifisch Philosophische zielte er in seiner Weise, wenn er sagte, daß die großen philosophischen Systeme „ihre letzte Wurzel im Affekt haben", daß sie „in höchster Instanz Sache des Glaubens, des Gefühls, des Entschlusses sind". Mag in dieser Würdi- gung zugleich etwas von der kühlen skeptischen Reserve stecken, die einen echten Zug des Historikers ausmacht, der nicht handelt, sondern betrachtet und sich der Relativität aller menschlichen Gebilde bewußt ist; es lag darin doch auch der Sinn für den eigentlich philosophischen Geist. Falckenberg fühlte die Ebbe, die bei aller Regsamkeit seit der Hochflut des deutsch-klassischen Idealismus eingetreten, und blickte als Historiker nach den wenigen nach-hegelschen „weit in die Lande schauenden Türmen" aus. (Aus der 1904 gehaltenen Gedächtnisrede „Kant und das Jahrhundert".) Noch bezeichnender spricht er von „wenigen Berggipfeln, vom Abendrot des deutschen Idealismus verschönt, und zugleich Boten und Bürgen einer neuen Aera mit bescheideneren Zielen aber solideren Methoden". Und daß er in Lotze den größten dieser Berggipfel sah und ein Werk über ihn begonnen hat (nur im ersten biographischen Teil erschienen 1901), ist nur historische Gerechtigkeit und rückt seine eigene Auffassung über die Aufgaben der Philosophie in gutes Licht. 222 Mitteilungen. Er hatte gewiß auch einen Blick für das Dionysische, wie es etwa in Fichte atmete. Er selber aber war keine impulsive, sondern eine ausgesprochen ästhetisch-kontemplative Natur. In ihm ist nichts von den Gespanntheiten, wie sie in jenem Denker auftreten und den deutsch- klassischen Genius etwa W. von Humboldts ablösen. Vielmehr wie dieser eine rein betrachtende, ästhethisch verarbeitende und dadurch sich selbst gestaltende Natur. Der vom platonischen Eros verklärte Blick auf die Fülle der historischen Gestalten war sein Erbteil. In seinem Verhältnis zur Berufsarbeit kommt dieses Apollinische seiner Natur rein zum Ausdruck. Ich habe keinen philosophischen Lehrer kennen gelernt, der mit solch innerster Freude und begeisterter Anteilnahme an seinem Dozentenberufe hing, aber wie ein ausübender Künstler erst in den Saal trat, nachdem er den Stoff nicht nur dem Inhalt, sondern auch der Form nach bis ins Einzelnste durchgearbeitet und vollkommen gemeistert hatte. Am Ringen mit den Problemen ließ er darum den Hörer weniger teilnehmen. lieber die Art des philosophischen Lehrens läßt sich wiederum vieles hin und wider sagen, und die Falckenbergsche paßt nicht für jeden. Aber er hat vielen das Tor der Philosophie geöffnet. Seine Lehrart hängt also mit dem in ihm verkörperten klassisch-har- monischen Persönlichkeitsideal zusammen. Der Schriftsteller, sagte ich, dient dem Lehrer. Und der Lehrer vollendet sich im Ganzen der Persön- lichkeit, ist nichts für sich, sondern soll ein natürlich-ungezwungener Aus- druck von dieser sein. Falckenberg wirkte schließlich und eigentlich durch das, was er war. Wenn er nie vor dem Hörer erschien, bevor er seinen» Stoffe die abgeklärteste Form verliehen hatte, so war eben für ihn die künstlerische Abklärung der Philosopheme ein Zeichen wenn nicht ihrer Wahrheit, so zum mindesten der eigenen persönlichen Besitzergreifung, die Garantie des eigenen Sieges im wissenschaftlichen — und sittlichen — Kampf mit dem Stoffe. Von diesem Kampfe läßt er, wie gesagt, so gut wie gar nichts merken. Aber was dadurch vielleicht an Anregungen und Impulsen für den philosophischen Schüler verloren geht, wird ersetzt durch jenes Fluidum, das von einer ganzen Persönlichkeit ausgeht, alle ihre Aeußerungen verklärt und ihnen den Stempel schlichtester Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit aufdrückt. In gespannteren Zeiten als es die sogenannten klassischen sind, oder gar in solch verworrenen wie der heutigen, wo man aus dem Gröbsten erst wieder aufbauen muß und wo es so viel nach außen zu tun gibt, da mag es besonders nahe liegen, zuerst darauf zu sehen, was einer leistet, für objektive Zwecke und Güter schafft. Zur Würdi- gung von Persönlichkeiten wie derjenigen Falkenbergs muß die erste Frage sein, was er selber war. Denn dadurch vor allem, durch sein abgeklärtes persönliches Sein wollte und konnte er recht eigentlich wirken. Gerade darum scheint er die Musik nicht zum Beruf erwählt zu haben. Um ihr, wie schon von anderer Seite bemerkt worden ist, die Treue ganz rein bewahren zu können. Konnte er sie doch so vor allen empirischen Nöten und Nötigungen, vor jeder Forciertheit und jedem äußeren Muß bewahren. Der entsprechenden Gefahr des philosophischen Berufes konnte er nur entgehen durch die Bildung der eigenen philosophischen Persönlich- Mitteilungen. 223 keit und innerhalb der Berufsausübung durch Fernhaltung alles Nichtge- mäßen. Und eben darin war er groß. Durch das persönliche Sein zu wirken, das ist zweifellos der idealste Weg des Wirkens. Er verhindert, falsche Pfade im Berufe einzuschlagen. Falckenberg gehört zu den feinen Geistern, die sich nicht erst auf ihre Schranken besinnen müssen, weil sie eben jenem stillen Wirken huldigen, das aus dem harmonisch gesättigten Sein quillt. So ist er durchaus fern geblieben jener Sphäre des bloßen Scheins, den Rousseau in seiner grotesken Gestalt gezeichnet hat, fern von allem Glänzenden und Schimmernden, allem Künstlichen und Gezwungenen. In der -Erinnerung steht er vor uns in der Schönheit seiner edlen Natur, deren stilles Wirken keine eigenmächtige Willkür unterbrach. Auf dieses stille Wirken muß man achten, will man ihn voll würdigen. Das mag darum nur einem möglich sein, dem es, wie mir, vergönnt gewesen ist, ihm persönlich näher zu treten und vor allem im Hause Falckenberg lange Jahre ein- und auszugehen und auch an dessen Freuden und Sorgen persönlicher teilzunehmen. Denn der Blick gerade in seine Familie rundet sein Bild, vor allem hinsichtlich des rein Menschlichen seiner Persönlichkeit, in schönster Weise ab. Gerade bei ihm kam erst hier neben der stillen feinen Gelehrtenpersönlichkeit und dem feinsinnigen Künstler der Mensch, durch jene Seiten verklärt, zur vollen Erscheinung. Gerade hier konnte man sehen, wie wirklich über seinem Leben neben dem Genius der Philosophie der reine bezaubernde Hauch der Kunst und vor allem der Musik schwebte und es verschönte. Gerade in der wunder- baren Lebenseinheit seiner Familie zeigte sich dieser Geist des Haus- herrn in bestem Lichte. Von allen Gliedern strahlte die künstlerische Abgeklärtheit seines Wesens eigentümlich, aber immer harmonisch wieder; alles aber auf dem Grunde tiefer, weiter, frommer Herzlichkeit. Wer davon kosten durfte, wie ich zum letztenmale noch kurz vor seiner Ab- reise nach Jena, wo ihn bald der Tod ereilen sollte, der wird herzlich bedauern, dass ihm diese reine Gestalt nicht mehr begegnen wird. Aber er wird ihn selber glücklich preisen. Das Leben ist ihm nichts Wesentliches schuldig geblieben. Sonnig verlief sein Berufsleben in Schrift- steller- und in Lehrtätigkeit. Sonnig bis zuletzt war sein Familienleben. Wohl zogen zeitweilig drohende Wolken hinter seinem Hause auf. Aber alle wichen schließlich wieder strahlendem Sonnenschein, und seine drei Söhne kehrten gesund und ehrengeschmückt aus dem Felde zurück. Aber gerade in solchen kritischen Zeiten, wie sie wiederholt über seinem Hause lagen, habe ich ihn vorbildlich groß gesehen. Vor allem in der freien Beherzigung des Wortes: Seid dankbar in allen Dingen! Wie er einst in besonders schwerer Stunde zu mir sagte: was ihm an Erfüllung seiner nächsten dringendsten Wünsche noch beschert werden möchte, werde er von jetzt ab als ein Gnadengeschenk empfangen, — so betrachtete er schließlich alles Gute, das ihm in seinem Leben zu teil geworden, als Geschenk. Und eben darum ist ihm das Leben nichts schuldig ge- blieben. Eben deshalb, weil er ihm das Größte zu entnehmen gelernt hatte, das überhaupt aus ihm zu holen ist: jene idealen Lebenswerte — 224 Mitteilungen. nnd zugleich jene innere Freiheit und Selbstbescheidung gegenüber dem Leben, bei aller dankbaren Hingabe^ an dasselbe. Und schließlich: still und groß ist er gegangen, mit jener heiteren Ruhe des Weisen, der die Lebensgüter dankbar genießt und auf die ge- nossenen und auch auf das, was ihm selbst zu wirken vergönnt gewesen, dankbar zurückblickt, weil er das alles irgendwie in seinen dauernden höheren Besitz verwandelt hat; der aber über dem allen auch gelernt hat, den Fuß nur leicht aufzusetzen, und darum bereit und fähig ist, auch die letzte Seite seines Lebensbuches still und dankbar umzuschlagen. Eine klassisch-apollinische Natur in der Tat bis in seine letzten Atem- züge hinein. Und es scheint, als ob ein besonderer Sinn und eine innere Gerechtigkeit darin liege, daß es ihm vergönnt gewesen ist, in seinem letzten Semester noch einmal mit ungetrübter Freude gerade über die Ge- schichte der griechischen Philosophie zu lesen: als ob er sich hier doch am meisten heimisch gefühlt habe, in diesen klaren Linien reinen Menschentums, wie wir sie nur bei solcher historischen Entfernung zeichnen können. Das klassische Griechentum, nimmt es sich nicht still und bleich aus gegen den mächtigen Pulsschlag der Gegenwart? Jedenfalls aber zeigt es sich für unseren durch die Distanz frei gewordenen Blick gereinigt von allen Schlacken und Verworrenheiten des Tages und zeigt uns die ideale geistige Menschlichkeit in ihren lapidaren Zügen. Sie heißen Sachlichkeit, Objektivität, die ihrerseits von ideellen Notwendigkeiten zehren, vom reinen Hauche des Unbedingten berührt sind. Was ist in dieser verzerrten Gegen- wart, in dieser Zeit spekulativer Ermattung und empirischer Zerfahrenheit nötiger, als uns zurückzufinden und vor allem unsere akademische Jugend immer wieder zurückzuführen zu den Quellen, aus denen schon unser klassisch- deutscher Genius den Mut des reinen — und schließlich auch willensstarken Lebens getrunken hat! Otto Willmann -f. Am 1. Juli v. J. ist der katholische Philosoph und Pädagoge Otto Willmann in Leitmeritz gestorben. Mit ihm ist einer der markantesten Persönlichkeiten innerhalb der katholischen Geisteswelt aus dem Leben ge- schieden, ein Mann, dessen hohe Bedeutung als führender Pädagoge weit über den Kreis seiner Schüler und Glaubensgenossen hinaus anerkannt wird. Am 24. April 1839 in Lissa i. Posen geboren und ebendort auf dem Comenius- Gymnasium vorgebildet hat er seine Studien auf den Universi- täten Breslau (1857 — 59) und Berlin (1859 — 1863, hier besonders von Trendelenburg beeinflußt) vollendet. W. hat lange gerungen, ehe es ihm gelang, eine gefestigte Welt- und Lebensauffassung sich zu erwerben. Ernstes geistiges Streben und ein geradezu erstaunlicher Betätigungseifer zeichnen ihn von Jugend an aus. Vorübergehend sucht er sich am kanti- schen Kritizismus zu orientieren. Entscheidend wird er aber erst von Herbarts Pädagogik beeinflußt. Seine erste öffentliche Wirksamkeit zeigt ihn uns bei der praktischen Ausübung des Erzieherberufs am Zillerschen Seminar und an Barths Er- Mitteilungen. 225 Ziehungsinstitut (1863 — 68). Im Jahre 1868 wird er an das neugegründete Wiener Pädagogium berufen, wo er fast 5 Jahre neben Dittes wirkte. Im Jahre 1872 erhält er die Professur für Pädagogik an der Prager Univer- sität. Hier gründete er im Jahre 1876 das von ihm musterhaft geleitete pädagogische Universitätsseminar. Seit 1910 lebte er, zurückgezogen, aber keineswegs wissenschaftlich untätig, in Leitmeritz im Ruhestand. "W. ist, wie erwähnt, Herbartschüler, aber er ist mehr als das, er ge- hörte zu den geistvollsten Fortbildnern der Herbartschen Pädagogik, denen es zu verdanken ist, daß die fruchtbaren Anregungen des Begründers einer wissenschaftlichen Pädagogik, von ihren Mängeln und Einseitigkeiten be- freit, heute noch unter uns lebendig sind. Er gibt sich dabei als durchaus selbständiger Denker zu erkennen. Mit einem ausgeprägten Sinn für ge- schichtliche und soziologische Beziehungen begabt fühlt er sich bald von. der philosophischen Grundlegung der Herbartschen Pädagogik unbefriedigt. In der ersten Zeit seiner Prager Lehrtätigkeit bereitet sich dann jene für sein Leben so bedeutsame Wandlung vor, die ihn über Leibniz in der aristotelisch-thomistischen Philosophie die lange vergeblich gesuchte geschlossene Weltauffassung finden ließ. Seitdem trat er immer entschie- dener als begeisterter Vertreter einer von christlichem Geiste beseelten Philosophie auf. Viel Aufsehen erregte in dieser Beziehung die z. T. recht temperamentvoll geschriebene dreibändige „Geschichte des Idealismus" (1894/97; neue Aufl. 1907), die als kühner Versuch einer großzügigen Synthese bleibenden Wert behält, so wenig an manchen Stellen die Be- handlung der Einzelheiten befriedigen mag. Sein Meisterwerk ist die (erstlich 1882 erschienene) „Didaktik als Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Sozialforschung und zur Ge- schichte der Pädagogik" (4. Aufl. 1909). Was Gediegenheit des Inhalts, Reife und Abgeklärtheit des Urteils und Geschlossenheit der Form anbe- trifft, hält dieses Werk jeden Vergleich aus. Noch heute wird es jeder pädagogisch Interessierte mit reichem Nutzen studieren. Frei von jeder störenden Polemik wird hier das Bildungsproblem historisch und systematisch so erschöpfend dargestellt, daß es für viele unter den neueren Pädagogen eine dankbar benutzte Fundgrube pädagogischen Wissens geworden ist, — auch für solche, die es unterlassen, sich ausdrücklich auf ihre Quelle zu berufen ! Von der Fülle seiner übrigen Veröffentlichungen, in denen er seine reiche Lebenserfahrung weiteren Kreisen in anziehender Form bis in die letzten Lebensjahre hinein darbot, seien hier nur noch die Schrift „Ari- stoteles als Pädagog und Didaktiker" (1909, in der von Lehmann heraus- gegebenen Sammlung „Die großen Erzieher") und die Neuherausgabe von Herbarts Pädagogischen Schriften (3. Aufl. 1913 f.) erwähnt. Der hohe Rang, den er als Pädagoge, besonders in katholischen Kreisen, sich errang, gibt sich auch darin kund, daß bei der Herausgabe des „Lexikon der Pädagogik" durch Koloff es einfach selbstverständlich war, dieses kühn unternommene und inzwischen durchaus geglückte Unternehmen mit Will- manns Namen zu decken. Nun ist dieser Altmeister wissenschaftlicher Pädagogik heimgegangen. Sein geistiger Einfluß wird aber hoffentlich jetzt erst, da viele seiner Kantetudien XXVI. 15 « 226 Mitteilungen. Schüler selbst zu Ansehen gelangt sind, voll zur Geltung kommen. Den z. T. recht überstürzten Reformversuchen moderner Pädagogik wäre jeden- falls eine starke Dosis Willmannscher Besonnenheit und Gründlichkeit sehr heilsam ! Braunsberg, Ostpr. B. W. Switalski. Rudolf Euckens Lebenserinnerungen *). Von Dr. Georg Frebold in Hannover. Zu den vielen Lebenserinnerungen, die uns die jüngste Zeit von Feld- herrn und Diplomaten bescheerte, gesellen sich nun auch die Erinnerungen zweier der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Wilhelm Wundt vollendete kurz vor seinem Tode das Bild seines Lebens in „Erlebtes und Erkanntes", Rudolf Eucken faßt soeben die Erinnerungen seines Lebens zu einem Stück deutschen Lebens zusammen. Daß gerade jetzt, wo das Streben unseres Volkes so arg gelähmt scheint, die Mitarbeiter an des einstigen Reiches Herrlichkeit ihre Erinnerungen uns schenken, scheint uns mehr als ein bloßes Vergnügen am Erzählen vom eignen Werden und Kämpfen, vom eignen Wirken und Schaffen. Eucken kennzeichnet treffend sein neuestes Werk als ein Stück deutschen Lebens. Diese Bezeichnung gebührt allen Lebenserinnerungen der letzten Zeit, denn sie führt uns in der Tat in den tiefsten Sinn dieser Selbstbiographien. Ihr tiefster Sinn aber liegt in der Bedeutung, die sie für unsere gegenwärtige Jugend haben. Sie, deren Streben vorwiegend noch Pietät vor der geschichtlichen Größe der Vergangenheit besitzt, mag sich das Lebensschaffen dieser Großen ständig vor Augen halten, um mit kraftvollem Idealismus und aufrichtigem Wollen an der Wiedererstarkung unseres Volkes mitzuarbeiten. „Dem Alter zur Ehre, der Jugend zur Lehre". Darin liegt die doppelte Be- deutung aller dieser Lebenserinnerungen. Das Schaffen und Wirken eines Philosophen ist anderer Art wie das der Feldherrn und Diplomaten. Es äußert sich nicht in handgreiflichen Taten heroischer Art, es ist weit mehr ein kraftvolles und einheitliches Wirken in der Sphäre geistigen Lebens als der Grundlage unseres Denkens und Handelns. Am eigentümlichsten offenbart sich das in Euckens ge- samten Bestrebungen. Viele können kein sonderliches Verhältnis zu seiner Leistung gewinnen, können ihn nicht verstehen, da sein philosophisches Schaffen so sehr von aller schulmäßigen Philosophie sich abhebt. Jede Philosophie hat ihr eigenes Grundproblem, von dem sie ausgeht und von dem aus sie alles Weitere in mehr oder weniger energischer Besinnung entwickelt. In einem Falle spielt die verstandesmäßige Durchdringung der Wirklichkeit die Hauptrolle, ein anderer sieht im religiösen Licht die Lösung der Daseinsrätsel und einem dritten gar erscheint der gesamte Lebensprozeß, nicht diese oder jene besondere Seite an ihm, als sicherster Ausgangspunkt. Die letztere Art der Philosophie aber gewinnt dadurch 1) Rudolf Eucken, Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens. Verlag K. F. Koehler, Leipzig 1920. V, 127 Seiten. Mitteilungen. 227 einen umfassenden Charakter, daß der Lebensprozeß als schöpferische Tätig- keit, als Selbsttätigkeit erscheint, die alle Gebiete des menschlichen Lebens durchdringt. Das Verhältnis von Mensch und Welt erhält nun nicht mehr seinen Sinn von der alleinigen überragenden Fähigkeit des Denkens her, die Welt entwickelt sich nicht lediglich im Denken, sondern vor allem aus der Selbsttätigkeit des Menschen. Alle Selbsttätigkeit aber ist per- sönlicher Art, sie ist durchgängig ethisch orientiert; damit aber steht die Welt nicht als beziehungsloses Objekt uns gegenüber, sondern alles erhält erst durch unser Schaffen einen Sinn und Wert. Das hat zunächst den Anschein eines Subjektivismus; in Wahrheit aber liegt die Sache so, daß das Subjekt nur eine Stufe eines umfassenderen Lebens, des Geisteslebens, darstellt; der Mensch ist die Stufe, auf der dieses in eigentümlicher Tätig- keit auf das Ganze der Welt wirkt. Gewiß erscheint in solcher Stellung des Menschen eine Bevorzugung, aber eine solche, die ihre Berechtigung vom Ganzen des Geisteslebens her erweisen kann, die Bevorzugung ist un- verdiente Gnade. Das ist in kurzen Worten der Ausgangspunkt der Philo- sophie Euckens. Nun würden an sich solche Ueberzeugungen noch nicht wesentlich weiterführen, gewännen sie nicht eine besondere Bedeutung gerade im Ganzen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Als tief innerlich veranlagter Philosoph tritt Eucken an alle Leistungen unserer Kultur heran, sie prüfend und wägend nach ihrem Gehalt für das persönliche Leben der Menschen. Der Anfang seiner Tätigkeit und auch ein großer Teil seines späteren Schaffens fällt in jene Zeit materialistischer und positivistischer Bestrebungen, die der Epoche zwischen 1860 und 1890 ein so eigentüm- liches Diesseitsgepräge geben. In solcher Lage entwickeln sich Eucken schwere Probleme. Eine reichhaltige Vergangenheit, die dem Menschen eine gewisse Sonderstellung zuerkannte, wirkt in diese Kultur bloßer äußer- licher Leistung hinein. Mit solcher Vergangenheit grundsätzlich brechen, wäre pietätlos, wenn nicht überhaupt eine unmögliche Forderung; anderer- seits enthalten die neuen Kulturleistungen viel Bedeutsames, das sich schlechterdings nicht bei Seite schieben läßt. Der hierin liegende Wider- spruch verdichtet sich für Eucken zu dem einen Hauptproblem : Wie können wir ganz moderne Menschen, Menschen der Gegenwart sein, ohne ein tief- inneres Verhältnis zu allem Großen der Vergangenheit aufzugeben? Es ist letztlich der Gegensatz von Natur und Geschichte, der dieser Frage zu Grunde liegt, der aber einen besonderen Sinn im Lichte einer vornehm- lich ethisch orientierten Lebens anschauung erhält. Die Frage aber wird gestellt von einem, dem die Geschichte die eigentliche Sphäre menschlichen Wirkens ist. Jedoch fordert solche Frage zunächst eine energische Besinnung über das, was die Leistungen der Gegenwart an grundlegenden Elementen auf- zuweisen haben. Sie fordert eine kritische historisch-systematische Erörte- rung der philosophischen Grundbegriffe. So entstehen als Euckens erste größere Schriften die „Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegen- wart" (1878) (später unter dem Titel „Geistige Strömungen der Gegen- wart") und die „Geschichte der philosophischen Terminologie" (1879). In der Erörterung solcher Einzelprobleme wird der eigene Standpunkt geklärt 15* 228 Mitteilungen. und befestigt und schon 1885 wird in den „Prolegomena zu Forschungen über die Einheit des Geisteslebens" ein methodologischer Vorläufer zu einer umfassenden systematischen größeren Arbeit geschaffen. 1888 erscheint dann das systematische Hauptwerk in der Gestalt der „Einheit des Geistes- lebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit". Aber wie sehr auch das hier behanflelte Hauptproblem von großer Bedeutung für eine weitere Oeffentlichkeit ist, es ist doch seiner strengen Fassung nach zunächst für den engeren Kreis der Philosophen bestimmt. Aber selbst hier findet es infolge des Vorwiegens antimetaphysischer Strömungen nicht die gebührende Beachtung. Nur Paul Natorp und Rudolf Seydel erkennen die hohe Be- deutung des Euckenschen Strebens. Mehr Erfolg schien eine historische Darstellung des Lebensproblems zu versprechen, 1890 erscheinen „Die Lebensanschauungen der großen Denker", die sich rasch einen großen Freundeskreis im In- und Auslande gewinnen; gegenwärtig liegt die 15. und 16. Auflage vor. Die Zeiten wandten sich und so konnte auch eine neue Grundlegung der Lebensanschauung in zugänglicherer Sprache die Beachtung weiterer Kreise erhoffen: „Der Kampf um einen geistigen Lebens- inhalt" (1896). Es. hat diese Schrift zunächst auch nur Beachtung in einem kleineren Kreise gefunden, aber bald ist sie weiter vorgedrungen und hat Euckens Philosqphie in der Schätzung weiterer Kreise zu be- gründen geholfen. Was aber im Rahmen seiner Ueberzeugungen besonderes Interesse beanspruchte, war die Religion. Auch sie war in den Strudel naturalisti- scher und positivistischer StrömuDgen hineingezogen und ihres inneren Ge- haltes für viele Menschen beraubt. Worauf ihr Anspruch auf Wahrheit beruhe und wie er zu begründen sei, das erforderte eine größere Unter- suchung im „Wahrheitsgehalt der Religion" (1901); sie und Hermann Siebecks „Lehrbuch der Religionsphilosophie" sind neben den Arbeiten von Troeltsch wohl die bedeutendsten religionsphilosophischen LeistuDgen der letzten 50 Jahre. Der Wahrheitsgehalt der Religion wird zu einer Apo- logie aller Religion, zu einer Apologie des Christentums. Daß aber alle Anerkennung des Christentums nicht auch schwere Schädigungen in seiner historischen Gestaltung übersieht, dafür zeugt diese sowie die spätere kleinere Schrift „Können wir noch Christen sein?" (1911). Seine Stellung zum Christentum faßt Eucken in die Worte zusammen: „Unsere Frage war, ob wir heute noch Christen sein können? Unsere Antwort ist, daß wir es nicht nur können, sondern sein müssen. Aber wir können es nur, wenn das Christentum als eine mitten im Fluß befindliche weltgeschicht- liche Bewegung anerkannt, wenn es aus der kirchlichen Erstarrung aufge- rüttelt und auf eine breitere Grundlage gestellt wird. Hier also liegt die Aufgabe der Zeit und die Hoffnung der Zukunft". Euckens Streben wurde bekannter, namentlich im Auslande, weniger in Deutschland. Vor allem in Amerika, den nordischen Ländern, Frank- reich, weiterhin dann in Indien, China und Japan fand es lebhaften Wider- hall. Solche größere Anerkennung im Auslande ist wohl der Grund für den Vorwurf, daß Eucken mehr mit dem Auslande als mit seinem eigenen Volke sympathisiere. Aber die Anerkennung des Auslandes hat ihn auch uns schätzen gelehrt und solcher Umweg über das Ausland erweckt dann Mitteilungen. 229 leicht den Eindruck, als sei Euckens Streben mehr auf das Ausland als auf das eigene Volk gerichtet. Nur Oberflächlichkeit vermag so zu ur- teilen. Als eine für weitere Kreise berechnete systematische Darstellung folgten dann die „Grundlinien einer neuen Lebensanschauung" (1907) und das kürzere „Der Sinn und Wert des Lebens" (1908). Namentlich das Letztere ist in weite Kreise gedrungen. Philosophische Hauptprobleme erfahren eine leichtverständliche Erörterung 1908 in der „Einführung in eine Philosophie des Geisteslebens" (jetzt unter dem Titel „Einführung in die Hauptfragen der Philosophie" 1920). Schon bald, nachdem auch die eigentlichen Vertreter der Philosophie sich ernsthaft mit Euckens Bestrebungen beschäftigt hatten, wurde bei aller Schätzung seiner Leistung der Wunsch nach einer, näheren erkenntnistheo- retischen Grundlegung . seiner Philosophie laut. Zu solcher Forderung drängte namentlich das Vordringen des Pragmatismus, sodaß sich alle einzelnen Probleme um die Hauptfrage nach dem Verhältnis von Leben und Erkennen verdichteten. Kurz vor seiner Amerikareise 1912 erschienen die Voruntersuchungen hierzu in der kleineren Schrift „Erkennen und Leben". Wesentlich vertieft und auf weit größerer Grundlage unternommen wurden dann die Untersuchungen in dem 1918 erschienenen Werk „Mensch und Welt. Eine Philosophie des Lebens". Bei aller Verwandtschaft mit dem Pragmatismus zeigen Euckens Ueberzeugungen doch so gewaltige Unterschiede im Vergleich zu diesen, daß eine Einreihung Euckens in den Pragmatismus grundsätzlich nicht gerechtfertigt ist. Der Pragmatismus erweist die Wahrheit des Denkens von seiner rationellen Anwendung im täglichen Leben her; was' sich nützlich und förderlich zeigt, das kann erst volle AVahrheit beanspruchen. Bei Eucken gibt es wohl eine Wahrheit des Denkens, aber sie erhält erst vom Ganzen des Geisteslebens her eine ausschlaggebende Bedeutung. Nicht das ist wahr, was sich nützlich er- weist, sondern nur das, was das Wirken eines höheren Lebens offenbart. Das ist zwar keine Absage an jegliches Erkennen, aber es ist eine Ver- schiebung des Hauptproblems der Philosophie von ihm in den Bereich ur- sprünglichen Lebens. Es ist kein Kampf gegen den Intellektualismus über- haupt, sondern ein Kampf gegen seinen Anspruch, alles, auch das Irra- tionale von sich aus völlig begreifen zu können, ohne Rücksicht auf die lebendige Persönlichkeit zu nehmen. Das aber ist in der Tat Euckens größte Bedeutung, daß er mit allem Nachdruck eine ethische Orientierung unserer Lebensanschauung fordert. Das macht ihn zum Fichte unserer Zeit (vgl. sein „Zur Sammlung der Geister" 1913) und zum Erneuerer eines hoffnungsfreudigen Idealismus des Lebens. Alles das aber hindert nicht, ihn als treuen Hüter von Idealen einer großen Vergangenheit zu schätzen, ja, auf seine Hauptfrage die Antwort zu geben, daß ein moderner Mensch daran kenntlich ist, daß er im Ganzen seines Lebens in Geschichte und Gegenwart steht. Lebenserinnerungen kann man nicht kritisieren, sie können nur ein Erlebnis für den Leser werden. Ob dabei solch Erlebnis nachhaltig wirkt, ob es zu einer Offenbarung wird, das bemißt sich ganz nach dem inneren -Gehalt der wirkenden Persönlichkeit. Und da meinen wir allerdings, daß in diesen Lebenserinnerungen eine volle und ganze Persönlichkeit sich gibt, 230 Mitteilungen. energisch in der Konzentration der Arbeit wie in der Einheitlichkeit der Ueberzeugung. Kein Wort aber vermöchte besser den Sinn dieses Schaffens und Lebens wiederzugeben als das des psalmistischen Sängers : „Und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen". , Philosophie und Schule. (Zum Problem der philosophischen Propädeutik.) Auf Grund vielfacher Anregungen aus dem Kreise unserer Mitglieder, besonders aus demjenigen des höheren Lehrerstandes, veranstaltete die Geschäfts- führung der Kant- Gesellschaft am Sonnabend, den 15. Januar 1921, einen Diskussionsabend in den Räumen der Berliner Universität, der von etwa 500 Teilnehmern besucht war. Referate hatten die Herren Studienräte Dr. Otto Freitag und Dr. Felix Behrend, sowie Herr Universitätsprofessor Dr. Eduard Spranger freundlichst übernommen. Von diesen Berichten, an die sich eine sehr lebhafte Aussprache anschloß, veröffentlichen wir in Folgendem die Darlegungen von Herrn Dr. Freitag und Herrn Dr. Behrend. Philosophie und höhere Schule. Von Studienrat Dr. Otto Freitag. Ich habe den Auftrag, über das Verhältnis von Philosophie und höherer Schule den einleitenden Bericht zu geben, der bei der Kürze der gestellten Frist nur in ganz allgemeinen Linien gehalten sein kann. Es kommt mir daher weniger darauf an, Neues zu diesem Gegenstande zu sagen ; das ist fast kaum möglich bei der Fülle der Literatur, sondern ich möchte möglichst viele Seiten des weitschichtigen Themas als Grundlage für die Aussprache berühren. Für die Neugestaltung des Lehrplanes der höheren Schulen ist die Frage des philosophischen Unterrichts zweifellos eine der wichtigsten und brennendsten. Gleichzeitig ist sie sicherlich die verwickeltste und schwie- rigste. Je mehr man sich in dieses Problem vertieft, um so schwieriger erscheint es, und fast möchte man an einer befriedigenden Lösung ver- zweifeln. Wenn es heißt, welche Philosophie man habe, hänge davon ab, was für ein Mensch man sei, so gilt das Wort wohl auch für die Stellung des einzelnen zu der Frage der philosophischen Propädeutik. Welche Form des Philosophieunterrichts an höheren Schulen man für richtig hält, hängt auch wohl davon ab, was für ein Mensch man ist. Wie ist der gegenwärtige Stand des philosophischen Unterrichts auf den allgemeinbildenden höheren Schulen? Ausgangspunkt unserer Betrach- tung müssen die zur Zeit geltenden Lehrpläne in Preußen sein. Seit den Lehrplänen von 1891 ist Philosophie als Pflichtfach aus dem Lehrplan verschwunden. In den jetzt geltenden Lehrplänen von 1901 wird sie in Verbindung mit dem deutschen Unterricht dem Ermessen der einzelnen Anstalten anheim gestellt. Bei den Lehraufgaben für den deutschen Unter- Mitteilungen. 231 rieht heißt der letzte Absatz: „Wünschenswert erscheint eine in engen Grenzen zu haltende Behandlung der Hauptpunkte der Logik und der empirischen Psychologie." In den methodischen Bemerkungen für das Deutsche: „Die Prosalektüre soll zumal auf der Oberstufe den Stoff für die Erörterung wichtiger allgemeiner Begriffe bieten. Durch zweckmäßig ge- leitetes Lesen dieser Art wird die philosophische Propädeutik, deren Auf- nahme in den Lehrplan der Prima an sich wünschenswert ist, wirksam unterstützt, da aber, wo die Verhältnisse ihre Aufnahme nicht ermöglichen, wenigstens einigermaßen ersetzt werden können. Aufgabe solcher Unter- weisung ist es, die Befähigung für die logische und spekulative Auffassung der Dinge zu stärken und dem Bedürfnisse der Zeit, die Ergebnisse der verschiedensten Wissenszweige zu einer Gesamtanschauung zu verbinden, in einer der Fassungskraft der Schüler entsprechenden Form entgegenzu- kommen. Zu wünschen ist, daß zur Förderung dieser Aufgabe auch die Vertreter der übrigen wissenschaftlichen Lehrfächer beitragen." Einen wesent- lichen Schritt weiter gehen die Lehrpläne - für das höhere Mädchenschul- wesen von 1908. Sie schreiben für die Studienanstalt im Rahmen des deutschen Unterrichts philosophische Propädeutik vor, mit besonderen Stunden für Logik, psychologische Betrachtungsweise und eine hierauf sich gründende Beurteilung ethischer Probleme an der Hand ausgewählter Lek- türe. Als Ziel wird bezeichnet: „das sehr lebhafte Interesse an den Vor- gängen des Innenlebens zu befriedigen, die intellektuellen Bedürfnisse an- zuregen, Mittel zur intelellektuellen Selbstzucht zu geben, Verständnis für philosophische Fragen und Aufgaben anzubahnen." Durch die letzten Knabenschullehrpläne ist also der philosophische Unterricht freigestellt. Eine Stichprobe durch Ueberprüfung der Pro- gramme von etwa 50 preußischen und hessischen Vollanstalten aus dem Jahre 1914 ergab, daß Philosophie in keinem erwähnt war. In Sachsen und Baden lagen die Verhältnisse etwas günstiger, in Sachsen war Philo- sophie in etwa einem Viertel der Programme vertreten, meist in Verbindung mit dem deutschen Unterricht, vereinzelt als Sonderfach mit einer Wochen- stunde entweder in beiden oder einer Prima. Der Unterricht beschränkte sich meist auf Logik und Psychologie, war bisweilen auch anderen philo- sophischen Fragen erkenntnistheoretischer, metaphysischer und ethischer Natur gewidmet. Fragt man, ob die gegenwärtig geltende Lehrverfassung demnach das Verhältnis von Philosophie und höherer Schule befriedigend regelt, so muß mit einem klaren Nein geantwortet werden. Diese Erkenntnis kommt auch in der starken Gegenbewegung zum Ausdruck, die sofort nach dem Aus- scheiden der Philosophie aus dem höheren Schulunterricht einsetzt und auf ihre Wiedereinführung hinarbeitet. Diese Bewegung hat in den letzten Jahren immer stärkere Formen angenommen. Die letzten Jahrzehnte bringen eine außerordentlich reiche Literatur zur Propädeutik - Frage. Mehrfach haben die Direktoren-Konferenzen, Philologenversammlungen, die Tagung der Naturforscher und Aerzte sich mit der Frage beschäftigt, Männer, die in der Wissenschaft und der Welt der Schule gleich gute Namen haben, wie Ziegler und Paulsen haben ihre warnende Stimme erhoben und dringend die Wiedereinführung der Philosophie verlangt, ferner Rehmke, Eucken, Mitteilungen, Otto Braun, von Schulmännern besonders Alfred Rausch, Otto Weißenfela, Alfred Biese, Friedrich Neubauer. Rudolf Lehmann hat dem Gegenstande seine besondere Liebe gewidmet. Ich möchte es hier nicht unterlassen, den Dank an den Mann abzustatten, der in mühevoller Arbeit einen großen Abschnitt dieser weitverzweigten Literatur gesammelt und kritisch gesichtet hat, und der damit für alle, die an diesem Gegenstande arbeiten, außer- ordentlich wertvolle Vorarbeit geleistet hat — Hans Schmidkunz. Die letzte bedeutungsvolle Stellungnahme des gesamten höheren Lehrer- standes liegt vor in den Ergebnissen der Kasseler Tagung des Vereins- verbandes akademischer Lehrer Deutschlands vom 1. Dezember 1919. In den Leitsätzen zur Neugestaltung des Schulwesens hieß es: „Es ist dafür Sorge zu tragen, daß in keiner Schule auf der Oberstufe Einführung in die philosophische Denkweise fehlt. Spätestens in der Oberprima ist in 2 Stunden philosophische Propädeutik zu lehren." In der endgültig ange- nommenen Fassung heißt es dagegen nur: „In keiner höheren Schule darf auf der Oberstufe Einführung in die philosophische Denkweise fehlen. " Die besonderen Propädeutik-Stunden sind als Forderung also fallen ge- lassen. Dagegen fordert der Verbandstag des Vereins für 4eu*sche Bildung in seiner letzten Tagung von 1920 für die deutsche Oberschule (deutsches Gymnasium) 2 Stunden für Philosophie in den beiden Oberklassen. Für unser Thema wird also zunächst zu fragen sein: Aus welchen Gründen muß philosophischer Unterricht überhaupt auf höheren Schulen wieder eingeführt werden? Daran wird sich die 2. Frage schließen: Wie soll der philosophische Unterricht gestaltet werden, welches sollen seine Ziele und sein Umfang sein, welches seine Stoffe und Methoden? Eine klare Stellungnahme zu diesen Fragen ist m. E. ganz unab- trennbar von der Frage nach den wechselvollen Schicksalen, die der Pro- pädeutik-Unterricht im Verlauf der Geschichte des höheren Unterrichts bisher gehabt hat. Im 18. Jahrhundert teilt sich die Schule und die philo- sophische Fakultät der Universität in die Vermittlung der allgemeinen Bil- dung, die als Unterbau für das Fachstudium dienen soll. Sie ist neben mathematischer, naturwissenschaftlicher und sprachlich-historischer Richtung auch wesentlich philosophischer Natur. Im Schulunterricht der Oberstufe kommen vor: Metaphysik, Ontologie, natürliche Theologie, Logik, Psy- chologie, Ethik, Naturrecht, Politik, Rhetorik. Am Anfang des 19. Jahr- hunderts wird durch die Schaffung des neuhumanistischen Gymnasiums die allgemeine Bildung von der Universität so ziemlich ganz auf die Schule verlegt, sodaß auf der Universität regelmäßig gleich das Fachstudium beginnt. In dem Lehrplanentwurf des neuhumanistischen Gymnasiums von 1816 durch Süvern ist der philosophische Unterricht gänzlich fallen gelassen und damit die Philosophie aus der Allgemeinbildung ausgeschaltet. Unter dem Einflüsse Hegels wird 1825 der Propädeutik- Unterricht in der Philosophie und zwar in Logik und Psychologie allerdings nicht zur Pflicht gemacht, aber doch als im Grunde unerläßliche Aufgabe bezeichnet. Nach einer Be- stimmung des Jahres 1835 ist der Unterricht vom Mathematiklehrer zu geben. Der Wiesesche Lehrplan von 1856 rät, philosophische Propädeutik nicht als selbständiges Fach anzusetzen, sondern die Logik mit dem deut- Mitteilungen. 233 sehen Unterricht zu verbinden. 1862 wird durch Verfügung vor ungebühr- licher Vernachlässigung gewarnt, die Aufnahme eines Vermerkes im Abi- turientenzeugnis über die Aneignung der Elemente der Logik und Psycho- logie angeordnet. Der Lehrplan von 1882 betont zwar die Notwendigkeit, zugleich aber auch die Schwierigkeit des Unterrichts und die Seltenheit seines Gelingens. Es wird den einzelnen Anstalten anheimgegeben, ob das Fach weitergelehrt werden solle. Der Lehrplan von 1891 läßt die philo- sophische Propädeutik als „oft recht unfruchtbar betriebene Lehraufgabe" gänzlich fallen. Damit ist der völlige Niedergang in Preußen erreicht. Mit dem Lehrplan von 1901 beginnt bereits wieder der Aufstieg. Das Bild während der letzten hundert Jahre ist also folgendes: Hatte man die philosophische Propädeutik eingeführt, so schob man sie bei Seite. Hatte man sie bei Seite geschoben, so fühlte man wieder ihre Unentbehrlichkeit. .Wir sehen, sie ist das Schmerzenskind des höheren Unterrichts. Daher stammt auch die skeptische Stimmung ihr gegenüber. Soll man es auf Grund der trüben Erfahrungen in den letzten hundert Jahren nicht ein- fach bei dem gegenwärtigen Verfahren belassen? Aber diese wechselvollen Schicksale des philosophischen Unterrichts sind letzten Endes bedingt durch den Wandel und Wechsel der geistigen Strömungen und die veränderte Stellung der Philosophie im Geistesleben der Nation überhaupt. Erst diese geschichtlichen Tatsachen bieten den Schlüssel für das Verständnis der Schicksale, die der Philosophie-Unterricht gehabt hat, und erst von ihnen aus gewinnen wir auch gleichzeitig Maßstäbe und Richtungspunkte für die gegenwärtige Propädeutik-Frage. Das 16. und 17. Jahrhundert hatte eine Schul - Philosophie in der aristotelischen, das* 18. in der Wolffischen. Kant bedeutet den Wendepunkt in der Geschichte der philosophischen Propädeutik. Seit Kants Revolution gab ' es kein anerkanntes Schulsystem mehr. Damit hat die Philosophie ihre schulmäßige Lehr- und Lernbarkeit verloren. Der Neuhumanismus glaubt in seinem Bildungsideal einen vollgültigen Ersatz für die Philo- sophie bieten zu können. Daß die großen spekulativen Systeme im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht für den Schulunterricht geeignet seien, hielten auch ihre eigenen Urheber für ausgemacht, z. B. Hegel und Herbart. Wohl aber glaubte man, daß Logik und Psychologie zwei geeignete Schul- disziplinen seien, um den Schüler für das systematische Studium, womit der Universitäts Unterricht beginne, reif zu machen. Man glaubte so den Weg gefunden zu haben, auf der Schule die Abgründe der neuen Philo- sophie vermieden zu haben und doch ein gut Stück Philosophie geben zu können, von wo aus der Schüler nun auf der Universität in das Studium der großen spekulativen Systeme einlaufen könne. In den dreißiger Jahren erfolgte der große Zusammenbruch der Spekulation, es beginnt die Periode des Niederganges der deutschen Philosophie, die etwa das zweite Drittel des Jahrhunderts erfüllt. Die Universitäts-Philosophie verzichtet auf un- mittelbare Erfassung des J^ebens und seiner Probleme und ist meist histo- risch-kritische Wissenschaft. Hand in Hand damit geht der glänzende1 Aufschwung der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften. Das allgemeine Interesse der Gebildeten wendet sich diesen zu. Die Philosophie verfällt in Verachtung. Im Volke greift eine materialistische Weltanschauung 234 Mitteilungen. und völlige Gleichgültigkeit gegenüber den philosophischen Fragen Platz. In dieser Zeit fristete nun der Propädeutik-Unterricht in Logik und Psy- chologie ein kümmerliches Dasein. Woher sollte auch den Lehrern, die unter diesen Verhältnissen ihre Ausbildung genossen hatten und meistens Fachphilologen waren, das lebendige Interesse kommen? Der Propädeutik- Unterricht war mit dem deutschen Unterricht verbunden und wurde meist auf die Logik beschränkt. Die lateinischen Elementa logices Aristoteleae Trendelenburgs, 1836 erschienen und oft wieder aufgelegt, bildeten im all- gemeinen die Grundlage des Propädeutik-Unterrichtes. Dieser beschränkte sich vielfach ganz im philologischen Sinne auf Uebersetzen und Inter- pretation der Trendelenburgs chen Elementa. Daß diese Art des Philosophie-Betriebes völlig unzulänglich war und in keiner Weise geeignet, tieferes nachhaltigeres Interesse zu erwecken, daß er wohl meist die Form grauenvoller Oede angenommen hat, ist ohne weiteres klar. Die Erinnerung an diese Form des Philosophie-Unterrichts ist es nun wohl, durch die sich die Abneigung gegen einen besonderen philosophischen Unterricht erklärt. Wie hat sich nun aber seitdem die allgemeine Lage der Philosophie überhaupt gestaltet? Mit dem letzten Drittel des Jahrhunderts beginnt sie sich von ihrem Niedergang zu erholen, und es folgt der stetig wach- sende Anstieg der philosophischen Bewegung bis in unsere Tage. Eine außerordentlich rege literarische Produktion hat sich entfaltet, auf allen Teilgebieten herrscht reichstes Leben, philosophische Werke werden wieder gelesen, die Hörsäle haben sich gefüllt, die philosophischen Vorträge finden das lebhafte Interesse in allen Kreisen, und die philo- sophischen Gesellschaften wachsen beständig an Teilnehmerzahl. In der Volkshochschulbewegung bahnt sich die Philosophie mutig ihren Weg. Kurz, ein völliger Umschwung in der Schätzung der Philosophie hat sich vollzogen. Es geht ein tiefes Suchen und Sehnen nach Philo- sophie durch unsere Zeit, so daß es wohl den Anschein hat, als ständen wir am Beginn eines philosophischen Zeitalters. Welches ist nun die wesentliche Gesamtrichtung dieser philosophischen Bewegung der Gegenwart? Mit einem Wort, die Philosophie will wieder Wissenschaft vom Ganzen, will Weltanschauung sein. Ueberall regt sich der Drang, über die „positivistischen Grenzpfähle" hinauszuschauen, das Streben nach einer Deutung des physischen Weltbildes durch einen ver- ständlichen Sinn ist erwacht. Es ist der tief im Wesen der menschlichen Seele selbst gesetzte, unausrottbare metaphysische Trieb, der so alt ist wie die Menschheit, der sich gegenwärtig wieder mit aller Stärke regt. „Der Einheitstrieb der menschlichen Vernunft", sagt Wundt, „ist es, der sich nicht genügen lassen will, das Einzelne zu erkennen und innerhalb der beschränkten Sphäre, der es zunächst angehört, mit anderem einzelnen in Beziehung zu setzen, sondern der zu einer Weltanschauung gelangen möchte, in der die getrennten oder nur lose verbundenen Bruchstücke unseres Wissens zu einem Ganzen geeint sind. Ferner ist für die moderne philo- sophische Bewegung charakteristisch der Zug zu den Werten. In seiner eigenen Brust findet der Mensch eine zweite Welt, eine Welt der Zwecke und Ziele, Ideale und Werte. Er will wieder wissen, Mitteilungen. 235 was die Welt für ihn bedeutet, was das Leben für einen Wert hat und was er tun soll, um es wertvoll zu machen. In diesem Sinne wird Welt- anschauung zu einem gegliederten System geltender Lebenswerte. Die neue philosophische Bewegung ist z. T. aus den Einzelwissen- schaften selbst hervorgewachsen, aus Physik und Mathematik, Physiologie und Biologie,( Geschichte und Sprachwissenschaft. Ueberall macht sich das steigende Bedürfnis der Spezialwissenschaften nach philosophischer Klärung ihrer Grundbegriffe und Voraussetzungen, sowie das Verlangen nach einer Synthese und Ausdeutung der Ergebnisse geltend. Freilich eins steht dabei fest : die Zeit schrankenloser Spekulation is.t für die die wissenschaftliche Philosophie für immer vorbei. Der Zusammen- bruch der deutschen Naturphilosophie im 19. Jahrhundert hat für immer den Beweis erbracht, daß es hoffnungslos ist, abseits von dem, was die moderne Wissenschaft mit ihren exakten Methoden von der Natur erkannt hat, irgend etwas über das Wesen der Welt zu ergründen. Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Philosophie liegt fortan in den Ergebnissen der Einzelwissenschaften, und auf ihnen haben alle Versuche eines Weltverständ- nisses aufzubauen. Will man die Hauptrichtung der modernen philosophi- schen Bewegung unter gewisse einigende Formeln fassen, so könrite man sagen, sie ist einerseits Prüfung der Voraussetzungen und Methoden der Einzelwissenschaften, also Wissenschaftslehre. Andererseits sieht sie ihre Aufgabe in der Zusammenfassung unserer Einzelerkenntnisse zu einer die Forderungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemütes befriedigenden Welt- und Lebensanschauung, ist also Weltweisheit im ursprünglichen Sinne. Diese Aufgabe, die Welt und das Leben in seiner Ganzheit zu erfassen, wie es im wirklichen Erleben gegeben ist, kann keine Einzelwissenschaft leisten, denn deren Arbeitsweise zerlegt die Gesamtheit des Wirklichen künstlich in seine einzelnen Teile, sie erfaßt nur einen bestimmten Aus- schnitt des Wirklichen und kann nicht zu einer Gesamtanschauung ge- langen. Die begriffliche Ueberschau über das Ganze leistet nur die Philo- sophie. Die Untersuchung über den Geltungsanspruch von Idealen und Lebenswerten ist ebenfalls eine lediglich philosophische Aufgabe. Diese philosophische Bewegung ist ja nicht auf die zunftmäßige Wissen- schaft beschränkt, sondern eine bis in die tiefsten Tiefen der gesamten Volksseele sich hinabzweigende Erscheinung, sie steigt aus den letzten Gründen der Gesamtkultur unserer Zeit empor. Wo liegen ihre Ursachen? Auf den ersten Rausch über die Errungen- schaften in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft ist der große Rück- schlag erfolgt. Die objektive Kultur hat in immer rastloserer Arbeit der Einzeldisziplinen, in immer sich potenzierender Verzweigung und Speziali- sierung Formen angenommen, die den Einzelmenschen zu erdrücken drohen. Angstvoll steht er vor diesem Uebermaß aufgehäufter Empirie, die er geistig nicht mehr zu bewältigen vermag. Eine Ueberfülle sich wider- streitender Gedankenmassen strömt auf den Einzelnen ein. Der Einzel- mensch sieht Welt und Kultur nur in einem bestimmten Ausschnitt, in besonderer Einstellung, wie sie durch seinen Beruf, seinen Lebenskreis, seine Wissenschaft bedingt sind. So liegt es im Wesen dieser modernen arbeits- teiligen Kultur, daß sie den Einzelmenschen und die soziale Gemeinschaft 236 Mitteilungen. Braseinanderreißt, Di«' einzelnen Gruppen der geistig auseinanderfaltenden Volksgemeinschaft verstehen sich kaum noch. Die Hinwendung zur Philo- sophie ist die Reaktion der Persönlichkeit gegen das Ueherflutetwerden mit geistigen Stoffmassen. Die Angst vor dem Unverbundenen , Chaotischen treibt zur Vereinheitlichung, zur begrifflichen Durchdringung und Zurück - führung auf letzte einfache Linien und Prinzipien. Diese Arbeit zu leisten, ist wesentlich Aufgabe der Philosophie. In diese Luge hat der Weltkrieg und die ungeheure soziale Erschütte- rung zweifellos eine ganz außerordentliche Verschärfung gebracht. Die Not der Seele hat sich vielfach zur Unerträglichkeit gesteigert. Scheinbar unzerstörbare Lebensüberzeugungen sind entwurzelt, die tragenden Pfeiler so mancher "Weltanschauung zerbrochen. Ebenso wie der staatliche und wirtschaftliche wankt auch der geistige Grund, auf dem wir standen. Das Gefüge der Einzelseele lockert sich wie das der sozialen Gemeinschaft. Unter allgemeiner Erschütterung und brausendem Beifall bezeichnete Adolt von Harnack auf der Reichsschul-Konferenz als die eine von den zwei Aufgaben, die sich jeder in diesen schweren Tagen stellen sollte: Wie komme ich zu einer einheitlichen Weltanschauung? und als zweite: Die Liebe, die so umfassend ist wie das menschliche Leben und so tief, wie die menschliche Not. So ergibt sich also als eine der wichtigsten Aufgaben unseres Geistes- lebens für die Zukunft die Forderung nach Zusammenfassung und geistiger Durchdringung der objektiven Kultur, nach Vereinheitlichung und Verinner- lichung, Schaffung von Normen und Lebensüberzeugungen, Erziehung zur Persönlichkeit mit wissenschaftlich begründeter Lebens- und Weltanschauung. Die Funktion, die diese Arbeit leistet, ist das philosophische Denken. Da- mit ist die Sonderaufgabe der Philosophie, ihre Notwendigkeit und Be- rechtigung gegenüber den Einzelwissenschaften bestimmt und der Philo- sophie' wieder ihr bevorzugter Platz unter den Wissenschaften zugewiesen. Ziehen wir nunmehr die Verbindungslinien von diesen Gedankenreihen zu unserem Thema Philosophie und Schule. Lamprecht äußert sich einmal über das Verhältnis von Schule und Gesamtkultur: „Die Schulgeschichte ist nur zu verstehen an der Hand der Bildungsideale. Dabei folgt die Schule im allgemeinen diesen Idealen, sobald sie aus unbewußten Tiefen her in der Gesamtkultur zum Ausdruck zu gelangen beginnen, doch trägt im weiteren Verlaufe sie dazu bei, diese Ideale zu erfassen, zu gestalten, und wird damit auch selbst im eigentlichen Sinne ein Moment des Fort- schritts und der Kultur." Es ergeben sich aus dem Bisherigen mehrere Folgerungen: 1. Der gesamte Aufstieg der philosophischen Bewegung verlangt, daß ihm die Schule in ihrem Betriebe Rechnung trägt und philosophische Bildung in ihre Organisation aufnimmt. Es geht nicht mehr an, daß diese wesentliche Seite der objektiven Kultur in den Bilduugsfächern der Schule überhaupt nicht zum Ausdruck kommt. 2. Der Charakter" dieser Bewegung ist gänz- lich veränderter Natur gegenüber der Struktur jener Zeit, in denen Logik und Psychologie den Charakter der herkömmlichen philosophischen Pro- pädeutik auf der Schule annahmen und der philosophische Schul-Unterrichf in Mißkredit kam. Die Voraussetzungen von damals treffen heute nicht Mitteilungen. . \ 237 mehr zu. Das Mißtrauen gegenüber der Philosophie ist nicht mehr be- rechtigt. 3. Der Gesamtcharakter der gegenwärtigen philosophischen Bewegung selbst muß die Wege zeigen, die ein philosophischer Schulunterricht zu gehen hat. Er muß die Richtung auf die Weltanschauungsfragen haben und aus den wissenschaftlichen Schulfächern hervorwachsen. Die höhere Schule von heute ist im allgemeinen ein getreues Abbild der Verworrenheit und Zerrissenheit, wie sie die gesamte Kultur bietet. Ein vielerlei von Lehrfächern und Stoffen beherrscht den Lehrplan. Vor- wiegend ist das stoffliche und enzyklopädische Interesse, der Gesichtspunkt der Fachdisziplin. Jedes einzelne Wissensgebiet arbeitet auf der Schule nur auf die Sonderziele und mit den Sondermethoden seines Faches, sodaß im Kopfe des Schülers ein Wirrwar von verschiedenen Wissensfragmenten entsteht. Die Vertiefung und Durchdringung, die Verknüpfung des Ge- samtwissens bleibt die Schule im allgemeinen schuldig. Auf die schweren Schäden, die sich daraus für den gesamten 'Bildungs- stand ergeben, hat Friedrich Paulsen oft und beredt hingewiesen. Auf der Hochschule wenden sich die meisten sogleich dem Fachstudium zu. Nur einen Bruchteil führt die Universität in das philosophische Denken ein. Sollen alle die andern ohne jede Berührung mit der Philosophie bleiben ? Die Folge der jetzigen Schulverfassung ist doch, daß der großen Mehrzahl all unserer Gebildeten ein ungemein wichtiges Stück deutschen Geisteslebens für immer verschlossen bleibt. Der Mangel an Orientierung über die letzten Fragen der Wirklichkeit und des Lebens ist ganz erstaunlich für den, der einmal den Blick auf diese Dinge lenkt. Obwohl der größte Teil unserer Gebildeten dem Inhalt der geltenden religiösen Weltanschauung innerlich entfremdet ist, machen doch die allerwenigsten den Versuch, etwas gedank- lich Begründetes an die Stelle zu setzen, und so entsteht jene Zusammen- han gslosigkeit des Denkens über die letzten Ziele des menschlichen Lebens, wie sie charakteristisch für unsere Zeit ist. Bloße Gedankenlosigkeit, sich vornehm gebärdender Skeptizismus, oberflächlicher Materialismus oder Her- einfallen auf krauseste Theosophie und verschwommene Metaphysik sind teilweise die Folgen der Hilflosigkeit, in der die Schule den Schüler läßt. Hat die Schule hier nicht die heilige Verpflichtung, helfend einzugreifen, zu klären und dahin zu führen, was man verständigerweise überhaupt fragen darf? Die Forderung nach Wiedereinführung der Philosophie läßt sich auch noch durch eine psychologische Erwägung stützen. Wie steht im allge- meinen der Schüler der Oberklassen zu Fragen philosophischer Natur? Es ist eine unbestrittene Tatsache, daß diesem Lebensalter ein besonderes intellektuelles Verlangen und ein starker metaphysischer Drang innewohnt, der sich stürmisch auf die letzten Fragen des Daseins richtet. Der jugend- liche Geist wird in diesen Jahren von quälenden Fragen und Zweifeln hin und her geworfen. Es beginnt die persönliche Auseinandersetzung mit den bisher autoritativ hingenommenen geistigen Mächten: Familie, Gesellschaft, Staat, Religion. Das Erkenntnisstreben dieser Lebensjahre hat etwas Reines und ist noch unberührt von den niederziehenden Tendenzen praktischer Natur, die im späteren Leben diesen Drang oft zum Ersticken bringen. Dieser Weltanschauungstrieb findet in den offiziellen Schulfächern mit Aus- 238 Mitteilungen. nähme des Religionsunterrichtes zweifellos nicht die genügende Befriedigung, sondern diese erfolgt größtenteils außerhalb des Rahmens der Schule und wird zum Teil aus trüben Quellen genährt. Schon Paulsen hat behauptet, daß der „Haeckelismus" unserer Primaner die natürliche Folge unserer Lehrverfassung sei. So kommt das natürliche Bedürfnis dieses Lebensalters der Philosophie entgegen wie kaum einem andern Fach. Es gilt daher nur, in der rich- tigen "Weise anzuknüpfen. Zwei Richtungen treten in der Propädeutikliteratur der letzten Jahr- zehnte hervor. Die eine glaubt, von besonderen Lehrplanstunden absehen zu können. Sie will philosophische Durchdringung und philosophischen Geist in allen Unterrichtsfächern. Es ist die Forderung nach Philosophie im Unterricht, die „immanente" Propädeutik, die in jedem einzelnen Unter- richtsfach die in ihm liegenden philosophischen Elemente aufzeigt und fruchtbar macht, sodaß also der ganze höhere Unterricht in philosophischem Geiste erteilt werden soll und die philosophischen Belehrungen in den einzelnen Unterrichtsfächern stattfinden sollen. Das „occasionalistische Prinzip" hat es Vaihinger genannt. Die andere Richtung verlangt daneben noch einen be- sonderen Unterricht in der Philosophie mit eigenen Lehrplanstunden. Fast übereinstimmend , treten zwei Wochenstunden in den beiden Primen als Forderung auf. Diese Richtung tritt in der letzten Zeit immer stärker in den Vordergrund. Fragen wir uns, welche praktischen Folgen die erste Forderung, die sich auf Philosophie im Unterricht beschränkt, in Wirklichkeit haben dürfte. Natürlich ist die Verwirklichung dieser Forderung auf das Innigste zu wünschen. Erst auf der Philosophie im Unterricht kann ein besonderer Unterricht in der Philosophie wirksam aufbauen. Diese Forderung richtet sich aber an die Gesamtheit aller Lehrer, ihren Unter- richt in philosophischem Sinne zu geben. Die Propädeutik - Frage wird damit zur Frage der Lehrervorbildung. Nun wird aber doch wohl niemand glauben, daß die Mehrzahl der älteren Lehrergeneration auf Grund ihrer philosophischen Vorbildung, wie sie aus den bisherigen Prüfungsanforde- rungen sich ergab, imstande sei, einen derartigen philosophisch gerichteten Fachunterricht zu erteilen. Die neue Prüfungsordnung von 1916 bedeutet darin allerdings schon einen bedeutenden Schritt nach vorwärts, insofern sie den Schwerpunkt der philosophischen Universitätsbildung in die Rich- tung auf die philosophischen Grundlagen der einzelnen Fachdisziplinen legt. Diese neue Prüfungsordnung ist bereits ein Ergebnis des Geistes der Zeit, der Hinwendung von bloßer Stoffaneignung zur Prüfung der Vor- aussetzungen unserer Einzelkenntnisse, dem Versuch, diese zu systemati- sieren, d. h. zur Bildung der Weltanschauung. Einstweilen wird man aber bei nüchterner Wirklichkeitsbetrachtung auf die Frage: Welche Aenderung des jetzt bestehenden Zustandes würde die Beschränkung auf das Prinzip der Philosophie im Unterricht herbei- führen ? einfach antworten können : So gut wie gar keine. Der philosophisch interessierte Lehrer macht schon von selber alle philosophischen Elemente seines Faches fruchtbar, für den nicht philosophisch interessierten Lehrer — und das ist einstweilen doch wohl noch die Mehrzahl — werden Mitteilungen. 239 alle dahingehenden Mahnungen ziemlich ergebnislos bleiben. Er wird sein Fach so weitertreiben, wie er es bisher getan hat. Man kann nicht plötz- lich durch Verordnungen der Gesamtheit der Lehrer philosophisches Inter- esse einpflanzen. Ferner entzieht es sich so ziemlich jeder Kontrolle, wie weit die philo- sophische Durchdringung des Einzelfaches in der Tat geschieht. Somit wird es bei der Beschränkung auf die Philosophie im Unterricht im großen und ganzen bei dem bisherigen Zustande verbleiben. Zu streifen ist noch eine dritte Möglichkeit, die Einfügung der philo- sophischen Propädeutik in den Rahmen des deutschen Unterrichts. Diese Personalunion hat sich nicht bewährt. Die Stundenzahl für den deutschen Unterricht ist an sich schon viel zu knapp bemessen. Werden diesem, wie es jetzt an den Mädchenstudienanstalten der Fall ist, jährlich ein paar Wochen genommen, um während dieser Zeit lehrplangemäß die Logik und Psychologie abzufertigen, so geht das einerseits auf Kosten der ganz anders- artigen Ziele des deutschen Unteirichts, anderseits kann es dem Ansehen der Logik und Psychologie nur schaden. Der innere Grund dieser Ver- bindung ist nicht einzusehen. Organischer wäre dann die Verbindung der Logik und Psychologie wegen der viel stärkeren Anknüpfungsmöglichkeiten mit dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht. Also die Ver- bindung eines besonderen Propädeutikunterrichts mit dem deutschen Unter- richt ist als echter Notbehelf abzulehnen. Sollen vielmehr in absehbarer Zeit irgend welche greifbaren Ergebnisse in Erscheinung treten, so scheint ein besonderer philosophischer Unterricht unumgänglich nötig, und zwar sind 2 Wochenstunden in den beiden obersten Klassen die angemessene Forderung, da bekanntlich ein Fach mit nur einer Wochenstunde wirkungslos bleibt1). Diese Forderung wird nun wahrscheinlich auf einem Teilgebiet des höheren Schulwesens demnächst zur Wirklichkeit werden. Bekanntlich hat die Reichsschulkonferenz der Schaffung einer vierten Form der höheren Schule zugestimmt — es ist die deutsche Oberschule, das „deutsche Gym- nasium" sagte man auch wohl, — die vorwiegend auf das Bildungsgüt der deutschen Kultur gestellt werden soll. An dieser Schulgattung wird aller Voraussicht nach Philosophie mit eigenen Stunden, etwa 1 — 2 Wochen- stunden in den beiden Oberklassen, vertreten sein; daneben werden noch wahlfreie philosophische Arbeitsgemeinschaften bestehen. Damit werden unsere heutigen Beratungen in den Bereich größter Wirklichkeitsnähe gerückt. Wir können heute wertvolle praktische Vorarbeit für die Lehrplangestaltung leisten, und t die zweckmäßigste Einstellung für die Aussprache ist wohl die: Wie können wir den philosophischen Unter- richt in der richtigen Weise ausgestalten, wenn ihm etwa 1 — 2 Stunden in den beiden Oberklassen zur Verfügung stehen? 1) Es haben von außerdeutschen Ländern besonderen philosophischen Unter- richt : Oesterreich 2 Wochenstunden in den beiden obersten Klassen, Ungarn 3 Stunden in der letzten Klasse, Rußland desgleichen 1 Stunde, Italien 3 Stunden, Frankreich 6 Stunden im letzten Schuljahr. Die Angaben beruhen auf Baumeisters Handbuch des Erziehungs- und Unterrichtswesens. 240 Mitteilungen. Wir betreten damit Neuland. In der Literatur des Gegenstandes herrscht über die Frage nach dem Inhalt des philosophischen Unterrichts der lebhafteste Streit der Meinungen. Es gibt wohl kaum einen Vorschlag, der nicht ebenso warm empfohlen wie lebhaft bekämpft; worden wäre. Nun wird zwar bei dem philosophischen Unterricht weniger der Stoff ausschlaggebend sein, sondern der Erfolg des Unterrichts wird, wie im Keligions- und deutschen Unterricht, fast ganz von der Persönlichkeit des Lehrers abhängen. Jeder philosophische Unterricht wird von vornherein unfruchtbar bleiben, wenn er nicht von einer für die Sache besonders be- geisterten Persönlichkeit erteilt wird. Andrerseits: jeder philosophische Unterricht, und sei es die Syllogistik der Elementarlogik, wird seine Früchte tragen unter den Händen eines begeisterten Lehrers. Aus Mangel an geeigneten Lehrern ging in den 80 er Jahren der philosophische Unterricht ein. Jetzt liegen die Verhältnisse ganz wesent- lich günstiger. Derartige Lehrer sind jetzt zweifellos genug vorhanden. Selbst eine Doppelanstalt würde für ihre höchstenfalls 8 Pflichtstunden und vielleicht noch 6 wahlfreien Stunden doch nur einen geeigneten Philosophie- lehrer auf etwa 25 Lehrer der Anstalt benötigen. Dieser wird sich immer finden lassen. Also suche man das Stoffgebiet nicht allzu ängstlich zu umgrenzen. Man habe hier einmal etwas Vertrauen zu der Lehrerpersön- lichkeit und- lasse ihm möglichste Freiheit. Ferner ist zu bedenken, daß die gegenwärtige philosophische Lage kein geklärtes Bild bietet. Die Auffassungen über den Begriff der Philo- sophie sind nicht einheitlich. Daher erscheint es für den Schulunterricht ratsam, ihm einstweilen keine* zu festen Bindungen zu geben und ihm zu- nächst möglichste Freiheit zu lassen, seine Wege und Formen erst zu suchen. Er wird sich am lebensvollsten entfalten, wenn er der allgemeinen Entwicklungsrichtung der philosophischen Zeitbewegung folgt. — Es liegt ferner im Charakter der Philosophie, daß sie der Einordnung in das feste Schema eines ins einzelne gehenden Lehrplans widerstrebt. Bei der Weite ihres Gebietes, dem losen Zusammenhang ihrer Sonderfächer scheint es nicht angängig, allzu bindende Anordnungen über die Auswahl der zu behandelnden Fragen zu treffen. Es ist natürlich für den Lehrer eine unmögliche Forderung, daß er in allen Gebieten der Philosophie in gleicherweise auf der Höhe der Forschung stehe. Das können wir bei der Vielheit unserer Lehrfächer und der Fülle der Stoffmassen, die wir zu bewältigen haben, einfach nicht. Aber es wird auch dem Charakter gerade des philosophischen Unterrichts kaum schädlich sein, wenn der Lehrer selbst nicht als ein vollkommen Fertiger sondern mehr als ehrlich Mitstrebender erscheint. Immerhin werden wir versuchen müssen, uns über die allgemeine Rich- tung klar zu werden, die der philosophische Schulunterricht einzuschlagen hat. Welche Wege sind möglich? Vielleicht dient eine kurze Besinnung über den Charakter der höheren Schule zu einer klareren Stellungnahme. Die höhere Schule hat ein mehrfaches Gesicht. Sie ist 1. gelehrte Schule. Als solche will sie für den Unterricht der Hochschule reif machen, d. h. sie will ein gewisses Maß von Kenntnissen als Vorbereitung für Mitteilungen. 241 einzelne Hochsclmlfächer vermitteln und gleichzeitig in die wissenschaft- liche Arbeitsweise einführen durch selbständige Erarbeitung von Erkennt- nissen. Sie will zweitens ihre Zöglinge unmittelbar zum Verständnis der sie umgebenden objektiven Kultur führen und sie zur verständnisvollen Mit- arbeit an ihr befähigen. Man könnte dies Ziel vielleicht als ein soziolo- gisches bezeichnen. Ein drittes Ziel ist mehr psychologischer Art: Heranbildung zur Per- sönlichkeit, in der alle Kräfte des Geistes, Gemüts und Willens zur Ent- faltung gebracht werden sollen. Das zweite und dritte Ziel sind durchaus Eigenziele der Schule und unabhängig von der Blickeinstellung auf die Universität. Ob man seinen Blick mehr auf das erste oder auf die beiden zweiten Ziele richtet, das scheint von wesentlichem Einfluß auf die Stellung zu sein, die man zu dem philosophischen Schulunterricht einnimmt. Zwei verschiedene Blickeinstellungen sind hier möglich. Die eine sieht die Frage des philosophischen Schulunterrichts mehr von der Uni- versität her, mit den Augen des Fachphilosophen, mit dem Blick auf das System der philosophischen Universitätsfächer und die Philosophie als Wissenschaft. So wird man den philosophischen Schulunterricht in erster Linie als Vorbereitung für die Universitätsphilosophie betrachten. Dann ist sie eben Propädeutik *). Legt man aber das Schwergewicht auf die beiden letzten Eigenziele der höheren Schule, so erscheint damit die Frage des philosophischen Schul- unterrichts in einem andern Licht. Dieser ist dann vorwiegend: 1. Hin- führung zu der objektiven Gegebenheit der Philosophie als bedeutsamer Seite der Gesamtkultur, 2. Mittel zur Bildung der Persönlichkeit. Für die erstere Einstellung liegt es nahe, das Schema der Universtäts- philosophie mit ihren durch die Arbeitsteilung bedingten Sonderdisziplinen allzu formalistisch zu übernehmen und der Schule sozusagen ein verkleinertes Schema der Universitätsphilosophie von oben her aufzusetzen. Aus dieser Blickrichtung stammt der Weg der herkömmlichen Propä- deutik, die ihre Aufgabe darin sah, in zwei Sonderfächern, Logik und em- pirischer Psychologie, eine bestimmte Anzahl fester Ergebnisse und ein gewisses Maß positiven Wissens zu übermitteln. Dazu scheinen allerdings diese mehr als Vorhöfe und Außenwerke der Philosophie zu bezeichnenden Disziplinen am ehesten geeignet. Auf diese Weise schneidet man aus dem Verband der philosophischen Sonderfächer der Hochschule zwei heraus und verlegt sie auf die Schule. Dort wären sie zwei neue systematische Fächer zu den schon allzuvielen, mit neuen- Lern- und Stoffanforderungen. Sie 1) Ich möchte mich gegen dies unschöne Wort wenden. Es ist üblich ge- worden, dasselbe für jede Art philosophischen Unterrichts auf der Schule zu ge- brauchen. Wir treiben doch auf der Schule Geschichte, Deutsch, Religion, be- handeln damit die gleichen Gegenstände wie die Universität. Aber wir nennen doch die Lektüre des Faust auf der Schule nicht germanistische Propädeutik, die Behandlung des Johannesevangeliums nicht theologische Propädeutik. Also sagen wir doch lieber philosophischer Schulunterricht oder Unterricht in der Philosophie. Kantstudien. XXVI. 16 242 Mitteilungen. standen dort als etwas Unverbundenes mit den übrigen Fächern und als etwas Unverbundenes unter sich. Es gibt auch heute noch gewichtige Stimmen, die sich für den philo- sophischen Schulunterricht in ähnlichem Sinne einsetzen; diese betonen vor allem das Schulmäßige und Erlernbare, das, wo von man sich nachher über- zeugen kann, ob es auch gehörig „sitzt". Es liegt natürlich nahe, hier den Blick auf die österreichischen Ver- hältnisse zu richten, auf dessen Gymnasien seit 1849 ein auf Herbart zurückzuführender Propädeutik-Unterricht besteht, mit 2 Wochenstunden in den beiden obersten Klassen, in denen Logik und Psychologie als besondere Unterrichtsfächer betrieben werden. Fragen der Weltanschauung sollen nicht behandelt werden. Über die Erfolge des österreichischen Weges sind die Meinungen geteilt ; es läßt sich kein klares Bild darüber gewinnen. R. Lehmann rühmt ihn. Vaihinger steht auf Grund mündlicher Information ihm sehr skeptisch ge- genüber. Höfler antwortete auf dem 85. Naturforscher- und Arztetag auf die Frage nach dem Erfolg, daß neben ausgezeichneten Ergebnissen auch völlige Mißerfolge ständen. Was Meinong in seinem Buch „Philosophische Wissen- schaft und ihre Propädeutik" berichtet — es stammt allerdings schon aus dem Jahre 1885 — klingt äußerst trübe. In der neueren reichsdeutschen Propädeutikbewegung ist eine über- wiegende Abneigung gegen das Beschreiten des österreichischen Weges und gegen die Wiederaufnahme des früheren herkömmlichen auf Logik und Psychologie eingeschränkten philosophischen Unterrichtes festzustellen. Diese Aufgabestellung muß nach den vorausgehenden allgemeinen Er- wägungen als zu eng und einseitig bezeichnet werden. Bei der Beschränkung auf Logik und Psychologie würde der Schüler das Gefühl der Enttäuschung haben. Der philosophische Kurs würde grade dann zu Ende sein, wenn er das Wesentlichste erst erwartet. Beide Dis- ziplinen geben auf Fragen der Weltanschauung keine Antwort. Die Logik liegt an sich nicht im Bereich der geistigen Bedürfnisse des Schülers. Die Psychologie begegnet zweifellos seinem Interesse, aber die moderne empirische Psychologie ist doch als Naturbeschreibung der seelischen Phänomene nicht mehr eine eigentlich philosophische Disziplin. Sie wird im allgemeinen bereits als selbständige Wissenschaft betrachtet, die sich aus dem Verbände der Philosophie gelöst hat und sich gewöhnt hat, in ihrer Arbeitsweise die eigentlich philosophischen Probleme im ganzen zu ignorieren. Sie trägt in ihrer physiologisch-experimentellen Sichtung mehr den Charakter einer naturwissenschaftlichen Einzel disziplin. Alles ist in ihr noch im Fluß und Werden. Die Problemstellungen verschieben sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Die verschiedenen Richtungen stehen sich bekämpfend einander gegenüber. Somit scheint eine allzu weitgehende Beschäftigung mit der Psychologie nicht besonders geeignet' für die Einführung in das speziell philosophische Denken. Das Klarheitsbedürfnis des Schülers ist vielmehr zunächst auf die Fragen der Weltanschauung gerichtet, auf die Fragen nach dem Sinn und Wert des Lebens, dem Wesen der Welt, nach Gott, Freiheit, Unsterblich- keit, dem Wesen der Seele, der Frage nach Gut und Böse. Es sind in Mitteilungen. 243 der Hauptsache metaphysische und ethische Fragen im weitesten Sinne, die ihn bewegen. Dag philosophische Ziel der Schule muß daher die Bichtung haben, in diesen Fragen dem Schüler zur wissenschaftlichen Klärung zu verhelfen, sodaß er dahin gelangt, wissenschaftliche Gedankengänge von un- wissenschaftlichen zu unterscheiden, zu erkennen, was überhaupt Gegenstand wissenschaftlicher Fragestellung sein kann und was sich einer solchen entzieht, und ihn dahin zu führen, in den verschiedenen weltanschaulichen Strömungen der Zeit sich einigermaßen zurecht zu finden und selbständig Stellung zunehmen . Der wesentliche Unterschied zwischen dem Inhalt des herkömmlichen Propädeutik-Unterrichts und den neuen Wegen, die einzuschlagen sind, wird also sein, daß wir das, was früher den alleinigen Gegenstand aus- machte, Logik und Psychologie, zwar nicht ganz fallen lassen, ihm aber eine untergeordnete Stellung anweisen. Es müssen vielmehr die Teile der Philosophie in erster Linie berück- sichtigt werden, auf die sich das natürliche Erkenntnisstreben richtet. Die Philosophie muß mit ihrem ganzen Gebiete im Unterrichtsplan vertreten sein. Es kann sich dabei naturgemäß nur um Grundfragen handeln, und jedes verwirrende Vielerlei muß vermieden werden. Ihrem Erziehungsziel entsprechend wird die Schule das Schwergewicht auf die Fragen der Le- bensführung legen können. Die Vorbedingung für die wissenschaftliche Behandlung der Weltanschauungsfragen bilden erkenntnis-theoretische Be- sinnungen. In dieser Auffassung wird das philosophische Ziel der Schule mehr von unten her gesehen, aus dem Organismus der Schule und den geistigen Bedürfnissen des Schülers heraus, mit der Blickeinstellung auf das oben gekennzeichnete zweite und dritte Ziel der höheren Schule. Der philo- sophische Unterricht ist in diesem Falle weniger Propädeutik, sondern Abschluss und Krönung des gesamten Schulunterrichts. Bei dieser Auffassung des philosophischen Unterrichts können alle Schulfächer zur Anbahnung der philosophischen Fragestellung und Betrach- tungsweise wirksamste Vorarbeit leisten. Wie in der großen Welt der Wissenschaften die Einzelwissenschaften überall in philosophische Frage- stellungen ausmünden, so zahlreich wachsen auch in den einzelnen Schul- fächern die philosophischen Fragestellungen hervor. Es ist in der Literatur bereits eine Fülle vortrefflicher Arbeit geleistet worden, die philosophischen Elemente der einzelnen Schulfächer herauszuarbeiten. Der mathematisch-naturwissenschaftliche Unterricht führt vielfach zu den Fragen der Erkenntnistheorie, Methodenlehre, Naturphilosophie und Metaphysik. Um nur einiges anzuführen, was auf eine philosophische Klärung hindeutet: Kraft, Bewegung, Substanz und Materie, Naturgesetz, Kausalität, Axiom, Hypothese, Fiktion, Erkennbarkeit der Außenwelt, Ver- hältnis von Glauben und Wissen u. s.w. Aus der Biologie erwachsen die Fragen nach dem Begriff des Lebens dem Wesen des Bewußtseins, dem Verhältnis von Leib und Seele, Kausa- lität und Zweckmäßigkeit, Vitalismus und Mechanismus. Die Lektüre im deutschen Unterricht führt allenthalben zu Fragen ethischer, ästhetischer, metaphysischer Natur. Die Fragen nach Freiheit 16* 244 Mitteilungen. und Schicksal, Gut und Böse, das ganze Wertproblem erwächst aus dem Unterricht. Der Geschichtsunterricht führt auf Schritt und Tritt zu letzten philo- sophischen Fragen, wie nach Zufall und Notwendigkeit, dem Sinn des Lebens und weltgeschichtlichen Geschehens überhaupt, dem Begriff des historischen Gesetzes, dem Verhältnis von Individuum und Masse, dem Wesen des Staates, des Rechtes u. s. w. Wenn so der einzelne Fachunterricht die in ihm liegenden philoso- phischen Elemente richtig auswertet, führen auf diesem Wege alle Schul- fächer an die tiefsten philosophischen Rätselfragen heran, und es wird offenbar, das keine Einzelwissenschaft ausreichend ist, eine wahre Geistes- bildung zu begründen, sondern daß philosophische Betrachtungsweise er- gänzend hinzutreten muß, die das Gegengewicht gegen das Stoffwissen der Einzelfächer bildet und zur Durchdringung und Vereinheitlichung desselben führt. Nicht ein besonderes Fach unter Fächern soll also der philosophische Unterricht werden; sein Ziel ist nicht in erster Linie, ein Gebiet neuen Stoffwissens und abfragbarer Kenntnisse zu schaffen. Auf diesem Wege würde kein inneres Leben erzielt werden, und dem Unterricht würde die Gefahr der Verflachung drohen. Jede Verstiegenheit der Zielsetzung in dieser Hinsicht kann nur schädlich sein. Was erzielt werden soll, ist vielmehr eine gewisse Stellungnahme zu den Tatsachen, eine Gesamtrichtung des Denkens, die Getrenntes vereinigt, Wesentliches von Unwesentlichem scheidet, das Allgemeine im Einzelnen sucht, zu überschauendem und umfassendem Denken anleitet und das Tat- sächliche auf seinen Wertgehalt untersucht. Der philosophische Unterricht soll innerhalb der Vielgestaltigkeit des Lehrplans das einheitschaffende Gebiet sein, indem er einerseits auf allen Wissensgebieten dieselben Gesetze des Bewußtseins als geltend aufzeigt, anderseits das Streben erweckt, die Ergebnisse der verschiedenen Wissens- zweige zu einheitlichen Anschauungen zu verknüpfen. Er soll unter voller Achtung vor den Tatsachen die inneren Zusammenhänge aller Wissen- schaften und Kulturtätigkeiten aufdecken und den Zögling die Verflochten- heit seines eignen Daseins in diese Zusammenhänge wirkungsvoll erleben lassen. Er soll zur Einsicht führen, daß Erkennen in Problemen endet, künstlerisches Genießen in ruhevollem Schauen, Religion in Glaubensge- wißheit, aber alle drei Wege dem gleichen Streben nach Ganzheit entspringen. Er darf bei diesem theoretisch-intellektuellen Ziel nicht stehen bleiben, sondern soll über bloße Wirklichkeitserklärung hinaus Rieht- und Zielpunkte für Wollen und Handeln schaffen und zu grundlegenden Lebens- werten führen. Eine Weltanschauung zu geben, wie es auch wohl bisweilen von dem philosophischen Unterricht gefordert wird, ist nicht Sache des Schulunterrichts. Was bedeutet überhaupt Weltanschauung? Sie ist doch kein fertiges Schema, das sich mühelos und systematisch überliefern läßt. Sondern Weltanschauung bedeutet für den Einzelnen eine unendliche Aufgabe. Sie steht nicht am Ende der Schule, sondern am Ende des Lebens, ist nichts Fertiges, sondern ein stetig Werdendes, eine innere Bewegung. Eine Weltanschauung hat der einfache Mann aus dem Volke so gut wie der Philo- Mitteilungen. 245 sopli, dem es gelingt, sie zum geschlossenen System auszubauen. Der Unterschied der Weltanschauungen besteht nur in der Folgerichtigkeit und Weite der Begründungszusammenhänge, in der Ausgleichung der Wider- sprüche, in der Wissenschaftlichkeit des Denkens. Je mehr die Zahl der letzten unbewußten Voraussetzungen und Wertungen, auf denen jede Welt- anschauung aufbaut, in das helle Licht begrifflicher Klarheit gerückt wird, das heißt, je philosophischer wir denken, umso mehr wird die Weltan- schauung an Weite und Tiefe gewinnen, umso mehr wird sie sich dem Ideal wissenschaftlicher Geschlossenheit nähern. Der Begriff der rein lo- gischen Wahrheit ist auf den Begriff der Weltanschauung überhaupt nicht anwendbar, da die Lebensanschauung kein rein intellektuelles Gebilde ist, sondern durchsetzt mit einer Reihe von irrationalen Elementen, die sich aus der Verschlungenheit der lebendigen Natur des Menschen ergeben. Das also wird das bescheidene Ziel der Schule sein, dem Zögling das Bewußtsein von der Größe der Aufgabe zu wecken, die im Begriff Welt- anschauung liegt, die Richtung dahin anzubahnen und das geistige Rüstzeug dafür etwas zu verstärken. Was erreicht werden soll, ist die "Erweckung des Eros, eine gewisse intellektuelle Haltung des Geistes, der Typus des suchenden, fragenden Menschen, der grade im Alltäglichen die tiefen Rätsel sieht. Es sollen dem Zögling die Wege gewiesen werden, wie er von den gröberen Gestaltungen seines Weltbildes zu verfeinerten Bildungen auf- steigen kann, er soll neue Wertgebiete erleben und eine Ahnung erhalten von der „Seligkeit des Erkennenden". Selbst bei mehrjährigem Unterricht kann es sich nur um Berührung mit der philosophischen Gedankenwelt handeln. Der Unterricht wird seine Aufgabe am besten erfüllt haben, wenn er den Zögling mit dem lebhaften Verlangen nach tieferem Eindringen entläßt. Wie soll nun für den besonderen philosophischen Unterricht die Aus- wahl aus der unendlichen Fülle des Stoffes getroffen werden ? Soll ver- sucht werden, mehr einen möglichst großen Umkreis von Problemen in einer gewissen Systematik zu durchmessen, oder soll auf derartige Voll- ständigkeit von vornherein verzichtet werden und der Schwerpunkt auf die Behandlung einzelner Probleme und die Besonderheit philosophischer Denk- weise gelegt werden? In der neueren Propädeutik-Literatur sind zwei der bedeutendsten Lösungsversuche typisch für diese beiden Einstellungen. Alfred Rausch macht in seinem soeben in vierter Auflage erschienenen Lehrbuch „Elemente der Philosophie" (Halle a. d. Saale, Waisenhans 1920) den großzügigen Versuch, eine wirkliche Schulphilosophie zu begründen, die lediglich auf dem Wissenstoff der Schule aufbaut und von hier aus das gesamte Kulturleben nach philosophischen Gesichtspunkten zu einer Ge- samtanschauung zusammenschließt. Er sagt im Vorwort: „Wie konnte man nur in unserer Zeit die große Bedeutung einer Gesamtanschauung für die geistige und sittliche Bildung so ganz übersehen ! Wenn alle die Erkennt- nisse und Erfahrungen des Jugendlichen über Weltgeschehen und Welt- werte als unausgeglichene Bruchstücke in seiner Seele verbleiben, so muß daraus Unklarheit und Hilflosigkeit entstehen. Wer dem Lehrling die Gesamtanschauung vorenthält, der treibt ihn mit schwerem Gepäck den 246 Mitteilungen. Bergpfad hinan, versagt ihm aber den lohnenden Ausblick von der Höhe auf das weite Land". Rausch gliedert sein Werk in drei Teile: Natur, Kultur und Bildung, und in ganz freier Verarbeitung werden die Haupt- fragen, die wir sonst in den philosophischen Einzelgebieten anzutreffen ge- wohnt sind, zu einem lebensvollen Ganzen verbunden, in klarer, ruhig flie- ßender Darstellung, mit einer Fülle anschaulicher Beispiele. Den zweiten Weg geht das vor Jahresfrist erschienene Buch von Lambeck „Philosophische Propädeutik". (Verlag B. G. Teubner Leipzig und Berlin 1919). Es verzichtet auf systematische Vollständigkeit. Der Versuch einer systematischen Unterweisung erscheint dem Herausgeber auf Grund seiner Erfahrungen unfruchtbar. Das Buch ist die Durchführung des okkasionalistischen Prinzips. Von bewährten Fachmännern werden im Anschluß an einzelne Unterrichtsfächer philosophische Einzelprobleme be- handelt. Der Zweck des Buches ist in erster Linie, zum philosophischen Denken selbst zu erziehen. Aber beide Wege können wohl nicht als die volle Lösung der Frage für einen besonderen Unterricht, der sich über mehrere Jahre erstercken würde, angesehen werden. Der eine Weg hat zu sehr nur die systematische Geschlossenheit im Auge, dem andern fehlt doch wohl wieder der genügende systematische Zusammenhang. Erst die Verbindung beider Prinzipien erscheint als der gangbare Weg. „Die Philosophie läßt sich nicht erlernen, sondern nur das Philo- sophieren", sagt Kant. Das auf Breite und Vollständigkeit angelegte Ver- fahren wird zwar eine gewisse Übersicht über Umfang und Inhalt der Philosophie vermitteln, aber nicht eigentlich philosophieren lehren. Die Methode des philosophischen Denkens selbst kann nur erzeugt werden, indem mit voller Kraft des Nachdenkens einem Einzelproblem in tief eindringender Behandlung bis in seine letzten Verzweigungen nachge- gangen wird. Auf dieser Seite muß das Schwergewicht des Unterrichts liegen. Dabei wird nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis philosophischer Fragen zur Behandlung gelangen hönnen. Daneben aber wird das auf Klarheit und Ordnung gerichtete Streben des Geistes eine gewisse Überschau verlangen, die zwischen den behandelten Einzelproblemen größere Zusammenhänge historischer und systematischer Art herstellt, philosophische Grundbegriffe sammelt, über Umfang und In- halt der philosophischen Gebiete, ihre Hauptfragen und deren Lösungen mehr im Sinne einer Orientierung in großen Zügen Aufschlus gibt. Dieses Ord- nungsschema, an sich ein unabweisbares Bedürfnis, darf aber nicht zum alleinigen Gegenstand des Unterrichts werden, da dieser dadurch leicht Gefahr laufen würde, zum bloßen Leitfadenwissen zu verflachen. Für dieses Ordnungsschema scheint am ehesten die Form geeignet, die wir als Ein- führung oder Einleitung in die Philosophie zu bezeichnen gewohnt sind. Sie kommt doch am ersten den Bedürfnissen des gebildeten Laien ent- gegen. Davon zeugt die erfreulich große Zahl der vorhandenen guten wissenschaftlichen Einleitungen in die Philosophie, die wir besitzen. Ein recht überzeugendes Schema für die Auswahl der Fragen aus dem philosophischen Gesamtstoff, über die wir dem Schüler zu einer klareren Auffassung zu verhelfen verpflichtet sind, hat Friedrich Neubauer gegeben. Mitteilungen. 247 Er will behandelt wissen: 1) Das Rätsel unserer Seele: Worin besteht ihre Tätigkeit, wie verhält sie sich zu der des Leibes. 2) Das Eätsel des Er- kennens: Wie vollzieht es sich, und wo liegen seine Grenzen? 3) Das Eätsel dieser Welt im ganzen: Wie ist sie aufzufassen, welches ist der letzte Sinn des Seins ? 4) Das Rätsel unserer Pflicht : Was sollen wir tun, was ist Gut, was ist Böse? — Nach diesem Schema wäre also etwa ele- mentare Psychologie, das Wichtigste aus der Logik, Fragen der Erkennt- nistheorie und Metaphysik, sowie Grundfragen der Ethik zu erörtern. Die 4. Frage engt jedoch das Gebiet der philosophischen Fächer zu sehr ein. Es wäre vielleicht besser zu fragen: Wie verhält sich der Mensch sinnvoll in dem Ganzen der Welt? Damit würden auch Fragen aus weiteren philosophischen Fächern, z. B. der Geschichtsphilosophie, deren An- knüpfungsmöglichkeiten im Schulunterricht besonders groß sind, ferner der Soziologie, der Rechts- und Staatsphilosophie u. s. w. in den Umkreis der möglichen Behandlungsgegenstände miteinbezogen sein. Der Schulunterricht in der Logik ist oft als völlig überflüssig be- zeichnet und verspottet worden. Man darf dem wohl nicht zustimmen. Erinnern wir uns der Zielsetzung der höheren Schule als gelehrte Schule mit der Einführung in wissenschaftliche Arbeitsweise. Fast der ganze Schulunterricht, richtig gehandhabt, ist in den meisten Fächern angewandte Logik. Eine Schule, die zur Erkenntnis anleiten soll, hat auch die Pflicht, die Wege der Erkenntnisgewinnung nicht nur einzuschlagen, sondern diese Wege selbst aufzuzeigen und bewußt zu machen. Das ergibt die Not- wendigkeit, gewisse Punkte der Logik und Methodenlehre zu behandeln, wobei wohl der Schwerpunkt auf die Methodenlehre zu legen ist. Diese Belehrungen werden sich ohne großen Zeitaufwand meist im Rahmen der Einzelfächer anbringen lassen, da es sich vielfach nur darum handelt, den Schüler zu einer Umstellung des Blickes zu veranlassen, zu einer bewußten Reflektion auf längst Geübtes, wie z. B. das Verhältnis von Inhalt und Umfang der Begriffe, Induktion und Deduktion und ähnliches. Eine ausgezeichnete Lösung, die Methodenlehre aus den Schulfächern hervorwachsen zu lassen, hat Schulte-Tigges gegeben in seinem Buch: „Philosophische Propädeutik auf naturwissenschaftlicher Grundlage". Die Belehrungen aus dem Gebiet der empirischen Psychologie werden sich entsprechend dem noch unfertigen Stande der Wissenschaft auf mög- lichst Feststehendes zu beschränken haben. Das wesentlichste Ziel wird sein, daß der Blick auf das eigne Innere gerichtet und der Zögling ange- leitet wird, die eignen innern Erscheinungen verständnisvoll zu beobachten, zu beschreiben, zu analysieren, sie in Gruppen zu bringen und gewisse Gemeinsamkeiten aufzufinden. Er soll neben dem sinnlich Wahrnehmbaren der äußeren Erfahrung auch den Bereich der inneren Erfahrung als ein Gefüge und eine Ordnung erkennen lernen. Während die wissenschaftliche Psychologie bisher in der Erforschung der einfacheren seelischen Tatsachen ihre stärkste Durcharbeitung erfahren hat, wird der Schulunterricht, mit den vorhandenen Bedürfnissen des Schülers rechnend, mehr den bedeutungsvolleren höheren und zusammengesetzten Erscheinungen des Seelenlebens zugewandt sein müssen. Hier bietet sich ein fruchtbares Feld zur Klärung der psychologischen 248 Mitteilungen. Begriffe, die auch im Leben des Schülers von besonderer Bedeutung sind, wie Wille, Motiv, Handlung, Gewöhnung, Charakter, Gedächtnis, Aufmerk- samkeit und ähnliches mehr. Diese psychologischen Belehrungen erscheinen wohl geeignet, dem Dilettantismus mit psychologischen Begriffen zu steuern und ferner auch wirksame Antriebe für das eigene vernunftgemäße Handeln und die Aus- gestaltung der Lebensführung erwachsen zu lassen. Es wäre natürlich auch möglich, statt der systematischen Übersicht einen Gang durch die Geschichte der Philosophie dem Schulunterricht zu- grunde zu legen, indem man besonders bedeutsame Systeme in ihren Grund- gedanken in geschichtlicher Abfolge darstellt. Auch dieser Weg hat warme Fürsprecher gefunden, z. B Vaihinger und Rehmke. Überwiegend wird er jedoch mit guten Gründen abgelehnt. Es erscheint wohl zweckmäßig, philosophiegeschichtliche Betrachtungen nicht an den Anfang zu stellen. Sie werden vielmehr den notwendigen zusammenfassenden Abschluß des philosophischen Schulunterrichts bilden müssen, als Ergänzung zu dem Bilde der allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte, das die sprachlich-geschicht- lichen Fächer ergeben. Von besonderer Bedeutung ist die Erziehung zur philosophischen Fragestellung. Das von dieser wesentlich der Fortschritt der wissenschaft- lichen Erkenntnis abhängt, muß. der Schüler sehen lernen. Auf Klarheit und bestimmte Fragestellung muß daher stets größtes Gewicht gelegt werden. Jeder philosophische Gedankengang, dessen Problem nicht im Ge- dankenkreise des Schülers liegt, wird im allgemeinen wirkungslos an seinem Denken vorübergleiten. Aus dem Erfahrungskreise des Zöglings und seinen geistigen Bedürfnissen heraus muß daher der Unterrichtsstoff entwickelt werden und zunächst das zu behandelnde Problem in voller Stärke lebendig gemacht werden. Als Unterrichtsform ist daher die Übermittlung von fertigen Ergeb- nissen in zusammenhängendem Vortrag ungeeignet. Vielmehr ist das Lehr- gespräch mit induktivem Verfahren, bei dem der Schüler das Entstehen des Problems selber miterlebt, die natürlich gegebene Unterrichtsweise. Haupterfordernis jedes philosophischen Unterrichts muß es sein, daß der be- handelte Stoff zur vollen gedanklichen Erfassung und inneren Aneignung gebracht wird. Hält man an diesem Grundsatz fest, so wird dabei am besten den Gefahren der Verwirrung, Verstiegenheit und Unbescheidenheit vorgebeugt. Ob der Unterricht hauptsächlich in der freien Behandlung philoso- phischer Fragen sich bewegen, oder ob in der Kegel die Lektüre philo- sophischer Schriftsteller Grundlage und Ausgangspunkt bilden soll, wird sich nicht bindend festlegen lassen, da diese Frage zu sehr von der be- sonderen Veranlagung des Lehrers abhängen wird. Zweckmäßig wird die Verbindung beider Verfahren sein, indem zunächst in freier Behandlung das Problem lebendig gemacht wird und vorläufige Lösungsmöglichkeiten ge- funden werden. Daran kann sich dann die Lektüre einer klassischen Dar- stellung des betreffenden Problems anschließen. Gewichtige Gründe sprechen dafür, die Lektüre philosophischer Quellen zu einem wesentlichen Bestandteil des Unterrichts zu machen: Mitteilungen. 249 Selber denken lernt der Anfänger zunächst am besten an einem Stoffe, der vollendeter Gedanke ist. Durch das unmittelbare Eindringen in die Gedankenarbeit der großen Denkerpersönlichkeit selbst entzündet sich am ehesten die Freude an der Erkenntnis und die eigne philosophische Geistes- haltung. Die Schärfe der Begriffsbildung, Tiefe und Klarheit der Gedanken, die Durchsichtigkeit und Weite der Begründungszusammenhänge, die zwingende Kraft der Beweisführung, die Architektonik des Aufbaus — alles das entfaltet sich am besten an der Lektüre einer wertvollen philosophischen Schrift. Ferner: Nur derjenige Gedankenstoff wird im Zögling haften, den er sich durch Selbsttätigkeit erworben hat. Verwickeitere Gedankengänge wird er sich nur durch mühsames und wiederholtes Erarbeiten des Inhaltes einer philosophischen Quelle zu eigen machen können. Durch die Be- zwingung der Schwierigkeiten wird er die echte Freude geistiger Arbeits- leistung und eignen Könnens empfinden. Hier verknüpft sich der Gedanke der Lektüre mit dem des Arbeitsunterrichts. Durch Abstufung der Schwie- rigkeiten in der Auswahl der Lektüre können die Anforderungen an Denk- und Willensenergie zu höchsten Graden gesteigert werden. Diesem Unterrichtsziel vermag ein lediglich freies Unterrichtsverfahren nicht in gleicher Weise gerecht zu werden. Hier liegt leicht die Gefahr vor, schweifender Verallgemeinerung zu verfallen und in gröberen Umriss- linien stecken zu bleiben. Man kann also besonders wertvolle, nicht allzu schwierige Schriften ganz oder teilweise lesen. Oder es kann als Grundlage für die Lektüre wohl auch ein Lesebuch dienen. Wir haben deren mehrere, die gut ge- eignet sind. Bekannt ist das historisch geordnete von Dessoir-Menzer, das Proben aus 17 Philosophen gibt, von Plato bis Lotze. Es wäre ferner zu nennen: Gille, der Lesestücke zu den einzelnen philosophischen Dis- ziplinen, hauptsächlich moderner Autoren bietet. Recht gut ist ferner Bastian Schmid, dessen Stoffauswahl vor allem nach den im Schulunterricht auftauchenden Problemen getroffen ist. Er bringt auch neuere Autoren, z. B. Riehl, Wundt, Liebmann, Sigwart, Du-Bois-Reymond. Gut beurteilt wird G. Budde, der mehr historisch vorgeht und eine sorgfältige Auswahl aus der neueren Philosophie bietet. Soeben sind in den volkstümlich-wissen- schaftlichen Lehr- und Lernbüchern der Humboldt-Hochschule von Max Apel drei Bändchen philosophischer Lesebücher erschienen, deren Auswahl für den Anfangsunterricht gut geeignet ist und die sich durch ihren billigen Preis empfehlen. Es möge auch noch hingewiesen werden auf die im Entstehen begriffene Sammlung „Wege zur Philosophie" (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen), die in Einzeldarstellungen bestimmte philosophische Grundfragen behandelt, z. B. A. Messer: die Willensfreiheit; König: die Materie; W. Kinkel, Idealismus und Realismus: R. EilJler: Leib und Seele. Diese Bändchen haben den ausgesprochenen Zweck, nicht fertige Resultate zu bieten, sondern den Laien in das philosophische Denken einzuführen. Einige von ihnen werden eine geeignete Grundlage für den philosophischen Anfangsunterricht sein können. Ich habe mit ihnen praktische Versuche gemacht und glaube, sie für diesen Zweck empfehlen zu können. Noch von einer ganz anderen Seite her erhebt sich die Forderung 250 Mitteilungen. nach philosophischer Lektüre. Der Glaube an den alleinigen Wert mancher Bildungsgüter unserer höheren Schulen ist nicht mehr so allgemein wie im vergangenen Jahrhundert. Wenn wir uns die Frage stellen, wie wir unser Volk in diesen schweren Zeiten zur Verinnerlichung und vertiefter Bildung, fuhren sollen, so ist die Antwort eine Forderung: Wie bringen wir mög- lichst alle die Quellen zum Fließen, die in den großen Gedankenschöpfungen mnserer Denker noch verborgen sind. Noch liegt hier ein Stoff von un- endlichem Reichtum fast ungenützt bereit. An dieser Stelle besteht ein schwerer Mangel unseres bisherigen Schulwesens. Kaum ein deutscher Philosoph kommt auf der Schule zu Wort. In dem von der Schule ver- mittelten Bilde der geisteswissenschaftlichen Entwicklung bleibt die Aus- prägung in der Philosophie trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung für die Gesamtkultur fast völlig fehlen. Wir müssen in viel erhöhterem Maße die Geisteskräfte deutschen Wesens lebendig machen und aus der Gedankenwelt unserer Denker das für die Schule Geeignete aussichten. Wenn wir unsere Schüler in die Tiefe deutschen Wesens und Fühlens hineinführen wollen, so können wir an den Schöpfungen unserer Philosophen nicht mehr vorbeigehen. Kant, Fichte, Schleiermacher, Schopenhauer, Fechner, Lotze u. s. w. dürfen den Gebildeten nicht nur inhaltlose Namen bleiben. So werden wir den Zögling auch von dieser Seite her das besondere Wesen des deutschen Geistes er- fassen lehren als den Geist wahrheitsucheri sehen, faustischen Ringens. Wer es erprobt hat, welches Erlebnis die Lektüre von dem radikalen Zweifel des Descartes bei den Schülern hervorzurufen imstande ist, welche reine Freude die messerscharfe Subtilität Humescher Gedankengänge, welche Ehrfurcht vor der Macht des Gedankens ein Stück aus Kant erzeugen kann, der wird das tiefe, schöpferische Leben dieses Unterrichts, seine Bedeutung für die Erhöhung und Befestigung der geistigen Persönlichkeit voll würdigen können. Fragt man zusammenfassend, was der philosophische Unterricht im Rahmen der übrigen Schulfächer zu leisten vermag, so kann man ihn wohl als eine Art Krönung derselben bezeichnen. Die Philosophie ist besonders geeignet, entsprechend dem gelehrten Ziele der Schule, ein echt wissenschaftliches Verhalten zu erzeugen: Sehn- sucht nach theoretischer Erfassung der Welt. Sie führt am tiefsten in die Zusammenhänge der objektiven Kultur, in das Reich des Sinnes, der Bedeutungen und Werte. Sie vermag endlich durch ihre gesinnungbildende Kraft in besonderer Weise dem Ziel der Persönlichkeitsbildung zu dienen. Denn in ihr ver- einigen sich höchste Ausprägung des theoretischen Verhaltens mit den tiefsten Bedürfnissen des Gemütes und starken Antrieben für den Willen im Sinne innerer Formung und erhöhter Lebensführung. Benutzte Literatur. H. Schmidkunz, Philos. Propädeutik in neuester Literatur. (Bibliographie der gesamten Propädeutikliteratur von 1912 — 1916). R. Eucken, "Was sollte zur Hebung philosophischer Bildung geschehen? Mitteillungen. 251 Gesammelte Aufsätze zur Philosophie und Lehensanschauung. Leipzig 1903 S. 217 ff. Otto Braun, Zum Bildungsproblem. Leipzig 1911. H. Vaihinger, Philosophie in der Staatsprüfung. 1905. A. Rausch, Elemente der Philosophie. 4. Aufl. Halle a. S. 1920. A. v. Meinong, Über philosophische Wissenschaft und ihre Propädeutik. Wien 1885. A. Rausch, Philos. Propädeutik. In „Ziehen und Weißenfels, Handbuch für Lehrer höherer Schulen". Leipzig, Teubner 1905. W. Moog, Der philosophisch vertiefte Unterricht. Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, Bd. 45. 1913. R. Lehmann, Wege und Ziele der philos. Propädeutik. Sammlungen und Abhandlungen aus dem Gebiet der pädagogischen Psychologie, 8. Bd. I. Heft. Berlin 1911. R. Lehmann, Die Philosophie als Gipfel des Unterrichts, in „Erziehung und Unterricht" 2. Aufl. Berlin 1912. C. Siegel, Methodik des Unterrichts in der philos. Propädeutik. Wien 1913. Instruktionen für den Unterricht an Gymnasien in Österreich. Wien 1900. Fr. Paulsen in Reins Encyklopädischem Handbuch Bd. 6 unter „Philos. Propädeutik". Verhandlungen der preußischen Direktorenversammlungen von Sachsen, Pommern und der Rheinprovinz 1903. Bd. 64. 65. 66. B. Schmid, Philos. Lesebuch. Leipzig, Verlag Teubner 1906. Frischeisen-Köhler, Moderne Philosophie. Ein Lesebuch zur Einführung in ihre Standpunkte und Probleme. Stuttgart 1907. C. Zimmermann, Über den Unterricht in philos. Propädeutik. Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik. Bd. 46. 1914. W. Wundt, Metaphysik. In „Hinneberg, die Kultur der Gegenwart I. 6. Systematische Philosophie". Ziertmann, Philosophische Propädeutik. In „W. Rein, Deutsche Schuler- ziehung" Bd. I S. 115 ff. München 1907. P. Lorentz, Grenzboten 1913. S. 365 ff. Lambeck, Lehrbuch der philos. Propädeutik. Leipzig und Berlin, Verlag Teubner, 1919. O. Weißenfels, Kernfragen des höheren Unterrichts. Neue Folge 1901 — 03. Fr. Neubauer, Die Erziehungsaufgabe des philosophischen Unterrichts. Zeit- schrift für den deutschen Unterricht. 33. Jahrgang. Heft 1/2. Fr. Gagelmann und P. Hoffmann : Entwurf eines Lehrplanes für die deutsche Oberschule. Deutsche Erziehung, Heft 15. Union Deutsche Verlags- gesellschaft 1920. Vorbereitender oder systematischer Unterricht in der Philosophie. Von Dr. Felix B ehrend- Charlottenburg. Für den Unterricht in der Philosophie an den höheren Schulen er- scheint mir die Frage sekundär, ob besondere Unterrichtsstunden in der 252 Mitteilungen. Philosophie das Richtige sind, oder philosophische Vertiefung des Unter- richte. Auch die Anhänger eines besonderen Unterrichts werden zugeben müssen, daß die wenigen Stunden, die zur Verfügung stehen können, ver- einzelt dastehen würden, wenn sie nicht durch den übrigen Unterricht ge- stützt werden, und die Anhänger der philosophischen Vertiefung des einzel- wissenschaftlichen Unterrichts werden nichts besonderes dagegen einwenden, wenn einige Stunden ganz philosophischer Arbeit gewidmet werden, wenn sie nur die Gewähr haben, daß dies in zweckmäßiger Weise geschieht. Übrigens sind bisher auch andere Wege beschritten, nämlich freie Be- sprechungen außerhalb des Unterrichts, besondere wahlfreie Kurse, Unter- haltungen auf Spaziergängen u.s.w. und gerade diese Wege erweisen sich nach meinen Erfahrungen als besonders fruchtbar, weil sie geeignet sind, sich den besonderen Bedürfnissen des einzelnen Schülers anzupassen. Viel wichtiger ist die Frage nach dem Ziel des philosophischen Unter- richts, die ich so formuliert habe: Vorbereitender oder systematischer Unter- richt? Propädeutik heißt doch Vorschulung, sei es nun theoretische oder praktische und diese Tendenz hat bisher den Unterricht in der Philosophie auch in den Schulen, in denen er als Pflichtfach eingeführt ist, beherrscht. Wenn neuerdings sich Bestrebungen nach systematischem Unterricht in den Vordergrund drängen, so entspricht das der typischen Erscheinung, die wir bei Gestaltung des Lehrgangs der höheren Schulen finden, daß jedes Fach die innere Neigung hat sich zum Selbstzweck zu machen. So wird jetzt unter anderem auch Unterricht in der Staatsbürgerkunde, der Kunstgeschichte, der Hygiene, der Geologie, u.s.w. gefordert und diese Bestrebungen drohen überhaupt den Rahmen der höheren Schule zu zersprengen; ein anderes aber ist das Eindringen eines neuen Stoffgebiets, ein anderes die wohlberechtigte Forderung,- vorhandene Lehrgebiete unter neuen methodischen Gesichts- punkten zu betrachten. Die Anhänger des systematischen Unterrichts sehen als Hauptziel die Erziehung des Menschen zu einer geschlossenen Weltanschauung an. Das geht also weit hinaus über die Aufgabe, einen stärkeren Zusammenhang zwischen den einzelnen Unterrichtsgegenständen der höheren Schule zu schaffen. Mit der unbestrittenen Tatsache, daß die Schüler vom 14. bis zum 18. Lebensjahre in ihrer Mehrzahl großes Interesse an allen Welt- anschauungsfragen haben, sich in innerem Ringen mit sich selbst, mit ihrer Bestimmung, mit ihren Lebensaufgaben, mit dem Sinn des Lebens befinden, und daß es eine spezifische Eigentümlichkeit dieser jugendlichen Epoche ist, mit diesen Problemen zu ringen, wird in Zusammenhang gebracht, daß dies Streben der Jugend der Sehnsucht unserer ganzen Zeit nach Philo- sophie und Metaphysik entspricht. Es wird auf die Zerrissenheit unserer Zeit, auf die Problematik die gerade uns umgibt, hingewiesen und daraus geschlossen, daß besonders die wissenschaftlich gerichtete Schule die Aufgabe hat, auf eine wissenschaftlich vertiefte Weltanschauung hinzuwirken, damit die jungen Menschen nicht jeder Modeströmung und dem Zauber origineller Persönlichkeiten unterliegen, denen es mehr auf geistreiche als richtige Ideen ankommt. Es wird ferner betont, welcher Gegensatz zwischen der kirchlich geformten Religiosität und den Ergebnissen der Wissenschaft bestehe und daß das höchste Ziel jeder wissenschaftlichen Schule sein Mitteilungen. 253 müsse, dem Menschen einen klaren Lebensweg, seinem Handeln Festigkeit und Stetigkeit zu verleihen. Dies Ziel sei aber nur durch eine wissen- schaftliche Einführung in die großen Weltanschauungsfragen und Probleme erreichbar, nicht durch gelegentliche Einwirkungen und gelegentliche Be- sprechungen (Freitag, die deutsche Oberschule). Dieser Auffassung liegt eine Reihe von Behauptungen zu Grunde, die dringend der Klärung bedürfen. Der Trieb der Schüler nach innerer Klarheit ist ihrem Lebensalter eigentümlich. Mit der Pubertät beginnt die kritische Zeit der Selbstbesinnung ; aber man darf diese Tatsache nicht so ausdeuten, daß es auch auf dieser Altersstufe möglich wäre, Klarheit und Geschlossenheit der Anschauungen zu erreichen und daß diese Entwicklung mit dem 18. Lebensjahre sich auch nur vorläufig abschließen ließe. Beruf, Berufsleben, Stellung im sozialen Leben, Freundschaft und Liebe bringen ständig neue Anstöße zum Wechsel der Lebensauffassung. Es kann sein, daß ein Schüler, der in vollständig geschlossener religiöser Weltanschauung groß geworden ist, skeptischen Tendenzen erliegt und umgekehrt. Jedes große Erlebnis kann die Weltanschauung umstoßen. Man denke an welt- geschichtliche bekannte Vorgänge, wie wir sie aus dem Leben Luthers kennen, oder an die Lebensweisheit der katholischen Kirche, die sehr wohl weiß, weshalb sie ihre künftigen Geistlichen in Seminaren erzieht. Die reife und abgeschlossene Weltanschauung bildet sich besonders bei den wissenschaft- lich gebildeten Schichten später, und dieser Prozeß läßt sich nicht künstlich in eine frühere Zeit verlegen. Im übrigen bleibt selbstverständlich der Bildungsprozeß stets offen und ist unendliche Aufgabe. Eine weitere Frage ist die, ob das systematische philosophische Denken allen Schülern zugänglich ist. Hier spielt bei der Beurteilung schon der systematische Standpunkt eine Rolle. Verläßt man die etwas vage Defini- tion der Aufgabe der Philosophie, daß das einzelwissenschaftliche Wissen zu einer Gesamt an schauung zusammengeschmolzen werden soll, und be- trachtet man z. B. nach der Auffassung der Marburger oder der Bade- ner neukantischen Schule die Philosophie als Theorie der Theorie, so ergibt sich, daß sie einen besonderen Grad der Abstraktion voraussetzt, der nicht jedem gegeben ist. Nehmen wir doch alle die spezifisch mathe- matische oder sprachliche Begabung an, die nicht bei allen Schülern in gleichem Maß vorhanden ist, und ob gerade die philosophische Begabung weit verbreitet und allgemein ist, darf auf Grund der Tatsache, daß von den Akademikern so viele sich gar nicht an solche Dinge heranwagen, füglich bezweifelt werden. Schließlich muß darauf eingegangen werden, welche Folgen sich für unsere Betrachtung aus der Tatsache ergeben, daß das deutsche Volk eine einheitliche Weltanschauung nicht besitzt. Die Weltanschauung, die Herr Freitag uns vorgetragen hat, ist in allen Einzelheiten die einer bestimmten Gruppe und so selbstverständlich es ist, daß er sie für die einzig richtige ansehen muß, so wenig kann man verkennen, daß diese Ansicht von weiten Kreisen nicht geteilt wird. ' Wenn man sich aber darauf beschränkt, ge- wissermaßen die Grundstimmung des Unterrichts festzulegen und die indi- viduelle Färbung dem einzelnen Lehrer zu überlassen, so fragt sich immer noch, ob dies bei der Zerrissenheit des deutschen Volkes möglich ist. 254 Mitteilungen. Richert hat in besonders feiner und eindringender "Weise die Bildungsein- heit des deutschen Volkes im deutschen Idealismus, insbesondere in der Philosophie Kants verankern wollen. (Richert, die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule. Mohr, Tübingen 1920.) Doch wenn man auch zugeben kann, daß der deutsche Katholizismus stark durch die deutsche Bildungsgeschichte und die deutsche Philosophie beeinflußt ist, und eine gewisse Überordnung des Toleranzgedankens auch bei ihm zu spüren ist, so wäre es ein Irrtum, wenn man annehmen wollte, daß die führenden katholischen Pädagogen auf philosophische Propädeutik im Geiste Willmanns verzichten wollten. Übrigens lehnt ja auch Fr. W. Förster in unglaublich schroffer Form die Kantische Philosophie ab. Wie nun, wenn in protestantischen Schulen die Philosophie Kants, in katholischen das System des Neuthomismus vorge- tragen und eingeprägt würde? Mit solcher Festlegung würde der Unter- richt sich so dogmatisch verengern, daß er seinen Zweck verfehlen würde, eine selbständige Meinungsbildung zu unterstützen und die Schüler würden auch diesen dogmatischen Charakter bald erkennen und die vorgetragene Anschauung als eine neue mit den vielen andern bei Seite stellen. Will man aber bei Ausgestaltung des Lehrplans für einen systematischen philo- sophischen Unterricht an den höheren Schulen dieser Szylla entgehen, ver- fällt man leicht der Charybdis des Eklektizismus und damit der Verwässe- rung. Je verschwommener der Begriff Weltanschauung genommen wird, desto mehr besteht diese Gefahr. Riehl hat in einem Vortrag über wissen- schaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie sehr treffend hervorge- hoben, daß die Weltanschauung auch durch große einzelwissenschaftliche Entdeckungen, wie etwa die des Kopernikus oder die Darwins wesentlich beeinflußt werden kann, und es entsteht leicht im philosophischen Unterricht eine Vermischung von Elementen der verschiedenen Wissenschaften und der verschiedenen philosophischen Systeme, die einem exakten philosophischen Denken durchaus nicht förderlich ist. Wenn ich dies behaupte, so muß ich mein Urteil auf Grund der mir bekannten Ansätze zum philosophischen Unterricht fällen und da erscheint mir besonders charakteristisch das Buch von Rausch „Elemente der Philosophie". Was sollen wir davon erwarten, wenn der Verfasser im größten Teil des Buches Dinge behandelt, die weit ausführlicher in den anderen Lehrstunden bereits besprochen sind und der Schüler nicht mehr weiß, was Philosophie, was Wissenschaft ist. Da wäre es doch fruchtbarer, einige Kapitel aus den klassischen Werken mit den Schülern zu besprechen, an deren Tendenz der Verfasser anschließt aus Herder oder aus Lotzes „Mikrokosmos". Nun nehme man noch hinzu, daß fast auf jeder Seite, die sich mit wirklichen philosophischen Problemen beschäftigt, Anschauungen vorgetragen werden, die nicht wissenschaftliches Allgemeingut sind. Gewiß kann man sich auf Aristoteles und andere be- rufen, wenn man von letzten unbeweisbaren Axiomen spricht, gewiß kann man auch viel zu Gunsten der Abstraktionstheorie der Begriffsbildung sagen, aber wie muß es wirken, wenn diese Lehren in einem gedruckten Buch in die Hand des Schülers gegeben werden, der gewohnt ist, in seinen Lehrbüchern allgemein Anerkanntes zu finden? Und wenn gar, wie dies im Vorwort einer älteren Auflage des Rausch'schen Buches steht, der Schüler Kapitel dieses Buches studieren soll, die dann in der Unterrichts- Mitteilungen. 255 stunde besprochen werden, wird er sich da noch selbstständig entwickeln, wenn wir doch schon sehen, daß auch im Hochschulunterricht der in Mar- burg Studierende Neukantianer, in Greifs wald Rehmkeschtiler, in Leipzig Wundtschüler wurde? Ebenso fragwürdig erscheint eine systematische Einführung in die Geschichte der Philosophie. Wenn man bedenkt, daß zum Studium Kants für Begabte mindestens eine 4 stündige Vorlesung und ein bis zwei Uebungen notwendig erscheinen, wie soll es wirken, wenn ein kurzer Abriß in wenigen Stunden von Piaton bis Eucken führt (Budde, die großen Denker der Menschheit, Schriften des Schillerbundes, Bd. 4. Ziemsen, Berlin) oder eine Uebersicht über Logik, Psychologie, Ethik und Aesthetik oder gar beides, wie wir es in Lehrplänen für die neue deutsche Oberschule lesen können? Sagt Schmidkunz nicht mit Recht daß sich darin weniger die Auffassung einer fachgerechten Beherrschung der Philosophie ausspricht, sondern mehr eine Sammlung von Ansichten „statt von Einsichten"? „Ein Bedürfnis mühelos reich zu werden" mit einer Erholung von dem „ mühsamen Schritt für Schritt gehen" ? Diese encyklopädische Behandlung der Philosophie widerspricht dem wissenschaftlichen Charakter der höheren Schule und erzeugt nur den Schein einer einheitlichen Weltanschauung, während im Geiste des Schülers die Bausteine unbehauen neben dem schönen Bild des Einheitsbaus liegen bleiben, das der Lehrer ihm vor Augen stellt. Dieser Auffassung steht eine engumrissene andere gegenüber, die in sicherer Selbstbeschränkung einen Elementarunterricht in der Philosophie vorsieht, wobei unter Elementen der Philosophie etwas Aehnliches zu ver- stehen ist wie unter dem Begriff der Elementarmathematik. Als solche Elemente galten bisher: Logik und Psychologie. Für sie sprechen nach Schmidkunz 1) daß sie am besten lehr- und lernbar sinö^ möglichst un- abhängig von subjektiven Schwankungen und von fast ebenso festem Ge- füge, wie die übrigen Lehrfächer, übersichtlich leicht faßlich; 2) daß sie nicht andere Teile der Philosophie voraussetzen, sondern ein wirklicher Unterbau, ein Werkzeug des philosophischen Studiums sind. Diese exaktere Fassung des Ziels des philosophischen Unterrichts hat zweifellos viel für sich, und einer zu engen Auffassung könnte nach Schmidkunz dadurch Rechnung getragen werden, daß weitere Probleme aus der Erkenntnislehre, Ethik und Aesthetik diesem Unterricht angegliedert werden könnten. Was Schmidkunz für Logik und Psychologie geltend macht, ist in gewissem Grade richtig. Lehrbücher, wie die Logik von Höfler oder die kleine Psychologie von Buchenau sind wesentlich exakter als allgemeine Sammelwerke für die Schule, insbesondere, wenn man nicht allzuweit über die Lehre von den Sinnesempfindungen und die Beschreibung der elementaren seelischen Erscheinungen, andererseits über die formale Logik hinausgeht. Sobald man tiefer geht, sind allerdings auch hier die philosophischen Ge- gensätze sehr groß, insbesondere wird erörtert werden müssen, ob das analytische Denken, um in Kantischer Schulsprache zu reden, das heißt eine Darstellung des Denkens, das bereits gefundene Erkenntnisse in syste- matisch durchsichtiger Form gibt, so stark betont werden darf, vor dem 256 Mitteilungen. synthetischen Denken, das dem methodischen Forschen zu Grunde liegt und daher in der Schule im Vordergrund steht. Mag ein solcher Unterricht in der Hand geeigneter Lehrer an sich wertvoll sein und sich auf gute Unterrichtserfolge berufen können, so kann dies nicht ausschlaggebend sein, da scließlich jeder wissenschaftliche Unterricht bis zu einem gewissen Grade fruchtbar sein wird. Gegen ihn spricht, daß er die Vorbereitung zum philosophischen Denken zu eng faßt, daß er die Bedürfnisse des Schülers und die aus dem Unterricht in den Einzelfächern, Religion, Deutsch, Geschichte, Mathematik und Naturkunde herauswachsenden Probleme nicht ausreichend und nicht im geeigneten Moment berücksichtigt, ferner daß die systematische Zu- sammenstellung, wenn die einzelnen Gesichtspunkte nicht schon im anderen Unterricht besprochen sind, eine neue Stoffbelastung bilden, und daß oben- drein ein großer Teil des Stoffes, wie die Darstellung der Begriffe durch Kreise und der Lehre von den Schlüssen veraltet anmutet. Entscheidend scheint mir aber, daß ein zusammenhängendes, sich über ein Jahr erstreckendes Verbleiben im Abstrakten trotz aller belebenden Beispiele trocken und eintönig wird und doch niemals so tief in die Sache geht, als wenn diese oder jene logische und psychologische Frage in voller Breite zur Vertiefung eines konkreten sachlichen Problems erörtert wird. Ich erlaube mir daher die folgende Formulierung für das Ziel eines vorbereitenden philosophischen Unterrichts: Schulung in begrifflich scharfer Fassung von Problemen, Erziehung zu einer exakten Auffassung und Be- handlung derselben, Hinführung auf den Unterschied fachmännischer und populärwissenschaftlicher Philosophie, Hinweis auf die Schwierigkeiten und die mühsame begriffliche Arbeit. Und zu diesem formalen methodischen Ziel kommt die Erweckung lebendigen Interesses, Verständnis für die welt- geschichtliche Bedeutung großer philosophischer Gedanken, Achtung vor der Geistesleistung großer Genies. Diese vorsichtige Heranführung wird die beste Vorbereitung für eine spätere intensive, nicht oberflächliche Beschäf- tigung mit Philosophie bilden. Es ist selbstverständlich, daß auch bei dieser Auffassung ein gewisser Grad von Dogmatismus unvermeidlich ist. Denn jeder philosophische Unterricht, der Sinn haben soll, muß die Mög- lichkeit und den Wert philosophischer Einsicht voraussetzen und ebenso daran festhalten, daß die Kulturgebiete, die die Schule dem Schüler nahe- bringt, Religion, Wissenschaft, Kunst u.s.w. Wertgebiete sind, die eine er- kennbare Gesetzmäßigkeit haben. Die Erfüllung dieses Ziels verlangt, daß spätestens von den mittleren Klassen an, an die Probleme angeknüpft wird, die sich aus dem wissenschaft- lichen Unterricht ergeben und zwar da, wo die Ein sieht in die sach- lichen Probleme durch die philosophische Betrachtung ver- tieft wird. Ein paar Beispiele aus dem mathematischen und physi- kalischen Unterricht mögen erläutern, wie der philosophisch gesinnte Lehrer geradezu innerlich genötigt wird, die behandelten Stoffe durch logische oder psychologische Betrachtungen durchsichtiger und damit verständlicher zu machen, sodaß die philosophische Erörterung kein Anhängsel ist, sondern als mit zur Sache gehörig betrachtet wird. Beginnen wir zum Beispiel mit dem mathematischen Unterricht in der Mitteilungen. 257 Quarta. Spätestens bei der Durchnahme der Kongruenzsätze wird man genötigt den Unterschied von Definition und Lehrsatz durchzusprechen, weil der Schüler sonst den eigentlichen Sinn dafür nicht einsieht, weshalb man die Kongruenzsätze beweisen muß. Nach dieser logischen Scheidung kann man den Sachverhalt in folgende einfache Form kleiden: Kongruenz bedeutet, daß Dreiecke in allen sechs Stücken übereinstimmen, die Kon- gruenzsätze bedeuten, daß, wenn Dreiecke in bestimmten drei Stücken über- einstimmen, sich beweisen läßt, daß sie auch in den übrigen 3 Stücken übereinstimmen müssen. Oder es soll bei Besprechung von harmonischen Punkten der Begriff der äußeren Teilung klar gemacht werden. Man spricht hier in der Mathematik gewöhnlich von Begriffser Weiterung und der gleiche logische Prozeß kommt sehr häufig vor, so bei Erweiterung des Zahlbegriffs und bei der allmählichen Herausarbeitung des Begriffes der trigonometrischen Funktionen, die von der anschaulichen Definition am rechtwinkligen Dreieck ausgeht und bis zur allgemeinsten algebraischen durch unendliche Reihen führt. Man erklärt zunächst den Sinn des Ge- brauchs von "Worten in übertragener Bedeutung (Einsicht u.s.w.) und führt dann aus, wenn ich ein Brot teilen will, sodaß Stullen entstehen sollen, so muß ich mit dem Messer das Brot durchschneiden; führe ich das Messer außen vorbei, so entstehen keine Teile, wenn ich aber auf einer Strecke innen und außen einen Punkt annehme, so stimmt das Ergebnis insofern überein, als Teilstrecken entstehen, die einen Endpunkt in dem Teilpunkt haben, und deren anderen Endpunkt einer der Endpunkte der ursprüng- lichen Strecke bildet. Wir können beides unter diesem gemeinsamen Ge- sichtspunkt zusammenfassen und dem neuen Oberbegriff in übertragenem Sinn auch den Namen Teilung geben. Der gleiche logische Prozeß ist von Höfler in seiner Physik in einer ganzen Reihe von Abschnitten durch- geführt, um den Sinn des Begriffs Energie klar zu machen. Bei Einführung in die ersten Formeln der Algebra ist man häufig genötigt, auf die Anschauung zu verweisen. Damit der Schüler dies ver- steht, ist der Unterschied von Anschauen und Denken zu erläutern. Nehmen wir z. B. die Ableitung von um. an = am+n, so verweisen wir zunächst auf bestimmte Zahlen, und die einzelnen Faktoren werden dann entweder durch die Schriftzeichen oder andere Symbole räumlich veranschaulicht. Andere Beispiele wird jeder, der den Unterricht kennt, in großer Zahl geben, ich erinnere noch an einen hübschen Aufsatz von Laßwitz „Gerade und krumm" wo der Prozeß der Zusammenfassung von Einzelgestalten zu einem Oberbegriff mittels des Prinzips der Kontinuität dargestellt wird, ein Prozeß, der die gemeinsame Definition der Kegelschnitte mittelst des Durch- gangs durch das unendliche Große durchsichtig macht und auch für die Durchnahme des Differentials oder der Zenonischen Sophismen, die gele- gentlich der unendlichen geometrischen Reihen besprochen zu werden pflegen, seine Bedeutung hat. Mit der gleichen inneren Notwendigkeit treten im mathematischen, wie physikalischen Unterricht psychologische Betrachtungen auf, mit denen man nicht auf einen besonderen philosophischen Unterricht warten kann. Ich meine nicht die physiologische und psychologische Betrachtung der Sinnes- organe, die sich allerdings leicht als besonderer Abschnitt in Biologie oder Kantstndien XXVT. 17 258 Mitteilungen. Physik anschließen kann, sondern nehme als Beispiel die Einführung in die Wärmelehre. Da muß folgendes herausgearbeitet werden. Bis vor wenigen Jahrhunderten war man auf die unbestimmten Aussagen der Sinnesempfindungen angewiesen mit ihren Unvollkommenheiten, der Relativität, der stufenförmigen Skala mit den wenigen Angaben von sehr heiß über lauwarm bis sehr kalt, und der Grenzen, an denen die Empfindungen in Schmerz übergehen, während durch das Gesetz der Ausdehnung der Körper sich eine stetige Reihe von meßbaren Temperaturen ergibt. (Besonders schön dargestellt bei Maxwell, Theorie der Wärme, vergl. auch Höfler, Physik S. 251). Dazu kommen Sinnestäuschungen im mathematischen Unterricht u.s.f. Diese Beispiele würden sich leicht vermehren lassen. Der philosophisch gesinnte Lehrer wird es sich nicht nehmen lassen, den mathematischen Unterricht an vielen Stellen durch philosophische Erörterungen zu vertiefen und hat dazu viel mehr Zeit zur Verfügung, als ein besonderer Unterricht bieten kann. Klassifikationen z. B. der Vierecke, Urteile, Schlüsse z. B. der hypothetische Schluß, der bei der Formulierung „wenn — so" eine treffliche Übung für Quartaner ist, um Voraussetzung und Behauptung zu trennen, die logische Bedeutung der Axiome und der Aufbau der Mathe- matik nötigen fast dazu. Der Unterschied zwischen mathematischer und physikalischer Gesetzmäßigkeit muß in dem Augenblick erörtert werden, wo physikalische Ausarbeitungen geschrieben werden, weil man sonst vom Beweise des Ohm'schen Gesetzes oder von der Berechnung spezifischen Wärme lesen muß. Ich verzichte darauf Beispiele aus den übrigen Unterrichtsfächern zu bringen, die ich nicht so gut kenne und ebenso auf die Problemstellungen, die sich aus dem Verhältnis der Einzel Wissenschaften zueinander und zur Philosophie ergeben, da das Material in der philosophischen Propädeutik, die von Lambeck herausgegeben ist, in vorzüglicher Weise zusammengestellt ist, und auch die methodische Seite von Lambeck im Vorwort und der Ein- leitung hinreichend beleuchtet ist. Ich habe eben gerade die Seite betont, von deren gewissenhafter Durchführung schließlich der Enderfolg jeden philosophischen Unterrichts mir abhängig zu sein scheint. Ganz besonders geeignet" ist ferner zur Erreichung des oben gegebenen Zwecks des philosophischen Unterrichts die Lektüre von Original werken. Die Bindung an ein philosophisches Lesebuch möchte ich ablehnen; der Zwang, eine bestimmte Anzahl Stücke zu lesen und damit eine gewisse historische Übersicht zu geben, sodaß womöglich auch hier jedes Jahr das- selbe gelesen wird, die Schüler sich Notizen machen, Handbücher zur Inter- pretation entstehen, der Inhalt abgefragt wird und ähnliches würde dem gewünschten Zweck nicht entsprechen. Der Lehrer muß die Lesestücke aussuchen, die gerade den Eindruck auf den Schüler machen, den er wünscht, z. B. Stellen, die geeignet sind, sittliche Wärme und Begeisterung hervorzurufen oder- Nachdenken darüber, daß es sittliche Gesetzmäßigkeit gibt. Hierher gehören etwa die berühmten Stellen im Spinoza „Ich werde die menschlichen Handlungen und Triebe ebenso betrachten, als wenn es die Untersuchung mit Linien, Flächen und Körpern zu tun hätte" oder im Platonischen Kriton und die bekannte Stelle aus dem Staat, wo Trasymachus die Gerechtigkeit als das dem Stärkeren zuträgliche erklärt. Zur Erkennt- nislehre nenne ich nur die Stelle aus dem Menon oder etwa bei Leibniz Mitteilungen. 259 die schöne Auseinandersetzung über seine Auffassung von Idee im Gegen- satz zu der Lockes, die an der Idee des Tausendecks auseinandergesetzt wird. Es wäre schon viel gewonnen, wenn nur ein einziges Buch einmal gründlich behandelt würde. Etwa sehr zeitgemäß sind Fichte's Reden an die deutsche Nation; Der Grad der Abstraktheit, die weltgeschichtliche Tragweite und die sittliche Wirkung, die sich durch diese Lektüre erzielen lassen, lassen es besonders geeignet erscheinen. Oder wenn an die von den Schülern gelesenen Bücher, etwa Häckels Welträtsel angeknüpft würde, um unbarmherzig die Schwächen desselben zu zeigen; oder an Nietzsche, um die Schüler zum Bekenntnis zu nötigen, daß sie ihn doch nicht voll- ständig verstehen, wenn sie ihn allein lesen; die unzeitgemäßen Betrach- tungen sind übrigens gerade wieder sehr zeitgemäß. Mir erscheint hier als das Wesentliche, daß die Schüler gezwungen werden, die gelesenen Stellen Wort für Wort zu verstehen. Es wird hoffentlich bald als Allgemeingut gelten, daß diese Form der Erziehung zur Exaktheit weit wertvoller ist, als jede abgeleitete Übersicht über die Geschichte der Philosophie. Es kann natürlich noch mehr erreicht werden, wenn der deutsche Unterricht mit Stellen aus Schiller, Herder etc. und der fremdsprachliche mit Piaton, Rousseau und Humelektüre die Sache unterstützte. Mit diesen Andeutungen mag es genug sein. Nur zwei Gesichtspunkte möchte ich zum Schluß noch hervorheben, die wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, wenn wir dem philosophischem Denken Heimatrecht in der Schule geben wollen. Erstens: Die Stärke des Schülers ist die, daß er sich noch unbefangen und nicht zu stark mit historischem Ballast ver- sehen unmittelbar mit den Problemen beschäftigt; sobald er das erste Kolleg über Geschichte der Philosophie gehört hat, tritt leicht an die Stelle des lebendigen Interesses an der Sache selbst der Sport am Lösen von Buch- problemen, etwa an der Aufgabe, wer Recht hat, Kant oder Hume und diese Buchprobleme werden gar nicht mit den wirklichen den Menschen interessierenden Problemen in Beziehung gebracht. Es geht dann ähnlich wie es mir im mathematischen Unterricht manchmal geht, wenn ich von Meridianen und dem Äquator rede und der Schüler erstaunt aufhorcht, daß das Kreise sind und daher in 180 Grad eingeteilt werden. In einer Zeit, wo der Schüler noch nicht gezwungen ist, eine Übersicht über die ganze Philosophie zu haben, kann man abwarten, bis die Probleme selbst in seinem Gesichtskreis auftauchen. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich als Student das erste Mal auf das Problem der Kritik der reinen Vernunft stieß, bevor ich von Kants Lehre das geringste wußte, nämlich als im Kolleg über Mechanik gelehrt wurde, daß der erste Differential- quotient des Weges nach der Zeit die Geschwindigkeit, der zweite die Be- schleunigung ist, dachte ich staunend das erste Mal darüber nach, wie es möglich ist, daß diese komplizierten Begriffe fn der wirklichen Natur vor- kommen. Und erst da war denn auch der Augenblick für ein Studium Kants gekommen. Und zweitens: Lassen wir dem Lehrer in diesem Unterricht Freiheit; nötigen wir ihm nicht einen Lehrplan auf, der ihn hindert, das was er für richtig hält, zu bringen, sondern ihn nötigt dogmatisch vorzutragen, wo- 17* 260 Mitteilungen. möglich nach dem Lesebuch in Unterprima Stück 1 bis 20 und in der Oberprima Stück 21 bis 40 durchzunehmen und dann, da es ein besonderes Unterrichtsfach ist, auswendig lernen zu lassen, und abzufragen und danach zu zensieren. Dann würden wir dem Unterricht das Beste nehmen. Aufruf Solger-Kollegnachschriften betreffend. "Wer im Besitze solcher Nachschriften sein sollte, wird höflichst gebeten, mir dieses gütigst mitzuteilen. Hellmuth Burgert Freiburg i. Br., Immentalstr. 7. Januar 1921, An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft. Vorbemerkungen. 1) Sofortige Einsendung des Jahresbeitrages dringend erwünscht. 2) Möglichst grosse Erhöhung des Jahresbeitrages drin- gend erbeten. 3) Angabe des Absenders in recht deutlicher Hand- schrift unerlässlich. 1. Auch über die Entwicklung des vergangenen Jahres 1920 — es ist das 17. Jahr des Bestehens der Kant-Gesellschaft — kann ein sehr günstiger Bericht erstattet werden. Der Mitgliederkreis hat sich in außerordentlichem Umfang vergrößert. Traten der Gesellschaft im Jahre 1918 bereits 324 neue Jahresmitglieder bei, stieg diese Zahl im Jahre 1919 auf 578, so beträgt die Zahl der im Jahre 1920 neu eingetretenen Jahresmitglieder (Mindestbeitrag Mk. 20, — ) nicht weniger als 792. Auch die Zahl der Dauer-Mit- glieder (Mindestbeitrag Mk. 400,—) hat sich wesentlich erhöht; sie beträgt gegenwärtig 83. Die Gesamtzahl der Jahres- und Dauer- mitglieder belief sich am Schluß des Jahres 1920 auf 2427 Mit- glieder. Somit hat sich die Gesellschaft zu der größten philo- sophischen Organisation der Erde entwickelt. Die Gründe für diesen Aufschwung liegen wohl zunächst in der intensiven, für das geistige Leben der Gegenwart bezeich- nenden Erneuerung und Erstarkung der philosophischen Interessen überhaupt ; ferner in dem Umstand, daß wir trotz aller aus den Zeit- verhältnissen sich ergebenden Schwierigkeiten unsere Bestrebungen und Leistungen nicht nur in der gleichen Höhe zu halten, sondern auch zu steigern und in unparteilicher Weise in den Dienst aller ernsthaften philosophischen Richtungen zu stellen unausgesetzt bedacht waren ; endlich aber und nicht zuletzt in der tatkräftigen und erfolgreichen Mitarbeit einer grossen Zahl unserer 262 Kant-Gesellsci.aft. Mitglieder und Freunde. Diese überaus wichtige und dankens- werte Mitarbeit bestand außer mannigfachen Anregungen und Vor- schlägen zur Erweiterung unserer Arbeiten vor allem in der Ge- winnung zahlreicher neuer Mitglieder. Jene Persönlichkeiten, die uns auf diese Weise zur Seite standen, haben sich damit nicht nur um die Kant - Gesellschaft , sondern auch um die Förderung des philosophischen Lebens überhaupt ein Verdienst erworben. a. Wir konnten unseren Mitgliedern die üblichen vier Hefte der Kant-Studien (Band XXV) zustellen und zwar in dem an- sehnlichen Umfange von 31 Druckbogen, d. h. etwa 500 Seiten. b. Ferner erhielten unsere Mitglieder im vergangenen Jahr wieder drei Ergänzungshefte, u. z. Nr. 49 : „Moses Mendelssohn im Urteil seiner Zeitgenossen" (92 Seiten) von Dr. Beate Berwin*)j Nr. 50: „Kants Opus postumum" dargestellt und beurteilt (855 Seiten) von Professor Dr. Erich Adickes**); Nr. 51: „Das Möglichkeits- problem der Kritik der reinen Vernunft, der modernen Phaenomeno- logie und der Gegenstandstheorie" (64 Seiten) von Dr. Baumgardt. c. Sowohl in Berlin als auch in den anderen Ortsgruppen fanden regelmäßige und außerordentlich gut besuchte Vortrags- veranstaltungen statt. Vgl. Berichte Kant-Studien, Bd. XXV. d. Die Organisation von Ortsgruppen hat eine wesentliche Ergänzung erfahren. Neue Ortsgruppen : Dresden, Leipzig, Königs- berg i. Pr., Stuttgart; vgl. Berichte Kant-Studien, Band XXV. Die weitere GründuDg von Ortsgruppen ist ins Auge gefaßt bzw. bereits eingeleitet. Über alle diese Veranstaltungen wird regelmäßig in den Kant-Studien berichtet. Es werden dort auch die Namen und Adressen der Ortsleiter angegeben, damit sich die be- treffenden Interessenten mit ihnen in Verbindung setzen können, e. Unseren Mitgliedern wurden folgende zwei Vorträge zu- gestellt: Nr. 24: „Religionsphilosophie der Kultur"; zwei Entwürfe von Professor Dr. Gustav Radbruch und Privatdozent Dr. Paul Tillich (52 Seiten)*); Nr. 25: „Zur kritischen Grundlegung der Psychologie" von Privatdozent Dr. Walter Blumenfeld (72 S.). *) Vgl. die Anmerkung *) S. 263. **) Die Zustellung dieses umfangreichen und bedeutsamen Werkes konnte zu einem wesentlich ermäßigten Preise nur an die- jenigen Mitglieder, die auf Grund eines Kundschreibens auf den Bezug des Werkes ausdrücklich subskribiert hatten, erfolgen. Wegen der neuen Zustellungsbedin- gungen vgl. S. 264 der vorliegenden Mitteilungen. Kant-Gesellschaft. 263 Der buchhändlerische Wert der genannten Zustellungen übersteigt beträchtlich die Höhe des Jahresbeitrages: Kantstudien 1920, Band XXV = 12.— Mk. 3 Ergänzungshefte (Nr. 49, 50, 51) = 61.— „ 2 Vorträge (Nr. 24, 25) =' 6.80 „ 79.80 Mk. Voraussichtlich sind alle diese Sendungen in den Besitz unserer Mitglieder gelangt. Anderenfalls bitten wir an den stellvertretenden Geschäftsführer Liebert eine entsprechende Mitteilung zu richten*). — f. Im vergangenen Jahre konnte endlich — nach einer Pause von sechs Jahren — wieder eine allgemeine Mitgliederversamm- lung (Generalversammlung) abgehalten werden (am 29. und 30. Mai 1920). Über die wissenschaftlichen und künstlerischen Dar- bietungen und den Besuch derselben ist in Kant- Studien, Band XXV, Heft 4 ein eingehender Bericht erstattet worden. 3. Unsere Mitglieder genießen folgende Vergünstigungen: a) „Kants Opus postumum, dargestellt und beur- teilt" von Professor Dr. Erich A dick es**). Im Frühjahr 1920 ist dieses Werk unseres Mitgliedes Professor Dr. Erich A dick es von der Universität Tübingen: „Kants Opus postumum, dargestellt und beurteilt" als Ergänzungsheft 50 erschienen**). Adickes hat in mehr als 47s jähriger Arbeit das ganze nachgelassene Manuskript (auch den bisher ungedruckten Teil) durchforscht. Es ist ihm dabei gelungen, 14 verschiedene Entwürfe festzustellen und genau zu da- tieren. Der älteste stammt aus der Zeit um 1796, also aus einer Zeit, in der Kant noch ganz frei von Senilitätserscheinungen war. Am jüngsten Entwurf, der das ursprünglich geplante rein natur- philosophische Werk (Übergang von den Metaph. Anfangsgr. der Naturwissenschaft zur Physik) zu einem System der Transcendental- philosophie erweitern wollte, hat Kant bis zuletzt gearbeitet. Erst *) Zu unserem Bedauern konnte sowohl das Ergänzungsheft Nr. 49 von Dr. B. Berwin, als auch das Vortragsheft Nr. 24 von Prof. Dr. Radbruch und Dr. P. Tillich einer Zahl derjenigen Mitglieder, die ihren Jahresbeitrag erst in der 2. Hälfte des Jahres eingeschickt haben, oder die der Kant-Gesellschaft überhaupt erst in den letzten Monaten beigetreten sind, nicht mehr zugestellt werden. Diese beiden Veröffentlichungen waren bereits zu Beginn des Jahres 1920 hergestellt worden, als sich noch nicht übersehen ließ, daß unser Mitgliederbestand einen so außer- ordentlichen Zuwachs erfahren würde. Ein Teil der neuen Mitglieder ist durch die Zustellung anderer — älterer — Veröffentlichungen entschädigt worden. **) Vgl. Anmerkung **) auf Seite 262 dieser Mitteilungen. 264 Kant-Gesellschaft. durch diesen Nachweis der Zusammengehörigkeit der einzelnen Entwürfe und ihre feste Datierung ist die Grundlage für eine wirklich wissenschaftliche Darstellung und Beurteilung des Opus pustumuni geschaffen. Fertigstellung und Veröffentlichung des Werkes sind dadurch möglich geworden, daß Freunde der Wissenschaft und der Kant- Gesellschaft einmalig größere Summen gestiftet und außerdem etwa 850 Mitglieder der Kant - Gesellschaft auf das Werk subskribiert haben. Es kostet bei einem Umfang von 855 Seiten im Buchhandel 50 Mark. Mitgliedern der Kant- Gesellschaft wird es zu dem er- mäßigten Preis von 25 Mark ausschließlich der Verpackungs- und Portospesen geliefert werden. Die Versendung des Werkes an die inländischen Mitglieder erfolgt der Einfachheit halber unter Nach- nahme. Für ausländische Mitglieder, die das Werk zu erhalten wünschen, kommt wegen des ungünstigen Standes der Mark ein Verpackungs- und Portoaufschlag von 25 Mk. hinzu. Interessenten mögen, am einfachsten bei Zahlung des Jahresbeitrages durch eine Angabe auf dem Abschnitt der Zahlkarte, einen diesbezüglichen Wunsch dem stellv. Geschäftsführer Liebert übermitteln. b) Der Verlag von Felix Meiner in Leipzig teilt mit, daß das soeben erschienene Heft 4 des zweiten Bandes der „Annalen der Philosophie" auf Wunsch von den Mitgliedern der Kant- Gesellschaft zu dem Vorzugspreise von 5 Mk. (statt eines Laden- preises von 8 Mk.) bezogen werden kann. Das Heft wurde von den Herausgebern der „Annalen" (Hans Vaihinger und Raymund Schmidt) ausdrücklich der Kant-Gesellschaft „zum Dank für die den Freunden der Philosophie des Als-Ob am 29. Mai 1920 zu Halle gebotene Gastfreundschaft" gewidmet. Es ist insofern für die Mitglieder der Kant - Gesellschaft von besonderem Wert, als es ausführliche Berichte über die Vortragsveranstaltungen bei Gelegenheit der letzten Generalversammlung der Kant- Gesellschaft enthält. Außerdem bringt es den Vortrag von Prof. Julius Schultz: „Die Fiktion vom Universum als Maschine und die Korrelation des Geschehens", eine Arbeit von Geh.-Rat Vaihinger: „Ist die Philosophie des Als-Ob Skeptizismus?" und die Bedingungen zweier Preis- aufgaben zum Abdruck: 1) „Die Rolle der Fiktionen in der Erkenntnistheorie von Friedrich Nietzsche" (Preis 3000 Mk.). 2) „Das Verhältnis der Einsteinschen Relativitätslehre zur Kant-Gesellschaft. 265 Philosophie der Gegenwart mit besonderer Rücksicht auf die Philo- sophie des Als-Ob". (Preis 5000 Mk.). Die Mitglieder der Kant - Gesellschaf t können das Heft zum Vorzugspreise durch jede Buchhandlung (die dann den Namen des betreffenden Mitgliedes dem Verlag mitzuteilen hat) oder auch direkt vom Verlag der „Annalen", Felix Meiner, Leipzig, Kürze- ste. 8, Postscheck Leipzig Nr. 9886, beziehen. 4. a) Die „Kant-Studien" werden auch in dem neuen Jahrgang eine Reihe wertvoller systematischer und historischer Aufsätze aus der Feder bekannter Vertreter der verschiedensten philosophischen Standpunkte und Richtungen veröffentlichen. b) Auch für die Fortsetzung der Reihe der „Ergänzungs- hefte" ist bereits Sorge getragen. Folgende interessante Arbeiten werden unsern Mitgliedern zugestellt we*rden: 1) Nr. 52: Dr. Konrad Wiederhold: „Wertbegriff und Wert- philosophie" (86 Seiten; bereits fertiggestellt). 2) Nr. 53: Privatdozent Dr. Oskar Ewald: „Welche wirklichen Fortschritte hat die Metaphysik seit Hegels und Herbarts Zeiten in Deutschland gemacht?" Gekrönte Preisschrift der ersten Carl Güttier - Preisaufgabe der Kant - Gesellschaft (68 Seiten; bereits fertiggestellt). 3) Nr. 54: Professor Dr. Albert Goedeckemeyer, o. ö. Pro- fessor an der Universität Königsberg : „Kants Lebensanschau- ung" (etwa 100 Seiten; befindet sich im Druck). Um Mißverständnisse zu verhindern und entbehrliche Inanspruchnahmen nach Möglichkeit auszuschließen, machen wir wiederum darauf aufmerksam, daß aus- schließlich Professor Dr. Max Frischeisen-Köhler (Halle, Mozartstr. 24) die Entscheidung über die Annahme von Aufsätzen und Abhandlungen für die Kant-Studien und für die Ergänzungshefte hat, während Prof. Dr. Liebert über dasjenige entscheidet, was sich auf die Abteilung: „Besprechungen neuer Bücher sowie allgemeine wissenschaftliche Mitteilungen" bezieht. Wir bitten diejenigen unter den Mitgliedern der Kant-Gesellschaft, die zu den Mitarbeitern der Kant-Studien gehören, von dieser Anordnung Kenntnis nehmen und ihre Anfragen bezw. Einsendungen dementsprechend einrichten zu wollen. Bei Zuschriften an Prof. Dr. Liebert sind die letztgenannten redaktionellen Angelegenheiten streng zu scheiden von den Angelegenheiten der Geschäftsführung. Diese beidefi Gebiete sind völlig getrennt voneinander, sie sind nur durch eine zufällige Personalunion bis auf weiteres miteinander verknüpft. Und sie sind ohne jeden Einfluß aufeinander. Professor Vaihinger, der wie bisher der Schriftleitung der Kant-Studien an- gehört, hat sich in dieser nur eine beratende Stimme vorbehalten. An ihn sind daher Zusendungen in Angelegenheiten der Redaktion in keinem Falle zu richten. 266 Kant-Gesellschaft. c) An neuen Vortragsheften werden den Mitgliedern geliefert : 1) Nr. 26: Professor Dr. Heinrich Scholz, o. ö. Professor an der Universität Kiel: „Die Bedeutung der Hegeischen Philo- sophie" (64 Seiten; bereits fertiggestellt), versendet mit Kant- Studien XXV, Heft 4. 2) Nr. 27: Professor Dr. Alfred Vierkandt, Professor an der Universität Berlin: „Der Dualismus in der modernen Welt- anschauung" (in Vorbereitung). d. In allen unseren Ortsgruppen werden im Jahre 1921 von führenden Gelehrten Vorträge über die verschiedensten wissen- schaftlichen Themen gehalten werden. In der Mehrzahl der Fälle wird sich eine allgemeine Aussprache anschließen. Soweit in unseren Ortsgruppen Arbeitsgemeinschaften und seminaristische Übungen eingerichtet sind, wird diese Einrichtung beibehalten und sinngemäß ausgebaut werden. Den Mitgliedern geht seitens der Leitung der Ortsgruppen regelmäßig eine Ankündigung zu. Mitglieder, die in der Nähe von Ortsgruppen wohnen, wollen, falls sie von den be- treffenden Veranstaltungen Kenntnis zu erhalten wünschen, einen diesbezüglichen Wunsch an die Leitung der nächsten Ortsgruppe richten. Die Namen und Adressen der Ortsgruppenleiter werden regelmäßig in den „Kant-Studien" angegeben. e. Der Ablieferungstermin für die noch laufende siebente, die sogen. Jubiläums -Preisaufgabe ist, wie auch in der Prease bekannt gemacht wurde, auf den 22. April 1921 festgesetzt worden. Das Thema lautet: „Der Einfluß Kants und der von ihm ausgehenden deutschen idealistischen Philosophie auf die Männer der Reform- und Erhebungszeit". Die Preise sind 1500 Mk., bzw. 1000 Mk., bzw. 500 Mk. (vorbehaltlich einer Erhöhung) ; Preisrichter sind die Herren Professoren: Max Lenz-Hamburg, Friedrich Meinecke-Berlin, Eduard Spranger-Berlin. Ferner teilen wir auch hier nochmals mit, was gleichfalls durch die Tageszeitungen u. s. w. bekannt gemacht wurde, daß der Ablieferungstermin für das achte Preisausschreiben (2. Carl Güttler- Preisaufgabe) unter Zustimmung des Herrn Preisstifters und der drei Preisrichter (der Professoren Ernst von Aster, Erich Adickes, Max Frischeisen-Köhler) auf den 22. April 1921 festgesetzt wurde. Das Thema lautet: „Kritische Geschichte des Neu - Kantianismus von seiner Entstehung bis zur Gegenwart". Der erste Preis be- trägt 1500 Mk., der zweite 1000 Mk. f. Die allgemeine Mitgliederversammlung (Generalver- sammlung) des Jahres 1921 wird voraussichtlich in der Pfingst- Kant-Gesellschaft. 267 woche dieses Jahres — 17. — 21. Mai — abgehalten werden. Wir planen für diese Veranstaltung wiederum einen wesentlichen Aus- bau. Vortragende: Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Ernst Troeltsch- Berlin: „Die Logik des Begriffes der historischen Entwicklung"; Geh. Reg.-Kat Prof.- Dr. Theodor Ziehen -Halle: „Zum Begriff und zur Methodik der Geschichtsphilosophie". Mit anschließender Aussprache. Ferner ist auch die Aufführung eines platoni- schen Dialoges durch Berufsschauspieler unter Hinzuziehung von Studenten der Universität Halle ins Auge gefaßt. Allen unseren Mitgliedern wird zur Zeit eine genaue Einladung zugehen. Wir hoffen, im Laufe der Zeit die Generalversammlungen der Kant- Gesellschaft zu einem allgemeinen philosophischen Kon- greß auszubauen, auf dem Anhänger aller philosophischen Rich- tungen vertreten sind. (Generalversammlung laut Beschluss des Verwaltungsausschusses auf 1922 verschoben). 5. Unser Mitgliederstand hat sich, wie schon eingangs erwähnt, dem Vorjahre gegenüber in bedeutendem Maße gehoben. Diesen erfreulichen Aufschwung verdanken wir außer unseren literarischen Darbietungen sowie unseren Vortragsveranstaltungen wesentlich der Mitarbeit und der Werbetätigkeit der Mitglieder selbst, die so liebenswürdig waren, uns neue Mitglieder zu- zuführen bzw. den Geschäftsführern Adressen von Interessenten anzugeben. Daher liegt auch dieser Sendung wieder ein entsprechendes Formular bei, um dessen ausgiebige Benutzung dringend gebeten wird. Wir erstreben die Erweite- rung unseres Mitgliederkreises in erster Linie, um das Maß unserer Leistungen zu vergrößern, manchen, schon lange gehegten wissen- schaftlichen Plan auch ausführen und die Kant-Gesellschaft immer mehr zu einer umfassenden Organisation und zu einem Sammel- punkt des ganzen philosophischen Lebens ausgestalten zu können. Für sämtliche Jahres-Mitglieder liegt die neue Mitgliedskarte bei, sowie eine Postscheck - Zahlkarte. Diese Zahlkarte dient für die Einzahlung des Beitrages (mindestens Mk. 20. — ) an die Bank; Adresse : Deutsche Bank, Depositenkasse W, Berlin W. 15, Uhland- straße 57, Conto Liebert (Kantgesellschaft) unter Postscheckkonto 1023. Um recht baldige Zahlung der Beiträge wird sehr gebeten. Wegen der außerordentlichen Erhöhung aller Kosten für die Herstellung und Versendung unserer Veröffentlichungen und für die Durchführung unserer Bestrebungen wiederholen wir unsere dringliche Bitte um eine freiwillige Heraufsetzung des Jahres- 268 Kant-Gesellschaft. beitrages. Eine größere Reihe von Mitgliedern hat ihren Jahres- beitrag erfreulicherweise in recht erheblichem Maße erhöht (nicht wenige auf 50.—, 100.— und 200.— Mk.). Wir bitten auch die- jenigen Mitglieder, die ihren Jahresbeitrag bereits eingesendet haben, eine solche Erhöhung vorzunehmen. Denn nur bei einer ansehnlichen Vermehrung unserer Einnahmen sind wir an- gesichts der schwierigen Zeitverhältnisse imstande, den Umfang unserer Bestrebungen und Arbeiten aufrechtzuhalten und ihn wo- möglich in der erforderlichen Weise zu erweitern. Dem gebotenen Zweck der Vermehrung unserer Einnahmen dient auch die Schaffung eines besonderen „Förderer -Fonds". In diesen Fonds kommen auch einmalige größere Spenden, die zu diesem Zweck gegeben werden. Solche Mäzene , die zu diesem Fonds mindestens 400 Mk. beitragen, werden lebenslängliche Mit- glieder der Kant - Gesellschaft mit dauernden Bezugsrechten auf alle unsere Veröffentlichungen. Wir gebrauchen ihn dringend zur Verwirklichung wichtiger wissenschaftlicher Pläne. Aus diesem Grunde bitten wir unsere Freunde und die Gönner der Gesellschaft, uns bei der weiteren Erhöhung des Fonds tatkräftig zu unter- stützen und wirtschaftlich günstig gestellte und für die Philo- sophie sich interessierende Persönlichkeiten aus ihrem Bekannten- kreise zu Beiträgen zu diesem Fonds zu veranlassen. Um Verzögerungen, doppelte Kosten, mühsame und zeitrau- bende Nachforschungen bei der Zustellung unserer Veröffentlichungen oder Verluste derselben zu verhüten, bitten wir unsere Mitglieder dringlichst, jede Adressenänderung, und sei es die gering- fügigste, anf dem Abschnitt der Zahlkarte, der von der Bank der Geschäftsführung zugestellt wird, deutlich zu vermerken und sie auch zu anderer Zeit sofort dem stellvertr. Geschäftsführer Lieb er t mitzuteilen. Halle und Berlin, Januar 1921. Dte Geschäftsführung: Geh. Eeg.-Rat Prof. Dr. H. Vaihinger. Prof. Dr. Arthur Lieb er t, Berlin W.15, Fasanenstr. 48. N.B. Wir bitten unsere Mitglieder dringend, etwaige Be- stellungen auf Veröffentlichungen der Kant - Gesellschaft nicht an den stellv. Geschäftsführer zu richten, um dessen Belastung mit Arbeiten nicht noch mehr zu erhöhen, sondern direkt an unsere Verlagsbuchhandlung ßeuther & Reichard , Berlin W 35, Derfflingerstr, 19a, jedoch unter Hinweis auf ihre Mitgliedschaft. Kant-Gesellschaft. 269 Kant-Gesellschaft. An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft (Betrifft Bezahlung des Beitrages für 1921). Im Namen der Geschäftsführung richtet der Unter- zeichnete an diejenigen Mitglieder, die den Jahresbeitrag für 1921 noch nicht eingezahlt haben, folgende dringliche Bitte: 1. diesen Jahresbeitrag möglichst umgehend einzusenden ; 2. eine möglichst grosse Erhöhung des Jahresbeitrages vorzunehmen ; 3. den Namen recht deutlich zu schreiben, auch die ge- nauere Adresse hinzuzufügen. Es kommt oft vor, dass der Name ganz unleserlich geschrieben wird, bisweilen auch völlig fortbleibt, sodass der Geschäftsführung da- raus ebenso grosse als unnötige Umstände erwachsen. Sämtlichen Mitgliedern ist vor mehreren Wochen eine Zahlkarte zugestellt worden, durch die die Einzahlung er- folgen kann. Denjenigen Mitgliedern, die diese Zahlkarte nicht zur Hand haben sollten, teilen wir mit, dass die Ein- zahlung erfolgen kann an: Deutsche Bank, Depositenkasse W, Berlin W. 15, Uhlandstr. 57, Zahlkartenkonto Nr. 1023. Es ist aber unerlässlich, recht deutlich anzugeben, dass die Einzahlung für das „Konto der Kant-Gesellschaft" be- stimmt ist, damit kostspielige und zeitraubende Rückfragen vermieden werden. Die Geschäftsführung: i.A.: Lieb er t. Zur siebenten (Jubiläums)-Preisaufgabe. Im Oktober 1913 schrieb die Kant-Gesellschaft ihre siebente (Jubi- Iäum8)-Preisaufgabe aus über das Thema: „Der Einfluß Kants und der von ihm ausgehenden deutschen idealistischen Philosophie auf die Männer der Beform- und Erhebungszeit", bei einer Dotierung von 1500Mk. für die beste, von 1000 Mk. für die 270 Kant-Gesellschaft. zweitbeste und von 500 Mk. für die drittbeste Bearbeitung. Die dazu nötigen Summen sind uns damals von den verschiedensten Seiten gestiftet worden. Nach mehrfacher, durch die . kriegerischen Verhältnisse bedingten Ver- schiebung des Ablieferungstermins teilten wir dann mit (Kantstudien Band XXII, Heft 1—3, Seite 204), daß das endgültige Datum erst später be- kannt gegeben würde. Im Einverständnis mit den 3 Preisrichtern, den Herren Professoren Max Lenz, Hamburg, Friedrich Meinecke, Berlin, Eduard Spranger, Berlin, gaben wir in Band XXIV, Heft 3, Seite 360 bekannt, daß das Datum für die Ablieferung der Arbeiten für jene Preisaufgabe auf den 22. April 1921 angesetzt worden ist. Es sind nun 3 Bewerbungsschriften eingeliefert worden; 1. Motto: »Das Zeitalter kann nur durch den Geist geheilt und gekräftigt werden11. E. M. Arndt. 120 Seiten, Folio Handschrift. 2. Motto: »Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal.u Jean Paul. 179 Seiten. Quart Handschrift. 3. Motto: »Zur Form.'1 91 Seiten. Folio Maschinenschrift. Diese Bewerbungsschriften sind nunmehr der Preisrichtern übergeben worden. Als Preisrichter sind folgende Gelehrte gestellt: Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Lenz, Hamburg, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Meinecke in Berlin, Prof. Dr. Spranger, Berlin. Das Ergebnis der Konkurrenz wird spätestens bei der nächsten Gene- ralversammlung der Kant-Gesellschaft Pfingsten 1922 mitgeteilt werden, und wird sowohl durch die „Kantstudien", als durch die gelesensten Tages- zeitungen bekannt gemacht werden. Anfang Mai 1921. Die Geschäftsführung der Kantgesellschaft Vaihinger. Liebert. Ortsgruppe der Kantgesellschaft Basel. Bericht über das Vereinsjahr 1919/20. In den Jahren 1916 — 18 hatten sich in Basel etwa ein Dutzend Mitglieder der K.-G. angeschlossen. Allmählich kam der Gedanke auf, man wolle sich zu einer Ortsgruppe zusammenschließen. Diese Absicht, die durch mehrmahlige persönliche Anwesenheit Prof. Lieberts kräftig unter- stützt und gefördert wurde, verwirklichte sich im Herbste 1919. Mitte Oktober fand die konstituierende Sitzung statt. Her Prof. Joel übernahm den Vorsitz ; ihm wurde ein geschäftsführender Ausschuß beigegeben, damit er selbst nicht mit den Verwaltungsgeschäften belastet sei. Der ungünstigen Zeitumstände halber verzichteten wir zunächst auf eine öffentliche Veranstaltung und versandten im Dezember 1919 ca. 100 Cirkulare, die zum Beitritt einluden und die Ziele der K.-G. sowie der Ortsgruppe darlegten. Der Erfolg war erfreulich; im Laufe des ersten Vereinsjahres konnten wir ca. 70 Mitglieder gewinnen. Wir hielten im' Kant-Gesellschaft. 271 Jahre 1920 sieben Sitzungen mit Vorträgen ab: am 10. II. 1920 spraclt Herr Prof. Heinzelmann über die „Religionsphilosophische Arbeit der Windelband'schen Schule", und am 12. März Herr Priv.-Dozent Dr. v. Ols- hausen über die Frage: „Ist Spinoza Mystiker?" Den ersten Vortrag im S.-S. 1920 hielt Herr Dr. P. Ph. Hoffmann (Dresden) über „Die Weltan- schauung Indiens". Auch für die nächsten Sitzungen ließen sich auswärtige Gelehrte gewinnen: am 10. VI. sprach Herr Prof. Medicus (Zürich) über „Gewissen und Gemeinschaft in der kantischen und nachkantischen Philo- sophie" (gedruckt in den Nummern 1259, 1265, 1272 und 1278 der Neuen Zürcher Zeitung 1920), am 25. VI. Herr Prof. F. Brie (Freiburg i. Br.) „Ueber aesthe tische Weltanschauung" und am 11. X. Herr Prof. Liebert (Berlin) über „Das Problem der Wahrheit". Endlich hielt Herr Prof. Matthies (Basel) ein ausführliches Referat über die „Relativitätstheorie". Der Besuch der Vorträge, an die sich stets Diskussionen anschlössen, kann mit 30 — 100 Teilnehmern als relativ gut bezeichnet werden, wenn man bedenkt, daß wir, um z. Zt. noch Mißdeutungen einer Propaganda in den Zeitungen zu vermeiden, stets nur persönlich durch Karten einluden. Zur Deckung der Unkosten (Portoauslagen, Drucklegung des Zirkulars und der Einladungskarten, Honorare an auswärtige Referenten etc.) hat ein hochherziger Spender, der unbekannt bleiben will, eine ansehnliche Summe gestiftet. Außerdem haben wir im 1. Vereins jähr von den Mitgliedern der Ortsgruppe, die nicht der Berliner Hauptgesellschaft angehören, einen Bei- trag von 3 Fr. erhoben j von jetzt an soll er bei allen Mitgliedern einge- zogen werden. Ich glaube, die Basler Ortsgruppe hat sich trotz mancher ungünstigen Verhältnisse konsolidiert. Es gilt nun noch weitere Kreise zu gewinnen, damit wir wirklich, wie es im Zirkular heißt, ein „Sammelpunkt für die vielerlei philosophischen Interessen Basels" werden. Für den geschäftsführenden Ausschuß des Vereinsjahres 1919/20: Peter Thurneysen, z.Zt. in Sahen (Kt. Graubünden). Ortsgruppe Halle. Bei dem mächtig aufblühenden Interesse für Weltanschauungsfragen und den damit zusammentagenden mannigfaltigen philosophischen Bestre- bungen unserer Zeit besteht die Absicht, wie in Berlin, Hamburg, Kiel, München, Basel, Breslau, Dresden, Leipzig u. a. auch in Halle einen Sammelpunkt aller dieser Richtungen durch Begründung einer Ortsgruppe der Kantgesellschaft zu schaffen. Der Name Kant bedeutet dabei die Aufforderung zu vertiefter philosophischer Arbeit jeglicher Art. Ver- treter der verschiedensten philosophischen Anschauungen sollen zu Worte kommen und in Vorträgen und Diskussionsabenden sich zu gemeinsamer Arbeit vereinigen. Zu diesem Zwecke gedenkt die Leitung der Ortsgruppe die ver- schiedenen Gebiete der Wissenschaft, der Lebens- und Kulturfragen in philosophischen Vorträgen mit anschließen- der Diskussion behandeln zu lassen. Falls das Bedürfnis vor- 272 Kant-Gesellschaft. banden ist, wird Herr Dr. Wich mann in Abständen von je 14 Tagen einfachere philosophische Aussprachen und Uebungen über verabredete Texte (abends 8^2 Uhr) abhalten. Wer an diesen Uebungen teilzunehmen wünscht, wird gebeten, sich schriftlich oder am ersten Vortragsabende bei Herrn Dr. Wichmann persönlich zu melden. Die Vorträge werden im allgemeinen in den akademischen Monaten (Mai — Juli und November — Februar) gehalten werden. Der Eintrittspreis in den Einzel vortragen beträgt 2. — Mk. (Am Eröffnungsabend ist der Eintritt frei). Mitglieder der Kantgesellsch af t und Mitglieder der Hallenser Ortsgruppe haben zu allen Vorträgen freien Zutritt. Anmeldungen zur Ortsgruppe sind unter Entrichtung von 8. — Mk. Jahresbeitrag (für Studierende 5. — Mk.) zu richten an den Vor- sitzenden Privatdozent Dr. Ottomar Wichmann, Halle, Herderstraße 10. Dieser ist auch gern erbötig, den Beitritt zur Kantgesellschaft zu vermitteln. Für den letzteren Zweck kann man sich auch direkt an Prof. Dr. A. Liebert, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48 wenden. (Beitrag 20. — Mk., dafür: die „Kantstudien", wissenschaftliche Zeitschrift von jährlich 4 Heften und die Ergänzungshefte zu den Kantstudien, sowie Vorträge und Neu- drucke). Alle Freunde der Philosophie sind gebeten, durch ihren Beitritt, sei es zur Ortsgruppe, sei es zur Kantgesellschaft ihr Interesse an unseren Bestrebungen zu bekunden und durch Verbreitung unserer Gedanken und Absichten mitzuarbeiten an dem Ziel einer wechselseitigen Befruchtung und Förderung aller geistigen Richtungen und Weltanschauungen. Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Wilhelm Fries, Prof. Dr. P. Menzer, z. Zt. Rektor d. Univ., Prof. Dr. Max Frischeisen-Köhler, Geh. Ober- Reg.-Rat Dr. Meyer, Kurator d. Univ., Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Ger- hard, Generaldirektor Dr. W. Scheithauer, Geh. Kommerzienrat Dr. phil. Dr med. H. Lehmann, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. H. Vai hinger, Paul Lehmann, Verlagsbuchhändler, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Th. Ziehen, Privatdozent Dr. Ottomar Wichmann (Vorsitzender der Ortsgruppe). Erster Abend. Im Auditorium IX, Universitäts-Hauptgebäude. Freitag, den 4. Februar 1921, 8 Uhr. 1. Eröffnungsvortrag Sr. Magn. Prof. Dr. P. Menzer; Die Persön- lichkeit Immanuel Kants. 2. Dr. Ottomar Wichmann: Das philosophische Bedürfnis der Gegenwart. 3. Diskussion. Zweiter Abend. Im Auditorium maximum. Donnerstag, den 24. Februar 1921, 8 Uhr. 1. Vortrag des Herrn Prof. Dr. Max Frischeisen-Köhler: Das Problem des Irrationalen. 2. Diskussion. Kant-Gesellschaft. 273 Als weitere Veranstaltungen sind in Aussicht genommen : Vortrag des Herrn Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Mie: Das Wesen der Materie. „ „ „ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Th. Ziehen: Grundpro- bleme der Erkenntnistheorie. „ „ „ Dr. Raymund Schmidt-Leipzig: Der Wahrheits- begriff in der Philosophie des Als-Ob. „ „ Prof. Dr. Hellmuth Wolff: Die Fiktionen in der St aats Wissenschaft. „ ' „ „ Privatdozent Dr. Wolf gang Liepe: Hölderlins Stellung zum Kritizismus im Spiegel seiner Dichtungen. „ „ „ Studienrat Haas: Oswald Spengler und die Grundfragen der Geschichtsphilosophie. „ „ „ Privatdozent Dr. Ottomar Wichmann: Hellenen- tum und Piatonismus. „ ,, „ Privatdozent Dr. Thurnwald: Grundfragen der Völkerpsychologie. Es ist ferner eine Diskussion über die verschiedenen höheren Schul- gattungen geplant, im Anschluß an drei Vorträge, die den Weltan- schauungsgehalt der einzelnen Schularten behandeln. 1. Die Oberrealschule. Studienrat R. Walckling. 2. Das Gymnasium. Privatdozent Dr. 0. Wichmann. 3. Das Realgymnasium. (Es sind noch Verhandlungen mit einem aus- wärtigen Pädagogen im Gange). Ueber religionsphilosophische Themen zu sprechen haben zugesagt Geh. Konsistorialrat Prof. Dr. Lütgert. — Ueber ein kulturphilosophisch- pädagogisches Thema Prof. Dr. Litt -Leipzig. — Ueber andere noch nicht bestimmte Themen Geh. Reg. -Rat Prof. Joh. Volkelt- Leipzig und Prof. Dr. Bergmann -Leipzig. Alle Anfragen, Angebote und Hinweise sind zu richten an Privatdozent Dr. Wichmann, Halle, Herderstr. 10. Ortsgruppe Hannover. Gründung. Am 8. März d. J. ist auch in Hannover eine Ortsgruppe gegründet worden. Deren Arbeit beginnt im Herbst. Die Sitzungen und Vorträge sollen alljährlich in die Monate September bis April gelegt werden. Die bei der Gründungssitzung anwesenden Mitglieder der Hauptge- sellschaft stimmten den vom unterzeichneten Einberufer skizzierten Ziel- gedanken zu. Diese decken sich im Wesentlichen mit denen der bereits bestehenden Ortsgruppen, die auch das Vorbild für den äußeren Rahmen der Verwirklichung dieser Pläne lieferten (Diskussionsabende und öffentl. Vorträge). Danach sollen sich die Ziele abgrenzen gegen die der Volks- hochschulen und des am Ort befindlichen Euckenbundes. Natürlich ist ein Kantatudien XXVI. 18 274 Kant-Gesellschaft. reibungsloses Nebeneinanderarbeiten mit diesen Bestrebungen erwünscht. Während aber diese in erster Linie auf die Erziehung breiter Massen und eine sittliche und intellektuelle Lebensumgestaltung abzielen, will die Orts- gruppe eine durchaus wissenschaftliche Gesellschaft sein, deren Pfleg'e der Theorie gilt. Als Arbeitsgegenstände kommen sämtliche Wissens- und Lebens- gebiete in Frage, soweit sie philosophischer Art sind. Darin liegt schon, daß nicht nur an strenge Fachphilosophie gedacht sein kann, sondern an alle Grenzgebiete, ja schließlich an alle wissenschaftlichen Gegenstandsge- biete nach ihrer grundbegrifflichen Seite hin. Dabei soll versucht werden, immer mehrere hintereinanderliegende Veranstaltungen um einen Ideen- komplex zu gruppieren, z. B. um Spenglers Buch (etwa : Spenglers Auf- fassung von der Physik, desgl. von der Mathematik, von der Kunst, von der Musik, von der Kultur, vom Bewußtsein, von der Seele, von der Ge- schichte, von der Keligion, speziell vom Christentum, vom Staat usw.) oder um Husserls Phänomenologie oder um die Frage der Durchdringung der Schulfächer mit philosophischem Geiste u. a. Geplant sind Kurse zur Einführung in die philosophische Proble- matik, die sich über mehrere Semester in systematischem Aufbau erstrecken sollen mit dem Endziel, vorzubereiten auf eine verständnisvolle Teilnahme an den Diskussionsabenden. Die Durchführung der Pläne erfordert Geld. Wir bitten, kapital- kräftige Kreise für unsere Bestrebungen zu erwärmen. Erfreulich ist, daß die Mitgliederwerbung unter der Hand Erfolge hatte. Von 17 Mitgliedern aus Stadt Hannover bei der Gründung stieg die Zahl sofort damals auf mehr als 30, ohne daß eine größere Veranstaltung bislang stattgefunden hat. Der Jahresbeitrag für die, die nur Mitglieder der O.-G. sind, ist auf 12 Mk., für Studenten auf 8 Mk. festgesetzt. Die Zusammenkünfte zu Diskussionsabenden sollen möglichst jeden ersten Dienstag der Monate September bis April sein. Das Nähere besagt eine besondere Einladung. Auskunft erteilt: Studienrat Grimme. Anschrift: Hannover - Laatzen, Lindenplatz 10. Telefonisch zu erreichen während der Schulzeit unter No. 7320 (Oberrealschule am Clevertor). Ortsgruppe Karlsruhe i. Baden. Aus kleinen Anfängen ist unsere Ortsgruppe, über deren Gründung, erste Sitzungen und Vorträge im Jahre 1919 in Bd. 25 der „Kantstudien" (S. 75 f.) berichtet wurde, zu einer stattlichen Vereinigung herangewachsen, die hoffen darf, ihr Ziel zu erreichen : zum Sammelpunkt der philosophischen Bestrebungen unserer Stadt zu werden. Sie sucht die Aufgabe zu ver- wirklichen, einerseits durch öffentliche Vorträge, anderseits durch die Ver- anstaltung wissenschaftlicher Abende, bei denen eine gemeinsame Lektüre von Klassikern der Philosophie vorgenommen wird oder Referate mit an- schließender Diskussion über bestimmte Probleme gehalten werden, um nun im Einzelnen in die eigentliche philosophische Arbeit einzufuhren, aber auch im Anschluß an Vorträge einen Gedankenaustausch über Fragen gegenwärtiger Forschung unter Fachgenossen herbeizuführen. Kant-Gesellschaft. 275 Die im Jahre 1919 mit einem einführenden Vortrag von Dr. E. Un- gerer begonnenen Uebungen über Kants „Prolegomena" wurden 1920 fort- gesetzt; am 14. I. behandelte Prof. Dr. H. Leininger-Karlsruhe die Frage: „Wie ist reine Mathematik möglich?", am 10. III, sprach K. Herrmann- Karlsruhe über: „Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?", am 14. IV. Dr. E. Kraus-Heidelberg über: „Wie ist Metaphysik möglich?". Am 28. I. 20 hielt Dr. Kraus eine öffentlichen Vortrag über den „System- gedanken in der Philosophie". Am 12. Mai 1920 fand die erste Jahresversammlung statt, wo der Unterzeichnete zum 1. Vorsitzenden und Geschäftsleiter, Dr. Kraus-Heidel- berg als auswärtiges Mitglied des Vorstandes gewählt wurde. Der Jahres- beitrag für Mitglieder der Hauptgesellschaft wurde auf 3 Mk., für andere Ortsgruppenmitglieder auf 1 0 Mk. festgesetzt. Im Sommer 1920 fanden zwei weitere wissenschaftliche Sitzungen im Anschluß an Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger- licher Absicht" statt, bei denen am 22. VI. Prof. A. Kreuzer-Karlsruhe über „Mensch und Gesellschaft. Eine Einführung in Kants Geschichts- philosophie" und Dr. E. Ungerer über „Kants Teleologie" sprachen, am 14. VH. Prof. Dr. H. Kinkel-Karlsruhe über den „Völkerbund" als Ziel der Geschichte". Im Winterhalbjahr fanden im Großen Rathaussaal (mit einer Aus- nahme) die folgenden öffentlichen Vorträge statt, die durchweg gut (etwa 200 Zuhörer), die an zweiter Stelle genannten sogar glänzend (etwa 500 Zuhörer) besucht waren: Prof. Dr. A. Liebert-Berlin : „August Strindberg, seine Weltanschauung, seine Kunst" am 16. X. 20. Prof. Dr. C. Boehm-Karlsruhe : „Einführung in die Theorie der Re- lativität. I. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Einsteinschen Theorie" am 7. XII. 20. II. „Die mathematischen Grundlagen der Theorie in elementarer Be- handlung" am 14. XII. 20 (dieser zweite Vortrag im Großen Maschinen- bauhörsaal der Techn. Hochschule). Prof. Dr. A. Drews - Karlsruhe : „Der Monismus E. v. Hartmanns" am 14. I. 21. Ernst Krieck-Mannheim : „Erziehung" am 27. IV. 21. Die drei ersten wissenschaftlichen Abende galten der Besprechung der „neueren Entwicklung der Theorie der Materie" : am 27. X. 20 sprach Prof. Dr. A. Reis -Karlsruhe über den „Aufbau der Materie (Atome Mo- lekeln, Kristalle)", am 3. XI. über den „Mechanismus physikalischer und chemischer Vorgänge (eine Einführung in die Quantentheorie)" ; am 14. XI. behandelte Prof. Dr. A. v. Antropoff-Karlsruhe die Frage : „Ist die Exi- stenz der Atome bewiesen?" An den drei folgenden wissenschaftlichen Abenden wurden im An- schluß an Descartes' „Discours de la methode" Referate und Besprechungen abgehalten, wobei am 22. XII. 19 Dr. E. Kraus-Heidelberg über das „er- kenntnistheoretische Grundproblem bei Descartes", am 4. II. 20 Prof. A. Kreuzer-Karlsruhe über das „metaphysische Grundproblem bei Descartes", am 9. II. Prof. Dr. H. Leininger-Karlsruhe über „die Naturphilosophie und 18* 276 Kant-Gesellschaft. Psychologie Descartes'" und Prof. Dr. E. TJngerer über „das System der Descartes'schen Philosophie" sprachen. Zwei weitere Abende galten Oswald Spenglers „Untergang des Abend- lands", wobei am 23. II. Prof. Dr. A. Fr. Raif -Karlsruhe in „die Grundge- danken des Spenglerschen Werks" einführte, während am 2. III. Prof. Dr. K. Schück-Karlsruhe eine „Kritik der Spenglerschen Geschichtsphilosophie" gab. Am 13. IV. sprach Prof. Dr. E. TJngerer über „Teleologie und Vitalismus in der Biologie der Gegenwart", am 11. V. Dr. E. Kraus- Heidelberg über „Husserls Phänomenologie". Seit Gründung der Ortsgruppe am 18. Oktober 1919 haben also acht öffentliche Vorträge und sechzehn wissenschaftliche Abende statt- gefunden, mit welch letzteren stets eine meist sehr rege Diskussion ver- bunden war. Die wissenschaftlichen Abende fanden bis Juli 1920 im mineralogisch -geologischen Hörsaal der Technischen Hochschule, von da ab im Hörsaal II des Chemischen Instituts der Technischen Hochschule statt, wofür wir den Direktoren, Prof. Dr. Paulcke, Prof. Dr. Bredig und Prof. Dr. Pfeifer herzlichen Dank schulden. In erfreulichster Weise stieg unsere Mitgliederzahl. Gab es zur Zeit der Gründung der Karlsruher Ortsgruppe in Karlsruhe und den Nachbar- städten 8 Mitglieder, so zählt unsere Ortsgruppe jetzt insgesamt 152 Mit- glieder. Den Hauptaufschwung brachte die Ankündigung der Veran- staltungen für das Winterhalbjahr 1920/21. Ebenso günslig entwickelten sich die finanziellen Verhältnisse der Ortsgruppe. I. Vom Juli 1919—12. Mai 1920. Ausgaben : Einnahmen : Zeitungsanzeigen . . 533,40 Mk. Beiträge der Hauptge- Saalmiete 162,50 „ Seilschaft .... 781,26 Mk. Kundschreiben . . . 81,50 „ Mitgliederbeiträge . . 145, — „ Schreibpapier, Um- Eintrittsgeld bei Vor- schläge, Porto . . 65,70 „ trägen 136, — „ Rednerauslagen ... 28, — „ 1062,26 Mk. Hausmeister und Saal- diener 31, — „ Schreibhilfe , . . . 20,— „ Sonstiges 1, — „ 923,19 Mk. Es blieb wohl ein Ueberschuß von 139,07 Mk.; aber von den 1062,26 Mk. Einnahmen hatte die an Mitgliederzahl noch geringe Ortsgruppe nur 281 Mk. selbst aufgebracht. Die schon erwähnte Erhöhung der Beiträge und das Winterprogramm schufen gründliche Besserung. Die diesmalige Jahresabrechnung gestaltet sich folgendermaßen: Kant-Gesellschaft. 277 II. Vom 12. V. 1920—25. V. 1921. Ausgaben Einnahmen Zeitungsanzeigen . . 696,55 Mk. Mitgliederbeiträge 1920 1131, — Mk. Saalmiete 598, — „ Mitgliederbeiträge 1921 55, — ,, Rundschreiben . . . 112,60 „ Eintrittsgeld bei Vor- Schreibpapier, Um- trägen 1824, — „ schlage, Porto . . 125, — „ Eigene Einnahmen der Rednerauslagen . . . 24,— „ Ortsgruppe . . . 3010, — Mk. Hausmeister und Saal- Zuschuß der Hauptge- diener 164,— „ Seilschaft .... 300,— „ Schreibhilfe und Vor- 3310 jtt" tragskasse. 60,- „ Uebert vom letzten Kosten des Scheck- Geschäftsjahr. . . 139,07,, kontos 22,42 „ J „, ' " Mitgliedskarten . . . 34,- „ 3449>07 Mk- Sonstiges 45,30 „ 1881,87 Mk. Es bleibt also ein Uebertrag von 1567,20 Mk. ins neue Geschäftsjahr, wovon 1377,03 Mk. auf dem Scheckkonto (26373 Karlsruhe) stehen, sodaß die Ortsgruppe einigermaßen beruhigt den allerdings dauernd sich stei- gernden Ausgaben für ihre Vorträge und wissenschaftlichen Abende im kommenden Jahr entgegensehen kann. Am 25. V. 21 fand die 2. Jahresversammlung statt, wo nach einem Arbeits- und Kassenbericht des Vorsitzenden ihm nach dem Antrag von Prof. A. Kistner, der die Rechnungsführung geprüft und in Ordnung ge- funden hatte, hierfür Entlastung erteilt wurde. Weiterhin genehmigte die Versammlung das vom Vorsitzenden vorgeschlagene Arbeits- und Vortrags- programm für den kommenden Winter. Zu öffentlichen Vorträgen sind gewonnen: Prof. Dr. C. Boehm-Karlsruhe, Prof. Dr. H. Driesch-Cöln, Prof. Dr. W. Hellpach-Karlsruhe, Prof. Dr. K. Joel-Basel, Graf H. Keyserling- Darmstadt, Prof. Dr. A. Liebert-Berlin. Weiter wird an drei Abenden Heunes „Untersuchung über den menschlichen Verstand" besprochen werden ; ferner sind vier geschichtsphilosophische Abende, Vorträge über Kants Kos- mogonie, Machs Positivismus, über Wertphilosophie, über die Geschichte der pädagogischen Ideen und über die Rolle der Geschichte in der Biologie vorgesehen, alle Redner, auch für diese wissenschaftlichen Sitzungen, sind bereits gewonnen. Das Geschäftsjahr wird künftig mit dem Kalenderjahr zusammenfallen, die Beiträge für 1921 Anfang Juli, für 1922 im Januar erhoben werden, wo auch die nächste Jahresversammlung stattfinden soll. Der jährliche Ortsgruppenbeitrag für Mitglieder der Hauptgesellschaft beträgt 5 Mk., Beikarten für je ein Familienmitglied 3 Mk., der Jahresbeitrag der übrigen Ortsgruppenmitglieder 10 Mk., Beikarten 5 Mk„ Jahreskarten für Studenten. Primaner und Seminaristen der beiden obersten Kurse 8 Mk. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist für Mitglieder frei; doch können einmal im Jahr bei einem besonders kostspieligen Vortrag halbe Eintrittspreise er- hoben werden. 278 Kant-Gesellschaft. Es wurde ein dreigliedriger geschäftsführendar Ausschuß eingesetzt und die Aufgaben seiner Mitglieder festgelegt. Die einstimmige Wahl ergab als Vorsitzenden Prof. Dr. E. Ungerer-Karlsruhe, Maxaustr. 29, als Schriführer Prof. Dr. K. Schück-Karlsruhe, Klauprechtstr. 32, als Rechner Prof. A. Kistner-Karlsruhe, Stefanienstr. 8 (Postscheckkonto 26373 Karlsruhe). Geschäftsstelle ist die Metzlersche Buchhandlung ("W. Hoffmann), Karlstr. 13. Karlsruhe. Dr. E. Ungerer. Dr. Amrheins „Kants Lehre vom Bewußtsein überhaupt". Von dem vor Jahresfrist frühverstorbenen Seminardirektor Dr. Hans Amrhein erschien 1908 als Ergänzungsheft Nr. 10 zu den „Kantstudien" folgende Schrift „Kants Lehre vom Bewußtsein überhaupt und ihre Weiter- bildung bis auf die Gegenwart" (VIII und 210 S.). Diese Schrift ist eine Dissersation, die aus einer von mir gestellten Preisaufgabe der philosophi- schen Fakultät der Universität Halle hervorgegangen war. Dieses Buch ist vergriffen. Da ich durch ein Versehen mein eigenes einziges Exemplar gelegentlich verschenkt habe, so suche ich auf diesem Wege ein Exemplar zu erwerben, und bitte Mitglieder der Kantgesellschaft oder andere Besitzer des Buches, die seiner nicht mehr bedürfen, mir ihr Exemplar preiswert abzutreten. Ich bitte um Mitteilungen nach Halle, Reichardtstr. 15. Halle, den 1. Februar 1921. Prof. Dr. H. Vaihinger. Zum achten Preisausschreiben der Kant-Gesellschaft Zweite Karl Güttler-Preisaufgabe. Am 22. April 1921 lief die Frist ab, welche zur Bearbeitung der zweiten Karl Güttler-Preisaufgabe gestellt war. Da bis zu diesem Zeitpunkt keine Arbeit eingelaufen war, so wird auf Grund der Zustimmung des Herrn Preisstifters, des Herrn Professor Dr. Karl Gut tler- München, und der drei Preisrichter der Ablieferungs- termin auf den 22. April 1923 festgesetzt. Das Thema lautet: „Kritische Geschichte des Neu-Kantianismus von seiner Entstehung bis zur Gegenwart". Es sind zwei Preise ausgesetzt: Der erste Preis beträgt 1500 Mk.r der zweite 1000 Mk. Das Preisrichterkollegium besteht aus den Herren Professor Dr. Erich A dickes in Tübingen, Professor Dr. Max Frischeisen-Köhler in Halle, Professor Dr. Ernst von Aster in Gießen. Alle näheren, für die Bearbeitung und Ablieferung maßgebenden Be- stimmungen sind unentgeltlich erhältlich von dem stellv. Geschäftsführer Professor Dr. Arthur Liebert, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48. Die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft Vaihinger. Liebert. Kant-Gesellschaft. 279 Kant-Gesellschaft. Neuangemeldete Mitglieder für 1921. Ergänzungsliste 1: Januar— Mai 1921. A. cand. jur. Karl Abenheimer, Heidelberg, Moltkestr. 11. Dr. Achelis, Leipzig, Fockestr. 51. Josef Adler, i. Fa. Strauß'sche Buchhandlung, Frankfurt a. M., Zeil 104. stud. phil. Hans Aengeneyndt, Halle a. d. Saale, Kaiserstr. 21. Hildegard Albrinus, Halle a. Saale , Ziethenstr. 18. Professor Dr. Angersbach, Weilburg a. d. Lahn, Bismarckstraße. stud. jur. Friedrich Anhalt, Berlin-Niederschönweide, Berlinerstr. 59. Geh. Medizinalrat Professor Dr. G. Anton, Halle a. d. Saale, Julius Kühnstr. 6a. Graf Ar co, Berlin-Tempelhof, Albrechtstr. 49—50. Freiherr Oskar von Arnim, Schloß Wiepersdorf , Post Reinsdorf i. d. Mark. Verlagsbuchhändler Heinrich Auerbach, München, Maximilian str. 33. B. Studienrat G. Bader, Denkendorf, Württemberg. Dr. M. H. Baege, Unterstaatssekretär z. D., Berlin-Rahnsdorf-Mühle, Seestr. 16. stud. phil. Siegfried Baer, Heidelberg, Schiffergasse 6. Dr. Marga Baganz, Berlin S 59, Müllenhoffstr. 13. Bahnert, Dresden, Wartburgstr. 20. Geh. Reg.-Rat Friedrich von Balz, Stuttgart, Dillmannstr. stud. phü. Fritz Bamberger, Berlin N. 4, Wöhlertstr. 1. Toni Barda, Berlin-Oberschönweide, Edisonstr. 29. Lehrer Alfons Bartelt, Schömberg i. Schles. Professor Baus er, Nagold, Württemberg. Studienrat Erwin Becker, Oranienburg, Königsallee 22. Lehrer Becherer, Werbelin bei Zschorkau, Bezirk Halle a. d. Saale. Lehrer Becke, Halle a. d. Saale, Yorkstr. 70. Toska Becker, Halle a. d. Saale, Zwingerstr. 5. Ruth Behrens, Buchholz-Friedewald bei Dresden, Hermannstr. 63 d. Dr. Walter Benjamin, Berlin-Grunewald, Delbrückstr. 23. Felicitas Benisch, Dresden-A. Tierärztliche Hochschule, Physiologisches In- stitut. Professor Dr. Berkenbusch, Hannover-Kleefeld, Kaulbachstr. 15. stud. phil. Erna Berlowitz, Berlin-Halensee, Joachim-Friedrichstr. 34. Dr. Betzendörfer, Tübingen, Klosterberg 2. Oberarzt Dr. Birnbaum, Berlin NW., Lessingstr. 10. WillyBlankenfeldt, Halle a. d. Saale, Viktoriaplatz 5. stud. phil. Konstantin Blaßtzück, Halle a. d. Saale, Marienstr. 28. Dr. Edmund Blau, Wien II, Große Schiffgasse 30. Tierarzt Boeck, Neuteich, Freistaat Danzig. 280 Kant-Gesellschaft Sekundarlehrer Eugen Böckli, Bülach, Schweiz. Dr. H. Bohlen, München, Karlsplatz 17a. Seminarlehrer Böhme, Petershagen a. d. Weser, Westfalen. Dr. W. Böhme, Dresden, Müller- Bersetstr. 38. Max Bohmig, Dresden- A., Blasewitzerstr. 21. Reg.-Baumeister Walter Bolz, Berlin-Charlottenburg, Dernburgstr. 4. Justizrat Dr. Julius Bondi, Dresden-A., Gellertstr. 3. Frau Hildegard von Borries, Berlin-Lichtenberg, Magdalenenstr. 2, b. Belitz F. Bornkessel, Berlin- Wilmersdorf, Nassauischestr. 35. Professor Dr. Boruttau, Professor a. d. Universität Berlin, Berlin-Grunewald, Trabenestr. 19. Dr. E. L. Boss, Nürnberg, Glockenhofstr. 32. Dr. phil. Paul Bössneck, Leipzig, Schwägeichenstr. 1. Lehrerin Christine Bourbeck, Dornum, Kreis Norden, Ostfriesland. Dr. Karl Brauch, Mannheim, 0. 7. 1. Professor Dr. N. Braunshausen, Luxemburg, Victor Hugo Avenue 31. W. von Bredow, Charlottenburg, Niebuhrstr. 67. Dr. Carlo Blavet de Briga, Turin, Italien, Via Maia Vittoria 52. Lehrer Otto Brinkmann, Köpenik bei Berlin, Spreestr. 2. Justizrat Dr. Julius Brodnitz, Berlin W 62, Schillstr. 9. Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Robert Brück, Dresden-A., Schnorrstr. 88. Apotheker Alexander Buchner, Stettin, Kurfürstenstr. 3. Frau Bück er, DresdenA., Mosenstr. 15. G. Buckwitz, München, Karlstr. 5. cand. theol. Otto Bückmann, Elberfeld, Augustastr. 34. Frau Dr. Charlotte Bühler, Privatdozentin der Philosophie, Dresden-A., Zelleschestr. 20. Dr. Friedrich Bülow, Leipzig, Dösenerweg 12. Dr. Friedrich Bulthaupt, Bremen-Schwachhausen, Albersstr. 16. Dr. Siegfried Burgstaller, Berlin-Schöneberg, Bozenerstr. 4. stud. rer. pol. W. Büttner, Kiel, Samwerstr. 29. Dr. Alfred Caroli, Mannheim, Max Josephstr. 5. Studienrat Max Carstenn, Göttingen, Wilhelm Weberstr. 14. Professor Dr. Carsun Chang, Peking, China, z. Z. Jena, Erfurterstr. 74. Otto Christmann, Berlin W 30, Nollendorfstr. 17. stud. phil. Walter Clauss, Halle a.d. Saale, Bugenhagenstr. 12. Marcus Cohn, Hamburg, Johnsallee 36. Martin Cohn, Berlin-Schlachtensee, Albrechtstr. 6. Professor Dr. Confucio Cotti, Torino, Italien, Via Baretti 36. Fabrikbesitzer Eugen Czarka, Berlin NW 23, Altonaerstr. 37. D. Dipl.-Ing. Karl Daimler, Halle a. d. Saale, Marienstr. 22. Professor Dr. Daur, Baden-Baden. Dr. Hugo Debrunner, Berlin-Groß-Lichterfelde-West, Weddigenweg 30. Dr. Max Deri, Berlin W 50, Spichernstr. 19. Rudolf Dimpfel, Leipzig, Talstr. 17. Frau Dr. med. Dorothea Dietrich, Dresden-A., Albrechtstr. 5. Dr. Dietrich, Bitterfeld, Werk Neustaßfurt. Zahnarzt Hans Dietsch, Dresden-N., Hauptstr. 34. Frau Dr. Dirks en, Breyning per Borkop, Dänemark, Aandsvageanstalten. Provinzialschulrat Geh. Reg.-Rat Ernst Doblin, Berlin-Steglitz, Martinstr. 7. Buchhändler Bernhard Do mm es, Dresden-Blasewitz, Friedrich- Auguststr. 33. Dr. Franz Dornseiff, Lörrach i. Baden. Paul Drees, Petershagen a. d. Weser. Kant-Gesellschaft. 281 cand. med. E. Dubrowitsch, Gießen a. d. Lahn, Bleichstr. 8. Prof. Dr. Karl Durand, Mannheim, Waldparkstr. 27. Fräulein stud. phil. Durst, Dresden-A., Fürstenstr. 18. Dr. J. J. L. Duyvendall, Lektor a. d. Universität Leiden, Leiden, Holland, Wasstraat 33. E. S. Ehrlich, Halle a. d. Saale, Gr. Märkerstr. 3. Hauptlehrer A. Eichler, Halle a. d. Saale, Bollbergerweg 71. Oberstabsarzt a.D. Dr. Einecke r, Dresden-A., Hübnerstr. 26. stud. phil. Walter Eisen, Gießen, Steinstr. 90 bei Prof, Hüter. Frau Dr. Elkisch, Berlin W 15, Sächsischestr. 2. cand. rer. pol. Georg Elsasser, Würzburg, Sieboldstr. 21/22. Marianne Elsässer, Stuttgart, Gymnasiumstr. 28. Dr. Emmerich, Kiel, Wilhelminenstr. 26. Dr. V. Engelhardt, Berlin- Friedenau, Taunusstr. 13. Prof. Dr. Max Epstein, Berlin W 15, Kurfürstendamm 26a. Professor Dr. K. 0. Erdmann, Dresden-A., Reichenbachstr. 61. Dr. Es s wein, München, Keplerstr. 1/0. Studienrat Dr. Max Faerber, Berlin-Charlottenburg, Danckelmannstr. 35. Professor Dr. Otto Fanta, Prag I, starom. nam 21. Dr. Leo Feuchtwange r, München, Liebigstr. 37. Studienrat Fritz Feurig, Dresden-A., Moltkeplatz 1. Ingenieur Franz Feix, Reichenbach .i. Böhmen, Siebenhäuserstr. 204. cand. phil. Ewald Fiedler, Berlin- Wilmersdorf, Lauenburgerstr. 15. Friedrich Fiedler, Halle a. d. Saale, Dieskauerstr. 16. stud. phil. Gerhard Fiedler, Halle a. d. Saale, Moritz Zwingerstr. 10. Lehrer Walter Reinhardt Finken, Rheydt, Rhlnd., Schloßstr. 66. Walter Findeisen, Dresden-N., Kronenstr. 19. Alfred Fischer, Hannover-Linden, Jacobstr. 10. Hugo Fischer, Dresden-N., Jägerstr. 35. Dr. Flechsig, Zschopau bei Dresden, Königstr. Martin Flesch, Heidelberg, Rohrbacherstr. 9. Amtsgerichtsrat Dr. Gerhard Förster, Dresden-Blasewitz, Sommerstr. 18. Frau Dr. Else Franc ke, Leipzig, Humboldstr. 9. Otto Freitag, Niedersedlitz bei Dresden, Gartenstr. 20. Landgerichtsrat Alfred Frey, Rohrbach b. Heidelberg, Panoramastr. Fräulein Dr. Marie Luise Fritze, Altenburg, S.-A., Am Anger 4. Professor Ludwig Fröbel, Villingen i. Baden, Klosterring 6. Lehrer Friedrich Fröde, Dresden-A., Schlüterstr. 46. Dr. Fröhlich, Hirschberg i. Schlesien, Kaiser Friedrichstr. 4. Seminarlehrer Hans Fuchs, Waldau in Ostpreußen. G. stud. Friedrich Gabel, Fischhausen, Bahnhofsstraße. Dr. Richard Gätschenberger, Lohr a. Main. Oberstudiendirektor Professor Dr. Gehmlich, Zwickau i. Sa., Lehrerseminar. Professor Dr. Hans Gehrig, Dresden-A., Liebigstr. 18. Dr. Ing. A. Gellhorn, Halle a. d. Saale , Heinrichstr. 4. Hedwig Gerhard, Mannheim, Rosengartenstr. 7. Rechtsanwalt Dr. Gillis, Breslau 3, Freiburgerstr. 34. cand. med. Walter Glose, Halle a. d. Saale, Lauren tiusstr. 1. stud. phil. Willi Göber, Halle a. d. Saale, Krukenbergstr. 10. 282 Kant-Gesellschaf;. Bankier Erich Goldschmidt, Berlin-Grunewald, Königs- Allee 64. Dr. Edler von Goutta, Halle a. d. Saale, Wettinerstr. 13. Rabbiner Dr. Grabowski, Barmen, Augustastr. 9. Dr. Walter Graetzer, Rechtsanwalt und Notar, Hirschberg i. Schlesien. Dr. med. Grauhorn, Kiel, Chirurgische Klinik. Paul A. G rem ml er, Hannover, Collinstr. 3. Dr. R. Grimm, Hamburg, Kielartallee 16, bei Dräger. Fräulein Dr. Margarete Gfollmus, Heiligengrabe bei Techow i. d. Priegnitz. Heinz Grunewald, Weißenfels a. d. Saale, Langendorferstr. 49. Privatdozent Dr. Georg Gurwitsch, a. d. Universität Petersburg, Berlin-Char- lottenburg, Fritschestr. 56. Dr. med. M. J. Gutmann, München , Maximilianstr. 33. H. Studienrat Haas, Halle a. d. Saale. Germarstr. 6. Margarete Haase, Berlin-Zehlendorf, Potsdamerstr. 47. Luise Habricht, München, Maximilianstr. 3. Paul Hahmann, Halle a. d. Saale, Pfännerhöhe 35. Dr. Julius Hanauer, Berlin, Neue Grünstr. 40. Staatsanwaltschaftsrat Härtel, Dresden-N., Radebergerstr. 34. Regierungsamtmann Dr. Carl Hast, Dresden-N., Albrechtstr. 1. Fräulein Charlotte Haun, bei Frau Ehrlich, Berlin NO 18, Bardelebenstr. 5. Dr. Hausheer, Berlin-Großlichterfelde-West, Weddigenweg 30. stud. jur. Lothar Hecht, Breslau, Gartenstr. 31 bei Frau Fuchs. cand. phil. Oskar Hein, Berlin NW 87, Jagowstr. 30. stud. phil. Karl Heinrich, Braunsberg i. Ostpr., Priesterseminar. Dr. Ernst Heller, München, Trogerstr. 17a. Dr. Heller, Kiel, Forstweg 42. Dr. Marie Hendel, Eberswalde, Schicklerstr. 6. stud. phil. H. Hermann, Leipzig, Thomasiusstr. 26. Privatdozent Lic. Rudolf Hermann, Breslau, Sternstr. 38. Oberlehrer Friedrich Wilhelm Herrmann, Dresden, Bischofsweg 112. Mathilde Hess, Halle a. d. Saale, Hermannstr. 33. stud. phil. Herbert Hirschberg, Heidelberg, Klingentor 16. Professor Dr. Hoff mann, Kiel, Reventlowallee 12. Oberlehrer Dr. E. Hollweg, Oldenburg, Kastanienallee 51* Studienrat Dr. Höltorf, Bremerhaven, Bogenstr. 13. Dr. Hormuth, Kiel, Kirchenstr. 7a. Dr. August Horneffer, München-Solln, Dittlerstr. 5. Studienrat Anna Horwicz, Gelsenkirchen, Ueckendorferstr. 163. Dr. Georg Hübner, Dresden-N., Schillerstr. 25. Fritz Hunger, Dresden-A., Bellingrathstr. 4. Fräulein Margarete Hunger, Dresden-A., Lennästr. 2. Reichsbankinspektor Theodor Hütter, Berlin S 14, Stallschreiberstr. 3. Dr. Wilhelm Israel, Berlin- W., Lützow-Ufer 1. Professor Dr. K. Ito, Berlin-Charlottenburg, ßerlinerstr. 103. Hans Iwant, Halle a. d. Saale, Wilhelmstr. 10. Anne Jacob, Frankfurt a. M., Passavantstr. 8. stud. phil. W. Jahnke, Halle a. d. Saale, Neue Promenade 1 a. Dr. med. Hans Janke, Berlin SW 11, Anhaltstr. 8. Rechtsanwalt Dr. Curt Jansen, Berlin SO 36, Plesserstr. 36. Kant-Gesellschaft. 283 Professor Dr. Karl Jaspers, o. ö. Professor in Heidelberg, Handschuhsheimer- landstr. 38. Geh. Medizinalrat Professor Dr. P. Jensen, Göttingen, Wilhelm Weberstr. 39. K. stud. mus. Erich Kahn, Königstein i. Taunus, Pinglerstr. 1. Studienreferendar Alexander Kakuschke, Breslau 16, Sternstr. 79. Walter Kammerichs, Rheydt i. Rhlnd., Friedhofstr. 43. Dr. Erwin Kamptner, Wien IV, Schönburgstr. 11. cand. rer. pol. Ernst Kaufmann, Mannheim, B. 6. 1. Annie F. Kern per, Hamburg, Sophienterrasse 9. Justizrat Dr. Kemperich, Dortmund. Studienrat Dr. Kerll, Hannover-Linden, Deisterstr. 6. Margarete Kessner, Berlin SO 36, Lausitzerstr. 47. Dr. R. Kiba, Berlin- Wilmersdorf, Mainzerstr. 12. Arno Kirchner, Leipzig-Schleusnig, Könneritzstr. 41. Gerichtsreferendar Otto Kleinrath, Hannover, Podbielskistr. 16. stud. phil. Wilhelm Klemm, Halle a. d. Saale, Reilstr. 89a. Oberstleutnant a.D. stud. phil. Paul Klette, Breslau, Kaiser Wilhelmstr. 158. Eduard Klopfleisch, Dresden-N., Strehlauerstr. 52. Dr. Conrad Knobloch, Breslau, Lothringerstr. 7. H. Knüpf er, Halle a. d. Saale, Blumentalstr. 29. Oberregierungsbaurat Koch, Dresden-N., König Albrechtstr. 18. stud. med. Annemarie Köhler, Leipzig, Eichendorffstr. 31. Rechtsanwalt Hans Kohlmann, Dresden-A., Seestr. 19. Dr. Marie von Kohoutek, Berlin-Grunewald, Charlottenbrunnerstr. 6. Z. J. Kook, Jerusalem, Palästina. Dr. R. J. Kortmulder, Rotterdam, Holland, Crooswyksche Singel 23a. Lieschen Kötteritzsch, Merseburg a. d. Saale, Gotthardtstr. 21. Lehrerin Th. Kramm, Berlin-Neukölln, Reinholdstr. 8. Rechtsanwalt Dr. Georg Krapf, Dresden-A., Marschallstr. 39. Professor Dr. Oskar Kraus, o. ö. Professor a. d. Universität Prag, Havlicek- platz 8. Otto Kroger, Haale i. Holstein, Post Todenbüttel. Dipl.-Ing. W. Kropp, Dozent a. Polytechnikum, Cöthen i. Anhalt, Aribertstr. 15. Horst Kretschmann-Winckelmann, Berlin W 15, Kurfürstendamm 126. Professor Dr. Josef Krug, Wien 18, Peter Jordanstr. 96. Professor Dr. Fritz Kühner, Eisenach, Wernickstr. 15. stud. ehem. Albrecht Kümmel, Halle a. d. Saale, Uhlandstr. 18. Johannes Kupfer, Geithain. A. Lange, Berlin W., Schaperstr. 4. Oberlehrer Dr. Johannes Lange, Bremen, Osterdeich 107a. Lehrer W. Lange, Potsdam, Waisenstr. 36. Rabbiner Dr. Ch. Lauer, Biel, Schweiz. Lektor Dr. Lavoipiere, Halle a. d. Saale, Wielandstr. 12. Franz Leclercq, Leipzig, Robert Schumannstr. 12. Walter Lebenstein, Issum, bei Geldern. Fritz Levinger, Berlin W, Pragerstr. 29. cand. jur. Victor Leysieffer, Leipzig, Hardenbergstr. 49. Milda Lieberwirth, Borsdorf bei Leipzig, König Albertstr. 10. stud. phil. Adalbert Liebster, Leipzig-Co., Windscheidstr. 34. cand. med. Erich Lindemann, Gießen, Loebershof 6. Referendar Kurt Lindemann, Berlin-Dahlem, Parkstr. 6. Lehrer F. Lindhorst, Hannover, Friedastr. 151. Dr. Alexander Loehl, Leipzig, Mozartstr. 2. 284 Kant-Gesellschaft. Dr. A. Lörcher, Studienrat, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. 16. Dr. Erich Loewenthal, Berlin-Halensee, Johann Georgstr. 11. cand. phil. Margarete Lubowski, Berlin W 62, Kleiststr. 29. Privatdozent Dr. Paul Luchtenberg, Lennep, Rheinland, Schillerstr. 22. m. , Rechtsanwalt Dr. Diedrich Maase, Düsseldorf, Steinstr. 3. stud. phil. Paul Maennchen, Zwickau i. Sa., Ludwig Richterstr. 13. Lehrer Alwin Mai, Dresden-A., Hindenburgstr. 7. cand. med. Fritz Mainzer, Frankfurt a. M., Arndtstr. 1. Rechtsanwalt Dr. Fritz Mangold, Hamburg, Maria Luisenstr. 94. Postsekretär Johannas Märker, Dresden-Strehlen , Robert Kochstr. 1. cand. phil. J. Marschak, Heidelberg, Blumenthalstr. 24. Studienrat Dr. Martini, Dresden-Blasewitz, Seidnitzerstr. 9. Dr. Johannes Marx, Budapest 5, Rudolfter. 6. Heinrich Mehlich, Dölau, Bez. Halle. Dr. Friedrich Meier, Dresden, Leipzigerstr. 136. Postsekretär Bruno Mende, Dresden-N., Großenhainerstr. 129. Geh. Schulrat Menke-Glückert, Dresden-A., Holbeinstr. 16. stud. phil. Gustav Mensching, Hannover, Hainhölzerstr. 24. stud. theol. Paul Meusers, Viersen i. Rheinland. Dipl.-Ing. Hugo Meyer, Altona, Eimsbüttelerstr. 60. Landrichter Dr. Edmund M.ezger, Privatdozent, Tübingen, Hölderlinstr. 52. Hildegard Michaelis, Berlin-Charlottenburg, Soorstr. 37a. Distriktsarzt Dr. Max Mielck, Dresden-A., Kesselsdorf erstr. 81. Dr. phil. Julius Miesler, Wien III, Weißgärberlände 40. Seminaroberlehrer Dr. Albert Milkner, Dresden-A., Bienertstr. 36. Anna Antonie Möderl, Krailling-Planegg bei München, Margaretenstr. 37b. stud. phil. Karl Möller, München, Neureutherstr. 29. A. Morgenroth, Hamburg, Beneckestr. 22. Professor Dr. Erich Mosch, Berlin W 30, Eisenacherstr. 96. Hana Mühring, Lehrerin, Geestemünde, Schleusenstr. 3. Studienrat Gerhard Müller, Berlin S 61, Baerwaldstr. 8. Rektor Paul Müller, Berlin, Schönhauser Allee 166. Präsident Müller, Kiel, Forstweg 26. Direktor F. Münch, Theologisches Studienstift, Straßburg i. E., Thomasstaden Ib. N. Hildegard Naumann, Halle a. d. Saale, Seebenerstr. 9. Professor Dr. Curt Needon, Dresden-A., Friedrich Wilhelmstr. 84. Dr. Neukirch, Celle, Brückenstr. 10. stud. phil. Otto Neuling, Hannover, Lörchenstr. 17. Studiendirektor Dr. Robert Neumann, Berlin NW., Bochumerstr. i. Nevermann, Kiel, Hospitalstr. 25. Pfarrer Niewerth, Halle a. d. Saale, Am Kirchtor 20. stud. phil. Hermann Noack, Hamburg, Tesdorpfstr. 9. cand. theol. Georg Noth, Loben bei Holzdorf, Bezirk Halle. 0. cand. phil. Ludwig Oppenheimer, Berlin-Lichterfelde, Weddigenweg 44c. stud. jur. Hans J. von Oertzen, Halle a. d. Saale, Magdeburgerstr. 31. Pfarrer Hans Ording, Asak per Tistedalen, Norwegen. M. Osinga, Leiden, Holland, Rapenburg 60. Fräulein Mathilde Otersen, Leipzig, Gottschedstr. 2. Doris Otto, Dresden-Blasewitz, Marschall- Allee 10. Lehrer Fritz Otto, Berlin-Neukölln, Herfurtstr. 33. Kant-Gesellschaft. 285 Heinrich Pabst, Hannover, Haltenhoffstr. 3. Privatdozent Dr. Palyi, München, Mandlstr. 10a. Professor Dr. Pankow, Düsseldorf, Königsallee 19. Dr. phil. Käthe Pariser, Berlin W., Kurfürstenstr. 59. Rechtsanwalt C. Paul, Dresden-A., George-Bährstr. 4. Professor Dr. R. Pauli, a. o. Prof. a. d. Univ. München, Kufsteiner Platz 4. Studienrat F. Pehe, Berlin- Charlottenburg, Fredericiastr. 14. Professor Dr. Petersen, a.o. Professor Heidelberg, Zähringerstr. 51. cand. med. Ernst Petzold, Leipzig, Talstr. 27. Professor Dr. Josef Petzold, Berlin-Spandau, Wröhmänneratr. 6. stud. phil. Reinhold Pfeil, Marburg a. d. Lahn, Wettergasse 1. Studienrat Martin Philipp, Pirna, Elbe, Bahnhofstr. 6. Dr. Leo Polak, Privatdozent a. d. Universität Amsterdam, Holland, Keizers- gracht 687. H. W. Potonie, Berlin-Lichterfelde-West, Potsdamerstr. 37. Dr. Robert Potonie*, Berlin W 30, Nollendorfstr. 31—32. stud. theol. Herbert Propp, Rostock, Kröpelinerstr. 11. Lehrer Walter Przioda, Dresden-Grimma, Hepkestr. 18. Ingenieur Dr. Martin Radt, Hermsdorf i. Sa.-Altenburg. Ernst Ranft, Dresden-A., Katharinenstr. 21. Ingenieur Gustav Rauch, Hamburg, Stadthausstr. 3. Oberbahnhofsvorsteher Arthur Raue, Dresden-A., Prinzeß-Luisenstr. 8. Lehrer Recke, Halle a. d. Saale, Yorkstr. 70. Dr. Fr. Reichert, Heidelberg, Ziegelhäuser Landstr. 45. cand. jur. Hans Reif, Leipzig, Kaiserin Augustastr. 57. Lehramtsassessor Georg Reimheer, Lollar, Kreis Gießen. cand. ehem. H. Reinhold, Halle a. d. Saale, Ludwig Wuchererstr. 56. stud. phil. Albert Reps, Leipzig, Dufourstr. 11. Dr. W. Rettich, Lauterberg i. Harz. Pfarrer Ribstein, Oos, bei Baden-Baden. Lehrerin Else Riedel, Frankfurt a. M.-Eschersheim, Landgraf -Philippstr. 3. cand. phil. S. Ries er, Laupheim, Württemberg, Kapellenstr. 23. Freiherr von Ripperda, Fischhausen i. Ostpreußen. Studienrat C. Roebling, Berlin-Steglitz, Schloßstr. 17. Landgerichtsrat Rogge, Memel, Sandkrug. Studieninspektor Rohkohl, Naumburg a. Queis, Evang. Predigerseminar. stud. phil. Ernst Rose, Leipzig, Fockestr. 11. stud. phil. Edgar Rosenau, Frankfurt a. M., Wolfsgangstr. 90. Fräulein Studienrat Roseno, Berlin-Charlottenburg, Mommsenstr. 20. Dr. med. Curt Rößler, Dresden-A., Pragerstr. 27. Fräulein Wera Rostocil, Berlin-Lichterfelde-West, Knesebeckstr. 9. S. Rutmann, Berlin NW 52, Alt-Moabit 109. S. cand. jur. Max Sachs, Berlin W, Nürnbergerplatz 4." Paul Sachse, Weißenfels a. d. Saale, Langendorferstr. 49. Orchan Sadeddin, Gießen, Neuenbaue 22. Lotte Salomon, Berlin NW 52, Werftstr. 8. Dr. Salzberg, Hamburg, Hansastr. 47. cand. jur. Rudolf Samson, München, Leopoldstr. 64. Dr. med. Max Seber, Dresden-A., Teutoburgstr. 3. Professor Dr. Erich Seeberg, Königsberg i. Pr., Krugstr. 1. Professor Dr. Anton Seibt, Wien 18, Dittesgasse 2. 286 Kant-Gesellschaft. Rechtsanwalt Dr. Julius Seligsohn, Berlin W 15, Kurfürstendamm 23. Frau Berta Seiinge r, Leipzig, Keilstr. 3. Dr. E. Senn, Alzey, Weinruf str. 57. Generalagent Paul Serauky, Halle a. d. Saale, Schmerstr. 4. Hofprediger Konsistorialrat Liz. theol. Dr.phil. Siedel, Dresden-N., Hospitalstr. 2B. Dr. Magnus Sieras, Hamburg, Hammersteindamm 52. Erna Silbermann, Frankfurt a. M., Vesenstr. 7. Professor Freiherr Hans von Soden, Breslau, Hedwigstr. 38. Bernhard Graf zu Solms-Laubach, Laubach i. Oberhessen. Gotthard Sonnenfeld, Berlin W, Potsdamerstr. 39— 39a. Dr. med. Oskar Sprinz, Berlin-Schöneberg, Bayerischer Platz 9. Frau Dr. med. Johanna Suppes, Dresden- A., Pragerstr. 40. Sch. Lehrer Schallenberg, Eisenach, Petersberg 36. stud. phil. Herbert Schaller, Leipzig, Dösenerweg 16. Wilhelm Schaunhorst, Bremen, Martinistr. 2. Studienassessor Schecker, Sondershausen, Kyffhäuserstr. 18. Gustav Scheibe, Spandau, Neuendorf erstr. 94. Dipl.-Ing. Elias Schein, Erfurt, Gustav Adolf str. 17. Generaldirektor Dr. Scheithauer, Halle a. d. Saale, Königstr. 9. stud. theol. Erich Schick, Tübingen, Nauklerstr. 41. Privatdozent Dr. Otto Schilling, Dresden-Strehlen, Residenzstr 9. Oberbaurat Kurt Schindler, Dresden-A., Berlinerstr. 65. cand. jur. Karl Schlemmer, Greifs wald, Domstr. 23. Albin Schmidt, Dresden-Hellerau, Breiteweg 50. Geh. Reg.-Rat Eduard Schmidt, Berlin- Friedenau, Wilhelhmshöherstr. 3. stud. phil. Hermann Schmidt, Leipzig, Gohliserstr. 16. Studienrat Jacques Schmidt, Schriftsteller, Datteln i. Westf. Oskar Schmorl, i. Fa. Schmorl & von Seefeld Nachf., Hannover, Bahnhof str. 14. Privatdozent Dr. Paul Schnabel, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. 70. stud. germ. Gerhard Schneider, Dresden, Schumannstr. 66. Postsekretär Schneider, Dresden-A., Pohlandstr. 23. Dr. med. Rudolf Schneider, Meißen a. d. Elbe, cand. theol. Hermann Schneller, Tübingen, Wunzgasse 6. Dr. Schole, Kiel, Fährstr. 8. Dr. I. Schöner, Dresden-A., Hindenburgstr. 13. Studienreferendar Kurt Schoppe, Paderborn, Benhauserstr. 1. stud. theol. D. Schott, Berlin-Charlottenburg, Königsweg 25. Dr. Arthur Schroers, Hamburg, Schanzenstr. 6. Pastor Lic. Schultz, Hamdorf Kr. Rendsburg. Studienassessor Fr. Schulze, Leipzig-Co., Elisenstr. 150, Lehrerseminar. Fräulein Margarete Schumann, Dresden-N., Katharinenstr. 21. Fräulein Emilie Schüssler, Leipzig, Kaistr. 1. Dr. Schuster, Kiel, Jaegersberg 26. Referendar a. D. Schwartz, Halle a. d. Saale, Ludwig Wuchererstr. 73a. Friedrich Schwickerath, Cöln-Bickendorf, Herbigstr. 13. Dr. Schwinkowski, Kustos am Staatl. Münz-Kabinett, Dresden-A., Stephanien- straße 37. St. stud. theol. J. A. Steenbakkeer, Morilyan-Loysen, Utrecht, Holland, Schweden van der Kolkstraat 19bis. cand. rer. pol. Fritz Stein, Schweinfurt, Schultestr. 42. Lehrer 0. Steinert, Schadewalde bei Marklissa, Schlesien. Studienrat Steinhoff, Hannover-Linden, Davenstedterstr. 24. Lehrer Otto Stelzer, Dresden-A., Töplerstr. 6. Kant-Gesellschaft. 287 Lehrerin Gertrud Stern, Chemnitz, Königstr. 26. Frau Maria Stern, Rheydt, Bezirk Düsseldorf, Friedrich Wilhelmstr. 156. stud. jur. et cam. Kurt Stern, Karlsruhe i. Baden, Erbprinzenstr. 11. cand. jur. Rudolf Stocks, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. 41. Dr. Clara Strack, Berlin- Wilmersdorf, Güntzelstr. 32. Regierungsrat von Strauß und Torney, Stade, Hannover, Bahnhofstr. 1. Karl Streit, Dresden- A., Striesenerstr. 21. Dr. med. Walter Stromeyer, München, Prinz Ludwigstr. 7. T. Dr. Johannes Teichmann, Breslau, Klosterstr. 58. Univ.-Professor Dr. Otto Tesar, Königsberg i. Pr., Tragheimer Gartenstr. 6. Dr. Alvin Thalheime r, Baltimore U.S.A. 2400 Entaw Place. Studienrat Adalbert Theel, Spandau b. Berlin, Augustaufer 15. Wilhelm Thies, Karlsruhe i. B., Kriegsstr. 93. Margarete Thomas, Hannover, Lehrenstr. la. Dr. med. A. T h ü m e r, Berlin-Karlshorst, Gundelfingerstr. 43. Kurt Tikotin, Berlin SW 47, Möckernstr. 92. Studienrat Eckehard Tilsner, Berlin- Weißensee, Elsasserstr. 58. cand. theo!. D. Tromp, Utrecht, Holland, 38 Kromme Nieuwe Gracht. ü. Dr. Otto Uebel, Mannheim, B. 6. 20. Rechtsanwalt Dr. Rudolf Uni ig, Dresden- A., Johannisstr. 17. Ingenieur Johann Ueltzen, Bremen, Bülowstr. 15a. V. Pastor Dr. Vahldieck, Halle a. d. Saale, Neue Promenade 3. Postdirektor Vietze, Naumburg a. d. Saale, Lepsiusstr. 25. Ingenieur Georg Villwock, Berlin-Charlottenburg, Knesebeckstr. 5. Fräulein Gertrud Vogel, Halle a. d. Saale, Krukenbergstr. 5. Dr. Vogel er, Kiel, Holtenauerstr. 8. Professor D. Dr. H. G. Voigt, Halle a. d. Saale, Viktoriastr. 1. cand. theol. H. de Vos, Leiden, Holland, Hovigracht 94. w. Studienrat Dr. phil. Dora Wagner, Dresden 18, Löscherstr. 18. stud. phil. Hans Georg Freiherr von Wangenheim-Winterstein, Heidel- berg, Neue Schloßstr. 26. Direktor Wann er, Hannover, Zentralstr. 22. Pfarrer Dr. Warmuth, Dresden-Strehlem , Wasastr. 16. stud. phil. Erich Wege, Halle a. d. Saale, Große Steinstr. 35. stud. theol. Walter Weigel, Breslau, Michaelisstr. 52. Generalarzt Oberregierungs-Medizinalrat Dr. Wilhelm Weigert, Dresden-N., • Jaegerstr. 17. stud. phil. Gerhard Weiler, Berlin- Charlottenburg, Nußbaumallee 34. Studienrat Otto Weißler, Eilenberg, Nordring 24. Hans Wendt, Halle a. d. Saale, Franckesche Stiftungen, Eingang 6. stud. phil. Hans Wenke, Berlin-Pankow, Mühlenstr. 15. Ingenieur Jakob Werner, Berlin-Charlottenburg, Helmholtzstr. 31. Professor Richard Werner, Potsdam, Wilhelmplatz 3. Dr. Wernich, Kiel, Düvelsbeckerweg 7. cand. jur. Eva Wernick, Staaken bei Berlin, Königstr. 93. Rudolf Wertheim, Hamburg, Halleschestr. 6. Professor Dr. Richard Wickert, Dresden, Trinitatisstr. 35. 288 Kant-Gesellschaft. stud. phil. A. Wilentschuk, Berlin-Charlottenburg, Wielandstr. 4. Mittelschullehrer W. Wilke, Weißwasser in d. Oberlausitz, Karlstr. 1. Lotte Willner, Berlin, Nürnbergerstr. 3. cand. phil. Klara Willrich, Heidelberg, Bahnhofstr. 43. M. Windmüller, Rheda, Bez. Minden. cand. jur. Emanuel Winternitz, Wien, Böcklinstr. 49. stud. phil. Erich Wohlfahrt, Leipzig, Sebastian Bachstr. 29. Postsekretär Walter Wohlfarth, Dresden- A., Marschallstr. 46. Frau Pauline Wohlgemuth, Berlin W 15, Meinekestr. 2. Clara Woitschack, Berlin-Lankwitz, Viktoriastr. 6. stud. theol. Friedrich Wolffhardt, Hof a. d. Saale, Wilhelmstr. 48. Dr. Heinrich F. Wolf, New-York, U.S.A. 161 West 86th street. Studienrat Dr. Georg Wolff, Hannover, Siemensstr. 4. Justizrat Dr. Otto Wolff, Altona, Große Bergstr. 266. Dr. Woltemas, Solingen, Körnerstr. 52. Y. Chou Yüan-ping, Schanghai, China, Burkill Road 24, Paulin Hospital. z. Lehrer Robert Zander, Schönberg i. Schles., Kreis Landeshut. Hauptmann a. D. E. Zimmermann, Berlin W 30, Rosenheimerst. 27. Dr. Reginald Zimmermann, Berlin W 30, Nollendorfstr. 28. Paul Zombeck, Dortmund, Wenkerstr. 14. Institute. Berlin: Volkshochschule Groß-Berlin, Berlin NW., Georgenstr. 34 — 36. Mailand: Societa di studi filosofici e religiosi, Mailand, Italien, Via Borgonuova26. /* 1* Die „Materie" in Kants Tugendlehre und der Formalismus der kritischen Ethik.1) Von Dr. phil. Georg Anderson. Es ist wohl allgemein anerkannt, daß Kant in Grdlg. und Kr. d. pr. V. die kritische Ethik in ihren Grundzügen endgültig niedergelegt habe; und dementsprechend pflegt man im Anschluß an diese beiden Werke die Kantische als die formale Gfesinnungs- ethik darzustellen, aus deren Prinzip aller „Zweck" als „Materie" verbannt werden müsse. Der Formalismus gilt geradezu als der entscheidende Punkt, in dem man Kants Ethik angreift und ver- teidigt. Nun ist es aber seltsam und sollte doch zu denken geben, daß der Alte Kant, im Begriffe das doktrinale Geschäft auszu- führen, keineswegs auf jene ehemals gelegten Fundamente mühelos das ethische System aufsetzt, sondern in seiner M. d. S. von neuem zu einer ethischen Prinzipienlehre ausholt. Man sollte vielleicht erwarten, er werde an seine Lehre von der Tugend als „oberstem Gut" (V, 110) anknüpfend die einzelnen Gebote anzugeben suchen, die sich aus dem „einigen" Sittengesetz entwickeln lassen und mit deren Verwirklichung wir uns auf das „höchste Gut" als das, ob- zwar in dieser Welt nicht erreichbare, Ziel hinbewegen. Statt dessen zeigt Kant sich bemüht, eine Tugendlehre im Unterschied gegen die Rechtslehre mit Hilfe des völlig neuen und überraschenden Lehrbegriffs vom objektiven Zweck durchzuführen. Die Ethik als reine Tugendlehre soll objektive Zwecklehre sein. 1) Kant wird zitiert nach dem Wortlaut der Vorländerschen Ausgabe (Phi- los. Bibl.), dazu in Klammern die Band- und Seitenzahlen der Akadem. Ausgabe. Abkürzungen im Text : Kr. d. r. V. = Kritik der reinen Vernunft. Kr. d. pr. V. = Kritik der praktischen Vernunft. Grdlg. = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. M. d. S. = Metaphysik der Sitten. Kantstudien. XXYL 19 290 Georg Anderson, Man hat diesem höchst auffallenden Tatbestand bisher keines- wegs genügend Rechnung getragen. Mag immer der Eindruck des Alterswerkes vielfach befremdlich sein und nicht wenig Ver- legenheiten bereiten, so geht es weder an, nur das anscheinend Unverfängliche, was mühelos zu den beiden früheren ethischen Haupts chriften passen will, herauszugreifen noch die Ausführungen des Alten Kant mißbilligend für geringwertig und nebensächlich zu erklären. Wir halten die Sache vielmehr für wichtig genug, einmal genauer den Gedankengehalt der M. d. S. und sein Ver- hältnis zu der formalistischen „kritischen" Ethik zu untersuchen, wie sie uns durch Grdlg. und Kr. d. pr. V. repräsentiert wird. Überblicken wir zunächst den Gedankenfortschritt in den für unsere Frage entscheidenden Abschnitten I — XI der Einleitung zu den metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre. Abschnitt I zeigt, warum eine Ethik ohne den Begriff des Zwecks nicht auskommen kann, sondern zu dem Begriff eines Zweckes, der an sich selbst Pflicht ist, gedrängt wird. Er weist nach, daß dieser Begriff keinen Widerspruch enthält und wirft schließlich die Frage auf, wie ein solcher Zweck möglich sei. II liefert noch nicht den Nachweis der objektiven Realität dieses neu eingeführten Begriffes; sondern erörtert, welches der beiden denkbaren Arten des Verhältnisses von Zweck und Pflicht das für die Ethik allein mögliche sei, und begründet die Benennung der Zwecke, die zugleich Pflichten sind, als Tugendpflichten. Erst III gibt den Grund an, sich einen solchen Zweck zu „denken". Es muß solche Zwecke „geben", weil der Akt der Zwecksetzung, als praktisches Prinzip genommen, bereits das Pflichtprinzip in sich schließt, und weil die freien Handlungen, die ebenso wie alle andern Handlungen nicht zwecklos gedacht werden können, nur Zwecke dieser besonderen Art haben können. IV endlich teilt inhaltlich die Zwecke mit, die zu haben Pflicht ist: „Sie sind: Eigene Vollkommenheit — fremde Glückseligkeit". V ist eine Erläuterung des Inhaltes dieser Begriffe. VI bringt einen bedeutenden Fortschritt der Erkenntnis: die grundsätzliche Leistung des Zweckbegriffs für das Verhältnis der Ethik zur Rechtslehre innerhalb der allgemeinen Sittenlehre. Der bloß formale Pflichtbegriff der allgemeinen Sittenlehre nämlich läßt die Maximen inhaltlich ganz unbestimmt und enthält nur die negativ-einschränkende Bedingung ihrer Qualifikation zum Gesetz, Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 291 welcher Bedingung ebenso die Rechtspflichten entsprechen müssen. Erst der Begriff des Zwecks, der zugleich Pflicht ist, konstituiert die Ethik als Gesetzgebung an die Maximen der Handlungen, welches allein aus dem formalen Pflichtgedanken heraus nicht zu bewerkstelligen wäre. VII zieht aus dieser Einsicht eine wichtige Konsequenz: Die Ethik gibt Gesetze nicht wie das Recht für die Handlungen, son- dern für die Maximen der Handlungen. Ihre Pflichten sind daher von weiter, die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit. „Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Aus- nahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere .... ver- standen, wodurch in der Tat das Feld für die Tugendpraxis er- weitert wird". „Unvollkommen" also ist hier die Verbindlichkeit zur Handlung, nicht etwa zur Maxime der Handlung. VIII charakterisiert dann die in IV genannten Tugendpflichten, eigne Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit, als weite Pflichten d. h. als Gesetze für die Maxime der Handlungen. IX bringt zunächst "Wiederholungen. Die Tugendpflicht wird nochmals definiert als die Verbindlichkeit zu der Maxime „des Zwecks der Handlungen, der zugleich Pflicht ist, d. i. desjenigen (des Materiale), was man sich zum Zwecke machen soll". Sodann nennt er das oberste Prinzip der Tugendlehre: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann", erläutert dessen Inhalt: „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen" und gibt für diesen Grundsatz eine Deduktion aus der reinen praktischen Ver- nunft. X vergleicht die apriorische Synthese von Pflicht und Zweck in dem eben deduzierten Prinzip der Tugendpflicht mit dem ana- lytischen Prinzip der Rechtslehre und nennt als höchsten unbe- dingten Zweck der reinen praktischen Vernunft die Tugend als ihren eigenen Zweck und Lohn, d. h. die „innere moralisch-prakti- sche Vollkommenheit" (VI, 387). ' Mit einem Schema der Tugendpflichten, das sie ihrer materialen und formalen Beschaffenheit nach und als innere und äußere unter- scheidet, beschließt XI diesen Gedankengang. Hinzuweisen ist nur noch auf den engeren inneren Zusammen- hang zwischen den Abschnitten III und IX. Jener entdeckt zu- erst die apriorische Begriffsverknüpfung von Zweck und Pflicht 19* 292 Georg Anderson, und entwickelt so den Begriff des kategorischen Imperativs, dessen Realität durch die Deduktion von IX gerechtfertigt wird. Inso- fern kann man jene als die metaphysische, diese aber als die transcendentale Deduktion des Prinzips der Tugendpflicht ansehen. Wir können nunmehr versuchen, die über diese Abschnitte verstreute Lehre vom objektiven Zweck in systematischer Zusam- menfassung darzustellen. Ausgegangen sei von der Verknüpfung der Begriffe Handlung und Zweck. Handlungen müssen „jederzeit einen Zweck enthalten" (VI, 397), es kann „keine Handlung zwecklos sein" (VI, 385). Nun gibt es aber subjektive und objektive Zwecke. Die ersteren, die „jeder- mann bat", sind solche, „die der Mensch sich nach sinnlichen An- trieben seiner Natur macht" (VI, 385, 389). Die objektiven sind die Zwecke, die „sich jedermann dazu machen soll" oder „Gegenstände der freien Willkür unter ihren Gesetzen . . . ., welche er [der Mensch] sich zum Zweck machen soll". Die reine Ethik aber setzt den subjektiven Zwecken, die auf Neigungen beruhen und der Pflicht zuwider sein können, als Gegengewicht die objektiven entgegen und kann die Sittlichkeit nur verwirklichen dadurch, daß sie jene diesen unterordnet. So wird der objektive zum morali- schen Zweck, der a priori gegeben sein muß; oder — was das- selbe besagt — in ihm erhalten die Begriffe Zweck und Pflicht eine feste Verbindung a priori. Diese ist folgendermaßen vorzu- stellen : Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nö- tigung und zwar von einem Selbstzwang der freien Willkür durchs Gesetz (VI, 379). Der Zweck aber bedeutet einen „Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener hervorgebracht wird" (VI, 384). Daß man ihn hat, ist nicht etwa Wirkung der Natur, sondern davon, daß man sich den Gegenstand der Willkür selbst zum Zweck ge- macht hat. Jede Zwecksetzung ist ein Akt der Freiheit des han- delnden Subjekts und „ein praktisches Prinzip, welches nicht die Mittel (mithin nicht bedingt), sondern den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet", sonach „ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, mithin ein solcher, der einen Pflicht- begriff mit dem eines Zweckes überhaupt verbindet" (VI, 385). Man verdeutliche sich diese reichlich abstrakten Sätze vor- läufig an folgendem Beispiel: Wer sich die Wahrhaftigkeit aus kluger Berechnung zum Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 293 Vorsatz macht, der macht sie nicht zum Zweck, sondern zum Mittel, mit dessen Hilfe er irgendeinen anderen Zweck zu erreichen hofft. Die Wahrhaftigkeit kann sich zum Zweck machen nur, wer sich unbedingt an sie bindet, oder wer sich ihr verpflichtet weiß. Der Akt dieser Zwecksetzung also verbindet mit dem Begriffe des Zweckes den der Pflicht. Die reine praktische Vernunft aber, die a priori diese beiden Begriffe miteinander verknüpft, ist da- durch zugleich als das Vermögen der Zwecke überhaupt erkannt. Der nächste Schritt, der jetzt zu tun ist, besteht in dem Nachweis, daß es auch „einen solchen Zweck und einen ihm kor- respondierenden kategorischen Imperativ geben" muß. Er gründet sich auf das Faktum, daß es freie Handlungen gibt, und auf die Erkenntnis, daß auch zu diesen wie zu allen Handlungen notwendig Objekte oder Zwecke gehören müssen. Gäbe es nun nur Zwecke die immer nur wieder als Mittel zu andern Zwecken in Betracht kämen, so hätte die praktische Vernunft garnichts kategorisch zu gebieten. Wenn es also überhaupt eine Sittenlehre geben soll, so muß es auch Zwecke für freie Handlungen geben, die kategorisch geboten werden können. Sonach müssen einige Zwecke „zugleich (d. i. ihrem Begriffe nach) Pflichten" sein. Dieses aber sind die Zwecke der reinen praktischen Vernunft; und die Ethik ist das System derselben. Der Begriff der Tugendpflicht ist damit auf- gestellt, sein Sinn erläutert, objektive Realität ihm gesichert. Es bleibt noch das oberste Prinzip der Ethik oder Tugendlehre in Form eines kategorischen Imperativs auszusprechen. Der Grund- satz der allgemeinen Sittenlehre „Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne", enthält nur eine conditio sine qua non, der sich alle Maximen unterwerfen müssen, aber kein wirkliches Gresetz für den Inhalt der Maximen. Auch die dem Zweck der Handlung gegenüber völlig indifferenten Rechts- pflichten müssen dem formalen Prinzip, der Tauglichkeit der Maxime zum allgemeinen Gesetz, genügen. Das Prinzip der Tugendpflichten hingegen muß außerdem und außer dem Begriff des Selbstzwanges einen Zweck angeben, welchen wir haben sollen. Dieser erst ordnet sich die subjektiven Zwecke unter, setzt sich als Materie aus Ver- nunft der Materie aus sinnlichen Antrieben entgegen und gibt da- durch für die Maxime ein positives Gesetz. Er kann es also erst zum positiven Gesetz machen, eine zum allgemeinen Gesetz taug- liche Maxime zu haben. Demnach lautet das oberste Prinzip der Tugendlehre: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu 294 Georg Anderson, haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann". In ihm ist der formale Pflichtgedanke mit dem materialen Zweckgedanken verbunden. Für diesen Grundsatz der Ethik, von dem wir bisher erst wissen, wie er beschaffen sein muß , bedarf es endlich noch einer transcendentalen Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft als dem Vermögen der Zwecke überhaupt, da er in seiner Eigen- schaft als ein kategorischer Imperativ keinen Beweis verstattet. "Wird die reine praktische Vernuft als Bedingung der mög- lichen Zwecke überhaupt gefaßt, so kann „im Verhältnis des Men- schen zu sich selbst und anderen Zweck sein" lediglich das, was vor ihr Zweck ist. Ihrem Begriffe zufolge kann sie dann also keinem möglichen Zwecke gegenüber gleichgiltig und unbeteiligt bleiben, sondern sie muß vermittelst dieser Zwecke auch wirklich die Maximen zu Handlungen bestimmen, oder sie ist nicht „prak- tische Vernunft". „Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebieten, als nur sofern sie solche zugleich als Pflicht an- kündigt, welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt a. Das Prinzip der Tugendpflicht ist damit deduziert. Es richtet die Maxime des handelnden Subjekts auf bestimmte Inhalte d. h. auf objektive Zwecke, die, weil sie von der reinen praktischen Vernunft gesetzt sind, auch in der ebenfalls aus dieser entspringenden rationalen Form d. i. der gesetzgebenden Form der Maxime gewollt werden müssen, die der kategorische Imperativ beschreibt und fordert. Es ist demnach ein Gesetz nur für die Maximen, nicht für die Handlungen, und läßt es unbestimmt, „wie und wieviel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle", es gebietet „weite" Pflichten. Indessen 'nun erhebt sich die Frage, wie wir von dem allge- meinen obersten Prinzip der Tugendlehre zu den einzelnen inhalt- lich bestimmten Tugendpflichten gelangen? Kant gibt dafür einen Fingerzeig, indem er nach Formulierung des Tugendpflichtprinzips erklärt (VI, 395): „Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als anderen Zweck, und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch, gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist an sich selbst des Menschen Pflicht". Der Begriff des Menschen also ist es, deutlicher die rationale Idee der Menschheit zum Unterschiede von der Tierheit (cf. VI, 392), woraus sich die einzelnen Zwecke Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 295 ergeben müssen, die als Pflichten geboten werden können. Indem aber der Mensch sowohl sich selbst als auch jeden anderen Men- schen sich als seinen Zweck zu denken verbunden ist, ergeben sich als Hauptarten die Pflichten der Selbstliebe und der Nächstenliebe oder mit anderen Worten die Pflichten, sich die eigne Vollkom- menheit und die fremde Glückseligkeit zum Zweck zu machen. Allein so neu auch diese „Lehre vom objektiven Zweck" inner- halb der Kantischen Ethik erscheint, und so unzweifelhaft sie erst aus der Notwendigkeit entstanden und verständlich ist, die Tu- gendlehre gegen die Rechtslehre im Ganzen der allgemeinen Moral klar abzugrenzen; ganz ohne Vorgang in der Grdlg. ist sie nicht. Auch hier ist ein Begriff des objektiven Zweckes aufgestellt. Unter „Zweck" zunächst versteht Kant in der Grdlg. „das, was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient" (IV, 427); „und dieser, wenn er durch bloße Vernunft ge- geben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich gelten". Die objektiven Zwecke also beruhen auf „objektiven Gründen des Wollens" oder „Bewegungsgründen", welche für jedes vernünftige Wesen gelten. Im Gegensatz zu ihnen gibt es auch „subjektive Zwecke". Diese beruhen auf subjektiven Gründen des Begehrens oder „Triebfedern" ; es sind die Zwecke oder Objekte, die die Vielheit der Materie des Willens ausmachen oder die Inhalte, die willkürlich und beliebig die Maximen haben; die materialen und relativen Zwecke, die lediglich für uns als Wirkungen unserer Handlungen Wert haben. Sie können demnach bloß hypothetische Imperativen begründen. Die objektiven Zwecke dagegen müssen absoluten Wert haben und sind vorzustellen als Dinge, „deren Dasein an sich selbst Zweck ist". Was aber Zweck an sich selbst ist, das muß not- wendig auch Zweck für jedermann sein, kann also ein objektives Prinzip des Willens ausmachen oder zum allgemeinen praktischen Gesetze dienen. An die Stelle solch eines objektiven Zweckes kann kein anderer Zweck gesetzt werden ; er kann nie zum bloßen Mittel werden. Dann aber liegt „in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs". Damit wäre der Begriff des objektiven Zwecks entwickelt; sein Schwerpunkt liegt darauf, daß er Grund des kategorischen Imperativs sein soll. Es bleibt nun seine objektive Realität zu sichern. Das geschieht durch den Hinweis (IV, 428): „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an 296 Georg Anderson, sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden". Oder an andrer Stelle (IV, 429): „die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst". Und nun ist es möglich, den kategorischen Imperativ zu for- mulieren, den dieses objektive Prinzip — der objektive Zweck — begründet, „woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können". Er lautet: „Handle so, daß du die Menschen sowohl in deiner Person als in 77 ' der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, nie- mals bloß als Mittel brauchst". Wir erblicken den objektiven Zweck, der diesem kategorischen Imperativ zugrunde liegt, die Menschheit als Zweck an sich selbst, nicht etwa de facto bei allen Menschen wirksam, kennen ihn nicht aus Erfahrung und entlehnen ihn nicht daher. Er muß vielmehr „aus reiner Vernunft ent- springen", und es gehört zu seinem Wesen, daß ihn alle vernünf- tigen Wesen haben sollen, und zwar als Gesetz, das die „oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke" ausmacht. Dieser von der vernünftigen Natur sich selbst gesetzte Zweck kann als die „Materie" des guten Willens bezeichnet werden d. h. des Willens, dessen Maxime sich selbst nicht widerstreiten darf und von der Erreichung dieses oder jenes Zweckes abstrahieren muß. Er ist also kein vom Subjekt „zu bewirkender", sondern ein „selbständiger Zweck", nur negativ zu denken, und dahin an- zugeben, daß ihm niemals zuwidergehandelt werden darf. Das Subjekt aller möglichen Zwecke, das vernünftige Wesen selbst, ist demnach die einzige und allgemeinste Bedingung der Freiheit der Handlungen ihrer Materie nach, insofern es „jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß". Schließlich umfaßt das „Reich der Zwecke" alle diese Subjekte als Zwecke an sich selbst und die eignen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag — „ein Ganzes aller Zwecke in systemati- scher Verknüpfung" ; wobei von dem persönlichen Unterschiede der vernünftigen Wesen und dem Inhalt ihrer Privatzwecke ab- gesehen wird. In dieser „Ordnung der Zwecke", der wir als Glieder angehören müssen, können wir uns durch gemeinschaftliche objektive Gesetze verbunden d. h. unter sittlichen Gesetzen denken. Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 297 Insoweit kann man von einer „Lehre vom objektiven Zweck" bereits in der Grdlg. sprechen. Wir können nunmehr zu einem Vergleich übergehen, um darauf das Verhältnis von M. d. S. und Grdlg. zu bestimmen. Die Anklänge bieten sich offen genug dar. In beiden Werken liegt die grundsätzliche Unterscheidung vor zwischen subjektiven und objektiven Zwecken ; in beiden werden die Begriffe objektiver Zweck und praktisches Gesetz als a priori zusammengehörig vor- gestellt, die in irgendeinem Sinne einander „korrespondieren" d. h. sich gegenseitig fordern. In beiden ist von einem alle objektiven Zwecke zusammenfassenden „Reich" oder „System" die Rede, das die reine Vernunft hervorbringen muß. In der Grdlg. wie in der M. d. S. endlich ist es die Menschheit ihrer Idee nach d. h. als ver- nünftige Natur, die dem Willen zur Vorschrift dient. Aber freilich: so nahe sich mitunter die beiden Werke zu kommen scheinen, und so stark sie auf einanderhin tendieren mögen, sie kommen nicht recht zur Deckung. Die gleichen Begriffe werden wohl gebraucht, aber nicht in genau demselben Sinn. Und gerade an der entscheidenden Stelle hat Kant Differenzen gelassen, ohne selbst auf irgend welche Ausgleichungsmöglichkeiten hinzuweisen. Da muß zunächst eine Merkwürdigkeit der Terminologie her- vorgehoben werden, die zu Mißverständnissen Anlaß geben kann. Der Begriff des subjektiven Zweckes ist nirgends eindeutig und einwandfrei bestimmt. Den Angaben der Grdlg. zufolge müssen unter subjektiven Zwecken die nicht durch die bloße Vernunft gegebenen Zwecke verstanden werden, die nicht für alle, sondern bloß für das einzelne Subjekt gelten, seine „Privatzwecke". Sie „sind" nicht etwa, sondern sie „beruhen" auf Triebfedern, d.h. subjektiven Gründen des Begehrens. Wie aber können sie dann noch ihrem Zweckcharakter streng definitionsgemäß entsprechen und dem Willen, der als Gesetzesvermögen charakterisiert wurde, „zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung" dienen? Ent- weder wir müssen uns das Paradoxon gefallen lassen, daß sich der Wille durch letztlich aus der Sinnlichkeit hergenommene Zwecke selbst, aber heteronom zum Handeln bestimmt, und zwischen Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung einen Unterschied an- nehmen, den Kant selbst nie gemacht hat; oder feststellen, daß Kant einen Artbegriff einführt, der zu seinem Gattungsbegriff nicht paßt bezw. nicht streng als solcher gemeint ist. Dann aber 298 Georg Anderson, bleibt als eigentlicher „Zweck" einzig der objektive übrig, der als Zweck an sich selbst, weil als Subjekt aller Zwecke, existiert. Nicht besser verhält es sich in der M. d. S. Hier erscheint der subjektive Zweck entweder als etwas, was jeder schlechtweg „hat", als der sinnlich bedingte Inhalt jeder empirischen Handlung — oder andrerseits als das, was der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur erst selbst zum Zweck macht, wenn auch die Neigungen ihn dazu verleiten. Bald sieht es aus, als reduziere er sich auf den sinnlichen Antrieb, bald wieder als müsse er aus einem Vermögen der Wahl entspringen. In seiner Eigenschaft als Zweck müßte er selbstgesetzt sein vermöge eines Aktes der Freiheit (cf. VI, 381). Dann wäre jedoch schon jede beliebige Zwecksetzung eine sittliche Handlung, weil sie einen „kategori- schen Imperativ" in sich schlösse (cf. VI, 385). Dann müßte auch die freie Willkür als das Vermögen, sich für oder gegen das Ver- nunftgesetz zu entscheiden, aufgefaßt werden (cf. VI, 226). Davon aber will Kant nichts wissen. Er bestimmt zwar die menschliche als freie Willkür, insofern sie von der Sinnlichkeit her „afficiert", dabei aber durch Vernunft bestimmbar ist (cf. VI, 213/214). Er definiert jedoch ausdrücklich die Freiheit der Willkür negativ als „jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe", positiv als „das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein". Wiederum also befindet sich der Artbegriff nicht in Übereinstimmung mit dem Gattungsbegriff ; und es ist mit dem „Zweck überhaupt" — sogar in so wichtigen Abschnitten wie III und IX der Einleitung zur Tugendlehre — doch nur der „objektive Zweck" gemeint, wie sehr auch der Wortlaut z.B. in dem Satze (VI, 385) „. . . so ist es . . . . nicht eine Wirkung der Natur, irgendeinen Zweck der Handlungen zu haben" sich auf den allgemeinen Zweckbegriff zu beziehen scheint. Abgesehen von dieser Unklarheit im Zweckbegriff jedoch meinen Grdlg. und M. d. S. unter dem „objektiven Zweck" keineswegs das gleiche. Die Grdlg. kennt ihn lediglich als Bestimmungsgrund des Willens. Sie benutzt das Subjekt, weil es als Selbstzweck exi- stiert, erklärtermaßen nur als negativ- einschränkende Bedingung, als Grund, nicht als Gegenstand eines Gesetzes ; als etwas, dem nicht zuwidergehandelt werden darf, aber nicht als etwas, das oder dessen Idee durch die Handlungen verwirklicht werden sollte. Nur schüchtern deutet sich eine Erweiterung des objektiven Zweck- begriffs an da, wo unter Ausschluß aller subjektiven die von den Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 299 vernünftigen Wesen als solchen sich selbst gesetzten eignen Zwecke in das „Reich der Zwecke" anfgenommen werden. Im übrigen aber sieht die Grdlg. sogar die von der Vernunft gegebenen Zwecke, insofern sie als mögliche Wirkung gedacht sind, für heteronom an und will alle Objekte, die dem Willen zum Grunde gelegt werden, um ihr die Regel vorzuschreiben, von der sittlichen Willensbestim- mung ausschließen (cf. IV, 444). Sie sucht den Begriff des objek- tiven Zweckes bloß formal zu verwenden, bleibt bei dem „jeder- zeit" und „zugleich" und „niemals bloß als Mittel" stehen und vermeidet es, die „Materie" des Willens anders denn negativ zu bestimmen. Nicht so die M. d. S. Sie unterscheidet klar den Willen als G-esetzesvermögen oder die praktische Vernunft, die es mit den Handlungen gar nicht zu tun hat, von der Willkür, dem Vermögen zu Maximen. Und ihre objektiven Zwecke sind „Gegenstände" für die Willkür oder genauer für die freie Willkür, Materie der von dieser gewollten freien Handlungen, zu denen das Subjekt kraft eines Aktes der Freiheit oder aus reiner praktischer Ver- nunft kommt. Auf ihre Verwirklichung ist es gerade abgesehen. „Wenn von der dem Menschen überhaupt (eigentlich der Mensch- heit) zugehörigen Vollkommenheit gesagt wird: daß sie sich zum Zweck zu machen an sich selbst Pflicht sei, so muß sie in dem- jenigen gesetzt werden, was Wirkung von seiner Tat sein kann, nicht was bloß Geschenk ist, das er der Natur verdanken muß ; denn sonst wäre sie nicht Pflicht. Sie kann also nichts anderes sein als Kultur seines Vermögens (oder der Naturanlage), in wel- chem der Verstand, als Vermögen der Begriffe, mithin auch deren, die auf Pflicht gehen, das oberste ist, zugleich aber auch seines Willens (sittlicher Denkungsart) , aller Pflicht überhaupt ein Ge- nüge zu tun" (VI, 386/87). So treten sich denn Grdlg. und M. d. S. als Repräsentanten zweier entgegengesetzter Richtungen gegenüber : der formale Aprio- rismus der Grdlg. ist am prägnantesten ausgesprochen in dem Satze (IV, 444) : „Es mag nun das Objekt vermittelst der Neigung, wie beim Prinzip der eigenen Glückseligkeit, oder vermittelst der auf Gegenstände unseres möglichen Wollens überhaupt gerichteten Vernunft im Prinzip der Vollkommenheit den Willen bestimmen, so bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch die Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die Triebfeder, welche die vorausgesehene Wirkung der Handlung auf den Willen 300 Georg Anderson, hat: ich soll etwas tun, darum weil ich etwas anderes will ..." Der materiale Apriorismus der M. d. S. aber wird dem gegenüber proklamiert in Worten wie (VI, 380): „Die Ethik gibt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür) einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck d. i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand". Die Frage nach dem Verhältnis der M. d. S. zur Grdlg. er- weitert sich damit ganz von selbst zu der grundsätzlichen nach Sinn, Recht und Grenzen des Formalismus in Kants Ethik. Vergegenwärtigen wir uns vorerst nochmals, welch eigentüm- lich verwirrenden Eindruck der Wechsel von formaler und mate- rialer Betrachtung hervorruft. Die Ethik tritt auf als „materiale" Disziplin, die im Gegensatz zur Logik „es mit bestimmten Gegen- ständen und den Gesetzen zu tun hat, denen sie unterworfen sind" (IV, 387). Aber schon wird alle „Materie" als dem Wesen der Sittlichkeit zuwider aus ihr entfernt. Kaum ist nun mit Hilfe des Prinzips der Autonomie eine rein formale Gesinnungsethik aufgerichtet, da wird die Ethik neuer- dings im Sinne einer Tugendlehre als objektive Zwecklehre auf- gestellt unter Berufung darauf, daß nur in solcher Gestalt innere Gesetzgebung verbürgt werden könne (cf. VI, 239). Sie steht nun also wieder als „materiale" Wissenschaft, diesmal an der Seite der formalen Rechtslehre, erscheint jedoch neben dieser eigentlich vielmehr als formal, insofern sie mit ihren „weiten" Pflichten nur die Maxime der Zwecke gebietet, während die engen Pflichten des Rechts auf die bestimmten Handlungen selbst gehen. Ferner: un- terscheidet Kant in der M. d. S. zwar ausdrücklich die ethische Pflicht einerseits, die „bloß das Förmliche der sittlichen Willens- bestimmung" betrifft „z. B. daß die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse", und andrerseits die Tugendpflicht, die sich auf „einen gewissen Zweck (Materie, Objekt der Willkür)" bezieht (cf. VI, 383) ; verkündet dann aber (cf. VI, 396) als höchsten unbedingten Zweck der reinen praktischen Vernunft („der aber immer noch Pflicht ist"), mithin als Tugendpflicht, die Forderung, „daß die Tugend ihr eigner Zweck und bei dem Verdienst, das sie um den Menschen hat, auch ihr eigner Lohn sei" und zählt dann auch unter den Tugendpflichten die der „ Lauterkeit der Pflichtgesinnung" auf, „da das Gesetz für sich allein Triebfeder ist und die Handlungen nicht bloß pflichtmäßig, sondern auch aus Pflicht geschehen" (cf. VI, 387 und 446). Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 301 Nach alledem kann die M. d. S. nicht etwa mit der Feststel- lung abgetan werden, daß sie den früher vertretenen Formalismus leider aufgibt ; sondern es muß vielmehr gefragt werden, inwieweit der Gegensatz von Form und Materie geeignet ist, als Gesichts- punkt auf das eigentümliche Gebiet der Ethik angewendet zu werden und wieweit Kant sich mit Erfolg seiner bedient hat. Danach erst ließe sich ein Urteil über die Stellung der M. d. S. in Kants Ethik rechtfertigen. Der konsequente Formalismus verlegt den sittlichen Wert in das Wie des Handelns, in die Gesinnung, die sich in der gesetz- gebenden Form des Wollens kundgibt. Darum muß er auf spezi- fisch sittliche Inhalte verzichten. Für ihn bleibt es unbeantwort- bar, wie es kommt, daß diese Form des Willens materiale Inhalte findet, mit welchen sie sich und zwar vorzugsweise verbinden kann. Ihn kümmert nur, wie das Gesetz, das weiter nichts als diese reine Form gebietet, auf das handelnde Subjekt Einfluß gewinnen, wie der objektive zum subjektiven Bestimmungsgrunde werden mag. Und dies Problem hat Kant auch ganz folgerichtig dadurch zu lösen versucht, daß er die Achtung als ein „ durch einen Ver- nunftbegriff selbstgewirktes Gefühl" konstruiert und durch sie das Sittengesetz zur Tiebfeder im Subjekt werden läßt (IV, 401). Sie ist nicht das Gefühlsmedium, vermittelst dessen das Gesetz Ein- gang in den Willen bekommt — dann bestimmte ja das Gesetz den Willen nicht mehr unmittelbar — , „sondern sie ist die Sitt- lichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet, indem die reine praktische Vernunft, dadurch daß sie der Selbstliebe im Gegen- satze mit ihr alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft" (V, 76). Das ist aber auch das Äußerste, was ein strenger Formalismus zu erreichen vermag. Mag er damit nun alle Anforderungen einer Ethik erfüllen können oder nicht, für ihn als Formalismus genügt in der Tat der „ein- zige" kategorische Imperativ, den ich mir bloß zu denken brauche um sofort zu wissen, was er enthalte: nämlich die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt und die Gemäßheit der Maxime der Hand- lung dazu (cf. IV, 421) ; m. a. W. sein formaler Charakter ist sein ganzer Inhalt, oder es ist kein rein formales Gesetz mehr. Zweifellos hat Kant diesen Standpunkt intendiert, ebenso zweifellos aber ist es ihm nicht geglückt, denselben strikte durch- zuführen, weil er eben unmöglich die Materie als das positiv nicht zu Bestimmende ein für alle Mal auf sich beruhen lassen konnte. 302 Georg Anderson, Er versucht in der Grdlg. einerseits, dem „Zweck" einen formalen Sinn abzugewinnen, andrerseits aus der Form heraus doch wieder zur Materie zu gelangen. Indem er dem Terminus „Zweck" will- kürlich den Sinn eines Bestimmungsgrundes für eine formale Ge- setzgebung des Willens beilegt, indem er ein formales Gesetz will- kürlich „ Zweck" nennt, geraten alle seine Darlegungen , die mit Sem Zweckvorzug des vernünftigen Wesens in Zusammenhang stehen, unvermeidlich in zweideutiges Schwanken. Er bringt es geradezu fertig zu definieren (IV, 427): „Praktische Prinzipien sind formal, wenn sie von allen subjektiven Zwecken abstrahieren; sie sind aber material, wenn sie diese mithin gewisse Triebfedern zu Grunde legen". Als wenn sich „objektive Zwecke" ohne Auf- hebung ihres Zweckcharakters zu etwas Formalem verflüchtigen ließen und dann doch wieder mit ihrer Hilfe materiale Inhalte zu gewinnen wären. Als eine glatte Durchbrechung des Formalismus ist zu bezeichnen die Art, wie beim dritten und vierten Beispiel zur II. Formel des Sittengesetzes trotz des vorher eigens negativ- formal interpretierten Prinzips der Menschheit als Zwecks an sich selbst ganz unvermittelt die positiv-materialen Pflichten zur eignen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit namhaft gemacht werden. Wozu erst soviel Aufhebens von dem Formalismus, wenn nachher die ihn begründenden begrifflichen Unterschiede doch wieder durcheinander geworfen werden dürfen, wenn es gestattet sein soll, das Subjekt, das nur als Zweck an sich selbst existiert, mit dem Subjekt zu vertauschen, das zum Gegenstand des Willens gemacht wird; und wenn jene rein negative Begrenzung beliebiger Materie, unversehens oder bestenfalls durch die leere Ausflucht eines gewissermaßen kontinuierlichen Übergangs, in die positive Setzung eines bestimmten Gegenstandes als Zwecks verwandelt werden soll. Nur „was die Art der Verbindlichkeit (nicht das Ob- jekt ihrer Handlung) betrifft" (IV, 424) dürfen die Imperativen der Pflicht aus ihrem „einigen" Prinzip abgeleitet werden; kurz aus der bloßen Form des Gesetzes lassen sich inhaltlich speziali- sierte Imperative als solche nicht entwickeln, sofern sie nicht etwa vorher stillschweigend und unzulässigerweise schon hineingedacht waren. Das hier vorliegende sachliche Problem konnte Kant gar- nicht einwandfrei bewältigen, solange er den Unterschied zwischen empirischer und rationaler Materie nicht entdeckt hatte und daher die Eeinheit der Sittlichkeit für allein in der Form garantiert, von der Materie als solcher her aber für bedroht ansehen mußte. Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 303 In der M. d. S. gewahren wir denn auch nichts mehr von dieser Unsicherheit in der Auffassung des Zweckbegriffs. Hier hält Kant einerseits an dem sachlich berechtigten Motiv, das in den einsei- tigen Formalismus hineingedrängt hatte, durchaus fest (VI, 376/77) : „. . . kein moralisches Prinzip gründet sich in der Tat . . . auf irgend ein Gefühl, sondern ist wirklich nichts anderes als dunkel- gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage beiwohnt . . . geht man von diesem Grundsätze ab und fängt vom pathologischen oder dem rein- ästhetischen oder auch von dem mo- ralischen Gefühl (dem subjektiv-praktischen statt des objektiven) d. i. von der Materie des Willens, dem Zweck, nicht von der Form desselben d. i. dem Gesetz an, um von da aus die Pflichten zu bestimmen : so finden freilich keine metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre statt; denn Gefühl, wodurch es immer erregt werden mag, ist jederzeit physisch". Andrerseits aber macht er von der rationalen Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst nun offen nnd mit voller Entschiedenheit den materialen Gebrauch ; den Mangel jener formal gemeinten II. Formel der Grdlg. heben dabei die Worte „dabei er [der Mensch] doch gegen sie [die an- deren und sich selbst] auch indifferent sein kann" deutlich hervor (VI, 395). Er setzt an die Stelle des Subjekts, dem niemals zu- widergehandelt werden darf, positiv das Subjekt, dessen Kultur nach allen Richtungen hin befördert werden soll. So kommt er zu all den Zwecken, die a priori von der reinen praktischen Ver- nunft gegeben sein müssen. Diese aber gibt ihre Inhalte nicht anders denn in der Form der Pflicht. Damit erst ist das Ver- hältnis von Pflicht und Zweck, Form und Materie, prinzipiell und endgiltig ins reine gebracht; und es entfällt nun wirklich alle Versuchung, die einzelnen Pflichtgebote ihrem Inhalt nach offen oder versteckt aus dem formalen Sittengesetz herleiten zu wollen. So wird z. B. der kategorische Imperativ der Tugendlehre neu und selbständig aus der reinen praktischen Vernunft deduziert; und auch all die anderen Imperative, auf die die Rechts- und Tu- gendpflichten gebracht werden, folgen nicht aus dem obersten Grundsatze der allgemeinen Sittenlehre, wie man wohl ursprüng- lich vermuten sollte, sondern lassen sich unter jenen nur sub- sumieren, sofern er „überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei" (VI, 225) und lediglich eine conditio sine qua non bedeutet. Aus dem Begriff des kategorischen Imperativs geht weder das System der Metaphysik der Sitten hervor, noch das der ethisch- 304 Georg Anderson, praktischen Vernunft. Die Ethik wird vielmehr als Zwecklehre nach dem schematischen Fachwerk logischer Distinktionen und Gruppierungsgesichtspunkte hingestellt. Wenn aber wirklich der Akt der Zwecksetzung den Pflichtbegriff mit dem eines Zweckes überhaupt verbindet, dann muß man wenigstens von dem einen aus auf den andern hingelangen können. Und in der Tat beschreibt Kant dies Verhältnis von Pflicht und Zweck folgendermaßen (VI, 382): „man kann sich das Verhältnis des Zwecks zur Pflicht auf zweierlei Art denken: entweder von dem Zwecke ausgehend die Maxime der pflichtmäßigen Handlungen, oder umgekehrt, von dieser anhebend, den Zweck ausfindig zu machen, der zugleich Pflicht ist Die Ethik aber . . . kann nicht von den Zwecken aus- gehen, die der Mensch sich setzen mag, und danach über seine zu nehmenden Maximen, d. i. über seine Pflicht verfügen ; denn das wären empirische Gründe der Maximen, die keinen Pflichtbegriff abgeben, als welcher (das kategorische Sollen) in der reinen Ver- nunft allein seine Wurzel hat; wie denn auch, wenn die Maximen nach jenen Zwecken (welche alle selbstsüchtig sind) genommen werden sollten, vom Pflichtgefühl eigentlich garnicht die Rede sein könnte. — Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen nach moralischen Grundsätzen begründen müssen". Von „Ableitung" aus dem Pflichtbegriff ist in diesen vorsichtigen Wendungen nicht die Rede; wohl aber ist dieser das negative Kriterium der Unterscheidung der rationalen von der empirischen „Materie". Nur was Pflicht sein kann, was in die Form des Pflichtbegriffs eingeht, kann als objektiver Zweck gelten, der Pflichtbegriff daher auf diese Zwecke hinleiten. Unser Vergleich von Grdlg. und M. d. S. zeigt wohl deutlich genug, daß der Formalismus, weil zur Lösung aller den Ethiker beschäftigenden Aufgaben unzulänglich, Kant unmöglich genügen konnte. Man mag beliebige Handlungen auf ihre Maxime bringen und diese sodann auf ihre Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz prüfen, tatsächlich wird die Widerspruchslosigkeit des Wollens in ihr ja garnicht an ihrer reinen Form, allein für sich betrachtet, sondern doch immer im Hinblick auf die in ihr gewollten Inhalte erkannt. Diese müssen so beschaffen sein, daß sie sich mit der gesetzgebenden Form überhaupt vertragen; auf sie kommt es also mindestens ebenso an wie auf diese. Und weiter: niemals ist die gesetzgebende Form, weil sie eben nur eine conditio sine qua non, Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 305 ein negatives Kriterium ist, die schlechthinnige Garantie für den sittlichen Charakter des Wollens, wie die Rechtspflichten beweisen und z. B. auch der Vorsatz , aus Klugheit wahrhaftig zu sein. Zwar ist in diesem letzteren das Wollen völlig widerspruchsfrei der Form nach, sodaß ich meine Maxime als allgemeines G-esetz wollen kann; und dennoch erkenne ich dieses Wollen als nicht- sittlich daran, daß hier ein beliebiger Zweck zwar in der Form der Pflicht, der Zweck hingegen, der seinem Begriffe nach Pflicht ist, zwar gewollt, aber nicht als Zweck, wie ihm zukommt, son- dern nur als Mittel gewollt wird. Der Zweck selber also, der seinem Wesen nach um seiner selbst willen gesetzt zu werden verlangt, gibt uns hier erst die letzte Gewähr für die Sittlichkeit unseres Wollens. Und vollends, wenn wirklich dem handelnden Subjekt in der Ethik bestimmte sittliche Werte vorgestellt und als Normen vorgeschrieben werden sollen, so gilt es nicht, Form und Materie wie zwei feindliche Prinzipien auseinander zu reißen, sondern zu der Synthese von beiden zu gelangen, welche allein dem Sinn dieser Begriffe entspricht. Dieses aber ist die eigen- tümliche systematische Leistung eben der M. d. S. Das muß ge- würdigt werden und ist höher zu veranschlagen als die Tatsache, daß sie sich mit den formalistischen Aufstellungen in Grdlg. und Kr. d. pr. V. nicht deckt. Als das Form und Materie vereinigende höhere Prinzip dient hier die reine praktische Vernunft, zur Bewerkstelligung der Syn- these selbst aber der Begriff des objektiven Zwecks, den sie so- wohl aufstellt als realisiert. Denn dieser Begriff bedeutet einen von der bloßen Vernunft aufgegebenen Zweck, der seinem Begriffe zufolge nur durch die zum allgemeinen Gesetz taugliche Maxime vom handelnden Subjekt sich selbst unmittelbar und autonom ge- setzt werden kann. Andernfalls er weder Zweck, noch von der Vernunft gegeben, noch Pflicht wäre. In dem Begriffe dieses Zweckes, der an sich selbst d. h. seinem Begriffe nach Pflicht ist, ist das Autonomie-Prinzip schon mitgedacht. Zwecksetzung und Selbstgesetzgebung sind identisch geworden. Der Inhalt involviert also die Qualifikation der zugehörigen Maxime zum Gesetz. In dieser Zwecksetzung verschmäht die reine praktische Vernunft alle Vermittlung der Neigungen und gibt der Willkür mit dem Gegenstande zugleich ein allgemeines praktisches Gesetz. Der oberste Grundsatz aber der Tugendlehre könnte, da Zweck und Maxime sich wechselseitig in dieser Weise fordern, auch formuliert Kantstudien. XXVI. 20 306 Georg Anderson, werden: setze dir die Zwecke, die an sich Pflicht sind. Form bleibt auch jetzt Form , Materie Materie. Aber es wäre sinnlos, -noch an Verletzung des formalen Sittlichkeitsprinzips zu denken. Wir sind hinter die Gegensätze von Materie und Form, Zweck und Pflicht, mittelbarer und unmittelbarer Willensbestimmung zu- rückgegangen, dahin, von wo aus die sittliche Gesinnung und der Inhalt des Handelns zugleich und gleicherweise autonom bestimmt werden. Die Sittlichkeit in ihrer Reinheit ist nun gesichert, wenn nur die reine Vernunft praktisch ist. Mag sie die Gesinnung vor- schreiben, aus der heraus allein Zwecke gesetzt werden sollen, oder die Zwecke, die allein in solcher Gesinnung gesetzt werden können. Sie garantiert die Untrennbarkeit von solcher Materie und solcher Form. Die Ethik ist aber demgemäß sowohl Pflichten- als Zwecklehre. Sie gibt formal an, wie gewollt werden soll, und material, was gewollt werden soll; die Maxime, nach der, und die rationalen Inhalte, die allein in ihr gewollt werden dürfen. Sie hat eine formale und materiale Betrachtung, die sich beide nicht ausschließen, sondern gegenseitig auf einander beziehen und ergänzen müssen; und es ist für sie kein Rätsel mehr, woher die Inhalte kommen können, die dem seiner Form nach als widerspruchsfrei und all- gemein gesetzgebend bestimmten Willen als Gegenstände vorge- stellt werden. Verliert damit der Gegensatz von Form und Ma- terie seine konstitutive Bedeutung für die Ethik, so kann man urteilen, daß die M. d. S. zu ihren Vorgängern eine sachlich not- wendige Ergänzung bringt und Ansätzen, die aus dem Wesen der Sache heraus bereits in jenen verstohlen und tastend gemacht wurden, zu der ihnen zukommenden Beachtung verhilft. So be- trachtet aber, läßt sich das Alterswerk mit jenen anderen, die auch nicht als fertig und in jeder Hinsicht abgeschlossen gelten dürfen, letztlich zu einem einheitlichen Gesamtbilde zusammen- schließen. Ja wir stehen nicht an , von einer Entwicklung der Kantischen Ethik auch innerhalb der kritischen Epoche zu sprechen, und wollen uns eines Satzes erinnern, der sich bereits in der Kr. d. r. V. findet (III, 520): „Dagegen würden reine praktische Ge- setze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist und die nicht empirisch-bedingt, sondern schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die moralischen Gesetze, mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft und erlauben einen Kanon". Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Pormalismus d. krit. Ethik. 307 An der Lehre vom objektiven Zweck sei nur noch eine Kon- sequenz hervorgehoben, die sie letzten Endes in sich birgt: es gibt spezifisch-sittliche Inhalte; und sie erfordern die ganz beson- ders darauf eingestellte Aufmerksamkeit des philosophischen Ethi- kers. Es geht nicht an, das Wesen des Sittlichen in einem Außer- sittlichen zu , suchen wie in dem logischen Kriterium der Wider- spruchslosigkeit des Willens. Die gesetzgebende Form der Maxime kann nicht der Grund dafür sein, daß Inhalte wie Treue oder Wahrhaftigkeit als „sittlich" bezeichnet werden müssen. Umge- kehrt : die zum Gesetz taugliche Maxime muß mit jenen „Zwecken" verbunden werden, weil sie sittlich sind. Die Herkunft solcher „Materie" aus der reinen praktischen Vernunft mag allenfalls aus dieser Form der Maxime erschließbar und beweisbar sein; sie ist, wie gesagt, eine conditio sine qua non, aber nicht positiv das Wesensprinzip des Sittlichen. Jedenfalls deutet die M. d. S. mit ihrer Lehre vom objektiven Zweck hin auf Fragestellungen der Phänomenologie. Es muß innerhalb der Ethik als Ganzem eine Disziplin geben, die die spezifisch-sittlichen Gehalte in einer eigens darauf gerichteten Besinnung erfaßt und hinstellt, und eine andere, welche auf Grund jener Einsichten Normen für das sittliche Urteil und Verhalten ausspricht. Eine Kritik der Kantischen Ethik aber hätte sich keineswegs bloß mit dem Formalismus auseinanderzu- setzen, sondern auch zu erwägen, ob Kant die „Materie" in der M. d. S. ausreichend charakterisiert hat, ob es z. B. genügt, nach dem Leitfaden des rationalen Begriffs der Menschheit „Zwecke" der reinen praktischen Vernunft zu bestimmen. Ist sonach die eingangs gestellte Frage im Wesentlichen be- antwortet, so bleibt diese Lehre vom objektiven Zweck doch zu ergänzen durch eine kurze Betrachtung der mehrfach gelegentlich gestreiften Lehre vom kategorischen Imperativ, die mit ihr zu- gleich in der M. d. S. eine Erweiterung erfährt. Grdlg. und Kr. d. pr. V. haben einzig und allein die Begründung der reinen Ethik im spezifischen Sinne im Auge. Wenigstens ist in ihnen — so all- gemein sie sich auch als Wissenschaft von den Freiheitsgesetzen auszugeben scheinen — , von äußerer Freiheit, ihren Gesetzen und juridischer Gesetzgebung wie in der M. d. S. nie die Rede. Ihren Pflichtimperativ entwickeln sie, wie immer er schließlich auch for- muliert werden mag, durchaus im Hinblick auf die eigentliche Ethik und zwar im Sinne des Formalismus, mit dem die Autonomie 20* 308 Georg Anderson, hier als unzertrennlich vorgestellt wird, d. h. als Ausdruck für die bloße Form des sittlichen Wollens oder der Moralität. So ver- schieden die mannigfachen Formulierungen des kategorischen Imperativs, um die sich die Grdlg. so eifrig bemüht, zunächst vielleicht anmuten mögen, sie alle sollen nichts anderes darstellen, als Variationen ein- und desselben Gedankens. Sie sollen sämtlich nur das Sittlichkeitsprinzip, die Autonomie, von den verschiedensten Seiten her beleuchten und erfassen und das Sittengesetz der An- schauung und dem Gefühl näher bringen, im Interesse seiner Ver- wirklichung. Die „ethische Gesetzgebung", um die es sich hier also handelt, besteht aus dem einen Pflichtprinzip, aus welchem alle speziellen Pflichten, „was die Art der Verbindlichkeit betrifft" (IV, 424) vollständig aufgestellt werden, und mehr noch : sogar in- haltlich entwickelt werden müßten, wenn es nur ohne „Materie" ginge, und wenn sich diese aus der Form hervorzaubern ließe ; — denn auch die hypothetischen Imperative lassen sich doch, „was die Art der Verbindlichkeit betrifft" sämtlich aus dem einen Prinzip: wer einen Zweck will, muß auch die Mittel wollen, auf- stellen, obzwar sie nicht inhaltlich daraus ableitbar sind. Indem Kant dagegen in der M. d. S. die ganze praktische Ge- setzgebung, das System der äußeren wie inneren Freiheitsgesetze zum Gegenstande macht, indem er außerdem den Zweck als Materie in die ethisch-praktische Gesetzgebung aufnimmt, bedarf er einer Mehrzahl verschiedenartiger kategorischer Imperative, sogar inner- halb der Ethik ; diese aber stehen nicht mehr im Verhältnis der Ableitbarkeit auseinander, sondern nur im logischen Verhältnis der Über- und Unterordnung, also des Allgemeinen zum Besonderen. Der fruchtbare Begriff des kategorischen Imperativs überhaupt ist damit nicht aufgegeben; er steht mit dem Formalismus und fällt mit ihm ebensowenig wie der Autonomiegedanke. Er verträgt sich nicht nur mit dem Begriff der objektiven Zwecksetzung, sondern ist mit ihm a priori gesetzt und einerlei. Er bleibt wie bisher die ratio cognoscendi unserer Freiheit, das Wahrzeichen der Au- tonomie, die Form für die Freiheitsgesetze und verstattet keinen Beweis, sondern muß aus der reinen praktischen Vernunft dedu- ziert werden. Die reine praktische Vernunft aber läßt kategorische Imperative zu, soviel als sie verschieden geartete Pflichten gebietet. So entspricht denn dem Gattungsbegriff der Pflicht überhaupt jener „oberste Grandsatz der Sittenlehre", sodann aber sind den Hauptarten, den Rechts- und Tugendpflichten ihre besonderen For- Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 309 mein zugeordnet und deren Unterarten wiederum, wobei nicht selten an die Imperative der Wolffschen Schule erinnert wird. Im Besonderen bestätigt der Vergleich diese allgemeine Dar- legung. Der oberste Grundsatz der Sittenlehre „Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne" (M. d. S. VI, 389) deckt sich zwar mit dem „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" : „Handle so, daß die Maxime deines Willens jeder Zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz- gebung gelten könne" (Kr. d. pr. V., V, 30). Beide sprechen ledig- lich die Qualifikation der Maxime zum Gresetz in allgemeinster Form aus und enthalten eine rein formale Bedingung, „das for- male Prinzip der Pflicht" (IV, 389). Mehr aber besagt die Formel der Grdlg. (IV, 421): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" oder: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte". Sie ist spezieller, insofern sie das Gesetz als an den eignen Willen gerichtet zeigt. Jene begreifen unter sich alle Pflichten, auch die Rechtspflichten; diese nur die „ethischen Pflichten". Die Grdlg. also formuliert allein das allgemeinste Gesetz der „inneren Gesetzgebung". Denn ob ich meine Maxime zum allgemeinen praktischen Ge- setz erhebe oder mir ein solches zur Maxime mache, beide Male fällt durch meinen Willen das objektive Gesetz mit dem subjek- tiven Grundsatz und, wenn ich entsprechend handle, der objektive Bestimmungsgrund mit dem subjektiven des Willens zusammen. Indem ich mich an die gesetzgebende Form der Maxime binde, wird das Gesetz oder die Idee der Pflicht Triebfeder, ich handle aus Pflicht, und die Handlung bekommt Moralität anstatt Legalität. Der kategorische Imperativ der Grdlg. ist also genau die Formel für das, was die M. d. S. „ethische Pflicht" nennt und als das „Förmliche der sittlichen Willensbestimmung" von der „mate- rialen" Tugendpflicht unterscheidet. Die ethische Pflicht ist in der Tat die Forderung der reinen .Tugendgesinnung und macht die formale Bedingung alles ethischen Verhaltens überhaupt aus. Als solche muß sie denn auch in allen Tugendhandlungen mitver- wirklicht, in allen wie immer inhaltlich bestimmten Tugendpflichten eo ipso mitgedacht sein, deren sittlichen Charakter mitkonstituie- rend. Denn alle die Zwecke, die zugleich Pflichten sind, müssen um ihrer selbst willen gewollt werden; oder mit anderen Worten sie sind als Pflichten Zwecke und als Gesetze Triebfedern. 310 Georg Anderson, Betrachtet man jedoch die reine Tugendgesinnung nicht bloß formal, sondern auch material, so gehört sie zum Inhalt des ob- jektiven Zwecks der Vollkommenheit und kann als Tugendpflicht der Lauterkeit, die man in sich festigen und kultivieren müsse, geboten werden. Die „ethische Pflicht" ist mithin eine einzige und die Tugendpflichten allein ermöglichen die Einteilung der Ethik. Die Lehre der Grdlg. vom kategorischen Imperativ ist in der M. d. S. ihres ausschließlich formalen Charakters entkleidet; ihr Pflicht- prinzip ist als das formale Grundgesetz der ethischen inneren Gesetzgebung bestehen geblieben und wird durch die materialen Sittengesetze zu dem System der inneren Freiheitsgesetze ergänzt. Abschließend kommen wir zu folgendem Ergebnis : es ist zwar befremdlich, daß Kant bei der Umbildung seiner Gedanken sich nicht selbst mit seinem früheren Standpunkt ausdrücklich ausein- andersetzt und den Schritt vom formalen zum materialen A priori nicht ganz unmißverständlich präzisiert. Die Erkenntnis der hier aufgedeckten Gedankenentwickelung kann daher nicht wie eine reife Frucht vom Baum gepflückt werden, sondern liegt sogar eigentümlich versteckt in schwerfälligen Perioden, in Abschnitten, die durch ihre unfertige Komposition und unübersichtliche Anord- nung nicht wenig verwirren. Wer dieses durchaus nicht lichtvolle Alterswerk -erstmalig oder nur flüchtig betrachtet, mag wohl zweifeln, ob es wirklich von demselben Kant verfaßt sei, den er aus Grdlg. und Kr. d. pr. V. zu kennen glaubt; und nichts wäre leichter, als auf einzelnen ihm entnommenen Sätzen fußend, seine Unvereinbarkeit mit der „kritischen" Ethik zu behaupten. Trotz alledem konnten wir zeigen, daß diese Umbildung der Ge- danken eine im Wesen des Gegenstandsgebietes gegründete Not- wendigkeit war. Diese liegt einmal in der aus dem formalen praktischen Prinzip der reinen Vernunft „nach welchem die bloße Form einer durch unsere Maximen möglichen allgemeinen Gesetz- gebung den obersten und unmittelbaren , Bestimmungsgrund des Willens ausmachen muß" (V, 41) — gar nicht zu bewerkstelligenden Aufgabe einer Ethik als spezialisierten Pflichtenlehre. Und sie liegt zweitens in der Forderung, gegenüber der Rechtslehre, die nur äußerer Gesetze fähig ist, eine innere Gesetzgebung zu ermög- lichen, welches geschieht allein durch Gesetze an die Maximen, die sich auf irgend welche materialen Inhalte müssen richten können. Wer jedoch in dieser Wendung zur apriorischen Materie einen Rückschritt erblicken wollte, der hätte die Überlegenheit des Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 311 konsequenten Formalismus — der inkonsequente kann auf unser Interesse keinen Anspruch machen — zur Bewältigung der den Ethiker angehenden Probleme überzeugend darzutun. Die Meinung endlich, Kants Ethik sei ein fertiges Gebilde, durch ein Kennwort z. B. „Formalismus" hinreichend zu charak- terisieren und etwa aus der Grdlg. bereits deutlich zu erkennen, wäre entschieden abzulehnen. Kants Ethik ist ganz im Gregenteil ein Ringen von verschiedenen Tendenzen und mit recht verschie- denen Problemen, das in den uns vorliegenden drei Hauptwerken noch nicht zu völlig abschließender Klarheit gediehen ist. Sonst hätten die Ergebnisse müheloser ausgesprochen, und untereinander in ein deutlicheres Verhältnis gesetzt werden können. Ein zu- treffendes Bild von dieser Ethik Kants als G-anzem, derart, daß Verschiedenartiges weder mit gar zu großer Selbstverständlichkeit einander zugesellt noch mit überrascher Energie beiseitegesetzt ist , läßt sich nur gewinnen , wenn man diese drei Werke ver- gleicht und dann nicht gegeneinander ausspielt, sondern aus ihnen gemeinsam die Summe zieht, wobei darauf Wert zu legen ist, daß jede dieser Hauptschriften ihre spezielle Aufgabe lösen will. Die Grdlg. „ist . . . nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität, welche allein ein in seiner Absicht ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung ab- zusonderndes Geschäft ausmacht" (IV, 392). Die Kr. d. pr.V. „soll bloß dartun, daß es eine reine praktische Vernunft gebe, und kritisiert in dieser Absicht ihr ganzes praktisches Vermögen" (V, 3). Das führt sie zu näherem Eingehen auf die Idee der Freiheit und den Zusammenhang von Moral, Religion und spekula- tiver Metaphysik, wobei sie hinsichtlich der spezifisch-ethischen Fragen zu der Grdlg. kaum etwas wesentlich Neues hinzu- bringt. Die M. d. S. endlich besorgt das doktrinale Geschäft, dem die Vorläufer propädeutisch die Bahn frei machen sollen, und strebt zu dem System, nicht nur, indem sie dessen äußerlich- schematisches Gefüge hinstellt und ausfüllt, sondern auch von innen her ; nicht mehr unter dem allzustarken Zwang von Gesichtspunkten, die anderswoher stammen, sondern organisch, wie es die Eigenart ihres Gegenstandsgebietes nahelegt. Der „Alte Kant" aber ist zu würdigen nicht allein nach dem, was er zu voller Klarheit zu erheben vermocht hat, sondern nicht minder nach den Richtungen, in die seine Gedanken weisen. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. Versuch einer Versöhnung von Transzendentalismus und kritischem Psychologismus. Von Dr. Constanze Friedmann. Einleitung. Zwischen Kant selbst und den Darstellungen der Kantischen Philosophie, den Kommentatoren Kants, scheint eine Lücke zu klaffen, ein ungelöster Rest zurückzubleiben, der wohl daher rühren mag, daß strenge Kantianer wie der vorbildliche Kant- Interpret Kuno Fischer und die sogenannten Neu-Kantianer Cohen, Natorp und Andere nicht ganz dem großen Genius Kants ge- recht werden, indem sie das Kantische System nur von einem Gesichtspunkt aus darstellen (allerdings von dem, von Kant selbst an vielen Stellen ausdrücklich hervorgehobenen), während sie die vielen Strömungen, die daneben herlaufen und sich schließlich mit dem Hauptstrom vereinigen, als „unkantisch" außer Acht lassen. Dadurch werden aber zwei Richtungen der Philosophie, die beide von Kant ihren Ausgangspunkt nehmen, in einen schroffen Gegensatz gebracht; dieser kann vielleicht überwunden werden durch Berücksichtigung der verschiedenen Strömungen des Kanti- schen Systems sowie der historischen Bedingtheit desselben, aus der Kants Gedankengänge wohl befreit werden müssen, wenn es sich darum handelt, das noch für unsere Zeit Fruchtbare seiner Philosophie auf uns wirken zu lassen. Die ganze neuere nachkantische Philo- sophie läßt sich in zwei Gruppen bringen — bei aller Verschieden- heit der Systeme, die dann zu einer Gruppe vereinigt werden müssen, — wenn man die Bedeutung, die die verschiedenen Systeme dem Entwicklungsprinzip bei Bestimmung des Apriori zumessen, zum Einteilungsgrund wählt. Es sind dann bei dieser Gruppierung Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 313 Namen und Systeme, die in den Darstellungen der G-eschichte der Philosophie immer zusammen genannt zu werden pflegen, auf die beiden Gruppen verteilt und andererseits Systeme in einer Gruppe vereinigt, die auf den ersten Blick sehr divergent erscheinen. — Die Berechtigung der hier vollzogenen Gruppierung wird sich aus der Darstellung selbst ergeben. Ich fasse also die transzendental - idealistischen Philosophien auf der einen Seite zusammen und stelle ihnen gegenüber die kritisch-psychologistischen Systeme. I. Für die Transzendentalisten ist charakteristisch, daß sie ein ewiges, unwandelbares, in un- serer Vernunft begründetes und letzten Endes immer auf Trans- szendenz hinweisendes Apriori als Voraussetzung unserer wissen- schaftlichen Erfahrung annehmen, das nicht „geworden" ist, sich im Lauf der Zeit nicht entwickelt haben kann. Sie lehnen daher das Entwicklungsprinzip zur Aufdeckung des Apriori ab, da dieses schon eine Reihe anderer logischer Voraussetzungen in sich trage. Die Vertreter dieser philosophischen Systeme, für die die Namen Cohen, Natorp, Windelband *), in verwandtem Sinne Sickert kenn- zeichnend sind, beanspruchen allein in strengem Sinne „Kantianer" zu sein und berufen sich vor allem in Hinblick auf die Methode auf Kant, der ja bekanntlich das methodologische Problem in den Vordergrund seiner Philosophie gerückt hat : „Sie (die reine speku- lative Vernunft) ist ein Traktat von der Methode, nicht ein Sy- stem der Wissenschaften selbst" 2). Die kritische Methode , bei der es sich, wie Windelband ausdrücklich hervorhebt, „um Be- gründung, nicht um Ursprung der Vorstellungen, um einen neuen Begriff von Apriorität, nicht um psychologische Priorität handle" 3), ist bei Kant in der Einleitung zur 2. Ausgabe der Kr. d. r. V. scharf charakterisiert in der Fragestellung: „Wie sind synthe- tische Urteile a priori möglich", die spezifiziert wird in die Fragen: „wie ist reine Mathematik möglich, wie ist reine Natur- wissenschaft möglich?" „Von diesen Wissenschaften, da sie wirk- lich gegeben sind, läßt sich nun wohl geziemend fragen, wie sie möglich sind; denn daß sie möglich sein müssen, wird durch 1) Windelbands Standpunkt unterscheidet sich darin von dem der Neukan- tianer, daß er von einem System notwendig geltender Werte aus (des Wahren, Guten, Schönen) die logisch notwendigen Voraussetzungen dieser Werte auf- decken will. 2) Vorr. z. Kr. d. r. V. 2. Ausg. G. Reimer, Berlin 1904. 3) Windelband: Präl. 2. Ausg. S. 320. 314 Constanze Friedmann, ihre Wirklichkeit bewiesen." *) — Die Transzendentalsten wollen also aus dem logisch -objektiven Begriff der Erfahrung heraus — wobei für „Erfahrung" allgemeine und notwendige Erkenntnis zu setzen ist — durch die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglich- keit, also der Möglichkeit der Mathematik und Naturwissenschaft, die notwendigen Voraussetzungen, das transzendentale Apriori, aufdecken, wobei dieses dann rückläufig die Geltung der tatsächlich existierenden Wissenschaften begründen soll. — II. Der kritische Psychologismus nimmt an, daß das Apriori — das sind hier sowohl die Voraussetzungen unserer gewöhnlichen Wahnehmungen und Vorstellungen wie auch die unserer wissenschaftlichen Erfahrungen — „geworden" sei, sich in einem Ausleseprozeß gemäß dem Prinzip der Lebenserhaltung, als unsere psycho -physische Organisation herausgebildet habe, auf der #ann die wissenschaftlichen Voraus- setzungen beruhen, die sich ihrerseits wieder durch dauernde An- passung der Gedanken an die Tatsachen, durch Aufhebung von Widersprüchen (Vitaldifferenzen) infolge des allem Organischen wesentlichen Okonomieprinzips weiter entwickeln. Laas prägt für diese Auffassung, daß alle Wahrnehmungen und Vorstellungen keine „Wesen an sich" seien, sondern nur für uns gelten, da sie sich eben auf unsere psycho - physische Organisation beziehen, den Be- griff des Korrelativismus. „Objekte sind unmittelbar nur bekannt als Gegenstände, Inhalte eines Bewußtseins, cui objecta sunt, und Inhalte nur als Beziehungszentren, als der Schauplatz oder die Unterlage von Wahrnehmungs-(Vorstellungs-)Inhalten, quibus sub- jecta sunt; die uns unmittelbar gekannten Objekte und Subjekte sind keine , Wesen an sich', sie beide existieren nur miteinander, sie entstehen und bestehen miteinander, sind aneinander gebunden" 2). Und sehr klar präzisiert Simmel den Gedanken, daß unsere Er- kenntnisbegriffe, die unsere wissenschaftliche Erfahrung gewähr- leisten, selbst in dauernder Entwicklung sich befinden: „Mögen in jedem Augenblick auch apriorische Normen die Erfahrung beherr- schen, warum sollen nicht auch sie, die doch unsere Naturerklärung bildend, von der anderen Seite gesehen, selbst natürliche Wirklich- keiten sind, eine Entwicklung zeigen, deren kontinuierlicher Fluß sie in keinem Augenblick zu einem systematischen Abschluß kommen läßt?"3) — Die Resultate unserer wissenschaftlichen Erfahrungen 1) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 40. 2) Laas: Idealismus u. Positivismus. I. Bd. S. 282. 3) Simmel : Kant. S. 23. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 315 werden aber in dem Maße, in dem die Erkenntnisbegriffe bewußt zu Werkzeugen der Forschung werden, allmählich immer unabhängiger von unserer psycho - physischen Organisation dadurch, daß die Er- kenntnisbegriffe im Laufe der Entwicklung der Wissenschaften unter dem Zwang des Ökonomieprinzips einer immer weitergehenden Reini- gung und Säuberung von den ihnen ursprünglich stark inhärierenden anthropopathischen Elementen unterzogen werden *) 2). — Nach dem hier zur Charakterisierung gewählten Einteilungsprinzip können also unter die Gruppe der kritisch-psychologistischen Philosophien fol- gende Systeme zusammengefaßt werden: der Empiriokritizismus (Avenarius, Mach) der neuere Positivismus (Laas, Jodl) und die unter den Begriff Transzendentalpsychologismus zusammenzufassende Auffassung und Weiterbildung der Kantischen Philosophie im Sinne von Fries, Bona Meyer, Fr. A. Lange, Otto Liebmann. — Der Charakterisierung des Apriori entspricht bei dieser Gruppe auch die Art seiner Aufdeckung. Sie bedient dich der sogenannten psy- chogenetischen Methode, die mit Hilfe der Psychologie das in der Erfahrung Gegebene in letzte Elemente, Empfindungen — die nur Abstraktionen darstellen — analysiert und wissenschaftliche Er- fahrung aus diesen dann aufbaut, vermittelst der Gesetze der As- soziation, des Interesses, der Hemmung, der Abstraktion, die mit dem Ökonomieprinzip auf das tiefer liegende Gresetz der Lebens- erhaltung zurückweisen. In den Dienst der Psychologie tritt dann auch Ethnologie und Biologie. — Laas hat diese Methode der transzendentalen gegenübergestellt: „Die psych ogenetische Methode begnügt sich nicht damit bei den verschiedenen Prinzipien und Axiomen deren tatsächliches Gelten zu statuieren, sondern hierüber hinaus forscht sie nach der Grenese jenes Greltens". Mit dieser Fassung der psychogenetischen Methode deckt sich aber auch teilweise die Absicht von Fr. A. Lange und seinen Anhängern, die das Entstehen des transzendentalen Apriori aufzeigen wollen. Daher ich den Transzendentalpsychologismus in diese evolutioni- stisch orientierte Gruppe miteinbegreife. — Gegen den Vorwurf von Windelband, daß die Einbeziehung des Apriori in die psycho- gen etische Untersuchung „den hoffnungslosen Versuch darstelle, durch eine empirische Theorie dasjenige zu begründen, was selbst 1) Vergl. hierzu Mach: Erkenntnis u. Irrtum. S. 147. 2) Avenarius: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. S. 37. 316 Constanze Friedmann, die Voraussetzung jeder Theorie bildet" *) muß geltend gemacht werden, daß ebenso wie der Logiker sich keines Widerspruchs schuldig macht, wenn er die logischen Gesetze seinen logischen Untersuchungen zugrunde legt, so auch der Erkenntnistheoretiker die Berechtigung besitzt, mittelst der Prinzipien und Axiome, die er bei anderen voraussetzen und selbst anwenden muß, deren Ent- steh e n in Kulturgeschichte und Psychologie nachzuweisen. — Es ist interessant zu beobachten, daß, wenn Kant als Vermittler von Dogma- tismus (Rationalismus) und Epirismus (Sensualismus) gelten kann, indem er die Einseitigkeiten der beiden großen Richtungen in seinem Kritizismus überwindet, die von ihm ihren Ausgang nehmenden Philosophien sich wieder nach diesen beiden Seiten gabeln, nur daß beide Teile von ihm gelernt haben. Auf einer höheren Stufe der Entwicklung kehrt hier der alte Gegensatz von Piatonismus und Antiplatonismus wieder2). Ich will nun in vorliegender Untersuchung an der Hand der wesentlichsten Stellen der Kr. d. r. V., im Einzelnen an der Ab- leitung der Anschauungsformen Raum und Zeit, der transzenden- talen Einheit der Apperzeption, der produktiven Einbildungskraft nnd des Schemas, weiter an der Ableitung der Kategorie der Kau- salität und der auf ihr beruhenden zweiten Analogie der Erfahrung nachweisen, daß Kant bei der Ableitung des Apriori nicht immer streng an der von ihm geschaffenen kritischen Methode festhält und daß daher der auf anderem als transzendentalem Wege ge- fundene apriorische Faktor der Erkenntnis nicht als transzen- dental geltend gemacht werden kann. An dieser Inkonsequenz Kants scheinen mir zwei Faktoren in gleichem Maße schuld zu sein und einander zu durchdringen. 1. Der, den ich als historische Bedingtheit des Kantischen Systems bezeichnen möchte und der darin seinen Ausdruck findet, daß Kant insofern rationalistisch und dogmatisch bleibt, als er „den rationalistischen Ausgangs- punkt" 3) beibehält und „die Existenz der reinen Vernunft im weiteren Sinne, d. h. apriorischer Bestandteil des Erkennens, we- niger ein Problem als eine Voraussetzung ist"4). 2. Wirkt das Erlebnis, die psychologische Introspektion bei Aufdeckung des Apriori bestimmend mit, indem Kant den Teil der Bewußtseins- 1) Windelband : Präl. 2. Ausg. S. 332. 2) Vergl. die von Laas in „Ideal, u. Pos." durchgeführten Schematisier ungen. 3) Vergl. Vaihingers Com. I. Bd. S. 6. 4) Ebenda S. 32. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 317 phänomene, der im Erlebnis mit psychologischer Notwendigkeit und Allgemeinheit auftritt, für das logische in der Vernunft be- gründete Apriori, das die Bedingung notwendiger und allgemeiner Erkenntnis bilde, ansieht. Hierzu wird er durch die rationalistisch- dogmatische Voraussetzung der E x i s t e n z der reinen Vernunft als eines Inventars apriorischer Formen und Kategorien verführt, weshalb ich dieser historischen Bedingtheit des Kantischen Systems gegenüber eine kritische Stellungsnahme für erforderlich halte. In dieser Untersuchung soll also der Nachweis geführt werden, daß Kant Ergebnisse, die ihm aus dem Erlebnis, aus tiefster Betrach- tung des Aktes des Wahrnehmens und Vorstellens fließen, als Ant- wort auf die transzendentale Fragestellung: nach der Möglichkeit der Erfahrung, nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, spezifiziert: nach der Möglichkeit der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft, benützt. Die psychologische Notwendig- keit und Allgemeinheit, mit der im Erlebnis ein Teil desselben ausgestattet ist, wird hier weiter zurückgeführt werden auf kinä- sthetische Elemente, die den von Kant nicht analysierten An- schauungsformen und Kategorien zugrundeliegen und auf die eigen- tümliche Urerlebnis - Tatsache, daß die den Kinästhesien entstam- menden Daten als Unmittelbarstes, als Subjekt gegenüber allem1 anderen nur Objektivem erlebt werden. So wird aus meiner Dar- legung hervorgehen, daß in den von Kant als Bedingungen aller Erfahrung aufgestellten reinen Anschauungsformen und Kategorien noch anthropopathische Elemente enthalten sind und daß gerade diese für die Aufdeckung des Apriori maßgebend waren. — Und so wird letzten Endes die Aufdeckung des theoretischen Apriori aus einem Erlebnis herfließen, ähnlich wie die letzte meta- physische Verankerung des ganzen Kantischen Systems im Begriff der transzendentalen Freiheit auf ein Erlebnis zurückgeht, nämlich auf das erlebte Sollen, die erlebte Willens- freiheit; nach Kants eigenen Worten ist „das moralische Gesetz die Bedingung, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können". „(Das moralische Gesetz ist die ratio cognoscendi für die Freiheit — diese die ratio essendi des moralischen Gesetzes)" 1). Zur Vermeidung jedes Mißverständnisses will ich hier noch ausdrücklich betonen, daß ich also nicht in das von Biebl an den Auslegern und Kritikern Kants gerügte „psychologische Vorurteil" 2) 1) Vorr. z. Kr. d. pr. V. S. 5 Anm. 2) Riehl : Kritizismus. 2. Ausg. S. 380. 318 Constanze Friedmann, verfalle. Es liegt mir fern zu behaupten, Kant habe durchwegs untersucht, wie Vorstellungen psychologisch Zustandekommen, (auch dieser Gedankengang findet sich in der „Kritik" und es wird an entsprechender Stelle darauf verwiesen werden) er habe also „die kritische Philosophie auf Psychologie gegründet" ; bewußt und ab- sichtlich hat er dies natürlich nicht getan. Hier sollen nur die Erlebnismomente aufgezeigt werden, die zu einer Verquickung von transzendentaler mit psychologischer Methode bei Ableitung des Apriori geführt haben. So wird meine Darlegung des Kantischen Gedankenganges auch den Weg zu einer Versöhnung von Transzendentalismus und kritischem Psychologismus bahnen, indem sie zeigen wird, daß Kant selbst neben der transzendentalen Methode immer die psychologische benützt und daß er die Ergebnisse beider unbewußt mit einander verquickt. Jerusalem vertritt in seinem Werke: „Der kritische Idealis- mus und die reine Logik" eine der meinen in den Grundzügen verwandte Auffassung Kants, die er durch Aufzählung verschiedener Briefstellen aus Kant zu bekräftigen unternimmt. So sucht er nachzuweisen, daß dieser „die introspektive Arbeit geleistet hat . . . durch ein Versenken in die eigene Tätigkeit einsehen zu lernen, wie unser Verstand tatsächlich vorgehe, wenn er von grundlegenden Begriffen wie etwa Substanz und Kausalität Gebrauch mache" 1). Und an anderer Stelle „wenn also Kant die reine Spontaneität, die Tat des reinen Ich durch seine tiefeindringende introspektive Tätigkeit gefunden zu haben glaubte, so konnte er auf dem Boden der intellektualistischen Psychologie seiner Zeit gar nicht anders, als diese Spontaneität für das reine Denken halten. Er glaubte somit bis zur tiefsten Wurzel des reinen Denkens vorgedrungen zu sein"2). — Auch Bona Meyer ist in seinem Werke „Kants Psychologie" bemüht, durch eine Zusammenstellung aller in Kants Briefen und Hauptstellen enthaltenen Äußerungen nachzuweisen, daß Kant selbst im Grunde die psychologische Natur der Ent- deckung des apriorischen Tatbestandes nicht verkannt habe. Als zwingendsten Beleg führt er folgende Stelle aus Kant an : „Die Durch- forschung unseres Erkenntnisbestandes war eine Sache der analy- sierenden und reflektierenden Selbstbeobachtung und konnte auf keinem anderen als diesem psychologischen Wege zum Ziel gelangen". 1) Jerusalem: S. 12. 2) Jerusalem: Der kritische Idealismus und die reine Logik. S. 15. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 319 Auf eine ausführliche Gegenüberstellung der 1. u. 2. Ausgabe der Kr. d. r. V. muß ich im Rahmen dieser Ausführungen verzichten, wiewohl sie sehr instruktiv wäre, da die Aufdeckung des Apriori aus dem Erlebnis heraus, vermittelst der Introspektion, uns klarer und unverhüllter in der 1. Ausgabe der Kritik entgegentritt als in der 2., in der die transzendentale Problemstellung in den Vordergrund gerückt ist. Im Einzelnen wird an entsprechender Stelle auf die Verschiedenheiten der beiden Ausgaben verwiesen werden. I. Transzendentale Ästhetik. Ableitung der reinen Anschauungsform Raum. Entsprechend der Aufgabe, die ich mir in der Einleitung ge- stellt habe, will ich durch Diskussion der Raumargumente der transzendentalen Ästhetik zu zeigen versuchen, daß die Beweise für die Apriorität des Raumes nicht transzendental geführt werden, was insbesondere durch Vergleich mit der 1. Ausg. der „Kritik" klar wird. Eerner will ich die Verquickung der transzendentalen mit der psychologisch - introspektiven Methode bis zum letzten Motiv dieser Verquickung, bis zum Erlebnis der Allgemeinheit und Notwendigkeit eines Teiles der Erfahrungstatsachen, zurückverfolgen. Ich beginne der leichteren Übersichtlichkeit wegen mit der Dis- kussion des zweiten Raumarguments der transzendentalen Ästhetik ; die Berechtigung hierfür wird unmittelbar aus dem Gange der Untersuchung einzusehen sein. Die Behauptung des zweiten Raumarguments lautet: „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zugrunde liegt u. Das Beweisargument besteht in der Nichthinwegdenkbarkeit des Raumes: „Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden". Dies möchte ich nun folgendermaßen erörtern. Es besteht hier, nach meiner Ansicht, eine Verwechs- lung von Abstraktions- mit Vorstellnngsmöglichkeit. Das einheitliche Erlebnis des räumlich bestimmten Gegenstandes, das wir einzig und allein tatsächlich haben, kann infolge der Va- riabilität der einzelnen Elemente desselben, sehr leicht analysiert werden in Farbe, Licht und Form oder Raum, wobei wir dann zum Zwecke wissenschaftlicher Betrachtung nur eines dieser Ele- 320 Constanze Friedmann mente ins Auge fassen und von den beiden anderen abstrahieren, ohne daß auch wirklich eines dieser Elemente allein vorgestellt werden könnte1). Bei Kant nun bildet die Vorstellungs- unmöglichkeit des Nichtseins des Raumes das Beweis- argument für seine Apriorität. Hierin liegt nun inbegriffen, daß Kant den Raum allein — ohne darin enthaltene Gegenstände — für eine Vorstellungsmöglichkeit2) hält, während dieser nur ein Abstraktionsprodukt darstellt: Kant also Abstraktions- mit Vor- stellungsmöglichkeit verwechselt. Weiter ist zu fragen, warum — wenn schon eine Verwechslung von Abstraktions- mit Vorstellungs- möglichkeit vorliegt — nicht auch das zweite Abstraktionsprodukt (die Gegenstände) als allein vorstellbar angesehen wird, warum also gerade die Nichtvorstellbarkeit des Nichtseins des Raums für Kant so evident ist. Hier scheint mir nun das Motiv dafür ein psychologisch - introspektives zu sein, nämlich in der nicht weiter zu analysierenden Erlebnis - Tatsache der Subjektivität der den Kinästhesien entstammenden Daten zu bestehen. Die Raum- anschauung bei Kant, die „nichthin wegdenkbar" sein, die „schon zum Grunde liegen" soll, ist eben unsere entwickelte Raum- anschauung, die neben den ursprünglichen Raumempfindungen As- soziate von Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen enthält. Für die hier vertretene Ansicht ist also die Alternative : Empiris- mus oder Nativismus — gar nicht von Belang, da auch der Nati- vismus nicht leugnet, daß Kinästhesien die entwickelte Raum- anschauung mitkonstituieren 3). Es erscheint demnach verständlich, daß Kant die Raum- anschauung, die er durch Elimination „der Gegenstände u er- halten und nicht weiter analysiert hat, infolge der sie mitkonsti- tuierenden kinästhetischen Elemente als subjektive Anschauungsform betrachtet. Das Erlebnis der Subjektivität tritt hier mit einem so starken psychologischen Zwang auf, daß die psychologische Notwendigkeit mit der logischen ver- wechselt wird. Die Trennung in Form und Inhalt, die bei Kant als petitio 1) Vergl. Jodl: Psychologie. 1. Bd. S. 371. 2) In den Antizipationen der Wahrnehmung erklärt Kant, daß leerer Raum und leere Zeit niemals ein Gegenstand möglicher Erfahrungen sein können, was mit den Ausführungen der transzendentalen Ästhetik in Widerspruch steht. 3) Vergl. Stöhr: Psychologie. S. 215. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori hei Kant. 321 principii charakterisiert werden muß und die — wie noch zu zeigen sein wird — die unausgesprochene *) Voraussetzung für das erste Beweisargument bildet, findet ihr psychologisches Motiv in dem- selben Erlebnis, eben darin, daß ein Teil der Bewußtseinstatsachen als hinwegdenkbar, als nicht zum Ich gehörend, erlebt wird, wäh- rend der andere Teil, der in sich kinästhetische Elemente enthält, als fester Kern, als Unmittelbarstes, zum Subjekt Gehörendes, aufgefaßt wird. — Damit wäre auch ein in der menschlichen Natur (Konstitution) begründetes psychologisches Motiv für die durch die ganze Geschichte der Philosophie sich hindurchziehende Trennung in Form und Inhalt, Subjekt und Objekt gegeben. Diese Trennung wird von Stöhr auf „Sprachzwang" zurückgeführt, während ich glaube, daß umgekehrt die Gliederung des Satzes in grammati- kalisches Subjekt und Prädikat auf diesem Urerlebnis beruht. Der Schlußsatz des zweiten Raumargumentes: „Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen und ist eine Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt" — verdankt also letzten Endes dem psycho- logischen Erlebnis seine Begründung. Ich komme nun zur Diskussion des ersten Raumarguments. ^Tcf' Die Behauptung desselben lautet: „Der Raum ist kein empirischer rl,ö.A»ä Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen werden kann". uJ&nA \ Der Beweis für diese Behauptung liegt in den Worten: „Denn ^ ^ damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden (d. i. auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darin ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer und nebenein- ander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen". Nun ist zu fragen, was dieser Beweis eigentlich besage und die Antwort muß dahin gehen, daß hier die Priorität der Raumvorstellung vor jeder wirklichen Wahr- nehmung wieder nur behauptet wird und daß diese Behauptung ihr Beweisargument nur in der schon früher vollzogenen Trennung in Form und Inhalt2) besitze. Es handelt sich hier also einerseits nur um eine anthropologisch-psychologische 3) Apriorität des Raumes, 1) Vergl. Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 165. 2) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 50. 3) Vergl. oben S. 318 u. Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 176. Kantstudien. XXVI. 21 322 Constanze Friedmann, anderseits wird die Trennung in Form und Inhalt „als eine außer- ordentlich wichtige aber latent bleibende Prämisse benützt" 1). Die Trennung in Form und Inhalt wurde aber auf ein Er- lebnis2) zurückgeführt, dessen Evidenz Kant dazu verführt, nicht zu merken, daß er hier eine petitio prineipii begeht. — Der Schluß- satz des 1. Raumarguments lautet dann: „Demnach kann die Vor- stellung des Raumes nicht aus dem Verhältnis der äußeren Er- scheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich". Hier ist nun zu betonen, daß in den meisten Dar- stellungen3) der Kantischen Philosophie die zweite Hälfte des Schlußsatzes: „sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich" als Beweisargument für die Apriorität des Raumes aufgefaßt wird. Aber abgesehen davon, daß es sich hier nicht um einen Beweisgrund, sondern schon um den Schlußsatz handelt, ist auch das Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung aus folgendem von Vaihinger4) sehr gut formulierten Grunde auf diese Stelle nicht anwendbar u : „Daß jene späteren Be- deutungen des Prinzips der Möglichkeit der Erfahrung nicht auf die Ästhetik, und also speziell nicht auf diese erste Stelle, in welcher der Ausdruck auftritt, übertragbar sind, lehrt ja schon folgende einfache Betrachtung. Sowohl in der Analytik der Be- griffe als in der der Grundsätze hat 'Erfahrung' eine ganz andere Bedeutung als hier; nämlich jene stringente Bedeutung — streng gesetzmäßiger Zusammenhang der Einzeldinge. Aber davon ist hier in der Ästhetik noch ,gar nicht die Rede. Es ist ja die stets wiederholte Lehre Kants, daß jener strenge Zusammenhang = Erfahrung erst den kategorialen Funktionen verdankt werde, nicht aber schon den Anschauungsformen. Diese bringen mit dem Empfindungsmaterial zusammen erst die Wahrnehmung hervor, noch nicht die gesetzmäßige Erfahrung. Schon aus diesen Gründen ist es gänzlich unberechtigt, jene späteren Bedeutungen des Prin- zips der Möglichkeit der Erfahrung in die Ästhetik herüberzutragen; denn wenn hier davon die Rede ist, daß 'die äußere Erfahrung nur durch die Raum vor Stellung allererst möglich sei', so ist dabei die 1) Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 165. 2) Vergl. oben S. 321. 3) Vergl. Vorländer : Gesch. d. Philos. 2. Bd. S. 193. 4) Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 175. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 323 Erfahrung nicht im stringenten Sinne gemeint, sondern hier ist Erfahrung ebensoviel wie Wahrnehmung". Durch Berücksichtigung der 1. Ausg. der Kritik wird es nun ganz klar, daß die in der metaphysischen Erörterung des Begriffes vom Raum — die Überschrift ist in der 1. Ausg. noch nicht vor- handen — nicht transzendental (aus der Möglichkeit der Mathe- matik), sondern, wie gezeigt, psychologisch - introspektiv abge- leitete Apriorität des Raumes ihrerseits das Fundament der Mathematik abgibt. Das 3. Raumargument der 1. Ausg. lautet: „. . . Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodik- tische Gewißheit aller geometrischen Grundsätze und die Möglich- keit ihrer Konstruktionen a priori usw". Hier ist also von trans- zendentaler Fragestellung, nach den Bedingungen der Möglichkeit Mer Mathematik, deren Tatsächlichkeit erwiesen sei, gar nicht die Rede. Die Apodiktizität der Mathematik ist hier nicht der Ausgangrpunkt der Untersuchung, sondern das Ergebnis1) und gründet sich auf die Notwendigkeit der Apriorität des Raumes, die aber nur — wie gezeigt wurde — eine psychologische ist. In der 2. Ausg. der Kr. d. r. V. ist nun die transzendentale Ab- leitung der Apriorität des Raumes in dem hier eingefügten Kapitel „Transzendentale Erörterung des Begriffes vom Raum" anschei- nend unabhängig von der „metaphysischen" vollzogen. Auf die transzendentale Frage, nach der Art der Vorstellung des Rau- mes als Bedingung der Möglichkeit der Geometrie, als einer Wissen- schaft, welche die Eigenschaften desselben „synthetisch und doch a priori" bestimmt, wird die Antwort gegeben: der Raum müsse „apriorische Anschauung" sein. Und der letzte Absatz dieses Kapitels lautet dann: „Also macht allein unsere Erklärung die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori begreiflich. Eine jede Erklärungsart, die dieses nicht- liefert, wenn sie gleich dem Anscheine nach mit ihr einige Ähn- lichkeit hätte, kann an diesen Kennzeichen am sichersten von ihr unterschieden werden". Daß auch hier die schon bewiesene Raum- theorie nachträglich zur Fundierung der Mathematik benützt wird2), ist wohl eine nicht abzuweisende Auffassung, wenn dies auch in der 2. Ausg. nicht so offenkundig geschieht wie in der ersten. Das Ergebnis dieser Darlegung ist also, daß trotz der An- 1) Vergl. Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 337. 2) Ebenda S. 338. 21* 324 Constanze Friedmann, fassung des Problems von zwei Seiten in der zweiten Ansgabe — nämlich sowohl von der synthetischen und der analytischen als anch von der psychologischen nnd transzendentalen — der ur- sprüngliche Gedankengang (der synthetisch-psychologische) der maßgebende bleibt und daß so die psychologisch abgeleitete Apriorität des Raumes die Basis der Möglichkeit der Geometrie bildet1). Weiter ist noch zu zeigen, daß dieser Verquickung von trans- szendentaler mit psychologischer Methode bei der Ableitung der Apriorität des Raumes parallel geht die Identifikation unserer entwickelten Raumanschauung mit dem euklidischen Raumbegriff. — Dem Beweise, daß der Raum (der der Geometrie zugrunde- liegende) Anschauung und nicht Begriff sei, sind ja bekanntlich das 3. und 4. Raumargument der transzendentalen Ästhetik der 2. Ausgabe der Kritik gewidmet. — Diese Identifikation war für Kant noch möglich, weil er nur die euklidische Geometrie kannte, deren Sätze für den euklidischen dreidimensionalen Raum gelten. Dieser entspricht aber unserer entwickelten Raumanschauung und infolgedessen können in ihr die Sätze der euklidischen Geometrie anschaulich gemacht werden. Stöhr2) sagt: „Der physiologische Sehraum wird durch Kinästhesien nicht optisch zum euklidischen gestaltet, wohl aber ausgedeutet", was ich so auffassen möchte: wir haben optisch keinen dreidimensionalen homogenen Raum, fak- tisch aber, als Bewußtseinsphänomen haben wir durch Assoziate von Tast-, Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen mii dem ursprünglich physiologischen „relie vierten" Sehraum einen drei- dimensionalen Raum, der begrifflich erfaßt, zum euklidischen wird. — Kant wurde nun durch die noch nahe Beziehung des euklidischen Raumbegriffes zu unserer entwickelten Raum- anschauung, die er ja nicht weiter analysiert, vor allem durch die Dreidimensionalität beider dazu verführt, sie zu iden- tifizieren und so die psychologische Notwendigkeit, mit der sich die Raumanschauung kundtut, als logische Voraus- setzung, als Bedingung der Geometrie, hinzustellen. So allein wird es für ihn möglich, das Resultat der metaphysischen Erörterung des Begriffs vom Raum als Antwort auf die transzendentale Frage» 1) Auch der Beschluß der transzendentalen Ästhetik, der die transzendentale Problemstellung resp. — Lösung in den Vordergrund rückt, — sowie die diesem vorangehenden Absätze II, III, IV sind Zugabe der 2. Ausgabe. 2) Stöhr: Psychol. S. 219. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 325 nach der Art der Vorstellung des Raumes, als Bedingung der Möglichkeit der Geometrie, zu benützen. Hierin zeigt sich auch die historische Beschränkung x) der transzendentalen Methode. Wären zur Zeit Kants die nichteuklidischen G-eometrien bekannt gewesen, so hätte er den euklidischen Raum niemals als alleinige Voraussetzung der Geometrie aufstellen können. So wäre er aber vor der Identifikation von Raumbegriff, als Voraussetzung einer Wissenschaft, mit psychologisch gegebener, entwickelter Rauman- schauung und den aus dieser Gleichsetzung sich ergebenden Kon- sequenzen bewahrt geblieben. Ableitung der reinen Anschauungsform Zeit. Der Gedankengang des ersten Teiles dieses Abschnitts ist ähnlich dem des vorhergehenden. Statt ihn also ausführlich dar- zulegen, berufe ich mich auf das daselbst Gesagte und beschränke mich hier auf das Wesentlichste. Das 1. Zeitargument ist parallel dem 1. Raumargument gebaut. Das dort Ausgeführte gilt in analoger Weise auch hier. Wieder handelt es sich nur um eine Priorität — hier der Zeit vor der tatsächlichen Vorstellung des Zugleich- und Aufeinanderfolgens. Das Beweisargument „Denn das Zugleichsein oder Aufeinander- folgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum. Grunde läge", beruht auch hier auf der als „petitio principii" eingeführten Trennung in Form und Inhalt, die — wie schon ausgeführt — auf ein Erlebnis zurückgeht. Der Schlußsatz gibt nochmals „eine erläuternde Be- schreibung des Beweisarguments" 2). Das zweite Zeitargument — wobei vorläufig das der 1. Aus- gabe berücksichtigt werden soll — ist ebenfalls parallel dem 2. Raumargument gebaut. Auf die Fassung desselben in der 2. Ausgabe werde ich noch zurückkommen. Den Beweisgrund für den Schlußsatz — conclusio — „die Zeit ist also a priori gegeben" — bildet die Nichthinweg- denkbarkeit der Zeit, ihre absolute Notwendigkeit, also ein psychologisch - introspektives Motiv: „Diese (die Erscheinungen) können insgesamt wegfallen, aber sie selbst (die Zeit) kann nicht aufgehoben werden". Hier sind wieder die zwei Momente zu be- 1) Vergl. MaxScheler: Die transzendentale und die psychologische Methode. 2) Vergl. Vaihinger : Kommentar. 2. Bd. S. 368. 326 Constanze Friedmann, achten: 1. die Verwechslung von Abstraktions- mit Vorstellungs- möglichkeit und 2. die Behauptung der Nichteliminierbarkeit nur des einen Abstraktionsproduktes, der Zeit. Daß es sich bei Kant um eine Verwechslung von Abstraktions- mit Vorstellungs- möglichkeit handelt, wird dadurch kar, daß die Vorstellung einer leeren Zeit eine Unmöglichkeit darstellt. „Würde es möglich sein, das Bewußtsein von allen Inhalten und Veränderungen zu entleeren, so würde die Wahrnehmung der Zeit verschwinden; niemals aber die Wahrnehmung einer leeren Zeit entstehen" '). Durch Abstraktion von den qualitativ differenten Inhalten gelangen wir zum Begriff einer leeren Zeit, der aber ab- solut nicht identisch ist mit der Vorstellung einer leeren Zeit, wie überhaupt Zeitbegriff und Zeitvorstellung auseinandergehalten werden müssen. — Das, was wir erleben, sind immer nur zeitlich bestimmte Erscheinungen d. h. gleichzeitige oder aufeinanderfolgende Bewußtseinsinhalte. Wird von den Inhalten möglichst abstrahiert, so hat es den Anschein, als ob die Zeitvorstellung allein übrig bliebe. In Wirklichkeit sind in diesen Zuständen „des Zwielichts unseres Bewußtseins" — nach einem Terminus von Wundt — immer noch unbestimmte, nicht mehr eliminierbare Inhalte ge- geben: der Schlag unseres Herzens, unser Atmen, die Schwan- kungen unserer Aufmerksamkeit, Fragmente von Worten und Sätzen, die durch den Kopf gehen2). An diesen rhythmischen Prozessen nun hängt unser entwickeltes Zeitbewußtsein, die Zeit- vorstellung3),'wie wir sie erleben. Sie läßt sich in ursprüngliche Zeitempfindungen, Spannungs- und Vitalempfindungen auflösen, die auf den periodischen, vitalen und motorischen Prozessen der Aufmerksamkeitsschwankungen beruhen. Da diese Inhalte nun einerseits sehr unbestimmt sind und nicht deutlich zu Bewußtsein kommen, anderseits gar nicht eliminierbar, so hat Kant sie nicht mehr als Inhalte aufgefaßt, sondern er glaubte in diesem Stadium der Abstraktion von bestimmten Inhalten, schon^bei 1) Jodl: Psychol. 2. Bd. S. 170. 2) Vergl. hierzu James : Psychol. S. 282 und Mach : Erk. u. Irrtum u. Anal, d. Empfindungen. 3) Ich gebrauche synonym: Zeitbewußtsein, psychologische Zeit, Zeitvor- stellung, Zeitanschauung, Dauer. Zeitvorstellung schließt eigentlich auch die vor- gestellte Zeit in sich. Hier ist dieser Bedeutungsunterschied vernachlässigt, weil bei Kant Zeitvorstellung gleichbedeutend mit Zeitanschauung gebraucht ist. — Zum Begriff „Dauer" vergl. ßergson: „Zeit u. Freiheit", „Schöpferische Entwicklung". Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 327 der Vorstellung der Zeit als solcher angelangt zu sein. Gerade die psychologische Notwendigkeit aber, mit der diese vitalen und motorischen Prozesse sich im subjektiven Erlebnis spiegeln, hat Kant die Sicherheit gegeben, von der Vorstellung der Zeit, für die er diese nicht weiter analysierten Erlebnisse nahm, zu sagen, daß sie selbst nicht aufgehoben werden könne, „ob man ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann" . In der 2. Ausgabe ist das 2. Zeitargument nicht ganz parallel dem 2. Raumargument gebaut. Durch den Einsatz „als die Be- dingung ihrer Möglichkeit" ist die absolute Notwendigkeit ganz in die relative verwandelt. Kant ist hier wie überall in der 2. Ausgabe viel vorsichtiger; er verfährt strenger transzendental, „hat aber durch diesen Zusatz den eigentlichen ßeweisnerv ge- tötet" *). Man sieht auch hier, daß die Aufdeckung des Apriori aus dem Erlebnis, also die psychologische Motivation die ur- sprüngliche war und daß die transzendentale nachträgliche Ein- kleidung das ganze Argument seiner Beweiskraft beraubt. Das 3. Zeitargument, das in der 1. und 2. Ausgabe der „Kri- tik" gleichlautet, ist parallel gebaut dem 3. Raumargument der 1. Ausgabe. Hier wird aus der Apriorität der Zeitvorstellung, — die aber, wie gezeigt, nur psychologisch im 1. und 2. Zeitargument deduziert wurde — die Apodiktizität der Zeitaxiome abgeleitet. Auch hier muß also gelten, was an entsprechender Stelle in analoger Weise schon von der Apodiktizität der Geometrie gesagt wurde, daß die Apodiktizität der Zeitaxiome nichteinAusgangs- punkt, sondern ein Ergebnis sei2). In dem erst in der 2. Ausgabe eingefügten Kapitel „Transzendentale Erörterung des Begriffs der Zeit" beruft sich Kant auf Nr. 3 der metaphysischen Erörterung, wodurch es also ganz klar wird, — worauf schon bei Besprechung der transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Raum hingewiesen wurde — , daß Kant in der transzendentalen Erörterung das Ergebnis der metaphysischen verwendet, die Zeit also nicht transzendental („Also erklärt unser Zeitbegriff die Möglichkeit so vieler synthetischer Erkenntnis a priori, als die allgemeine Bewegungslehre, die nicht wenig fruchtbar ist, dar- legt"), als Voraussetzung der Bewegungslehre deduziert, sondern psychologisch-introspektiv aufgedeckt wurde, hier also eine 1) Vergl. Vaihinger : Kommentar. 2. Bd. S. 370. 2) Vergl. oben S. 324. 328 Constanze Friedmann, Verquickung von transzendentaler mit psychologischer Methode vorliegt. Dieser geht wieder parallel die Identifikation der von Kant nicht weiter analysierten Zeitvorstellung, der Zeit als Er- lebnis, der Dauer — mit der Zeit als Begriff, die die Voraus- setzung der Mechanik bildet, mit der objektiv metrischen Zeit. — Dem Beweis, daß die Zeit (die der Bewegungslehre zugrunde- liegende) nicht Begriff, sondern Anschauung sei, sind ja bekanntlich das 4. und 5. Zeitargument gewidmet. — Die metrische Zeit hat sich aus dem Zeitbewußtsein heraus entwickelt. Mach sagt: „Ohne Zweifel liegt in der Verwendung dieser Mittel (all der periodischen Vorgänge, die im Organismus reichlich vertreten sind) der Anfang der physikalischen Chronometrie" 1). Im Altertum soll die sub- jektiv-psychologische Zeit direkt zur Zeitmessung benützt worden sein. So erzählt der Diener Ataxerxes in Hebbels „Herodes und Mariamne", daß er am Hof des Satrapen Uhr gewesen sei. — Der zwanzigjährige Galilei fand das Gesetz: die Quadratwurzeln aus den Pendellängen verhalten sich wie die Schwingungsdauern, in- dem er die Schwingungsdauer von an langen Ketten schwingenden Kirchenampeln mit seinen Pulsschlägen verglich2). — Die me- trische Zeit also, die auf der Zeitvorstellung beruht und sich aus ihr entwickelt hat, ist Voraussetzung der Mechanik. Sie wird durch Vergleichung physikalischer Vorgänge untereinander mittelst des Raumvikariates gewonnen. Nur durch die Identifikation der Zeitvorstellung mit der metrischen Zeit wird es für Kant möglich, das Ergebnis der metaphysischen Erörterung als Antwort auf die transzendentale Frage, nach der apriorischen Bedingung der Be- wegungslehre, zu benützen, d. h. die psychologisch aufgedeckte Zeit- vorstellung als Voraussetzung der Möglichkeit der Bewegungslehre aufzustellen. Die Identifikation von Zeitanschauung mit Zeitbegriff kommt aber noch an anderer Stelle zum Ausdruck, dort, wo Kant die Phänomenalität unserer inneren Zustände darauf gründet, daß „wir die Zeit, die doch gar kein Gegenstand äußerer Anschauung ist, uns nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde einer Linie, sofern wir sie ziehen, ohne welche Darstellungsart wir die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen könnten, un- gleichen, daß wir die Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der 1) Mach : Erk. u. Irrtum. S. 422. 2) E. Lecher: Lehrbuch der Physik. S. 36. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 329 Zeitstellen für alle inneren Wahrnehmungen immer von dem her- nehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen, folglich die Bestimmungen des innern Sinns gerade auf dieselbe Art wie Erscheinungen in der Zeit ordnen müssen, wie wir die der äußeren Sinne im Räume ordnen usw. " *). Erst hierin erblickt er die innere Berechtigung der Lehre, daß „wir uns selbst nur so anschauen wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden", d. h. daß wir „unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist" erkennen, während er sie als Folge aus der Trennung in Form und Inhalt in der transzen- dentalen Ästhetik noch als „widersprechend" empfand, als „das Paradoxe, was jedermann bei der Exposition der Form des innern Sinns auffallen mußte" 2). Es ist aber nach dem Vorhergesagten klar, daß der hier als Beweis für die Phänomenalität der inneren Zustände angeführten Projizierbarkeit der Zeit in den Raum eine unbewußte Verquickung von Zeitanschauung mit Zeitbegriff zu- grundeliegt, da diese ebenso wie die Behauptung, daß die Gerade als Symbol der Zeit vorgestellt werden könne, nur für die metrische homogene Zeit, den Zeitbegriff Geltung hat, während die psycho- logische Zeit, die Zeitanschauung, „die Form des innern Sinns, die das Verhältnis der Vorstellungen in unserem inneren Zustand be- stimmt", die heterogene, untrennbar von den Bewußtseinsinhalten ein für alle Male mit diesen verschwindende Zeit nicht als Linie vor- gestellt und abgemessen werden kann. — Daß Kant in der Geraden ein adäquates Symbol der Zeitanschauung erblickt, hat vielleicht auch darin seine psychologische Wurzel, daß diesem Symbol — wie bei Besprechung der produktiven Einbildungskraft noch aus- geführt werden wird — eine motorische Reaktion mit der sub- jektiven Erlebnisseite des Spontaneitätsgefühls zugrunde liegt und daß hierin eine innere Verwandtschaft mit der psychologischen Not- wendigkeit der Zeitanschauung, die auf die uneliminierbaren rhyth- mischen vitalen Prozesse zurückgeführt wurde, erlebt wird. — So führt die unbewußte Identifikation von Zeitanschauung und Zeit- begriff Kant zu verhängnisvollen Konsequenzen, indem die hierauf beruhende Lehre von der Phänomenalität des eigenen Selbst das Kant'sche System in Widersprüche verwickelt, die nur durch die Sprengung seiner Grenzen aufgelöst werden können. Das Problem 1) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 122. 2) Ebenda S. 120. 330 Constanze Friedmann, der Freiheit wird innerhalb des konsequenten Kantischen Kriti- zismus unlösbar ; ihre Lösung und Erfüllung kann die Freiheit nur in einem intelligiblen Reich finden. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Bergson von einem ganz anderen Ausgangspunkte. Er sagt: „Kants Irrtum bestand darin, daß er die Zeit als ein homogenes Medium auffaßte" und so die „Dauer" mit] dem Zeit begriff identifizierte — infolgedessen „die symbolische Repräsentation des Ich mit dem Ick selbst" *). Damit werde aber unser in der Dauer verfließendes, sich organisierendes Ich zu einem Phantom-Ich, die psychischen Tatsachen könnten nur erfaßt werden, indem sie nebeneinander gereiht und von einander geschieden werden, innerhalb ihrer müßte dann aber dieselbe Kau- salität herrschen wie in den äußeren Erscheinungen, weshalb die Freiheit, für die es hier keinen Platz geben könne, in ein intelli- gibles Ich gerettet werden müsse. — So kommt denn Bergson vom Begriff der Dauer aus zum gleichen Ergebnis wie wir, die wir von der Verquickung transzendentaler mit psychologischer Methode bei Kant ausgehend, die Identifikation der heterogenen, diskreten Zeit, der Zeitanschauung" mit der homogenen, kontinuier- lichen, verräumlichten Zeit, dem Zeitbegriff nachgewiesen haben. II. Transzendentale Analytik. Die metaphysische Deduktion der Kategorien, ihre Aufdeckung an der Hand der Urteilstafel, will ich hier übergehen. Sie wird damit motiviert, daß der Verstand, der mittels seiner Formen Ordnung des Mannigfaltigen „Erfahrung" zustande bringe, die Urteilsformen der formalen Logik konstituiere. Ich wende mich der transzendentalen Deduktion der Kategorien zu, die diese als Bedingungen der Erfahrung nachweisen, ihr „quid iuris" erweisen will. „Die Möglichkeit einer Verbindung überhaupt" sei ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft. Die Kategorie setze schon Verbindung und Einheit voraus2). „Also müssen wir diese Ein- heit noch höher suchen, nämlich in demj eiligen, was selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urteilen, mithin die Möglichkeit des Verstandes sogar in seinem logischen Gebrauche enthält." Diese letzte Einheit, auf die die Kategorien als auf ihre 1) Bergson: Zeit u. Freiheit. S. 182. 2) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 108. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 331 Basis zurückweisen, ist die ursprünglich - synthetische Einheit der Apperzeption. Die transzendentale Einheit der Apperzeption. Nirgends wird es so klar, daß Kants Transzendentalismus letzten Endes im ursprünglichen Erlebnis gipfelt, wie an dem höchsten entscheidendsten Punkte seiner theoretischen Philosophie, bei der ursprünglich - synthetischen Einheit der Apperzeption. So wie das erlebte Sollen die Voraussetzung für das Bewußtwerden der Freiheit bildet und somit den Ankerpunkt für die Auflösung der Antinomien und den Aufbau einer Metaphysik als eines Po- stulatensystems, so bildet das Erlebnis der Spontaneität und Ak- tualität die Grundlage der transzendentalen Einheit der Apper- zeption. Allerdings kann hier die Verquickung von transzenden- taler mit psychologischer Methode nicht so scharf nachgewiesen werden wie dies in den vorhergehenden Kapiteln geschah; dennoch ist es für denjenigen, der sich in das Wesen der transzenden- talen Apperzeption versenkt, besonders evident, daß Kant hier aus dem Erlebnis geschöpft hat. Die analytische Einheit der Apperzeption, die darin bestehen soll, daß die in der Anschauung gegebenen Vorstellungen als mir zugehörend, als die meinen aufgefaßt werden „ist nur unter der Voraussetzung der synthe- tischen möglich". Es genügt noch nicht, daß ich jede Vor- stellung mit Bewußtsein begleite, da das empirische Bewußtsein an sich zerstreut ist und ohne Beziehung auf die Identität des Subjektes, sondern erst dadurch, daß ich eine Vorstellung zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin, wird die Beziehung auf die Identität des Subjekts geschaffen. Der „Aktus der Spontaneität" also, der sich in der Vorstellung des „Ich denke ..." kundgibt, schafft die Einheit des Selbstbewußt- seins. Kant sagt: „. . . Der Gedanke, diese in der Anschau- ung gegebenen Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach soviel, als ich vereinige, sie in einem Selbstbewußtsein oder kann sie wenigstens darin vereinigen usw.". Während in der empirischen Apperzeption Vorstellungen mit Bewußtsein begleitet werden, wird in der transzendentalen Apperzeption die Apperzeptionstätigkeit selbst apperzipiert oder sie muß zumindest apperzipiert werden können. Dies die Be- deutung des „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können". 332 Constanze Friedmann, Es handelt sich also für uns darum zu begreifen, was diese reine Spontaneität, dieses „Ich denke ..." seinem innersten Wesen nach ist und den Beweggrund aufzudecken, der Kant dazu veranlaßt, hierin „die Voraussetzung der Möglichkeit einer Verbindung über- haupt", die letzte Voraussetzung für die Möglichkeit der Er- kenntnis durch Kategorien zu erblicken. Wenn wir, um dies fest- zustellen, in analogiam zu unserer Kritik der Raum- und Zeit- anschauung hier vorgehend > zunächst im gegebenen komplexen Bewußtseins Vorgang von den Vorstellungen abstrahieren, so bleibt etwas im Bewußtsein zurück, das vorstellt, das Verbindungen her- stellt; dem Objekt steht das Subjekt gegenüber und dieses erfassen wir als unser empirisches Ich. Gehen wir nun aber auf dem Wege der Abstraktion weiter, so gelangen wir schließlich zu einem aller Inhalte entleerten Ich, von dem wir kaum etwas auszusagen ver- möchten ; dennoch hat geradediesesletzteBand der wechseln- den Bewußtseinsinhalte für uns vollste Realität; je weniger wir von diesem Ich wissen, umso intensiver fühlen, erleben wir es. Das, was wir hier erleben, ist das Gefühl unserer eigenen Spontaneität und Aktualität, das Minimum des empirischen Ich, das inhaltlich unbestimmbar ist und immer dort vorhanden, wo ein Ich sich noch a]s Ich begreift. — Die psycho- logische Notwendigkeit, mit der dieses latente Aktionsgefühl erlebt wird, ist für Kant bestimmend, darin das logische, transzendentale Ich zu erblicken. Wir wissen auch, daß bei vollständiger Hingabe an das Objekt dieses latente Aktionsgefühl schwindet und daß dann die Vorstellungen nicht mehr als zum Ich gehörende aufgefaßt werden, der Zustand des Sichverlierens, des Sichvergessens, der Extase eintritt. Hier wäre nach Kant, infolge des Verlustes der ursprünglich - syntheti- schen Einheit der Apperzeption, auch die analytische Einheit der- selben aufgehoben, während, wie die Ergebnisse der psycho-patho- logischen Forschungen in einwandfreier Weise kundtun, in diesen und ähnlichen parapsychologischen1) und pathologischen Fällen durch Ausfall des Gefühls der Spontaneität das normale Selbst- bewußtsein einfach verschwunden ist. Dieses, im gesunden Seelen- leben, immer bewußt oder unbewußt erlebte Minimum des empiri- schen Ich kann (subjektiv) als Komplex von Organ- und kinästhe ti- schen Empfindungen und deren Kontinuität, (objektiv) als Motilität 1) Vergl. Dessoir: Vom Jenseits der Seele. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 333 oder Reaktionsfähigkeit begriffen werden. Dort, wo diese Konti- nuität durch Veränderung von Organempfindungen durchbrochen ist, treten dann die geschilderten Phänomene wie auch die der sogenannten Depersonalisation, des Doppelbewußtseins usw. auf. Hierauf kann im Rahmen dieser Ausführungen nicht näher eingegangen werden, ebensowenig auf die verschiedenen Formen von Apraxie, die alle auf Störungen der normalen Motilität und der Kinästhesien zurückzu- führen sind. Ich habe diese Fälle nur erwähnt alsBeleg dafür, daß das Erlebnis der Aktualität und Spontaneität die größte Bedeutung für unser Selbstbewußtsein besitzt, wodurch klar werden soll, daß die erlebte Spontaneität, die in der Vorstellung des „Ich denke . . ." ihren Ausdruck findet, für Kant eine so große Evidenz erhält. — Es soll noch kurz darauf hingewiesen werden, daß die Reak- tion mit ihrer subjektiven Seite: der erlebten Aktivität und Spon- taneität die Grundlage für die Einprägung in das Gedächtnis und für das Wiedererkennen bildet. Bergson führt in „Gedächtnis und Materie" x) diesbezügliche Experimente an. Hiemit wäre auch für die 1. Ausgabe der Kr. d. r. V., in der die verschiedenen Stufen des Erkennens psychologisch aufgelöst werden als: Apprehension, Reproduktion in der Einbildung und Rekognition im Begriff das Motiv, eine transzendentale Voraussetzung zu diesem empirischen Bewußtseinsprozeß zu postulieren, als erlebtes Aktionsgefühl dargetan. Produktive Einbildungskraft und Schema. Vorerst eine Bemerkung über den Zusammenhang und Gang der „Kritik", die für diese Ausführungen von Belang ist. Die transzendentale Deduktion der Kategorien scheint mir im Gegen- satz zu Kuno Fischer nicht in dem gleichnamigen Kapitel der „Analytik der Begriffe" erschöpft zu sein. Die Rechtfertigung der Kategorien besteht bekanntlich darin, daß sie „von Seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt enthalten", daß sie „den Erscheinungen, mithin der Natur, als In- begriff aller Erscheinungen, Gesetze a priori vorschreiben", d. h. 1) Bergson führt S. 80 aus, daß Versuchspersonen, die eine bestimmte Silbe aussprechen mußten, während man ihnen für kurze Zeit Worte zeigte, sich diese nicht einprägen konnten, weil sie gehindert waren, die nötigen Artikulations- bewegungen auszuführen. S. 84 Der Seelenblinde erkennt Gegenstände, die ihm gezeigt werden, nicht wieder, obgleich kein Ausfall früherer Taterinnerungen vor- handen ist. 334 Constanze Fried mann, aber, daß die Grundsätze, die das System der Natur ausmachen, „welches vor aller empirischen Naturerkenntnis vorhergeht, diese zuerst möglich macht und daher die eigentliche, allgemeine und reine Naturwissenschaft genannt werden kann . . . aus reinen Ver- standesbegriffen a priori herfließen". — Die Tatsache der Grund- sätze "also bildet die Rechtfertigung der Kategorien und gehört zu ihrer transzendentalen Deduktion, wenn diese auch äußerlich schon vor- her abgeschlossen erscheint. — Damit es aber zu Grundsätzen kommen könne, bedarf es einer Versöhnung der diskreten, scheinbar unver- einbaren Elemente : des Verstandes und der Sinnlichkeit, der Kate- gorien und der Erscheinungen. Diese Brücke vom rein Intellek- tualen zum rein Sinnlichen wird durch die produktive Einbildungs- kraft mittelst der Zeitanschauung gebaut, die das transzendentale Schema liefert. So gehört also der Schematismus, der die An- wendbarkeit der Kategorien auf Erscheinungen dartut, meiner Auffassung nach, noch zur transzendentalen Deduktion der Kate- gorien, während nach Kuno Fischer die Anwendbarkeit oder Un- anwendbarkeit der Kategorien ihre bereits „bewiesene Geltung" gar nicht beeinflussen kann1). — Es soll also noch an der pro- duktiven Einbildungskraft und dem transzendentalen Schema ge- zeigt werden, daß auch hier Erlebnismomente deren Evidenz be- gründen, ebenso wie dies bei der transzendentalen Einheit der Apperzeption der Fall war. Neben der transzendentalen Einheit der Apperzeption, welche eine Verstandesverbindung a priori darstellt, (synthesis intellec- tualis) ist nach Kant noch eine zweite Synthesis des Mannigfaltigen, der sinnlichen Anschauung a priori möglich und notwendig, die „figürliche Synthesis" (synthesis speciosa). „. . . ihre (der pro- duktiven Einbildungskraft) Synthesis ist eine Ausübung der Spon- taneität, welche bestimmend und nicht wie der Sinn bloß bestimm- bar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann usw." In einer Anmerkung, die von größter Wichtigkeit für das Verständnis dieser Stelle ist, sagt Kant2): „Bewegung eines Ob- jekts im Räume gehört nicht in eine reine Wissenschaft, folglich auch nicht in die Geometrie, weil, daß etwas beweglich sei, nicht a priori, sondern nur durch Erfahrung erkannt werden kann. 1) Kuno Fischer : Gesch. d. Philos. Bd. 3. S. 377. 2) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 121 Anm. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 335 Aber Bewegung als Beschreibung eines Raumes ist ein reiner Aktus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft und ge- hört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendental- philosophie". Und man könnte sagen, daß der Text des § 24 der Kr. d. r. Vern. eher eine Erläuterung dieser Anmerkung darstelle als daß das Umgekehrte der Fall wäre. „Bewegung als Handlung des Subjekts ... als Beschreibung: eines Raumes" ist für Kant die Tat der produktiven Einbildungskraft, die Spontaneität, die eine „Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste An- wendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegen- stände der uns möglichen Anschauung" ist. Diese Spontaneität nun gibt sich in Kants eigenen Worten in folgendem kund : „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen und selbst die Zeit nicht *), ohne indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn sukzessiv bestimmen, und dadurch auf die Sukzession dieser Be- stimmung in demselben Acht haben usw.". Hier ist nun der Punkt, wo mit Klarheit das Motiv zutage tritt, von dem in diesen Aus- führungen wiederholt behauptet wurde, daß es verstecktermaßen eine so bedeutende Rolle in der Ableitung des Apriori bei Kant spielt. Daß wir, wenn wir uns eine Linie denken sollen, sie in Gedanken ziehen müssen, besagt nichts anderes, als daß der Be- griff einer Linie stets von einer Bewegungvorstellung begleitet ist oder — da es ein aus der Psychologie bekanntes Fakum ist, daß Bewegungsvorstellungen die Tendenz haben in Be- wegungen überzugehen — daß mit dem Begriffe einer Linie eine wirkliche motorische Reaktion mit den damit verbun- denen kiji ästhetischen Empfindungen gegeben ist. Noch stärker kann diese Auffassung betont werden durch den Hinweis auf die Theorie Stöhrs, für den nur durch die Bewegung der Er- zeugung der Geraden der Begriff derselben zustande kommt, d. h. „das Begreifen an der Bewegung, nicht die Bewegung am Begreifen" 2) 1) Vergl. oben über die Ableitung der reinen Anschanungsform Zeit. 2) Vergl. Stöhr: Psychologie. S. 333. 336 Constanze Friedmann, hängt. Das also, was Kant als Tat eines transzendentalen Ver- mögens, als „reinen Aktns der sukzessiven Synthesis des Mannig- faltigen in der äußeren Anschauung" auffaßt, enthüllt sich uns als eine begriffsbildende motorische Reaktion mit ihrer subjektiven Erlebnisseite: dem Gefühl der Aktualität und Spontaneität, das sich mit psychologischer Notwendigkeit und Evidenz kundgibt. Es erhellt aus dem Vorhergehenden, daß wir auch die Evi- denz des Schemas, „des transzendentalen Produktes der Einbildungs- kraft", das durch seine sowohl intellektuelle als auch sinnliche Be- schaffenheit die Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen ermöglichen soll, in analoger Weise wie die der transzendentalen Einbildungskraft selbst, auf Motilität und Aktionsgefühle zurück- führen können. Daher will ich hier nur ganz kurz das Schema der Sukzession erörtern. „So bringt der Verstand", sagt Kant, „sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor, indem er den inneren Sinn affiziert". Wir haben schon bei Besprechung der Ableitung der reinen Anschauungsform Zeit darauf hingewiesen, daß Tatsache des Erlebens immer nur gleichzeitige oder auf ein- ander folgende Bewußtseinszustände seien, wobei wir hier nur letztere zu berücksichtigen haben. „Eine Sukzession von Bewußt- seinszuständen an und für sich ist aber noch kein Sukzessions- bewußtsein" l). Dieses besteht in der Vorausnahme, ♦Erwar- tung solcher Ereignisse, die wir als anderen sukzedierend erlebt haben und die dann auftritt, wenn die ersten Ereignisse in Er- scheinung treten. Mit dem Auftreten einer ErscheinuDg A ist eine Erwartung, Vorausnahme, Bereitschaft auf eine Erscheinung B unmittelbar verknüpft, der eine motorische Reaktion, verbunden mit der von der Vorstellung A noch nicht „dissoziierten" Vor- stellung B2), zugrunde liegt. Hieraus leitet sich also der Begriff der Sukzession ab, der die unmittelbare Provenienz aus dem Er- lebnis in psychologischer Notwendigkeit kundtut, die wiederum von Kant als reine Spontaneität des Verstandes gedeutet wird. Die Spontaneität, die nach Kant „eine und dieselbe ist ..., welche dort unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt" 3), wurde demnach darauf zurückgeführt, daß sowohl 1) James : Psychol. S. 286. 2) Vergl. Stöhr : Psychol. S. 367. 3) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 126. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 337 der produktiven Einbildungskraft und dem Schema wie auch der transzendentalen Einheit der Apperzeption Spontaneitätsgefühle zugrundeliegen, die deren unmittelbare Evidenz begründen. Die Kategorie der Kausalität und die J2. Analogie der Erfahrung. Nachdem wir den Begriff der Sukzession auf sein psycholo- gisches Fundament zurückgeführt haben, wollen wir nun endlich zur Erörterung der Kategorie der Kausalität und der 2. Analogie der Erfahrung übergehen. — Das Kant' sehe System ist trotz der vielen Widersprüche, die in ihm liegen und der Voraussetzungen, die oft das zu Beweisende vorwegnehmen oder vielleicht gerade infolge dieser Unvollkommenheiten und auch der historischen Be- dingtheiten desselben — ein so geschlossenes Ganzes, daß es un- endlich schwer ist, eine Bresche zu schlagen und bis zum innersten Teil dieser Festung vorzudringen, deren Mauern, Türme und Tore die grandiose Architektonik der sich gegenseitig stützenden Begriffe und Gedanken darstellt. In dieses innerste Herz der Kantischen Philosophie aber gilt es einzudringen, wenn wir daran gehen wollen, die Kategorie der Kausalität und die auf ihr beruhende 2. Ana- logie der Erfahrung kritisch zu betrachten. Hier laufen alle Gedankengänge, alle von verschiedenen Aus- gangspunkten kommenden Fragestellungen des Kantischen Systems zusammen und von hier aus gehen sie wieder in die verschieden- sten Richtungen auseinander. Bekanntlich war es der schwere Angriff, den David Hume auf die Metaphysik machte, indem er behauptete, daß der Begriff der Verknüpfung der Ursache und Wirkung zu Unrecht als von der Vernunft erzeugt, als a priori gedacht, dargestellt werde, der den Kantischen Untersuchungen „im Felde der spekulativen Philosophie . . . eine ganz . . . andere Richtung" gab, Kant „aus dem dogma- tischen Schlummer erweckte" 1). Und weiter ist bekannt, daß Kant versuchte, „ob sich nicht Humes Einwarf allgemein vorstellen ließe" und daß er bald fand: „daß der Begriff der Verknüpfung der Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige sei, durch den der Verstand a priori, sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß Metaphysik ganz und gar daraus bestehe". So er- weiterte sich denn für Kant die Frage nach der Möglichkeit einer Metaphysik, die durch den Hume'schen Zweifel angeregt war, zu einer ganz neuen Wissenschaft, die den Umfang und die Grenzen 1) Prol. S. 13. Kantstudien XXVL 22 338 Constanze Friedmann, des reinen Vernnnftvermögens bestimmen sollte. Und das Ergebnis ist : die Einschränkung apriorischer Erkenntnisse auf Erscheinungen, damit verbunden die Verneinung der Möglichkeit einer Metaphysik als der Wissenschaft von den Dingen an sich, dagegen ihre Rettung als eines Systems des Glaubens. — Daß es apriorische Erkenntnisse geben müsse, stand für Kant fest, war ihm durch die Dignität der Mathematik und Naturwissenschaft verbürgt. Hierin liegt seine eingangs besprochene historische Bedingtheit, das Festhalten am rationalistischen Ausgangspunkt. Gerade das Experiment, das Galilei und Toricelli zuerst anwandten, ist für Kant ein Beweis, daß „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse ; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf" *). Die Grundsätze sind „die beständigen Gesetze", welche vorangehen müssen, welche nach der Kopernikanischen Wendung „die Natur, als Inbegriff der Erscheinungen, erst möglich machen". — Für eine nicht auf dem Boden des Rationalismus stehende Auffassung ist es nicht einzu- sehen, warum derartige Grundsätze, Prinzipien, mittels derer Fragen an die Natur gestellt werden, aus reiner Vernunft entspringen müssen, warum sie nicht, im Laufe der Entwicklung selbst ge- wordene, heuristische Prinzipien sein können. — Eine weitere Voraussetzung liegt darin, daß nach Kant die Gesetze des empirischen Seins den Gesetzen des logischen Denkens entsprechen müssen, daß also der Verstand, der durch seine synthetische Einheit die Erfahrung zustande bringt, derselbe ist, der vermittelst der ana- lytischen Einheit die Urteilsformen konstituiert, m. a. W. die logi- schen Formen ontologische Bedeutung besitzen müssen. — Auf diese Voraussetzung gründet sich die metaphysische Deduktion der Kategorien aus der Urteilstafel, während die transzendentale De- duktion derselben (die in dem Nachweis besteht, daß nur durch die Kategorien und die aus ihnen fließenden Grundsätze „Erfahrung"^ möglich sei, welche aber gewährleistet ist durch die Tatsache der Mathematik und reinen Naturwissenschaft) die Voraussetzung in 1) Vorr. z. Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 10. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 339 sich trägt, daß es apriorische Vernunftfaktoren sein müssen, die — im Zusammentreffen mit den aposteriorischen Elementen — „Er- fahrung", „allgemeine und notwendige Erkenntnisse" zustande bringen. — So haben wir denn in der doppelten Deduktion der Kategorien die Voraussetzung nachgewiesen, die im dogmatischen Glauben an apriorische Erkenntnisbestandteile besteht und auf die sich letzten Endes die (metaphysisch: aus der Urteilstafel, trans- zendental: aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung ab- geleitete) Apriorität des transzendentalen Faktors der Erkenntnis gründet. Der Kritizismus besteht demnach nicht insofern in einer Über- windung des Dogmatismus, daß er fragen würde, o b es apriorische Erkenntnisse geben könne — ihre Existenz steht für Kant außer Zweifel — sondern nur insofern er die Machtvollkommenheit der apriorischen Erkenntnisse auf Erscheinungen restringiert, die Meta- physik als die Wissenschaft von den Dingen an sich negiert. — Die Kategorie der Kausalität, deren Verleumdung von Seiten Humes als „Bastard der Einbildungskraft, beschwängert durch Erfahrung" den Anstoß zur theoretischen Philosophie Kants gegeben hat, bildet nicht nur den Zentralpunkt der transzendentalen Analytik, sondern auch den Punkt, wo die theoretische Philosophie, an der Grenze des Erkennens angelangt, in praktischen Glauben umschlägt. Und zwar leistet die Kategorie der Kausalität hier einen doppelten Dienst. Erstens dient sie per nefas zur Einführung des Dinges an sich als Ursache der Erscheinung, der transzendentalen Affektion, wenn auch nur als eines „noumenon im negativen Verstände", eines Grenzbegriffes, eines unbestimmten X. Zweitens aber wird in der Auflösung der 3. Antinomie das Gesetz der Kausalität als nur giltig im Reiche der Erscheinungen dargelegt, während für die Dinge an sich die Freiheit gelten muß, die als praktische Idee unser Handeln bestimmen soll. So führt die theoretische Philo- sophie, ihren Ausgangspunkt von der Begründung der Kausalität als einer apriorischen Kategorie nehmend, zur Negation der Meta- physik als Wissenschaft, zu ihrer Wiederaufrichtung als Glaubens- system. „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen", sagt Kant in der Vorrede zur Kr. d. r. V. In die nähere Besprechung der Kategorie der Kausalität und der zweiten Analogie der Erfahrung nun eingehend, ist also vor- erst zu sagen: der eine der beiden sich gegenseitig oft durch- dringenden Faktoren, von denen zu Beginn dieser Ausführungen 22* 340 Constanze Frieämann, gesagt wurde, daß sie an den Inkonsequenzen des Kantischen Sy- stems Schuld tragen (nämlich: die historische Bedingtheit des Kantischen Denkens, die im Festhalten am rationalistischen Aus- gangspunkt besteht, im Glauben, daß nur Erkenntnisse aus reiner Vernunft oder doch zumindest Erkenntnisse, deren ein Bestandteil aus reiner Vernunft entspringt — allgemeine und notwendige Er- kenntnisse sein können, wie sie in Mathematik und Naturwissen- schaft vorliegen) wurde als stillschweigende Voraussetzung der ganzen Kantischen theoretischen Philosophie und insbesondere der transzendentalen Analytik nachgewiesen. Gemäß dieser Voraussetzung entsteht aus dem Wahrnehmungs- urteil, „der logischen Verknüpfung von Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt", erst durch das Hinzukommen von „besonderen, im Verstand ursprünglich erzeugten Begriffen . . . das Erfahrungs- urteil" 1). Objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeinheit sind Wechselbegriffe, deren ersterer auf die Allgemeingiltigkeit der em- pirischen Urteile zurückgeht, „die, wie gesagt, niemals auf empiri- schen, ja überhaupt sinnlichen Bedingungen, sondern auf einem reinen Verstandesbegriffe beruht" 2). Und in transzendentaler Fassung aus- gedrückt, ist: „Erfahrung", „Erkenntnis" nur möglich, wenn Er- scheinungen unter reine apriorische Verstandesbegriffe subsumiert werden. •— Daß es sich bei den Analogien der Erfahrung nicht um direkte Subsumption der Erscheinungen unter Kategorien, sondern um Subsumption unter deren Schemata handelt, ist für den allgemeinen Gesichtspunkt, den es hier vor allem klarzulegen gilt, irrelevant. — „Also ist nur dadurch, daß wir die Folge der Erscheinungen, mithin alle Veränderung dem Gesetze der Kausalität unterwerfen , selbst Erfahrung , d. i. empirische Erkenntnis von denselben, möglich; mithin sind sie selbst als Gegenstände der Er- fahrung nur nach eben dem Gesetze möglich3). „Der Hume'sche Angriff auf das Gesetz der Kausalität, daß es ein propter hoc dort statuiere, wo ein häufiges post hoc durch Erfahrung gegeben sei und damit nur einer inneren subjektiven Nötigung nachkomme, wird von Kant durch den Nachweis widerlegt, daß ein objektives post hoc erst durch Voraussetzung einer Regel, nach der die Er- scheinungen notwendig aufeinander folgen, möglich wird. Von der 1) Prol. S. 78. 2) Ebenda. 3) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 168. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 341 Frage nach der Berechtigung ausgehend, die in der Apprehension jederzeit sukzessiv gegebenen Vorstellungen objektiv einander suk- zedieren zu lassen, kommt Kant zum Resultat, daß „ . . . es immer in Rücksicht auf eine Regel, nach welcher die Erscheinungen in ihrer Folge, d. i. soweit sie geschehen, durch die vorigen Zustände bestimmt sind, . . . geschieht, . . . daß ich meine subjektive Syn- thesis (Apprehension) objektiv mache, und nur lediglich unter dieser Voraussetzung allein ist selbst die Erfahrung von etwas, was geschieht, möglich" 1). Die 2. Analogie der Erfahrung in der 1. Ausgabe lautend: „Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt" — ist also ein regulatives apriorisches Prinzip, allerdings nur im empirischen Ge- brauch. Den Nachweis dafür will Kant durch Beispiele erbringen. „Es kommt also darauf an, im Beispiele zu zeigen, daß wir niemals, selbst in der Erfahrung, die Folge (einer Begebenheit, da etwas geschieht, was vorher nicht war) dem Objekt beilegen und sie von der subjektiven unserer Apprehension unterscheiden, als wenn eine Regel zum Grunde liegt, die uns nötigt, diese Ordnung der Wahr- nehmungen viel mehr als eine andere zu beobachten, ja daß diese Nö- tigung es eigentlich sei, was die Vorstellung einer Sukzession im Objekt allererst möglich macht"2). Wir werden also vorerst zu zeigen haben, daß Kant die Auf- gabe, die er sich gestellt hat, keineswegs löst, da er in den Bei- spielen niemals bis zu einer Regel vordringt, welche dazu be- rechtigen würde, die subjektiv sukzessive Apprehension objektiv zu machen, sondern daß es sich hier immer nur um eine anderswo- her gewonnene Kenntnis des sachlichen Zusammenhanges handelt, die also für den. betreffenden Fall a priori ist, dies aber nicht in dem strengen Sinne des Wortes, da sie doch ihrerseits aus Erfahrung stammt. Wir wissen, daß ein flußabwärts treibendes Schiff zuerst im Ober- und dann im Unterlauf des Flusses als „Wahrnehmungs- möglichkeit" existiert und geben infolgedessen unserer subjektiven Apprehension objektive Giltigkeit. Die Sukzession in der subjek- tiven Apprehension muß keineswegs immer parallel gehen der objektiven Folge der Erscheinungen; immer ist es nur die Kenntnis des sachlichen Zusammenhanges, die über Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung derselben aufklärt. — Ein interessantes, von 1) Kr. d. r.V. 2. Ausg. S. 171. 2) Ebenda. 342 Constanze Friedmann, Mach in anderem Zusammenhange angeführtes Beispiel, ist folgendes. In der „Analyse der Empfindungen" heißt es: „Es ist bekannt, daß ein optischer Eindruck, der physisch später entsteht, unter Um- ständen dennoch früher erscheinen kann. Es kommt z. B. vor, daß der Chirurg beim Aderlassen zuerst das Blut austreten und dann den Schnepper einschlagen sieht" *). Die objektive Folge : Ein- schlagen des Schneppers — Blutaustritt, kann also nicht durch die subjektive Apprehensioh bestimmt werden, sondern nur gemäß der Kenntnis des sachlichen Zusammenhanges. Von einem Apriori kann hier nur in dem Sinne gesprochen werden, in dem Kant selbst in der Einl. z. Kr. d. r. V. seinemApriori ein Apriori in nicht stringent er Bedeutung gegenüberstellt, nämlich: „nicht unmittelbar aus der Erfahrung, sondern aus einer allgemeinen Regel, die wir gleichwohl selbst doch aus der Erfahrung entlehnt haben". Er führt an, daß man von jemand, der das Fundament seines Hauses untergräbt, sagen wird: „Er konnte es a priori wissen, daß es einfallen würde, d. i. er durfte nicht auf die Erfahrung, daß es wirklich einfiele, warten. . . . Allein" fügt Kant hinzu, „gänzlich a priori konnte er dieses doch nicht wissen, denn daß die Körper schwer sind und daher, wenn ihnen die Stütze entzogen wird, fallen, mußte ihm doch zuvor durch Erfahrung bekannt werden". Und genau dasselbe läßt sich auf alle von Kant selbst als Beleg für die transzendentale Deduktion und gleichzeitig als Widerlegung der Hume'schen Theorie des Kausalitätsgesetzes angeführten Bei- spiele sagen. Die subjektiv sukzessive Apprehension wird objektiv durch die für den betreffenden Fall a priori gegebene Kenntnis des sachlichen Zusammen- hanges. Auch inbezug auf das Beispiel von der Stubenwärme, deren „Ursache der Ofen" ist und inbezug auf das vom „Grübchen im Kissen, . . . dessen . . . Ursache die Kugel" ist, muß gesagt werden, daß die Nichtumkehrbärkeit des Abhängigkeitsverhält- nisses der Erscheinungen, auf die hier „die objektive Suk- zession in der Zeit" reduziert ist 2), (da es sich doch eben um gleich- zeitige Erscheinungen handelt) auf der für den betreffenden Fall a priori (aber dennoch aus Erfahrung) gegebenen Kenntnis des sachlichen Zusammenhanges beruht. Im ersten Beispiele wissen wir, daß das Feuer im Ofen einen Raum erwärmt und ebenso wissen 1) Mach: Anal, der Empfindungen. S. 195. 2) Worauf noch zurückzukommen ist. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 343 wir im zweiten, daß das Kesistenzvermögen des Kissens ein ge- ringeres ist als das Gewicht der Kugel und daß aus dieser Prä- misse — zusammen mit dem allgemeinen Gesetz von der gleichen Aktion und Reaktion der Kräfte — der Schluß folgt: also wird die Kugel einen Druck ausüben, der größer ist als der Gegendruck des Polsters. So haben wir also durch Analyse dieser Beispiele gezeigt, daß Kant garnicht bis zu einem transzendental apriorischen Prinzip, das aller Erfahrung vorhergehen müsse, damit aus subjektiv suk- zessiver Apprehension objektive Folge der Erscheinungen werden könne, vorgedrungen ist, sondern daß es sich in diesen Beispielen vielmehr immer nur um eine jeweils schon gegebene Kenntnis des sachlichen Zusammenhanges handelt, die die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der subjektiv sukzessiven Apprehension mit der objektiven Folge der Erscheinungen (resp. die Nichtumkehrbar- keit des Abhängigkeitsverhältnisses derselben) bestimmt. Wollen wir aber im Sinne Kants fragen, wie die Kenntnis eines sachlichen Zusammenhanges möglich sei, ob hier nicht aprio- rische Yerstandesgesetze als Voraussetzung vorhergehen müßten, so kommen wir zu dem Ergebnis : Voraussetzung für eine Wissen- schaft und Erkenntnis ist die Annahme der Konstanz und des Zusammenhanges der Erscheinungen, welche Formulierung im we- sentlichen dem allgemein für die Analogien der Erfahrung gel- tenden Prinzip („Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich") ent- spricht. Die Frage würde sich also dahin zuspitzen, ob dieses letzte allgemeine Prinzip, um allgemeine Notwendigkeit und ob- jektive Giltigkeit zu garantieren, aus reiner Vernunft stammen müsse. Und da werden wir sagen, daß eine Bejahung nur durch die oben besprochene rationalistische Voraussetzung motiviert sei, während für unsere Auffassung die Konstanz und der Zusammen- hang der Erscheinungen ein, biologisch (in dem Streben nach Sta- bilität) und psychologisch (im Assoziationsmechanismus) fundiertes, im Laufe der Entwicklung gewonnenes, • für die Forschung unentbehr- liches, heuristisches Prinzip darstellt. Paulsen neigt auch hinsicht- lich des Kant'schen Kausalitätsgesetzes letzterer Auffassung zu: „. . . Freilich ist es dann nicht ein schlechthin notwendiges und allgemeines Gesetz, sondern wie alle Naturgesetze, ein bloß prä- sumtiv allgemein giltiger Satz". Und an anderer Stelle: „Und so das Gesetz der Kausalität überhaupt : es ist die letzte axiomatische 344 Constanze Friodmann, Voraussetzung, womit die Wissenschaft an ihr Werk geht, aber nicht ein starres Aprioribesitztum, sondern in der Arbeit an ge- gebenem Material gebildet, was denn im Grunde auch Kants An- schauung ist, nur daß die Angst vor dem Skeptizismus Humes ihn hindert, es so auszusprechen" x). Die Rettung vor dem „bodenlosen Skeptizismus" erschien aber Kant in der Gestalt eines rationali- stischen — wenn auch begrenzten — Dogmatismus; dies eben die historische Schranke seines Denkens. Daß wir an Stelle des Kausalitätsgesetzes „die Konstanz und den Zusammenhang der Erscheinungen" als letzte Voraussetzung der Wissenschaft postulierten — als Voraussetzung der Erfahrung im Sinne der Kenntnis eines sachlichen Zusammenhanges, die allein dazu berechtigt, die subjektiv sukzessive Apprehension als objektive Folge der Erscheinungen aufzustellen, hat darin seinen Grund, daß letztere Formulierung genauer ist als das Kausalitätsgesetz, dem „Unvollständigkeit, Unbestimmtheit und Einseitigkeit" 2) anhaftet. Schon Kant gibt zu, daß sich hier eine „Bedenklichkeit" äußert, „die gehoben werden muß. Der Satz der Kausalverknüpfung unter den Erscheinungen ist in unserer Formel auf die Reihenfolge der- selben eingeschränkt, da es sich doch bei dem Gebrauch derselben findet, daß er auah auf ihre Begleitung passe und Ursache und Wirkung zugleich sein könne" 3J. So haben wir schon an den früher erörterten Beispielen gesehen, daß die Sukzession in der Zeit, für die allein ja das Kausalgesetz gelten soll, auf die Nicht- umkehrbarkeit einer Abhängigkeitsbeziehung von gleichzeitigen Erscheinungen reduziert wird. Kant sagt: „Die Zeit zwischen der Kausalität der Ursache und deren unmittelbaren Wirkung kann verschwindend (sie also zugleich) sein, aber das Verhältnis der einen zur anderen bleibt doch immer der Zeit nach bestimmbar ... ich unterscheide doch beide durch das Zeitverhältnis der dynamischen Verknüpfung beider"4), was aber nichts anderes als die Nichtumkehrbarkeit der Abhängigkeits- beziehung beinhaltet. — Immer können wir sehen, daß eine Kau- salitätsbeziehung zweier Erscheinungen, die für das praktische Leben ausreichend sein mag, aus dem sie ja auch ihr Dasein ab- leitet, für wissenschaftliche Zwecke höchst ungenau ist und sich 1) Paulsen : Kant. S. 206. 2) Mach : Anal, der Empfindungen. S. 76. 3) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 175. 4) Ebenda. Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 345 in Abhängigkeitsbeziehungen der einzelnen Faktoren von einander, die durch Analyse der noch komplexen Erscheinungen (Ursache — Wirkung) gewonnen werden, auflösen läßt. Das Kausalitätsgesetz wird also durch den Funktionalzusammenhang ersetzt. „Alle genau und klar erkannten Abhängigkeiten lassen sich als gegenseitige Simultanbeziehungen ansehen ?, sagt Mach1). Die Nichtumkehrbar- keit im Abhängigkeitsverhältnis zweier Erscheinungen findet be- kanntlich darin ihren Ausdruck, daß die eine der beiden Erschei- nungen als unabhängig Variable, die andere als abhängig Variable dargestellt wird. Hier ist noch zu bemerken: Nach Kant wird das Wahr- nehmungsurteil, wie oben schon erwähnt, erst durch Anwendung einer Kategorie zum Erfahrungsurteil. Die „Erfahrungsurteile" lassen aber in ihrer Form eine Analogie mit menschlichen Hand- lungen erkennen. Kant selbst führt in den ,Prolegomena' als „leichter einzusehendes Beispiel", um den Gegensatz von Er- fahrungsurteil und Wahrnehmungsurteil darzutun, folgendes an: „Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm. Dieses Urteil ist ein bloßes Wahrnehmungsurteil und enthält keine Not- wendigkeit; ich mag dieses noch so oft und andere auch noch so oft wahrgenommen haben. Die Wahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so verbunden. Sage ich aber: die Sonne erwärmt den Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch der Verstandes- begriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheines den der Wärme notwendig verknüpft und das synthetische Urteil wird notwendig allgemeingiltig, folglich objektiv und aus einer Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt". Die Notwendigkeit, von der hier gesprochen wird, ist aber eine, Kant aus dem Erlebnis des Wirkens bekannte, eine psychologische Notwendig- keit, die mit der logischen Notwendigkeit einer apriori- schen Voraussetzung verquickt wird. Wäre das psychologische Erlebnis nicht ein unbewußtes Motiv der hier statuierten Not- wendigkeit, so wäre nicht einzusehen, warum das Urteil „wenn die Sonne den Stein erwärmt, so wird er warm" nicht dieselbe ob- jektive Geltung und notwendige Allgemeinheit besitzen sollte, wie das Urteil „die Sonne erwärmt den Stein". Auch im ersten Fall ist eine Voraussetzung vorhanden, die in der Aufstellung der Abhängigkeitsbeziehung besteht; also handelt es sich auch hier 1) Anal, der Empfindungen. S. 75. 346 Constanze Friedniann, nicht nur um ein Wahrnehmungsurteil. Diese Voraussetzung haben wir aber als die der Konstanz und des Zusammenhanges der Erscheinungen aufgezeigt, in die das von anthropopathi- schen Elementen gesäuberte Kausalitätsgesetz übergeht. Not- wendiger Zusammenhang der Erscheinungen ist eine logische Vor- aussetzung der Erkenntnis und der Wissenschaft, Notwendigkeit auf Grund eines „Bewirkens" aber enthält das im Handeln erlebte Kraftgefühl, auf das die Wirkung in der Zeit folgt ; psychologische und logische Notwendigkeit sind da miteinander verschmolzen. In diese Auffassung des Kausalitätsgesetzes spielt aber auch die in einem früheren Kapitel besprochene Identifikation von Zeit- anschauung und Zeitbegriff hinein. Es ist klar, daß die nach Analogie menschlicher Handlungen aufgefaßten Abhängigkeitsbe- ziehungen der Erscheinungen nur in dem Schema der Sukzession in der Zeit realisierbar gedacht werden können. Nur in der psychologischen Zeit, der verfließenden Dauer, kann das Wirken vor sich gehen. Infolgedessen erblickt Kant selbst in der Be- ziehung gleichzeitiger Erscheinungen ein „Zeitverhältnis dynami- scher Verknüpfung". Die auf ein Nichts reduzierbare Zeit aber (vergl. oben S. 328) ist eine ganz andere Zeit als die psychologische, erlebte Zeitanschaung, es ist nämlich die metrische Zeit, die auf Raummessung beruht. Und so ist es nur die Identifikation von Zeit- anschauung und Zeitbegriff, die Kant dazu veranlaßt, die simul- tanen Abhängigkeitsbeziehungen in eine „dynamische Verknüpfung in der Zeit" aufzulösen. So haben wir denn 1. nachgewiesen, daß die dogmatisch-ratio- nalistische Voraussetzung, daß nur Erkenntnisse aus reiner Ver- nunft (resp. bei denen ein Faktor aus reiner Vernunft stammt) der Dignität der Mathematik und Naturwissenschaft entsprechen können, in der metaphysischen und transzendentalen Deduktion der Kate- gorien enthalten ist ; 2. haben wir durch Diskussion der Beispiele, die Kant anführt, um dar zutun, daß ein objektives post hoc nur durch Anwendung einer Regel, des Kausalitätsgesetzes, möglich sei, gezeigt, daß Kant keineswegs bis zu einem letzten transzen- dentalen, apriorischen Prinzip in diesen vordringt; 3. haben wir im Sinne Kants die Frage stellend, nach einer letzten Voraus- setzung für die Möglichkeit der Erkenntnis und der Wissenschaft : das biologisch und psychologisch fundierte, heuristische Prinzip der Konstanz und des Zusammenhanges der Erscheinungen ge- wonnen, das wir an Stelle des Kausalitätsgesetzes setzten, wegen Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 347 seiner größeren Genauigkeit und Präzision; 4. haben wir zu zeigen versucht, daß der Begriff der Notwendigkeit, den das Kausalitäts- gesetz enthält, auf einem psychologischen, aus dem Erlebnis des Handelns, Wirkens stammenden, Motiv beruht und daß so die psy- chologische Notwendigkeit mit der logischen transzendentalen Not- wendigkeit verschmilzt und 5. und letztens haben wir darauf hin- gewiesen , daß die früher besprochene Identifikation von Zeit- anschauung und Zeitbegriff auch in die Kantische Auffassung des Kausalitätsgesetzes eingeht. Während bei der Ableitung von Eaum und Zeit wie auch bei der der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins und der produk- tiven Einbildungskraft die Erlebnismomente immer durch die trans- szendentale Deduktion hindurchschimmern und so leicht aufgedeckt werden konnten, ist die Ableitung der Grundsätze, von denen hier nur die 2. Analogie der Erfahrung eine eingehende Besprechung erfuhr, so sehr in das Kantische System eingebaut, daß die psycho- logischen Momente, die auch hier wirksam sind, nur mühsam zum Vorschein gebracht werden konnten. Die Überzeugung Kants, daß das Kausalitätsgesetz, entgegen der Behauptung Hum es, einen Apriori- besitz darstelle, ist letzten Endes — abgesehen von den vorerst er- örterten Motiven — in der erlebten Spontaneität des Handelns und Denkens gegründet, auf die, als letzte Quelle, wir die transzenden- tale Einheit des Selbstbewußtseins ebenso wie den kategorischen Im- perativ zurückgeführt haben. — Darin, daß der Forscher im Experiment Fragen an die Natur stellt, „Gesetze a priori" postuliert, die verifi- ziert werden sollen, sieht Kant ja den Beleg seiner Theorien. Daß diese Fragen als Hypothesen gestellt werden, die ihrerseits durch Intuition des Forschers inbezug auf die maßgebenden Faktoren einer komplexen Erscheinung bedingt sind — entspricht unserer heutigen Auffassung, aber nicht dem Kantischen Denken. In der Spontaneität des Forschers, der Zusammenhänge schafft (als Hypothesen), unter die er die Erscheinungen subsumiert (als Verifikation durch das Experiment), erblickt Kant die apriorische Tätigkeit des Verstandes, der durch seine Spontaneität „der Natur ihre Gesetze vorschreibt". Schluß. Von zwei Seiten wurde in vorliegender Schrift eine Kritik und Neubeleuchtung der Kantischen Philosophie versucht. Einer- seits sollte das psychologische Erlebnis aufgedeckt werden in der 348 Constanze Friedmann, Kolle, die es bei Ableitung des Apriori verhülltermaßen spielt, andererseits sollte die historische Bedingtheit des Kantischen Den- kens, soweit durch sie Voraussetzungen in die Deduktionen ein- dringen, klargelegt werden. Daß diese beiden Momente sich gegen- seitig oft durchdringen, wurde schon an anderer Stelle hervor- gehoben und in der Ableitung der Grundsätze wurde auf letzteres Moment größeres Gewicht gelegt. Zum Schlüsse möchte ich noch ein Bekenntnis ablegen. Oft und oft hatte ich während dieser Arbeit das Gefühl, daß es eine Pietätslosigkeit sei, den Widersprüchen, unausgesprochenen Vor- aussetzungen und historischen Bedingtheiten im System des größten philosophischen Genius nachzuspüren. Bei der Lektüre der Kr. d. r. V., insbesondere aber der Prolegomena verließ mich immer wieder der kritische Verstand und ich stand im Banne dieses ungeheuren Geistes, dessen Überzeugungskraft hinreißend wird, wenn er den Ton ruhiger abstrakt sachlicher Darlegung verlassend, in seher- hafter Sprache zu reden beginnt. Nur der Umstand, daß dies eigentlich selten bei Kant der Fall ist und daß eine große Gedanken- arbeit dazu gehört, den vielfach verschlungenen Pfaden seines Sy- stems zu folgen, macht es erklärlich, daß er unter seinen un- zähligen Verehrern keine Proselyten gemacht, sondern sich diese zu ebenso vielen Kritikern erzogen hat. Aus der Verquickung von transzendentaler und psychologischer Methode bei Kant, die in der vorliegenden Untersuchung im Ein- zelnen nachgewiesen wurde, folgt aber — wie in der Einleitung schon angedeutet — daß es möglich, ja notwendig sei, den scharfen Gegensatz von Transzendentalismus und kritischem Psy- chologismus zu überbrücken. Einerseits muß der Transzendentalismus, der sich von Kant als dem Begründer der kritischen Methode herleitet, anerkennen, daß Kant selbst das Apriori nicht immer transzendental aufgedeckt hat, daß er — geleitet von Erlebnismomenten, die in Anschauungs- formen und Kategorien enthalten sind, oft als logisch-notwendige Voraussetzung einer Wissenschaft ein psychologisches Apriori benützt oder einen nur für eine bestimmte Zeit als Apriori dieser Wissenschaft geltenden Begriff. (Ich verweise insbesondere auf meine Darstellung der Raumanschauung.) Andererseits muß der Transzendentalismus, will er strenger als Kant selbst verfahren, die Konsequenzen seiner Methode ziehen, die ihn aber in unlösliche Widersprüche verwickeln. — Nur durch Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 349 seine unbewußte Inkonsequenz ist Kant den inneren Widersprüchen der transzendentalen Methode entgangen. — Die beiden Grund- auf gaben, die Kant mittelst der kritischen Methode erfüllen will, kann sie ihrem Wesen nach nicht leisten. Bei Kant sind sie, wie folgt, formuliert: I. „Ich verstehe aber unter einer trans- szendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffs als eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkennt- nisse a priori eingesehen werden kann. Zu dieser Absicht wird erfordert 1. daß wirklich derlei Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfließen 2. daß diese Erkenntnisse nur unter der Vor- aussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffs möglich sind" *). IL „Was nun die1 Gewißheit betrifft, so habe ich mir selbst das Urteil gesprochen: daß es in dieser Art von Betrach- tungen auf keine Weise erlaubt sei zu meinen, und daß alles, was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die auch für den geringsten Preis nicht feilstehen darf, sondern sobald sie entdeckt wird, beschlagen werden muß"2). Das regressive Verfahren, zu einer gegebenen Wissenschaft die Voraussetzungen ihrer Möglichkeit zu suchen, kann sich nur auf die logische Anordnung der Ergebnisse der Wissen- schaft beziehen, ohne daß damit gesagt wäre, daß diese apriori- schen Voraussetzungen auch bei Entstehung dieser Wissenschaft maßgebend waren. Damit wird aber, wie Max Scheler in „Die transzendentale und psychologische Methode" nachweist, der Erkenntnisprozeß in ganz unnötiger Weise verdoppelt. Der Schluß von gegebenen Sätzen — so hier von den mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen — auf die Voraus- setzungen ihrer Möglichkeit, kann nur mögliche Voraussetzungen liefern, also sind die gefundenen Prämissen nur Hypo- thesen8). Und weiters können die mittels des regressiven Ver- fahrens aufgedeckten Voraussetzungen einer Wissenschaft nur für ein bestimmtes Entwicklungsstadium derselben Geltung beanspruchen. (Vergl. meine Ausführungen über den euklidischen Raumbegriff bei Kant.) — Die transzendentale Methode — kon- sequent durchgeführt — kann also nur Hypothesen liefern, die sich auf die logische Anordnung der Ergebnisse der Wissenschaften 1) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 54. 2) Vorr. z. Kr. d. r. V. 1. Ausg. 3) Vergl. Sigwart : Logik. 2. Bd. S. 292. 350 ConstanzeFriedmann, Psychologische Momente i n d er Ableitung usw . beziehen und zwar nur auf ein bestimmtes Entwicklungsstadium derselben. Da sich nun der Transzendentalismus damit nicht begnügen kann, muß er — um die „wirklich notwendigen Voraussetzungen" *) der Wissenschaften aufzudecken — die regressiv aufgesuchten apriorischen Erkenntnisbegriffe bis zu ihren "Wurzeln, bis in die Mentalität des Menschen hinein, in seine Organisation, zurückver- folgen. Damit beschreitet er aber den von Fr. A. Lange gewiesenen Weg der transzendentalpsychologischen Methode, die das Entstehen des Apriori selbst aufdecken will. Während die psychogene tische Methode auf progressivem Wege verfolgt, wie sich aus dem gewöhnlichen Ablauf der Vorstellungen durch Assoziation und Abstraktion die präzisen Werkzeuge der Forschung herausbilden, muß die zur transzendentalpsychologischen erweiterte transzendentale Methode regressiv bis zur Psyche des Menschen fortschreiten. Die bei Kant unbewußte Korrektur und Ergänzung der transzendentalen Methode von Seiten des Erlebnisses muß also zu einem bewußten Zurück- greifen auf die Quellen der Erkenntnisbegriffe — der Deduktion des logischen Apriori aus der psychologi- schen Konstitution — ausgebaut werden. 1) Vergl. oben S. 349. Genie und Tragik. Von Dr. Ottomar Wiclimann, Privatdoz. d. Philos a. d. Univ. Halle. Making . . . we fooles of nature So horridly to shake our disposition With thoughts beyond the reaches of our soules. Hamlet, I, 4.39. I. Die Problematik der Freiheitsidee. Kaum ein Gebiet — außer vielleicht dem politischen — ist wohl so geeignet, die Dialektik des Begriffs der Freiheit zu zeigen, wie die Erscheinung des Tragischen; die Dialektik, d. h. das not- wendige Zusammenbrechen der klarsten und sichersten Aufstellungen, wobei dennoch das Recht des Begriffs bewahrt bleibt. Beim Tra- gischen springt der Zwiespalt der begrifflichen Auffassung dadurch schon in die Augen, daß man sein Wesen einerseits in der Freiheit, andererseits in der Notwendigkeit fand; das Postulat einer Synthese ergiebt dann Schellings Satz: es müsse im Tragischen die Identität von Notwendigkeit und Freiheit liegen. Schelling hat mit das Geistvollste über Tragik überhaupt ge- schrieben. Aber seine Voraussetzungen sind uns heute fremd. Trotz- dem bin ich überzeugt, daß tatsächlich aus den beiden Begriffen der Freiheit und Notwendigkeit das entscheidende Verständnis für das Wesen des Tragischen entspringt, und ferner, daß aus Kanti- schen Gesichtspunkten — ethischen wie ästhetischen — die Lösung sich ergibt : Auch die folgenden Ausführungen werden meiner Mei- nung nach, gerade wo sie von Kant abweichen, diesen durch die Ausnahme bestätigen, d. h. die unabsehbare Entwicklungsfähigkeit und Gestaltungskraft seiner Grundgedanken beweisen. Ohne weiteres ist die Notwendigkeit, die im Handeln des tragischen Helden sich ausprägt, augenfällig. Blind, unaufhaltsam geht er seinem Untergang entgegen. Was andere tun, ihn zu retten, was er selbst einmal nach dieser Richtung unternehmen mag, was der Zufall an günstigen Momenten ihm in den Weg 352 Ott omar Wichmann, wirft — eg dient nur, um die hier vorwaltende starre und uner- bittliche Notwendigkeit noch deutlicher zu machen. Dieser Zng, nirgends ganz fehlend, in einigen der anerkanntesten Tragödien wie dem Ödipus Rex und der Braut von Messina mächtig sich äußernd, ist bekanntlich zeitweise (etwa 1809 — 1825) in der „Schick- salstragödie" zur Modesache und dementsprechend übertrieben und verzerrt worden. So hat auch Leopold Ziegler in seinen ge- dankenvollen Ausführungen „Zur Metaphysik des Tragischen" *), in der Notwendigkeit einen Grundzug des Tragischen gesehen: In dem Zusammenhang verschiedener Willensrichtungen, die alle, so- lange sie in einem gegenseitig abgestuften Verhältnis stehen, zweck- voll und berechtigt sind, wird eine zum Selbstzweck. Ohne Rück- sicht auf die Bedingtheit ihrer Geltung im Rahmen einer weiteren zweckvollen Ordnung wird sie für sich als unbedingt genommen und gewinnt so, im Mißverhältnis zu allen anderen, eine aufs äußerste gesteigerte und übertriebene Intensität, eine starre, un- lösbare Eigenmächtigkeit und Rücksichtslosigkeit, aus der sich un- ausbleiblich der Zusammenstoß mit anderen berechtigten Bestre- bungen und der Untergang ergibt. Ziegler bestreitet dabei folge- richtig die Freiheit des tragischen Menschen. Frei ist nach ihm der Mensch bei seinen sittlichen Entscheidungen im Gegen- satz zum Tier und seinem blinden Trieb. Aber diese menschliche Freiheit hat der tragische Mensch verloren, er ist nicht mehr frei, die Entscheidungswahl steht ihm nicht mehr zu. Ziegler ist folge- richtig genug, die so sich ergebende Übereinstimmung der tra- gischen Persönlichkeit mit dem Tier zuzugeben, und — wie bei E. v. Hartmann — wird aus diesem Gedankengang das Tragische als die blinde Notwendigkeit zum Weltgesetz überhaupt: auch in tieferen Lebewesen, sogar in der einzelnen Dynamide äußert sich solche tragische Überspannung der Willensintensität, wobei dann freilich die Tragik des Tieres 'und der Natur als unter sittlich zu nehmen ist, die des Menschen als ü b e r sittlich, indem es eine Beziehung aufs Metaphysische und Göttliche gewinnt. — Es liegt auf der Hand, wie in diesen Ausführungen das Ausschlaggebende der Zug der Notwendigkeit im Tragischen ist, genau wie in Hebbels Auffassung2), der in der mit dem Wesen des Menschen notwendig gegebenen Willensüberspannung das Wesen des Tragischen sieht, und 1) Leopold Ziegler, Zur Metaphysik des Tragischen. Leipzig 1902. 2) In „Mein Wort zum Drama" und im Vorwort zu „Maria Magdalena". Genie und Tragik. 353 auch bei Max Scheler *), wenn er vom Tragischen spricht als von einem „wesentlichen Moment im Universum selbst", von dem „schweren, kühlen Hauch, der von diesen Dingen selbst ausgeht", von der „Abwälzung des Furchtbaren auf den Kosmos als Wesen". So unverkennbar dieser Zug der Notwendigkeit im Handeln des tragischen Helden ist, so unvermeidlich es für eine Theorie des Tragischen ist, Ursprung und Wesen dieser Notwendigkeit deutlich zu machen und zu erklären, so soll doch die folgende Untersuchung vom genau entgegengesetzten Pol ihren Ausgang nehmen : von der Auffassung, die den Grundzug im Handeln des tragischen Helden in seiner Freiheit erblickt. Dabei wird sich, so denke ich, gerade aus dem Begriff der Freiheit und aus seiner Problematik schärfer und unverkennbarer das Wesen derjenigen Notwendigkeit ergeben, die in dem tragischen Handeln sich äußert. Wir werden — aus ganz entgegengesetzter Richtung — , die Aufstellungen Hebbels, Zieglers, Schelers bestätigt und verdeut- licht finden. Zum Leitsatz der Untersuchung mag uns dabei eine Äußerung Goethes in der Rede „Zu Shakespeares Namenstag" (von 1771) dienen, die das Wesen des Tragischen als Freiheit hinstellt und, wie wir sehen werden, ein Höchstes anschaulicher Formulierung des hier vorliegenden Sachverhalts bedeutet: „Shakespeares . . Plane sind . . keine Plane; aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Phi- losoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigen- tümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit un- seres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt"2). Was Gundolf3), der diese Stelle anführt, daran tadelt — daß nämlich darin eine Kennzeichnung nicht der eigentlich Shakespeareschen , sondern der Tragik überhaupt liege — , ist richtig; es macht aber diesen Satz nur wertvoller: wir werden sehen, daß dasjenige, was hier als das eigentlich Tra- gische gekennzeichnet ist, in so mächtiger Form außer bei Shake- speare nur noch vielleicht bei Goethe selbst und bei Homer sich findet. Auf den Freiheitsgedanken in der eigentümlich Kantischen Fassung hat zunächst dessen getreuer Schüler, Friedrich Schiller, 1) Max Scheler, „Zum Phänomen des Tragischen", im „Umsturz der Werte" I, S. 237 ff. 2) Cottasche Ausg. 1885 Bd. VIII, S. 773. 3) Friedrich Gundolf, Goethe, 1917. S. 111. Kautstadieu XXVI. 23 354 Ottomar Wichtoann, seine bedeutsamen Ausführungen über das Wesen des Tragischen *) aufgebaut. So heißt es in der Abhandlung „Über das Pathetische" : „Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der lei- denden Natur. Das zweite ist Darstellung des moralischen Wider- standes gegen das Leiden" . . . Von dem Menschen wird schlechter- dings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefordert, durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm : die Intelli- genz, kenntlich macht. Damit ist aufs deutlichste als Gegenstand des Tragischen die Darstellung der Freiheit hingestellt, und zwar der im Kantischen Sinne als moralisch verstandenen Freiheit. Das gilt nach Schiller auch für die Fälle, wo wir zwar keinen moralischen Zweck der Handlung erkennen können, wie wenn z. B. Peregrinus Proteus durch seine Selbstverbrennung in Olympia die Pflicht der Selbsterhaltung verletzt: trotzdem befriedigt uns diese Handlung, weil sie wenigstens die Fähigkeit zum Moralischen beweist. Ebenso bezeichnet Schiller in der Abhandlung „Über den Grund ..." die Tragödie als „diejenige Dichtungsart, welche uns die moralische Lust in vorzüglichem Grade gewährt . . ihr Gebiet umfaßt alle möglichen Fälle, in der irgend eine Naturzweckmäßigkeit einer moralischen oder auch eine moralische Zweckmäßigkeit der anderen, die höher ist, aufgeopfert wird". Mit dieser Begründung der tra- gischen Wirkung auf dem moralischen Wohlgefallen stimmt es überein, wenn die höchste Steigerung dieser tragischen Wirkung darin gesehen wird, daß man „sich in die Ahnung oder lieber in ein deutliches Bewußtsein einer teleologischen Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, eines gütigen Willens verliert". Eine unmittelbare Hindeutung auf die Kantische Philosophie, auf die aus dieser quellende Weltanschauung als den darzustellenden Gegenstand liegt dann in den Worten: „Die neuere Kunst, welche den Vorteil genießt, von einer geläuterten Philosophie einen reineren Stoff zu empfangen, ist es aufbehalten, auch die höchste Forderung zu erfüllen, und so die ganze moralische Würde der Kunst zu ent- falten". So wenig nun die hohe Bedeutsamkeit dieser Gedanken bestritten werden soll, so mächtig darin der Dichter der Jungfrau von Or- leans und des Teil den besten Schwung seiner eigenen Dichtung gezeichnet hat — so muß doch verschiedenes diese Bestimmung 1) „Über das Pathetische", „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen". „Über die trag. Kunst". Genie und Tragik. 355 des Tragischen in hohem Maße zweifelhaft machen. Sie wider- spricht zunächst der Kantischen Ästhetik, die ausdrücklich das ästhetische Wohlgefallen vom moralischen unterscheidet. Auch das Gefühl des Erhabenen fällt durchaus nicht mit dem hier von Schiller beschriebenen Wohlgefällen an der moralischen Ord- nung zusammen, sondern es wird erregt, wenn das Schauerliche, Formlose und Überwältigende durch den Gegensatz unser eigenes moralisches Selbstbewußtsein weckt. Aber weiter ! Eine der mäch- tigsten Tragödien ist der erste Teil des Faust, und diese Persön- lichkeit, die der Hoffnung und dem Glauben flucht und, im Gegen- satz zu früheren weicheren Gefühlen alles zerreißt, was mit innigen und teueren Banden das Herz gefesselt hielt, zeigt ganz unleugbar, welch hinreißende Wirkung auch das Antimoralische, die Unbe- dingtheit des Wesens ausüben kann, die, um frei zu sein, auch das Heiligste und Ehrwürdigste zersprengt. Und wenn man zur Not auch dies noch, da ja Kraft des Willens und die Möglichkeit zur Moralität bewiesen werde, unter das moralische Wohlgefallen rechnen wollte, so kann man dagegen noch die Gestalten Romeos und namentlich Werthers anführen, die im höchsten Grade tragisch sind und wo trotzdem auch von dieser Kraft des Willens keine Rede ist. Auch Werther bedeutet ein Höchstes an Persönlichkeit. Noch im späteren Alter hat Goethe dieser Gestalt nachgerufen: „Du gingst voraus und hast nicht viel verloren". Aus all dem geht hervor, daß die Sache so einfach nicht liegt, wie sie Schiller in seiner Theorie über das Tragische dargestellt hat. Schiller hat das, wie der berühmte Briefwechsel mit Goethe über den Faust von 1797 deutlich zeigt, selbst durchgefühlt1). Er tut nachdenkliche Äußerungen über die „symbolische Bedeut- samkeit", die „philosophischen und poetischen Anforderungen an den Faust", ohne daß sich das, was er meint und richtig andeutet, unter die Begriffe der Kantischen Philosophie, wie er sie verstand, hätte fassen lassen. Scheler spricht, gerade beim Problem des Tragischen, von der „allzu kurzsichtigen Kantischen Ethik". Ich möchte diese Ethik lieber allzu weitsichtig nennen : Sie faßt das fernste, unbedingteste Ziel, den allerletzten Inhalt der Freiheit ins Auge und hat ihn mit dem „unbedingten Gebot" für alle Ewigkeit fest umrissen. Dabei aber „übersieht" sie — einzelne Äußerungen, namentlich in 1) Vgl. namentlich den Brief vom 23. Juni 1797 (Insel-Ausg. 1912 S. 347). 23* 356 Ottomar Wichmann, der „Religion" abgerechnet, die auch hier das Wesentliche be- rühren — , daß im gewöhnlichen Dasein das echteste Streben nach Freiheit und Persönlichkeit in unendlichen Fällen zur allerschärfsten Verneinung des Moralischen führt. Freiheit ist die Verneinung der Bedingtheit, ist Un- Bedingtheit, das hat Kant selbst in be- wunderungswerter Schärfe in seiner „Grdl. z. Met. d.jSitten" heraus- gearbeitet. Dieses Unbedingtseinwollen aber äußert sich oft genug in der leidenschaftlichsten Ablehnung derjenigen Bedingtheit, die durch Jugenderinnerung und Erziehung mit der Persönlichkeit am festesten verwachsen ist: in Ablehnung der Sittlichkeit und der mit ihr verbundenen und sie stützenden Vorstellungen. Über diese Unbedingtheit, dieses Freiheitsstreben, das Piaton, Fichte und Hegel machtvoll veranschaulicht haben, sieht die Kantische Ethik hinaus l). Wer aber ins Leben schaut und in die Dichtung, der sieht, daß diese Art Freiheitsstreben in ganz besonderem Maße die Tragik des Lebens ausmacht : die Persönlichkeits wertung, die nur in der Verneinung des Sittlichen, im „Ubermenschentum" (ein Ausdruck, über dessen Mißbrauch wir nicht vergessen dürfen, daß er auch bei Goethe vorliegt) den höchsten Persönlichkeitswert, die Freiheit sieht. „Die menschliche Vernunft strebt rastlos nach dem Unbedingt-Notwendigen und sieht sich genötigt, es anzu- nehmen, ohne es sich doch begreiflich machen zu können". Diese ewig wahren Worte der „Grundlegung" bezeichnen auch für die antimoralische Wertung den Sachverhalt. Unbedingtheit der Ver- neinung ist denn auch in der Geistesgeschichte oft genug zum In- halt des Freiheitsgedankens geworden. Die hinreißend gezeichnete Gestalt des Kallikles im Platonischen Gorgias erneuert sich in der gleich hinreißenden Weise Friedrich Nietzsche in Lehre und Leben. Und schon vor Nietzsche herrscht in den Romantikern, in Tieck und Friedrich Schlegel, derselbe Geist, der in der Verneinung des Sittlichen, in der ungeheuerlichen Auflehnung gegen das Heilige, Größe und geistige Bedeutung erblickt. „Was du unternimmst", schreibt Fr. Schlegel seinem Bruder, „handle groß, und wenns nicht gelingt, bleibe fest stehn! Du wirst dann eine glorreiche Gelegenheit haben, Gott zu »verachten!" In seinem Romane Lu- cinde findet diese Auffassung dichterischen Ausdruck, ebenso wie in Tiecks John Lovell, der manchmal „statt seiner stillen Gebete 1) S. meine Vergleichung der Kantisehen und Platonischen Ethik in „Piaton und Kant", Weidmann, 1920, Kap. III. Genie und Tragik. 357 Gott mit den gräßlichsten Flüchen lästerte und darüber weinte und es doch nicht lassen konnte" . . . „Mein Wille und meine Empfindung sträubte sich dagegen, und doch gewährte mir dieser Zustand wieder innige "Wollust". Somit führt der dichterische Stoff selbst mitten in die Dialektik des Freiheitsbegriffs hinein. Auch diesen Romantikern mit ihrem Ideal der Ironie ist „Frei- heit" das, was sie darstellen wollen, aber Freiheit in einem dem Kantischen und Schillerschen schnurstracks entgegengesetzten Sinne. Freiheit ist Unbedingtheit, der Gregens atz gegen jede irgend wie geartete Abhängigkeit. So bekommt das Ideal der Persönlichkeit hier einen durchaus ver- neinenden Sinn. Die Verneinung dessen, was beim Menschen die innigste „Bindung" (lat. = religio) seines Wesens ausmacht, wird zum Maßstab für menschliche Größe und Persönlichkeit. Eine Denkweise, die, in der Romantik hervorbrechend, in Nietzsche ihren mächtigsten Propheten gefunden hat, die aber auch sonst durch- aus zu einem geistigen Grundzug des Zeitalters geworden ist und sich demgemäß in zahlreichen Dichtwerken äußert: Von Byrons Manfred bis auf Strindbergs „Beichte eines Toren" wie in Gerhard Hauptmanns „Versunkener Glocke" und Ibsens „Peer Gynt" finden wir diesen Zug gesuchter und manchmal erquälter Verneinung wieder, zu schweigen von der Unzahl mehr oder minder geschmack- loser Erzeugnisse, die auf jeder Seite mit Stolz zeigen : sie haben gelernt, daß man so und so gottlos sein muß, daß man so und so das Sittliche verneinen muß, um sich und seinen Helden die erfor- derlichen Voraussetzungen für Größe und geistige Bedeutung zu geben. Gerade damit aber, daß man diese Grundtendenz aufzeigt, ist sie aber auch vom künstlerischen Stand- punkt aus gerichtet. Wenn man die Absicht merkt, wird man verstimmt, und nirgends mehr als in der Kunst. Es braucht aber nicht einmal Absicht zu sein; wenn nur deutlich wird, daß eine solche Tendenz beherrschend zu Grunde liegt, so ist der künstlerische Genuß aufs allerempfindlichste beeinträchtigt. Man bezeichnet solchen dem Ganzen zu Grunde liegenden Gedanken gern als die Idee des Ganzen und es ist lehrreich zu sehen, wie Goethe gerade in dieser Beziehung gegen Schiller ankämpft. Für Goethe ist es erstes Er- fordernis der Kunst, daß man „aus der Idee herauskommt". Es ist für den Kunsttheoretiker spaßhaft, wie er Eckermann (29. Okt. 1823) ziemlich dringlich diesen Befehl gibt, wie er ein andermal 358 Ottom ar Wichmann, (23. März 1829) ausführt, es sei bei Schiller der Fehler gewesen, daß er von der Idee ausging und nur manchmal „das Objektive zu fassen" wußte, wie er selbst, Goethe „nur immer zu tuntf hatte, „daß ich feststand und seine wie meine Sachen von solchen Ein- flüssen freihielt und schützte". Noch bezeichnender ist, was er (6. Mai 1827) auf die Frage nach der Idee des Tasso antwortet: „Idee?" sagte Goethe, „daß ich nicht wüßte ... Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern ge- sucht ? Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte ! . . . Es war im ganzen . . . nicht meine Art, als Poet nach Verkör- perung von etwas Abstraktem zu streben . . . Das einzige Pro- dukt von größerem Umfange, wo ich mir bewußt bin, nach Dar- stellung einer durchgehenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine Wahlverwandtschaften. Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich geworden ; aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre ! Vielmehr bin ich der Meinung : j e inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser!" Es liegt auf der Hand, wie in diesen Ausführungen des poetischen Genies die Grundgedanken der Kantischen Ästhetik ihre Bestätigung findea: Der ästhetische Genuß beruht darauf, daß Einbildungskraft und Ver- stand in ein leichtes Spiel versetzt werden. Weder darf ein düsterer, verworrener Stoff vorliegen, der sich überhaupt nur durch schwere, geistige Arbeit bewältigen läßt, noch darf der Verstand von vorn- herein die Regel und das 'Entstehungsgesetz des Gegenstandes überschauen, so daß dann von einen Entdecken und Auffinden des Wesentlichen an der Sache keine Rede mehr wäre. Diese Freude am Gegenstand muß aber eine objektive sein; es muß diese Lust für jeden allgemeingültig gelten. Es muß demnach unter allen Umständen ausgeschlossen sein, daß jemals dieses Bildungsgesetz des Gegenstandes vollständig begrifflich erfaßt wird, denn dann wäre sofort das leichte Spiel, das den ästhetischen Genuß aus- macht, für denjenigen vorbei, der die Regel von vornherein be- griffen hat. Ein aus solcher abstrakten Regel, solcher „Idee" heraus geschaffenes Kunstwerk mag einen Sekundaner begeistern: weil er noch nicht fähig ist, die Regel und die Gewolltheit des Ganzen zu überschauen, liegt für ihn die Entdeckerfreude in leichtem Spiele unverkennbar vor. Aber bei dem Gereiften ist die Sache wesentlich anders. Unendlichkeit und Unabsehbarkeit des Gegenstandes, die Unmöglichkeit, jemals ihn in einer Regel Genie und Tragik. 359 ganz zu erfassen, ist somit unabweisbares Erfordernis des Kunst- werkes. „Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser". Daß sein Genießen ein solch objektives, nur auf Grund der unabsehbaren Unendlichkeit des Gegenstandes, seiner wirklichen „Schönheit" mögliches Ge- nießen sei, beansprucht jeder, der eben auf künstlerisches Urteil Anspruch macht. Er erhebt diesen Anspruch, vielleicht ohne ihm Worte leiben zu können, dadurch, daß er tödlich verletzt ist, wenn man da, wo er bewundert, den Wert ablehnt, d. h. die Allgemein- gültigkeit bestreitet. Jedermann scheut es, da zu bewundern wo vielleicht andere lächelnd die Entstehungsregel überschauen, so daß gewisse Leute nur dadurch den Wert ihres persönlichen Urteils zu hüten imstande sind, daß sie es sich zum Grundsatz machen, nichts mehr schön zu finden. Hier liegt das hohe Geheimnis der Blasiertheit, für den Überschauenden lächerlich genug und doch ein Zeugnis dafür, wie sehr der Vorwurf, nicht objektiv zu ge- nießen, empfunden und also die Idee eines objektiven Genießens gekannt wird. Unumgängliche und peinlichst beobachtete Vor- schrift für den künstlerisch Genießenden und den künstlerisch Produzierenden (die alle durchaus fühlen und die vor allem die- jenigen peinlich beobachten, die beides nicht recht können und doch wollen), ist daher, sich jenseits allen irgend wie erfaßbaren Norm zu halten oder, mit Goethe zu reden, „das Objektive zu fassen". Eine solche Jenseitigkeit hinter alle Regel zum Stil zu erheben, ist daher die Grundtendenz der romantischen „Ironie", liegt aber genau so im modernen Expressionismus vor, womit freilich jederzeit auch die Gefahr gegeben ist, daß nun solche Verneinungstendenz zur überschaubaren und lächerlichen Ent- stehungsregel wird. Die Kunst hat stets das Recht, die Vorschrift zu durchbrechen, sie muß es sogar, wenn sie höchste Kunst sein will. Aber wehe, wenn diese Durchbrechung der Regel als peinlich beobachteter Grundsatz durchblitzt. Es gibt nichts Ärgerlicheres als die Pedanterie des Negativfsmus. — Vor diesem ehernen Gesetz der Schönheit bricht die edle und achtenswerte Schillersche Theorie zusammen, die für die moderne Kunst darin einen Vorzug sieht, daß sie von einer geläuterten Philo- sophie den Stoff und das Wesen der Menschenwürde gelernt hat. Es bricht aber auch die gegen sich selbst wütende Verneinung zusammen, die glaubt, in der Losreißung vom sittlichen Gesetze und der damit zusammenhängenden Vorstellungen 360 Ottomar Wichmann, den höchsten Menschenwert erkannt zu haben und danach gestaltet. Ergreifend bezeugt dies das leidenschaftliche Eifern, das sich bei Nietzsche gegen Goethe findet, in dessen ruhiger Klarheit eine Kritik seines so schwer erkämpften Menschheitsideals lag, eine Stimmung, die in den bitteren und ungerechten Hohn ausklingt: An Goethe: Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichnis! Gott, der Verfängliche, Ist Dichter-Erschleichnis Weltrad, das rollende Streift Ziel auf Ziel, Not — nennts der Grollende, Der Narr nennts — Spiel Welt-Spiel, das herrische Mischt Sein und Schein. Das Ewig-Närrische Mischt uns — hinein!1) IL Freiheit als Unbedingt h'e it. Wir gingen aus von der Goetheschen Formulierung und ver- suchten in der Freiheit, dem „Eigentümlichen unserer Idee, der prätendierten Freiheit unseres Wollens", das Wesen des Tragischen zu sehen. Es ist unleugbar, daß diese Formulierung nach dem bisherigen Gedankengang in Gefahr steht, ihren Sinn zu verlieren. Wir sahen, wie die Schillersche Theorie auf dem Gedanken der moralischen Freiheit das Tragische begründen will und daß diesem Gedanken an dem Aufbau der Persönlichkeit eine große Bedeutung zukommt, ist unverkennbar. Man braucht nur an die Gestalt des Brutus bei Shakespeare zu erinnern. Aber auch der Gedanke des Ubermenschentums, der die Freiheit in der Aufhebung gegen das Sittengesetz sieht, hat im Faust allererste tragische Bedeutung. Man kann nun versucht sein, die Freiheit darin zu sehen, daß überhaupt der menschliche Wille seine Kraft beweist, wie das ja auch Schiller andeutet, wenn er ausführt, es käme nicht auf die Richtung, sondern nur auf die Kraft des Willens an, und ebenso Nietzsche, wenn er gelegentlich Brutus, der den liebsten Freund 1) Bd. V, S. 349. Genie und Tragik. 361 opfert, trotz seiner moralischen Haltung für ein Persönlichkeits- ideal erklärt. Aber dagegen sprechen gebieterisch Gestalten wie Werther, Tasso, Hamlet, die durch auffallende Schwäche des Willens gekennzeichnet und doch im allerhöchsten Sinne tragisch sind. Es fragt sich mithin, ob es tatsächlich möglich sein wird, das Wesen des Tragischen in dieser ganzen Breite durch den Be- griff der Freiheit zu erfassen, und was in diesem Falle der Sinn der Freiheit ist. Meiner Meinung nach kommen wir diesem höchsten Sinn der Freiheit näher, wenn wir uns auf den Standpunkt der gewöhn- lichen, unphilosophischen und ungekünstelten Lebensbetrachtung stellen : Wenn wir davon sprechen, daß etwa in Bach, Shakespeare, Beethoven, Goethe ein Höchstmaß an „Freiheit" des Wesens zum Ausdruck kommt, so ist uns vollständig klar, daß damit ein durchaus verständlicher Vorzug ihres Wesens gemeint ist, und daß Freiheit in diesem Sinne ein Höchstmaß an Persönlichkeit be- deutet. Es fragt sich nur, ob dieser uns vorschwebende Sinn be- grifflich sich erfassen und bestimmen läßt und wie er sich be- stimmen läßt. Es kommt bei solcher Freiheit nicht unbedingt auf das Sittliche an, obwohl es in einzelnen Fällen dazu gehört, es kommt auch nicht nur auf die Einsicht und die Vorurteilslosigkeit an. Eine starr dogmatisch beschränkte Natur wie Luther zeigt diese Freiheit in ausnehmendem Maße. Ebensowenig ist der genau geregelte Zusammenhang, die klare Übereinstimmung der Wesens- äußerungen entscheidend, im Gegenteil, in vielen Fällen gehört zu solchen Gestalten gerade das ungeregelte Hervorbrechen der schärfsten Gegensätze. Wie Heine von Luther sagt: „... er hatte etwas Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, wie wir es bei allen providentiellen Männern finden, etwas Schauerlich-Naives, etwas Tölpelhaft-Kluges, "etwas Erhaben-Borniertes, etwas Unbe- zwingbar-Dämonisches" (Briefe über Deutschland, I. Buch). Was hier in so mächtiger Weise als Wesen der Persönlichkeit geschildert wird, diese Freiheit, die nicht im Sinne Kants und Schillers moralisch zu fassen ist, die aber noch viel weniger durch das Antimoralische Nietzsches getroffen wird, kann man in seiner vollen Bedeutung erst erfassen, wenn man bedenkt, in welchem Maße das gewöhnliche Leben, das Kultur- leben des gewöhnlichen Menschen Unfreiheit ist. Die dogmatische Gebundenheit vergangener Zeitalter zu erkennen fällt uns nicht schwer, und wir staunen, in welchem Maße die großen 362 Otto mar Wieb mann, Persönlichkeiten darüber stehen. Vollends klar kann aber erst werden, was solche Freiheit zu bedeuten hat, wenn man bedenkt, in welchem Maße jede Kultur dogmatisch gebunden ist, und oft die am meisten, die am allerfreiesten zu sein glauben. Und zwar ist es, so widersinnig diese Formulierung zunächst klingen mag, die Idee der Freiheit, woraus diese Un- freiheit entspringt. Ob der Mensch wirklich frei ist oder nicht, ob Freiheit überhaupt möglich ist — gleichgültig! Der Mensch will frei sein und deshalb glaubt er frei zu sein. Was heißt das? Es heißt, daß der Mensch in dem, was den höchsten Bestimmungsgrund seines Handelns ausmacht, in dem Grundsatze, der Lehre oder der Gesinnung, die für sein Leben die entscheidende und ausschlaggebende Bedeutung hat, frei zu sein glaubt: daß er die Regel und die Vorschriften, die er für sich bindend anerkennt, für allgemeingültig und selbstverständlich ansieht, für das Gesetz und den Inbegriff des Menschentums überhaupt. So beruht die furchtbare Macht der Ideen auf der Fiktion der Freiheit. Weil der Mensch frei sein will, muß er das, worin er unfrei ist, für den Ausdruck und Inbegriff der Freiheit nehmen. Dem Jesuiten ist das katholische Dogma, dem Bolschewisten der Kommunismus Ausdruck aller menschlichen Freiheit. Nur der ist ihnen „frei", der ihre Einsicht teilt, und da sie höchsten Menschen- wert zu bieten glauben, scheuen sie sich nicht, das Allgemeingültige und für alle Menschen Heilsame, wenn's not tut, mit Feuer und Schwert auszubreiten. In derselben Weise sieht aber jeder in die sein Dasein bedingenden Lebensverhältnisse die Freiheit und All- gemeingültigkeit hinein. Sie trachten alle nach dem Guten, d. h. dem von ihrem Standpunkt aus unbedingt Wertvollen und handeln also nach der Idee des Guten, sagt Piaton. „Die menschliche Ver- nunft strebt rastlos nach dem Unbedingt-Notwendigen und sieht sich genötigt, es anzunehmen" sagt Kant. Auf dem Durchsetzen solcher unbedingten Ideen, die für allgemeingültig genommen werden; beruht alle Entstehung der in sich geschlossenen Kul- turen1). Freilich kann daraus, daß das Individuum in diesen herrschenden Vorstellungskreis die Unbedingtheit hineinsieht, auch die Sprengung dieser Vorstellungskreise hervorgehen : Wenn näm- 1) Ich habe diesen Gedanken der Wirksamkeit der Idee als Fiktion in meiner Broschüre „Phüosophie und Politik", Halle, 1920 entwickelt und in dem Bändchen „Die Scholastiker" Rösl & Comp. München 1921 für einem bestimmten Zeittraum durchgeführt. Genie und Tragik. 363 lieh die Idee eines Unbedingten in dem Individuum so stark ist, daß es das, was an dem herrschenden Vorstellungskreise nicht damit übereinstimmt, ablehnt und zu bekämpfen wagt. Hebbel1) hat den mächtigen Gedanken einer historischen Tragödie in diesem Sinne gehabt, in der das Höchstmaß an Freiheit und Persönlich- keit, die in solchem Durchbrechen der Idee sich äußern muß, den Gegenstand zu bilden hätte. Er fordert eine großartige Darstellung der wenigen Charaktere, die die Jahrhunderte, ja die Jahrtausende, als organische Übergangspunkte vermitteln, und die zuweilen, wie z. B. Luther, „mit den Ideen, deren individueller Träger sie sind, selbst in Konflikt geraten, weil sie vor den anfangs ungeahnten Konsequenzen derselben zu schaudern beginnen." Das ist Hegelisch gesprochen, es liegt aber darin die ganz reale Tatsache ausge- sprochen, daß das Leben des gewöhnlichen Menschen in aller- stärkstem Maße Bedingtheit und Unfreiheit bedeutet, und daß höchste Persönlichkeit diesen verneinenden Sinn der Freiheit hat, nicht in solch allgemeiner Bedingtheit befangen zu sein und in Fühlen, Denken und Wollen darüber zu stehen. Den hier vorliegenden geistigen Zusammenhang überschaut man am besten, wenn man verfolgt, was Hermann Türck 2) als den „genialen Menschen0 beschreiht. Mit vollem Rechte stellt hier Türck Gestalten wie Christus und Napoleon nebeneinander und stellt zu ihnen Faust und Hamlet. Um das diesen Naturen Wesentliche zu beschreiben, geht er davon aus, daß sie in ihrem Fühlen und Wollen von Furcht und Hoffnung nicht bestimmt, d. h. daß sie frei und objektiv sind. Die Darstellung entwickelt im allgemeinen diesen Grundcharakter der Objektivität durchaus richtig und gibt für das, was wir hier verfolgen, eine höchst brauchbare Ver- anschaulichung. Nur eins fehlt dabei für die begriffliche Erfassung. Weil Türck nicht die Unfreiheit des gewöhnlichen Menschen als eine, eben aus der Idee der Freiheit und der Einbildung der Freiheit fließende Unfreiheit erkannt hat, ist bei ihm auch nicht genügend hervorgekehrt, daß das Wesen des genialen und des tragischen Menschen, der übereinstimmende Zug in all den geschilderten Ge- stalten, eine Verneinung ist. Es wird beispielsweise an Hamlet im Gegensatz zu Laertes die Objektivität seines Wesens in dem Sinne 1) Mein Wort z. Drama S. 48/49. 2) Hermann Türck, Der geniale Mensch, Borngräber, 10. Aufl.; II. Türck, Faust, Hamlet, Christus. v 364 Ottomar Wichmann, entwickelt, daß er nicht der augenblicklichen Stimmung Untertan sei, sondern immer den allgemeinen Gesichtspunkt im Auge habe. Dadurch wird in die Gestalt Hamlets ein völlig falscher Zug ge- bracht : der wilde Unmut, der ihn in der Grabszene hinreißt, wäre dann unmöglich. Auch will Türck das Unentschlossene und Zögernde in Hamlets Charakter mit dem Hinweis widerlegen, daß er, wenn sein „Schicksal ruft, sich stark wie der nemeische Löwe" fühlt und in persönlicher Gefahr bei der .Meerfahrt mit höchster Tatkraft handelt. Alles das ist ganz richtig, aber daneben ist Hamlet doch der Grübler und Träumer; nicht nur er selbst beklagt seine Schwäche und Tatenlosigkeit, sonder auch der Geist erscheint ihm zum zweiten Male, um den „abgestumpften Vorsatz" zu schärfen. Für unsere Bestimmung des tragischen und genialen Menschen gilt dagegen, daß dieser allerdings objektiv und frei ist, aber daß dies nur eine verneinende Bestimmung ist: die Unfreiheit und Befangenheit in bestimmten Ideen und Vorurteilen, die die Kultur ausmachen und die die Kultur einem jeden aufer- legt, der durch Furcht und Hoffnung, durch die Sorge um sein liebes Leben und die Freude an Hab und Gut in diese Kultur verstrickt ist, diese Unfreiheit ist eine solche Persönlichkeit los, und deshalb ist sie unbegreiflich frei. Aber darum bleibt die große Persönlichkeit doch vollständig und in jeder Hinsicht Mensch : Voll Furcht und Hoffnung (Hamlet spricht selbst von seiner Furcht bei der Seefahrt), voll Leidenschaft und voll Zögern. Nur steht in all dem, in Fehlern und Vorzügen, in Tatkraft und Lässigkeit, eine solche Natur außerhalb desjenigen Zusammenhanges von Ab- hängigkeiten, der beim gewöhnlichen Menschen sein ganzes Wesen letzten Endes entscheidend bestimmt. Man muß also, um es noch einmal zu wiederholen, um das Wesen dieser tragischen und ge- nialen Naturen zu verstehen, die furchtbare und unbezwingliche Macht der Unfreiheit erkannt haben, die das Leben dadurch auf- erlegt, daß es die Menschen nötigt, bestimmte Lebensanschauungen und Lebensnormen als Ausdruck der Freiheit, d. h. als unbedingt und allgemein gültig anzunehmen. Sie legt damit den Menschen eine ganz genau bestimmte Befangenheit auf, in der große sittliche und intellektuelle Wahrheiten enthalten sein mögen, die aber den- noch innerhalb dieser Wahrheiten dogmatisch bindet. Die höchste Freiheit der Persönlichkeit nun, die geniale und die tragische Persönlichkeit, hat den Vorzug außerhalb dieses Netzes von Irrtum zu stehen, unmittelbar in seinem Fühlen, Wollen und Handeln zu Genie und Tragik. 365 sein. So kann man z. B. voll anerkennen, daß das Deutschtum ein hohes Maß sittlicher und geistiger Einstellung bedeutet. Dennoch aber legt es eine bestimmte Befangenheit auf, bewirkt es, daß die, welche in diesem Kulturkreis bedingt sind, ganz bestimmte Tatsachen nicht sehen können. Innerhalb dieses Lebenskreises sind daher Gestalten wie Heine, Lasalle, Marx und Nietzsche nur da- durch, daß sie aus dieser Befangenheit und dem damit notwendig verbundenen Irrtum heraustreten, genial : Sie sehen klar vor Augen, was andere trotz alles Denkens nie erarbeiten können und so haben Heine1) und Lasalle und namentlich Nietzsche Ausblicke in unge- messene Weiten 1). Der Umstand, daß Türck dies letzte begriffliche Wesen der Genialität nicht klar geworden ist, hat auch bewirkt, daß er Nietzsche so ungerecht beurteilt. Mag man über ihn oder seinen Wert denken, wie man will, Genialität wird ihm niemand bestreiten können. — Das Höchstmaß an Freiheit also, welches den genialen und den tragischen Menschen ausmacht, liegt darin, daß er von derjenigen Unfreiheit frei ist, der der gewöhnliche Mensch dadurch unterliegt, daß er seine Bedingtheit für Freiheit, daß er das, wovon er abhängig ist, für den Ausdruck der Freiheit und mithin für allgemeingültig halten muß. Ziegler nennt den ge- wöhnlichen Menschen in seiner sittlichen Selbstbestimmung frei und ihm gegenüber den tragischen Menschen unfrei! — Es ist genau ungekehrt. Der gewöhnliche Mensch ist unfrei, geht in allem seinem Fühlen, Wollen und Erkennen an der Kette der Grundbestimmt- heiten seines Zeitalters und seines Lebenskreises. Wir sehen das bei jedem verflossenen Zeitalter, wir sehen es nur bei unserem eigenen nicht, wie wir die Bewegung des Wagens nicht sehen, in dem wir eingeschlossen sind. Die Menschen sind unfrei im Wollen und Begehren : Sie wollen und begehren immer nur nach der Regel des Erlaubten und Befohlenen. Und wo sie anscheinend einmal etwas Unerlaubtes wollen und begehren, da ist eben gerade der herrschende Liberalismus der Lebensanschauung das geheime Ge- setz ihres Handelns. Der Studio, der sich betrinkt, der Lebemann, der durchgeht, so sehr sie ihrem eigenen Begehren zu folgen glauben, sie tanzen doch nach der Pfeife der Lebensanschauung eines gewissen Liberalismus, der solch „Sich-ausleben" zur pein- lichen Vorschrift macht. Wer nur einen geringen psychologischen 1) Heine namentlich in den viel zu wenig gelesenen „Brufen über Deutsch- land", wo er das Deutschtum hinreißend veranschaulicht und verherrlicht hat, die für unsere Betrachtung wertvollstes Material bieten (s. o. S. 361). 366 Ottomar Wichmann, Blick hat, der sieht, in wie vielen Fällen ganz anders geartete Naturen sich geradezu abmartern, eine gewisse vorgeschriebene und konventionelle Forschheit mitzumachen. Wenn man nicht so begehrt, ist man kein ganzer Kerl — diese herrschende Ansicht ist hier der letzte Grund des eingebildet freien Begehrens. Ebenso unfrei ist das Fühlen: So und so fühlt man richtig, in der Liebe, der Kunst, vor der und der Art des Fühlens hat man allgemein Respekt, das und das Gefühl hält man für den Ausdruck der Frei- heit und für allgemeingültig. Und der gewöhnliche Mensch ist denn auch nach dieser Vorschrift „frei" und fühlt dementsprechend. Un- frei ist vor allen Dingen sein Erkennen. Das und das ist Wahrheit, und wehe! wer dagegen spricht! Die eigenen Gedanken, die dem Menschen wohl ursprünglich kommen mögen und sich äußern wollen, treffen auf unbegreiflichen, unüberwindlichen Widerstand. Wenn er sein Innerstes äußert, stößt er wieder und wieder wie auf eine Stahlwand. Und weil er Anerkennung braucht, weil Furcht und Hoffnung im Rahmen dieses Lebenskreises ihn letztlich bestimmen, deshalb muß er schließlich seine Gedanken anpassen und ver- kümmern. Was vor Augen liegt, sieht er nicht und darf er nicht sehen. Ganz klar liegt das vor uns etwa für das Mittelalter. Man achte darauf, wie etwa für einen so freien Intellekt wie Abälard schließlich der allerdogmatischste Standpunkt zur zweiten Natur wird (vgl. die Briefe an Heloise!). Für unsere Zeit da- gegen wollen wir es nicht zugeben und überlegen nicht, daß wir dies eben so unsichtbare wie Unzerreißbare Netz nur deshalb nicht sehen, weil wir es nicht sehen dürfen. Es macht für die Tat- sache dieser Unfreiheit nichts aus, ob man nicht an die Bewegung der Erde glauben darf, wenn man nicht von Wissenschaft und Lehrfreiheit ausgestoßen sein will, oder ob man genötigt wird, Urzeugung und Evolutionismus als Wahrheit anzunehmen, wenn man als wissenschaftlich zurechnungsfähig gelten will. Es ist für die Sache gleichgültig, ob das Anathema unter der Formel des unchristlichen Wesens oder unter der Formel des „reaktionären Standpunktes" das Verdammungsurteil ausspricht. Diese furchtbare Unfreiheit ihres eigenen Zeitalters hat allen großen — d. h. in der dargestellten Weise freien — Geistern immer furchtbar deutlich vor Augen gestanden. Bei Piaton und Schopenhauer tritt sie mächtig hervor, hier mag noch die schneidend scharfe und treffende Formulierung angeführt werden, die Fichte dieser Tatsache ge- geben hat: „Sie können nicht anders, als jene sie be- Genie und Tragik. , 367 schämende Überzeugung von einem Höheren im Men- schen, und alle Erscheinungen, die diese Erscheinung bestätigen wollen, wütend anfeinden; sie müssen alles mögliche tun, um diese Erscheinungen von sich abzu- halten und sie zu unterdrücken. Sie kämpfen für ihr Leben, für die eigenste und innerste Wurzel ihres Lebens, für die Möglichkeit, sich selber zu ertragen. Aller Fanatismus und alle wütenden Äußerungen des- selben ist vom Anfange der Welt an bis zu diesemTag, ausgegangen von dem Prinzip: wenn die Gegner Recht hätten, so wäre ich ja ein armseliger Mensch"1). Schon in dem bisherigen Ergebnis, in der Freiheit der großen, der tragischen und genialen Persönlichkeit von der überall herr- schenden und nirgends erkannten Unfreiheit — da sie ja sich selbst für Freiheit halten muß — liegt eine Lösung der zu Beginn ge- fundenen Schwierigkeiten: daß man von einem einheitlichen Sinn der Freiheit reden soll, die dennoch weder durch die moralische noch durch die antimoralische Auffassung zu erfassen ist. Wenn dabei nur etwas im höchsten Maße Widerspruchsvolles übrig zu bleiben schien, so antworten wir jetzt: Jawohl! Persönlichkeit im höchsten Sinne ist keine nach Yorschriften abgezirkelte Haltung, sondern ist gerade gekennzeichnet durch das jähe und über- mächtige Hervorbrechen widersprechender Regungen. Das den beiden Gestalten Hamlets und Fausts so ist, braucht nicht breit ausgeführt zu werden, für Luther können wir auf die Darstellung Heinrich Heines und neuerdings auf die von Ricarda Huch2) ver- weisen. Die große Persönlichkeit ist ganz ein Mensch wie wir, voll Liebe, Haß, Begehren, Glauben, Denken, Zögern und Übereilung, je nachdem. Nicht in einer dieser Grundarten menschlicher We- sensäußerung liegt ihr Kennzeichen, sondern darin, daß sie in all diesen Wesensäußerungen frei ist. Es liegt darin eine für den gewöhnlichen Menschen, der ja seine eigene Unfreiheit nicht sehen darf und kann, unbegreifliche Unmittelbarkeit; es ist etwas bei diesen Persönlichkeiten ganz anderes als bei ihm, und obwohl er es nicht zu begreifen vermag, fühlt er doch, daß hier das Höchste liegt, was es für unser Geschlecht gibt. Um es kurz auszudrücken : Wer in solchem Sinne frei sein soll, muß mit dem Leben fertig sein, er muß einmal mit allem, was sonst den Willen des Menschen 1) Anweis. z. sei. Leb., S. 426. 2) Luthers Glaube, Leipzig 191G. 0 1 1 o m a I AVichmann, bindet und zwingt, abgeschlossen haben, wenn er dem feinen und unbewußten Zwange des Lebens entgehen soll. Die inneren Ge- walten, der heiße Drang, sein "Wesen auszuprägen und keine Puppe zu sein, der Drang nach Freiheit muß einmal so stark geworden sein, daß ihm demgegenüber das ganze Leben als „ekel, schal und unersprießlich" erschien. Ihre merklichste Ausprägung findet diese Einstellung zum Leben in dem Gedanken des Selbstmords. Auch hier wieder genügt der Hinweis auf Faust, Hamlet, Werther, aber auch auf Bismarcks Selbstgeständnis in den „Gedanken und Er- innerungen" (Nikolsburg). Es gilt das von Goethes mächtigster und fruchtbarster Zeit selbst: denn der Dichter, der höchste Per- sönlickeit und höchste Freiheit darstellen soll, muß selbst diese Feuerprobe durchgemacht haben — sonst könnte er ja diese Frei- heit nicht sehen, weil er sie nicht sehen dürfte. Jede große und geniale Persönlichkeit ist hart am Abgrund vorbeigegangen; das Schicksal derjenigen Naturen aber, die aus dem Wesen dieser Freiheit heraus dem Untergang verfallen und ihm verfallen müssen ist Gegenstand des Tragischen. Denn aus der Freiheit, die wir als das Wesen des Tragischen gekennzeichnet haben, ergibt sich nun auch der Zug der Notwendigkeit, den man von anderer Seite her — und mit Recht — als der Erscheinung des Tragischen eigentümlich und wesent- lich festgestellt hat. Wir sahen das erste Kennzeichen der tragi- schen Persönlichkeit (und damit der genialen, denn jede geniale Per- sönlichkeit ist aus den genannten Gründen tragisch) darin, daß sie mit dem Leben fertig sind, daß in ihren letzten Entscheidungen sie außerhalb dieser Rücksichten und der damit verbundenen Ab- hängigkeiten stehen. In dieser Freiheit liegt die Notwendigkeit des Unterganges. Denn wer keine Rücksicht mehr nimmt auf die Dinge, die ihm in den Weg treten, wer sein Leben und die Be- dingungen des Lebens „keiner Nadel wert" achtet, der muß an- stoßen. Eine Vermeidung des Unterganges „ist so wenig denkbar, als ein Blinder ohne Hilfe einen verschlungenen Pfad sicher durch- wandelt, den sein Fuß noch nie betreten hat" (Ziegler). Solche Unmittelbarkeit des Wesens bewährt in hellster freudigster Form Held Siegfried, dessen lichte Natur, ohne Rücksicht auf Feind- schaft und Arglist des Lebens sich auswirkend, dieser notwendig verfallen muß. So muß gerade die höchste Freiheit und ihre Äußerung vom Standpunkt des Lebens als blindeste Notwerdigkeit erscheinen. Dem Betrachter ist es unfaßbar, daß man auf diese Genie und Tragik. 369 oder jene Gefahr, auf diese ohne jene Rücksicht nicht achtet, er muß dies als furchtbarste Notwendigkeit ansehen, was Ausdruck höchster Freiheit ist. Wenn Ziegler den gewöhnlichen Menschen frei, den tragischen Menschen unfrei nennt, so hat er, vom Stand- punkt des Lebens aus, völlig recht. Der gewöhnliche Mensch merkt oder fühlt, wie er seine Grundsätze, sein Denken und Fühlen gestalten muß, um in den Zusammenhängen des Lebens sich zu erhalten, er richtet nach diesen Rücksichten sein Denken, Fühlen und Wollen ein und weiß sich in solcher Bedingtheit frei von den Gefahren, die ihm bei der Überschreitung drohen würden. Doch ist diese Freiheit immer nur eine relative, eine Freiheit inner- halb dieser Bedingtheit. Der wahrhaft freie Mensch aber ver- neint diese Bedingtheit als Ganzes, sein Denken, Fühlen und Wollen ist mithin ursprünglich, unmittelbar, eigen, ist frei — aber dabei geht ihm der Schutz verloren, den solche Unfreiheit dem armseligen Leben gibt. Aus solcher Unfreiheit, die eine Freiheit, und solcher Freiheit, die eine Unfreiheit sein kann, muß man die Rätsel und „Widersprüche" der Gestalt Hamlets verstehen. Er, der einmal, wenn ihn „sein Schicksal ruft", sich stark wie der nemeische Löwe fühlt, der im Einzelfall höchste Tatkraft bewährt und ungerührt Rosenkranz und Güldenstern als „schlechtere Natur" in den Tod schickt, ist andererseits ein Spiel seiner Laune und verrät, durch Laertes' Prahlerei gereizt, sein ganzes sorglich ver- stecktes Wesen, er schiebt aus unverständlichen Bedenken und grüblerischer Haltlosigkeit die notwendige Tat immer wieder auf und geht schließlich in die von dem rührigen Gegner gelegte Schlinge. Das ist eine Abhängigkeit von Launen und Zufällen, die nur bei der durch die Unbedingtheit der freien Natur gegebenen Achtlosigkeit gegen das Leben möglich ist. Beim gewöhnlichen Menschen würde die Todesangst, die Sorge um das liebe Leben, nötigenfalls auch das Hochgefühl moralischen Selbstbewußtseins (das an Laertes so glänzend ironisch veranschaulicht ist) derartige Bedenken und Stimmungen schnell beseitigen. Der gewöhnliche Mensch ist für eine solche Unfreiheit, wie sie Hamlet zeigt, — nicht frei genug, d.h. es ist eine gröbere, plumpere, das ganze Wesen nach einem bestimmten Schema umgestaltende Un- freiheit da, die diese feinere und doch furchtbar zwingende Unfreiheit nicht zur Geltung kommen läßt. Solche im eigenen Wesen begründete und mithin freie Unfreiheit offenbart an den Hamlet, Tasso, Werther und Egmont dennoch ein Höchstes an Persönlichkeit. — Kant Studien. XXVI. 24 370 Ottomar Wichmann, Die großen, und daher tragischen Gestalten der Geschichte tragen denselben Zug. Der Glaube an den eigener Stern, den wir bei Alexander wie bei Cäsar1) und Napoleon so deutlich ausgeprägt finden, ist nur der Ausdruck dieser Unbedingtheit, d. h. des Außer- halb-der-Lebensbedingtheit-Stehens. Sie glauben an ihren Stern, weil sie vor sich selbst einen Anhalt haben müssen, um sich selbst in der Mißachtung aller Rücksichten zu verstehen. Dieser Glaube bleibt dabei schwebend, bildlich; das erste an ihnen ist das Han- deln, ihr Sich-selbst- verstehen- wollen ist nur ein untergeordnetes, nachträgliches Bedürfnis, das mit einem schnell und sorglos hin- geworfenen Bilde befriedigt wird. Eine flüchtige Veranschaulichung des Übersinnlichen, weiter nichts ist es, wenn Cäsar seinem Fähr- mann zuruft, furchtlos zu sein: er trage Cäsar und sein Glück, wenn Napoleon seinen Offizieren, die mit tausend frivolen Gründen das Dasein Gottes bestritten haben, den gestirnten Himmel zeigt und sie fragt, wer all das gemacht habe. Da diese Mißachtung aller Rücksichten die größte Stärke solcher freien und unbedingten Naturen ist, — denn die Menschen folgen fassungslos, wenn sie so alle Notwendigkeit ihrer Lebensanschauung durchbrochen sehen — kann die kühne Achtlosigkeit der großen Führer zur bewußten Absicht und zum Fehler werden. So kommt bei Cäsar und Frie- drich das oft unüberlegt kühne Handeln zustande, bei Cäsar Ilerda, Durazzo und Alexandria, bei Friedrich Kollin und Hochkirch. Solche Durchbrechung und Nichtachtung aller vernünftigen Rück- sicht erscheint dem gewöhnlichen Menschen als Wahnsinn, solch Verhalten ist von diesem Standpunkt aus Wahnsinn 2). So hat es Hamlet gar nicht nötig, sich wahnsinnig zu stellen, obwohl er an- fangs dies als Absicht ausspricht. In solchem Maße trägt diese Unbedingtheit und Freiheit das Gepräge des Entrücktseins an sich, daß der junge Goethe diesen selben Eindruck hervorrief. „Er ist damals Jacobi als ein Besessener erschienen, dem es fast in keinem Falle gestattet sei, willkürlich zu handeln" (Dilthey). Wir haben damit die Freiheit, die das Tragische ausmacht. Keine konstruierte, moralisch ausgeklügelte oder auch antimo- ralisch er quälte Freiheit, sondern die einmal in süßer Liebe aus- 1) Mommsen, Rom. G. Bd. III, S. 463 : „Es war auch in Cäsars Rationalismus ein Punkt, wo er mit dem Mystizismus gewissermaßen sich berührte". 2) Vgl. Schopenhauer, „Die Welt als Wille u. V." B. III. S. 224—225, der das Wesentliche zum Ausdruck bringt, während Lombroso nur meist unwesent- liche Einzelheiten zusammenträgt. Genie und Tragik. 371 strahlende, einmal in mächtigem Heldentum erglänzende, einmal in schauerlicher, grauenhafter Tat ausbrechende Unbedingtheit und Unmittelbarkeit des Wesens, die vor allem die Shakespeareschen Dichtungen erfüllt. Aus der Fülle der Beispiele, den vielbehan- delten Romeo, Hamlet, Heinrich IV., sei hier nur hingewiesen auf die Gestalt Suffolks in König Heinrich VI. Er ist die verkörperte Gewissenlosigkeit, um die Königstochter sich zu gewinnen, ver- kuppelt er sie seinem König, ermordet seine Gregner, gibt den Vorteil seines Landes preis. Und doch liegt darin Freiheit und Unbedingtheit. Die Szene, wo er um Margareta wirbt1), ist hin- reißend durch die Unmittelbarkeit und Innigkeit seiner Liebe. Mächtiger noch zeigt seine Persönlichkeit sich in seiner Todes - szene2): der unbeugsame Trotz und Stolz der Herrennatur, die lieber stirbt als vor einem Knechte sich zu erniedrigen. So reißt Shakespeare auch den, der es begrifflich nicht zu fassen vermag, an den „geheimen Punkt", wo das Ursprüngliche der Persönlickeit, diese wie ein Glanz über allen Gestalten liegenden Freiheitlichkeit des Wesens, überwältigend vorbricht: „Unbändig schwelgt ein Geist in ihrer Mitten, Und durch die Roheit spür' ich edle Sitten". III. Mythisierung. Wir haben die Erscheinung der Tragik, der freien und un- bedingten Persönlichkeit, unter einem Gesichtspunkt betrachtet, der diese Gabe bis zu einem gewissen Grade zu etwas Natürlichem und Verständlichem macht. Daß tatsächlich das Leben fortwährend bemüht ist, das Eigenste der Persönlichkeit abzuschleifen und zu verkehren, daß man infolgedessen dadurch, daß man mit dem Leben fertig ist, die fruchtbarsten Kräfte des Innern erst entbindet, ist eine verständliche Tatsache." Wir müssen nun aber einen Schritt weiter tun : ■ denn es fragt sich, ob nicht auch wir in dem, was uns das allerselbstverständlichste erscheint, in unserer Auf- fassung der Welt als eines natürlichen, in sich geschlossenen Ge- schehens, noch in einer solchen Unfreiheit stehen, sodaß diesem, unserem natürlichen Verstehen sich die Wahrheit und die Freiheit garnicht erschließen kann. Während die Freiheit bisher immer 1) Heinrich VI., 1. Teil; V, 3. 2) Heinrich VI., 2. Teil; IV, 1. 24* 372 Ottomar Wichmann, noch ein natürliches Hinausragen über das .Gewöhnliche war, muß nunmehr eine weitere Stufe betrachtet werden: ob es nicht ein Hinausragen über allen natürlichen und begreiflichen Zusammen- hang überhaupt bedeutet. Wir suchen also ein Verständnis für etwas, das nicht nur über das Verständnis einer bestimmten Menschen- gruppe und Lebensweise hinausliegt, sondern wollen verstehen, was über das menschliche und mithin unser eigenes Verständnis hinausliegt. Wir müssen damit etwas Ähnliches vollziehen wie der Mathematiker, wenn er von der Bildung des Differenzen- quotienten einer Kurve, wo das Verhältnis der Koordinaten klar sichtbar ist, übergeht zum Differenz ialquotienten, wo alle An- schauung aufhört und er Größenverhältnisse behandelt, die jenseits aller möglichen Anschauung liegen. Ein ähnliches sich-über-sich- selbst-hinaus-Versetzen gilt es auch hier. Muß doch das Schöne, wenn es wirklich durch Belebung der Erkentniskräfte allgemein- gültig gefallen soll, jenseits aller Regeln und Formulierungen stehen. Es ist also durch die Idee des Schönen ein solch Jenseits auch der uns gewissesten Regeln und Gesetze gefordert. Es ist die Grundlehre der Schopenhauerschen Ästhetik, auf die wir damit stoßen : all unser natürliches, von Zeit, Raum und Kausalität aus- gehendes Erkennen ist befangen, ist uns diktiert vom „Willen", d. h. von Leid und Lust und unserem leiblichen Dasein. Zur Wahrheit kommen wir nur durch die geniale, d. h. objektive, frei- heitliche und unbedingte Erkenntnis, die deshalb stets auf ein Wesenhaftes außerhalb der Naturbedingtheit sich richtet. Drasti- scher drückt das Shakespeare aus; er nennt uns „Narren der Natur", die wir, wenn ein solch Wesenhaftes vor uns hintritt, „furchtbarlich uns schütteln mit Gedanken, die unsere Seele nicht ergreifen kann" und von „Dingen zwischen Himmel und Erde" spricht, von denen keine Schulweisheit jemals sich etwas träumen läßt. — Wir kommen also zur Frage : Wenn Freiheit als ein Jen- seits alles natürlichen Verständnisses den Gegenstand der höchsten Dichtkunst bildet, wie ist dann dem Dichter eine Veranschaulichung möglich? Die Antwort ist, daß der Dichter auch hier das scheinbar Unmögliche möglich macht auf dieselbe Art, wie von jeher die Menschheit dasjenige, was außerhalb aller Berechenbarkeit und Begreifbarkeit lag, sich begreiflich gemacht hat. Verstehen und begreifen heißt aus Beziehungen und Zusammen- hängen ableiten. Wo nun das Wesen einer Erschei- nung, die begriffen werden soll, eben dadurch gekenn- Grenie und Tragik. 373 zeichnet ist, daß es außerhalb aller natürlichen und faßbaren Zusammenhänge steht, daß es unbedingt und frei ist, da werden diese Beziehungen eben in ein Jenseits verlegt, das außerhalb unseres sinnlichen Erkenntnisvermögens liegt. Wenn ein Meister auftrat und eine Lehre verkündigte, die über alles bisher Dagewesene hinausstrahlte wie die Sonne über Kerzenlicht, wenn er für die Lehre Marter und Tod auf sich nahm, so lag damit eine Erschei- nung vor, die man nach allem, was bisher und überhaupt sichere Regel in der Beurteilung von Menschen und ihren Handlungen war, hinausging. All dem was sonst an Handlungen, großen und kleinen, schlechten und guten, aus Sitte, aus Furcht und Hoffnung, aus sitt- lichen Idealen hervorgegangen war und hervorging, was also ver- ständlich und erklärbar war, ließ dieses Handeln sich nicht ein- ordnen. Für die Menschen, die in diesem unbegreiflichen Handeln und dieser Lehre ihr Höchstes sahen und sehen mußten, die es am allerdringlichsten verstehen wollten und doch aus sinnlichen Zu- sammenhängen nicht verstehen konnten, erwuchs daher eine Welt übersinnlicher Zusammenhänge, eine Glaubenswelt von solcher Leuchtkraft, daß ihr gegenüber die. gegebene natürliche Welt für lange Jahrhunderte nur ein schattenhaftes Dasein führte. Die Freiheit, wie sie in Christus erschienen, war erste und gewisseste Wahrheit und alles andere nur wahr, soweit es damit überein- stimmte. So mußten denn die übersinnlichen Zusammenhänge, die man zum Verständnis dieser ersten und ursprünglichsten Wahrheit annahm, für alle Wahrheit auf Erden den Maßstab abgeben. Unbewußt wie die Mythologie des Volkes, schafft der Genius des Dichters. Das Höchste, was er erschaut und darstellt, ist die Unbedingtheit und Freiheit menschlichen Wesens. Was unver- meidliche Bedingung zur Verständlichmachung und Veranschau- lichung dieser Unbedingtheit ist, die Beziehungsetzung dieser Hand- lungen zu einem Jenseitigen, Übersinnlichen, ist auch ihm Wahr- heit. Wie sogar der geniale Mensch bei allem Rationalismus eine Mystik braucht, sei es auch nur, um sich selbst zu verstehen (s. o. S. 370, Anm. 1), so braucht der Dichter zur.Darstellung des Höchsten, was seinen Gegenstand bildet, das Hineinragen des Übersinnlichen und wird sich niemals scheuen, es anzuwenden. So führt Theodor Storm im Schimmelreiter Hauke Haien als eine in seinem Lebens - kreise unbedingte Persönlichkeit vor. Mit seinem unbeirrbaren wissenschaftlich-technischen Streben, seiner vollständigen Kälte 374 Ottomar Wich mann, gegenüber der Sorte Lebensgenuß und behaglicher Abhängigkeit, die das Dasein seiner Dorfgenossen ausmachte, mit seinen mäch- tigen Leistungen und seiner schroffen Herrennatur, bedeutet Hauke Haien für diese Menschen ein Unbedingtes, ein Unfaßbares und Freiheitliches, ein Jenseits des für sie Natürlichen und Selbstver- ständlichen. Darum ist er in diesem Lebenskreise tragisch und muß untergehen, denn ihr Haß gegen ihn ist zielsicher und unbe- irrbar folgerichtig. Er darf nicht recht haben, weil sonst das, was ihnen Freiheit und notwendig anzuerkennendes Gesetz ist, nicht wahr wäre. Sie werden ihn verfolgen, und wenn er sie mit Wohltaten überschüttet, denn er hat sie in dem gekränkt, worin der Mensch am tiefsten getroffen wird. Er hat gegen die Lebens- anschauung verstoßen, nach der sie ihres Eigenwertes sich bewußt sind, die sie brauchen, um sich selbst „ertragen" zu können. Zu- gleich aber wollen und müssen sie dies — aus den für sie natür- lichen und selbstverständlichen Lebensverhältnissen heraus unbe- greifliche — Wesen verstehen. So wird er zum „Schimmelreiter", wird in einem dämonischen Zusammenhang erblickt. — Wollte nun der Dichter uns ausführlich auseinandersetzen, daß Hauke Haien ein ganz vernünftiger und garnicht besonderer Mensch war nnd daß dieser Aberglaube sich bei seinen beschränkten Dorfge- nossen ganz natürlich einstellen mußte — so hätten wir eine ra- tionalistische Abhandlung, und das Packendste an der Geschichte ginge verloren. Wollte er' umgekehrt uns den tatsächlichen Ein- fluß der bösen Geister breit vorführen, so hätten wir eine elende Spuk- und Geistergeschichte und noch weniger eine Dichtung. Darum bewegt sich die Darstellung in dem Vorstellungsbereich, daß zwar die Dörfler eine abergläubische, dumme Gesellschaft sind, daß sie aber, wenn sie Hauke Haiens Werk zu einem übersinn- lichen Zusammenhang in Beziehung setzen, einen wahren Zug an ihm treffen, eben die Persönlichkeit im höchsten Grade, das Tra- gische. Wir wissen es vom ersten bis zum letzten Augenblick selber nicht, ob die Gestalt des Schimmelreiters etwas Dämonisches hat : die Erzählung beginnt damit, daß dem einsamen Deich- Wander er in der Sturmnacht die Erscheinung des Reiters tatsächlich be- gegnet ; das Pferdegerippe auf der Hallig, das man in Mondschein- nächten als Schimmel umherlaufen sah, ist tatsächlich verschwunden, nachdem Hauke Haien den Schimmel ins Haus gebracht hat, und er selbst schildert seiner Frau das Dämonische im Auftreten des Verkäufers. Wir stehen damit bei dem Grundgesetz dieser Dar- Genie und Tragik. 375 Stellung des Tragischen. Um das Höchste der Persönlichkeit, die Freiheit, als volle Jenseitigkeit hinter aller natürlichen Erklärbar- keit, darzustellen, wird das Übersinnliche ohne Scheu herangezogen, aber nur schwebend, unfaßbar und ohne irgend welche theologische Beschränktheit: denn das "Wesentliche bleibt immer, das „Eigentüm- liche unseres Ich", die Freiheit der Persönlichkeit darzustellen1). Die drei größten Dichtungen der Menscheit, der Faust, der Hamlet und die Ilias tragen diesen Zug im ausgeprägtesten Maße : Die Wesensart des Helden ist das Grundthema; dieser in seiner Denkart und die daraus sich notwendig ergebenden Handlungen sind eigentlicher Gegenstand der Dichtung ; aber eben diese Schilde- rung des Übermenschen macht ein Herbeirufen und Hineinberufen 1) Ich stimme daher zunächst mit Volkelt (Ästh. d. Tragischen, S. 418) völlig überein, wenn er sagt: „Die übernatürlichen Ereignisse müssen einen faßbaren, natürlich menschlichen Sinn haben, wenn ihre Tragik und überhaupt ihr dichte- rischer Wert nicht stark herabgesetzt werden soll". Nur kann ich mich damit nicht einverstanden erklären, daß „die moderne Weltanschauung", wie sie Volkelt versteht, „das Element" sei, „in dem allein das Tragische seine ungeheuer kraft- volle und folgerichtige Entwicklung finden kann". Denn Volkelt faßt die „mo- derne Weltanschauung" so, daß für sie alles Transzendente etwas „Verletzendes", etwas „Zurückgebliebenes und Rückschrittliches" (S. 417) darstellt. Mir scheint da unter „moderner Weltanschauung" doch allzusehr eine antimetaphysische Ein- stellung bezeichnet zu sein, die als alleinberechtigt — wie es in dem Ausdruck „moderne Weltanschauung" liegt — hinzustellen, ich am allerwenigsten in der Kunst ein Recht sehe. Im folgenden wird von Ilias, Hamlet, Faust die Rede sein, aber ist nicht auch Storm selbst ein Beweis, der wahrhaftig auf „moderner" Welt- anschauung im Sinne Volkelts stand, der im „Schimmelreiter" selbst gegen den Aberglauben polemisiert und doch durch die Gewalt der Stoffe ins Metaphysische hingerissen wird. Wenn Lipps, den Volkelt selbst anführt, sagt, daß „der Dichter gut daran tue, die Weltanschauung, die er als Mensch besitzt, möglichst für sich zu behalten", so besteht das zu vollem Recht, aber nicht nur für jede theologisch- metaphysische, sondern auch für die naturalistisch-antimetaphysische Weltanschauung. Was vom Dichter zu verlangen ist, ist Realismus, d. h. Objektivität. Wenn Volkelt ganz richtig als das Thema der Tragödie hinstellt, „was es heiße, ein Mensch zu sein" (S. 39), so ist eben noch die Frage, ob nicht das tiefste Wesen des Menschen- tums, sein Streben nach Freiheit und Unbedingtheit, in einer Tiefe liegt, die sich einer antimetaphysischen Weltanschauung garnicht erschließen kann und sich nur metaphysisch versinnbildlichend darstellen läßt. Die organische und wesent- liche Verknüpftheit, welche infolge der Eigenart der Freiheitsidee das Tragische mit dem Übersinnlichen verbindet, kommt in Volkelts Darstellung zu kurz. Dieser unzweifelhaft metaphysische Gehalt der Tragik macht die tiefe Wahrheit der idealistischen Theorien (vgl. Volkelt, S. 2G— 29) aus, er tritt bei Ziegler und Scheler neu hervor, und wir werden im folgenden noch einen gewichtigen Zeugen dafür anzuführen haben: Goethe in seiner Lehre vom „Dämonischen". 376 Ottomar Wichmann, eines Göttlichen, Übersinnlichen in die Handlung notwendig. Beim Faust kann hier auf die ausgezeichneten Darstellungen und Aus- führungen E. Th. Vischers *) verwiesen werden. Ohne irgend welche philosophische oder metaphysische Voraussetzungen kommt doch auch Vischer dazu, das Streben Fausts als ein Freiheitsstreben zu kennzeichnen, weil es ein Unendlichkeitsstreben, wir sagen ein Unbedingtheitsstreben, ist. „Der Menschengeist als teilhaftig des Unendlichen heißt frei, wenn vom Streben, vom Vorwärtswollen, vom Greifen, vom Übergreifen über Gegebenes, über Schranken die Rede ist" (S. 335). Da dies Streben nach Unbedingtheit aber immer nur verneinen kann, da es dem Menschen, der nur Endliches findet, immer nur bei allem Endlichen die Untreue ins Herz legt, so ist dies Streben, gerade in seiner Reinheit, ziellos und sinnlos. „Es ist ein leerer Freiheits begriff, der ihm vorschwebt. Streben nach Nichts und allem ist eigentlich Unsinn, dieser Unsinn ist seine Meinung". Der Freiheitsbegriff, der höchste Wertbegriff für Menschentum und Persönlichkeit, muß eben leer sein, denn wenn nicht Freiheit und Unbedingtheit den Sittlichkeitsgedanken, das allgemeingültige und unbedingte Gebot, in ganzer Reinheit er- greift, so bleibt nur Verneinung von allem und jedem. Das ist das Los des Menschentums, in solchem Streben nach Persönlich- keit und Freiheit, das jeden einmal erfaßt, schließlich ins Leere zu greifen; für gewöhnlich ist das unausbleibliche Ende, daß der Mensch irgend etwas, irgend einen Glauben, ein Behagen, eine Tätigkeit als Inhalt der Freiheit nimmt, daß er in irgend etwas Würde und Allgemeingültigkeit hineinsieht. Daß solch ein Hin- fallen ans Bedingte das notwendige Ende alles Menschheitsstrebens sei, daß auch Faust diesem Schicksal verfallen und daß er aus dem Nichts des Freiheitsgedankens und der ewigen Unbefriedigung schließlich hinsinken müsse, das besagt die triumphierend sichere Wette des Mephistopheles mit Gott. Das Bewußtsein der Unbedingtheit seines Wesens gibt umgekehrt Faust die Sicherheit bei dem Abschluß seines Vertrages. Diese Unbedingtheit ist ein Jenseits von Gut und Böse : Mit all dem, was sein Leben an weichen innigen Bindungen, an „Religion" enthielt, hat Faust in den großen Fluch gebrochen und seine erste Vorschrift ist forthin, ihn „mit der Moral in Frieden zu lassen". Ein Jenseits hinter aller Regel also, die sein Wesen unter moralischen Vorschriften einbegreifen will, aber ebenso auch ein 1) E. Th. Vischer, Goethes Faust2, 1920. Genie und Tragik. 377 3 enseits von Böse : die peinliche Gewolltheit des Bösen, um nicht gut zu sein, die Nietzschesche und romantische Schärfe der Verneinung des Sittlichen, die in solcher Verletzung des Heiligen etwas Großes wähnt und dem durch den Bombast des Lästerns Ausdruck gibt — sie fehlt bei Faust gänzlich. Er geht zu keinem Weibe, wo er die Peitsche mitnehmen muß, sondern er geht zu Gretchen, und was diese zu dem „besten Mann" zieht, ist das Widerklingen alles Hohen und Edeln aus seinem unmittelbaren Gefühl. Ein Jenseits also wirklich von Gut und Böse, nicht ein Böse, um nicht gut zu sein, darin liegt die Unbedingtheit seines Wesens. Weil er einmal — in der Selbstmord- und Fluchszene — mit dem Leben abgeschlossen hat, spottet sein Wesen aller Regeln des Moralischen und Antimoralischen, unter die man sie begreifen möchte. Es ist Freiheit, unmittelbares Hervorbrechen aus einem unerkennbaren Grunde. Diese Freiheit aber wird nicht durch philosophische Deklamationen veranschaulicht, sondern dichterisch, d. h. so, wie sich dem Auge der Menschenkinder das Unerfaßbare der Persönlichkeit, das doch ihr „höchstes Glück" ausmacht, ver- körpert: durch Verlegung in eine jenseitige Bedingtheit, durch Be- ziehungnahme auf ein Überirdisches, die freilich, da sie ja nur ver- anschaulichen soll, schwebend und unbegreiflich bleibt. Wenn Faust das Wesen der Unfreiheit in irgendwelchem Beharren sieht: „wie ich beharre, bin ich Knecht, ob dein was frag' ich oder wessen", so bemerkt Vischer (S. 262) mit vollem Recht, daß damit die Vor- stellung von „Hölle und Teufel einstürzt". Aber das Merkmal dieser echt dichterischen Metaphysizierung ist eben, daß niemals ein durchgeführter, übersinnlicher Zusammenhang vorliegt, sondern daß diese Zusammenhänge blitzartig, als plötzliche Ausblicke, auf- leuchten. Namentlich zeigt das die Gestalt Mephistos und ihr Verhältnis zur Gottheit. Auch Mephisto ist, gerade in seinen Widersprüchen, durchaus Mensch. Die Macht der Gemeinheit weiß ganz wohl, daß sie den Edlen nie durch banale, „abgeschmackte Vergnügungen" fassen kann, und so ist es die Betonung des Frei- heitlichen, Unbedingten, der Spott, daß er den „braunen Saft in jener Nacht nicht ausgetrunken", wodurch Mephistopheles Faust in seine Netze zieht; aber als^ diesem dann auch in der Leiden- schaft seine Unbedingtheit bleibt, als er „in seinem tragisch ra- senden Wollen ein Idealist" ist, „der alles oder nichts will" *), 1) Vischer, a. a. 0. S. 328. 37S Ottomar Wichmann, da ist es gerade er, der Verführer, der diese Unbedingtheit be- kämpft, ist er es, der „dämpft und kühlt" und wird ein „teuflischer Prediger der Einsicht in die menschlichen Schranken und des Sich- fügens in die Bedingtheit der Erfahrungswelt" 1). So wie hier der Teufel die Vernunft vertritt ( — und mit Recht, denn in diesem Falle ist die Vernunft gemeiner als die Raserei), so „stiebt" über- haupt „Mephistopheles in tausend Mephistopheles auseinander". Er der so oft als Vertreter behaglich-freier Lebensanschauung er- scheint, sodaß seine Worte — von der „grauen Theorie" und dem „Kerl der spekulieret" — noch heute als deren Ausdruck gang und gäbe sind2), dessen humorvolle Entrüstung über den Pfaffen uns den größten Spaß macht, erscheint vor Gretchens reinem Blick als grauenhaft dämonische Macht, vor Fausts Gewissensqualen als den Abgrund der Gemeinheit, in der letzten Szene endlich, als es ums Entscheidende geht, als Gretchens reiner und geläuterter Wille, von den ewigen Mächten unterstützt, ihm den Faust zu entreißen droht, da „brüllt" in dem „Her zu mir!" „das höllische Raubtier aus ihm" und verkörpert sich in ihm aller Inbegriff des Entsetzlichen. Wie aber verträgt sich diese Wesensart des Teufels mit dem humorvoll behaglichen Verhältnis zur Gottheit, dem der Schalk nichts weniger als verhaßt ist? — Das Übersinnliche, als Verkörperung des Unbedingten, soll und darf eben nicht restlos erfaßbar sein ; tausend Gedanken und Gesetze soll es ausstrahlen, durch keine darf es erschöpft werden. „So wie die Dinge nun liegen, müssen wir das vom Dichter selbst in Gang gesetzte Denken allemal in dem Moment schnell parieren, wo es die neben ihm bestehende Illusion des Mythischen sprengen will" 4). Was hier an Faust ausgeführt wurde, das „Zwielicht" der Darstellung (Vischer), wodurch das Unendliche und sonst Undarstellbare der Persönlichkeit veranschaulicht wird, liegt in ganz besonderen Maße vor bei Shakespeare. Es ist bei ihm ein stehender Zug, und die von Lessing5) gerühmte Natürlichkeit des Shakespeareschen Ge- spenster beruht weniger auf „gewissen Handgriffen" und äußeren Umständen, als auf der inneren Begründung : Weil bei Shakespeare sich alles „um den geheimen Punkt" dreht, „das Eigentümliche unseres Ich, die prätendierte" — d. h. die ideell beanspruchte — „Freiheit unseres Wollens", die durch das Übersinnliche veran- 1) Vischer, a. a. 0. S. 237. 2) S. 345. 3) S. 382. 4) S. 257. 5) Hamb. Dramat., 11. Stück, 5. Juni 1767. Genie und Tragik. 379 schaulicht wird, so wird unaufhörlich und aufs lebhafteste die Ein- bildungskraft nach der Richtung solcher übersinnlichen Beziehungen angeregt: wir „Narren der Natur" werden durch die Urgründe menschlichen Wesens und Wollens, die der Dichter vor uns auf- reißt, so „furchtbar lieh mit Gedanken geschüttelt, die uns're Seele nicht ergreifen kann", daß wir bei Hamlet, bei Macbeth, bei der Jungfrau von Orleans, bei Richard III. und Brutus das Eingreifen des Übersinnlichen als etwas Selbstverständliches 'empfinden. Als einen tatsächlichen, real gegebenen Zug menschlichen Wesens hat diesen von uns gekennzeichneten Inbegriff von Freiheit, Persönlichkeit und Genialität Goethe hingestellt und es ist be- zeichnend, daß er durch den Namen des Dämonischen diese Be- ziehung auf ein Übersinnliches, das doch ungreifbar und schwebend bleiben soll, in den Vordergrund stellt. Eckermann erzählt l) wie Goethe „von jener geheimen problematischen Gewalt" spricht, die alle empfinden, die kein Philosoph erklärt und über die der Religiöse sich mit einem tröstlichen Wort hinaushilft. Das Dämonische bezeichnet nach Goethe diejenigen menschlichen Fähigkeiten und Leistungen, für die ein Verständnis, d. h. eine Ableitung und Er- klärung aus natürlichen Zusammenhängen nicht möglich ist: „Das Dämonische ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist" 2), es tritt in Persönlichkeiten wie Napoleon auf, ferner findet er es in den Begebenheiten, und zwar „in# allen, die wir durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen vermögen". „In der Poesie" ferner „ist durchaus etwas Dämonisches und zwar vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe wirkt. Wenn aber dann Eckermann fragt8), ob das Dämonische auch in die Idee des Göttlichen eingehe, so ist damit für Goethe dasjenige, was nur flüchtige, veranschaulichende Verbildlichung eines Unbedingten und Unfaßbaren am Menschentum bedeutet, schon zu sehr festgelegt, und er antwortet : „Liebes Kind, was wissen wir denn von der Idee des Göttlichen und was wollen denn unsere engen Begriffe vom höchsten Wesen sagen?" Eckermann bezeichnet dann selbst4) die Eigenart dieser Veranschaulichung eines Jen- seitigen, das im Menschen sich äußert und das Höchste im Men- schentum ausmacht: „Goethe nennt dies unaussprechliche 1) Eckermann, Gespräche mit Goethe 28. II. 1831. 2) 2. III. 1831. 3) 8. III. 31. 4) 28. II. 1837. 380 Ottomar Wichmann, Welt- und Lebensrätsel das Dämonische und indem er sein Wesen bezeichnet, fühlen wir, daß es so ist, und es kommt uns vor als würden vor gewissen Hinter- gründen unseres Lebens die Vorhänge weggezogen. Wir glauben weiter und deutlicher zu sehen, werden aber bald gewahr, daß der G-egenstand zu groß und mannigfaltig ist, und daß unsere Augen nur bis zu einer gewissen Grenze reichen". IV. Antike und moderne Tragik. Wir fanden als einen Ausdruck der im Tragischen liegenden Unbedingtheit, der jenseits aller Ableitbar keit aus natürlichen Be- ziehungen liegenden Persönlichkeit, die Mythisierung dieser Per- sönlichkeit, die aber immer ebenso schwebend und ungreifbar bleibt. Es ist in diesem Zusammenhang belehrend, die Eigen- tümlichkeit der modernen und der antiken Tragik zu betrachten. Ein entscheidender Unterschied der neueren Kultur von der hellenischen ist, daß diese von einer dogmatisch fest begründeten Metaphysik ihren Ausgang nahm. Damit scheint zunächst jede Ausdrucksmöglichkeit für jenes Übersinnliche und Freiheitliche im Menschen aufgehoben. Und doch hat sich der unüberwindliche Drang, das *zu veranschaulichen gewußt, was dem Menschen das höchste Glück, trotz aller Himmelsfreuden und Strafen ist. Das freie Spiel der ßeziehungsetzung zu übersinnlichen Mächten war abgeschnitten, aber eine G-estalt hatte man doch neben dem ehern geschlossenen Himmel, deren Wirkung man in dem Unbegreiflichen der Persönlichkeit ansetzen konnte: das war der Teufel. Und so liegt darin, daß man in Deutschland einen Albert den Großen und Dr. Faust mit den Teufel in Verbindung bringt, nichts weniger als eine Herabsetzung. Es ist nur der Grundtrieb nach einer Aus- gestaltung der jenseits aller Regel, jenseits auch des kirchlichen Gut und Böse liegenden Persönlichkeit, der sich hier äußert. Wie meisterhaft Goethe diesen Grundzug deutschen Wesens wieder auf- genommen hat, braucht nach dem Vorangegangenen nicht näher ausgeführt zu werden1). 1) Ich verweise auch hier wieder auf Hr. Heines „Briefe über Deutschland", der diesen Sachverhalt ausgezeichnet darlegt, davon spricht, daß die alten Götter und Geister in Deutschland noch lange nicht tot seien und einmal mächtige Auf- erstehung feiern würden. Auch Spenglers Geschichtsphilosophie schwebt derartiges Genie und Tragik. 381 Beim Hellenen liegen die Dinge ganz anders. Die strenge Sonderung und Systematisierung des Metaphysischen fehlt hier vollständig und so gestaltet sich die Persönlichkeitsidee viel leichter und unmittelbarer zu einer Beziehung aufs Übersinnliche aus, das Hereinragen des Göttlichen in das Leben ist gar nichts so voll- ständig Außerordentliches, sondern eine Gregebenheit des Lebens. Die Unbedingtheit der Natur, wie wir sie oben an einer Gestalt wie Suffolk schilderten (S. 371), diese überragenden Herrenmenschen, die für die gewöhnliche Natur ein Unbegreifliches darstellen und denen sie sich bewundernd beugt, werden für den Hellenen ohne weiteres zu „göttlichen" oder „dämonischen" Menschen. Ich kann hier auf meine Schrift: „Piatons Lehre vom Instinkt und Genie"1) verweisen, wo ich gezeigt habe, wie Piaton als „göttliche" oder „dämonische" Männer alle diejenigen bezeichnet, in deren Leistungen und Taten ein Geniales und Unberechenbares zum Ausdruck kommt, und zugleich auf diese Denkweise als eine allgemein -hellenische hingewiesen habe. Die Übereinstimmung dieser Anschauungsweise mit dem, was er selbst als „dämonisch" kennzeichnet, hat übrigens Goethe selbst betont, wenn er sagt : „Dämonische Wesen solcher Art rechneten die Griechen unter die Halbgötter" 2). Dieser Zug hat sich im Laufe der griechischen Geschichte nur verstärkt: es wird nun Modesache, große oder groß sein wollende oder sollende Männer zu Heroen oder Göttersöhnen zu machen, wie Alexander d. Große, Lysander u, a., ein hellenistischer Zug, den dann das römische Kaisertum übernimmt. In ursprünglichster dichterischer Kraft zeigt sich diese Gestaltung der unbedingten Persönlichkeit bei Homer. Der Zorn des Übergewaltigen, der in Liebe und Haß, in Leiden und Taten über alles menschliche Maß hinausragt, ein Un- bedingtes darstellt unter den Kriegern, die in Trojas Ebene lagern, der „Zorn der Peliden" ist das Thema der Ilias. So sehr man die mit warmer Herzlichkeit geschilderten Gestalten, die ergreifenden Szenen zwischen Hektor und Andromache empfinden mag, die dichterisch größte Gestalt ist Achilleus, das Grundthema ist das Rasen des Übermenschen und wer diese Gestalt und ihre Tragik vor. Daß dieser Trieb zu einem Jenseits über der Kirchenlehre auch in der Scholastik sich äußert, habe ich in meinen „Scholastikern" bei Duns Scotus und den Mystikern betont. 1) Kantstudien, Ergänzungsheft 40, Berlin 1917. 2) Eckermann, 2. III 1831. 182 Ottomar Wichmai) u, ablehnt, der weist damit den Entwurf des Dichters als Ganzes zurück. Man muß diese Gestalt mit all ihrer schneidenden Härte hinnehmen, muß — so furchtbar das klingt — mit ihr fühlen können, wenn sie für den Knaben Lybaon, der um sein blühendes Leben weint, nur insofern Mitgefühl hat, daß sie ihn zur Unbe- dingtheit und Mannhaftigkeit auch gegenüber dem Tode aufruft: „Also, mein Freund, stirb' auch du!" Man muß für solche schnei- dend harte Größe des Übermenschentums, die über die Häupter der Mitmenschen wegschreitet und für alles, was zur eigenen Un- bedingtheit sich nicht aufschwingen kann, nur Fußtritte und Ver- achtung hat, Verständnis haben, muß — es hilft alles nichts! — den Achilleus verstehen, wenn er dem röchelnden Hektor seine Bitte um Ehrung im Tode kurz abschlägt. Hier gilt, was Goethe in der Shakespeare- Rede1) sagt: „Er führt uns durch die ganze Welt, aber wir schwachen und verzärtelten Menschen rufen, so oft uns eine fremde Heuschrecke begegnet: 0 Herr, er will mich fressen!" Wenn Schiller aus einem idealen Glauben heraus seine Jungfrau von Orleans zu einer ganz ähnlich geschilderten Härte führt, so verstehen wir das, aber die Persönlichkeitsidee Homers ist größer, die am Helden eine solche Unbedingtheit auch gegenüber der weichen Rührung haben will und sie nicht aus religiösen Ideen, sondern aus den Tiefen der Persönlichkeit entspringen läßt. Daß Achilleus schließlich doch der rührenden Klage des Priamos den Leichnam herausgibt, ist kein Einwand, denn eine eigentliche Willensbeeinflussung — und nur diese wäre eine Bedingtheit und Unfreiheit seines Wesens — findet durch die Rührung nicht statt : die Sache ist entschieden, ehe Priamos kommt ; Zeus, dem die Götter schon tagelang in den Ohren liegen, doch den Frevel nicht zu dulden, hat dem Achilleus ganz höflich, gewissermaßen wie seines- gleichen, sagen lassen, er möchte doch den Leichnam heraus- geben. Denn die Veranschaulichung der übergewaltigen Persönlich- keit, der Freiheit und Unbedingtheit, d. h. der menschlichen Un- ableitbarkeit ihres Handelns, geschieht auch hier durch Beziehung auf ein Übersinnliches. Das zeigt schon die mächtige Eingangs- szene. Agamemnon, der Unglückskönig, hat dem Achilleus Be- leidigungen entgegengeschleudert, die dieser unmöglich dulden kann. Bleich und starr haftet der Blick der Achäer auf ihm. Bei jedem 1) S. o. S. 353. • Genie und Tragik. 383 andern, auch bei Agamemnon, würde der Gedanke, was sie an- richten könnten, den furchtbarsten Ausbruch des Zornes hemmen. Beim Peliden ist das anders, der ist in Zorn und Haß unbedingt. Jeder weiß, daß wenn er freundlich und gelassen ist, er es nur ist, weil er sich mäßigt. „Hemmungen" gibt es für ihn nicht; wenn er seinem Zorn freien Lauf läßt, muß dieser zerstörend wirken wie ein Sturzbach. Das ist das „Gefährliche" in ihm wie ebenso in Hamlet *), worin diese unbedingten Naturen sich vor sich fürchten. Und dieses furchtbarste, der Zorn des Übermenschen, scheint unvermeidlich, Achilleus zieht das Schwert — da tritt etwas Wunderbares ein: er zögert einen Augenblick und steckt das Schwert in die Scheide. Was war hier geschehen? Daß kein Bedenken, keine Besorgnis ihn hatte abhalten können, weiß jeder. Wie kann man dies Handeln „verstehen", d. h. seine Beweggründe ausfindig machen? Sie können es nur dadurch, daß sie diese Be- ziehungen in einem Jenseits suchen: In dem Augenblick, wo Achilleus zögerte, müssen die Götter selbst erbebt sein, muß Hera mit Athena gesprochen haben und diese den Achilleus um Mäßigung gebeten haben. Und das weitere Thema ist nun das Hereinbrechen dieses Übermächtigen, irdisch Unbegreiflichen, des Zornes des Achilleus in die irdische und kleinliche Welt. Ein psychologisches Thema sozusagen ursprünglich, aber dieses begreift, da es sich um die Seele eines Übergewaltigen handelt, Glück und Leid von Staaten und Völkern, begreift die ganze Götterwelt und Himmel und Erde ein. Aus dem schimmernden Palaste rufen die Tränen des Beleidigten die Meeresgöttin empor, die Ströme Skamander und Simoeis brausen unmutig auf, wollen « den rasenden Überwillen nicht dulden und sind doch ohnmächtig, denn das heiße Element des Hephaistos tilgt die göttlichen Stromgewalten. Das ergreifend warme und edle Heldentum Hektors muß erliegen : es ist Bedingt- heit gegenüber dem Göttersohn, und das Herrentum des Überge- waltigen hat Recht. Es ist nach alledem kein Zufall, daß der Name des „Tragischen", dem hellenischen Weihespiel entnommen, zum Ausdruck für den höchsten, unbedingten und ideellen Per- sönlichkeitswert geworden ist. Ist doch eben dem Hellenen alle höchste, geniale Äußerung der Persönlichkeit „dämonisch" und „Denn ob ich schon nicht jäh und heftig bin, So ist doch was Gefährliches in mir, Das ich zu schaun dir rate! ...u (V, 1). 384 Ottomar Wichmann, 4 „göttlich", und stellen, doch eben seine Götter dieses herrisch un- bedingte Hinausragen über jede irdische Beschränkung dar. Bis zu einem gewissen Grade tritt ja, wie oben berührt wurde, dieser Zug schon in dem Bilde hervor, das der Goethesche Faust von der Gottheit gibt. Ein Zug des Jovialen und Lustigen ist hier sogar in den katholischen Himmel getragen, ein Herrgott, der ge- mütlich mit dem Teufel selbst plaudert. Während dies aber bei der Goetheschen Gottheit nur einen Hauch über der unberührten Majestät ausmacht, ist dieser Zug ganz anders bei den Homerischen Göttern ausgeprägt, bei denen keine Rede davon ist, daß sie sich „das Lachen abgewöhnt" hätten. Unerfaßbarkeit, ein Jenseits von Gut und Böse, damit ist ihr "Wesen getroffen. Gebunden an enge Grenzen, an die sittlichen Gesetze, deren Überschreitung schwere Strafe nach sich zieht, steht der Mensch diesen Göttern gegenüber. Wo sie ihm erscheinen, sind sie ganz Majestät. Das wüste Ge- zücht der Freier ist den Göttern verhaßt und muß vergehen. Wenn man aber meint, durch sittlichen Gehalt das Wesen der Götter zu erschöpfen, so irrt man gewaltig, denn in tollster Laune spotten diese Götter aller Würde, lachen „homerisch", zanken, betrügen und bestehlen sich und haben die lockersten Liebeshändel. Von Xenophones bis Piaton hat sich das sittliche Bewußtsein der großen Denker empört gegen diese Götterwelt gewandt. Was tut's? Die Götter sind nicht zur Moral erfunden, sondern was unter Freiheit und Persönlichkeit erschaut und verlangt wird, das gestalten Dichter und Volk zu mächtigen Heroen und heldischen Handlungen, in denen, was aus eigener Bedingtheit nicht erklär- lich und begreiflich ist, in eine jenseitige Welt voll Macht und Glanz gestellt wird. Damit ist nicht Roheit und Widersittlich- keit zum Ideal erhoben: auch die Gestalt des Achilleus ist für alles Warme und Edle offen, und auch diese Götter weit hält das moralische Gesetz aufrecht. Aber zugleich soll doch bei dem Helden und bei der Gottheit diese Sittlichkeit etwas anderes, soll Freiheit sein und ihr Wesen muß ein Jenseits wie von Böse, so auch von Gut ausmachen. Es ist bezeichnend, daß Athena, die Göttin des freien Blickes und der hohen Tat, die Helferin des Achilleus und Odysseus und Rächerin des Freierfrevels, es ist, die den Hektor, um ihrem Liebling „Ruhm zu bereiten", auf „sata- nische" Weise betrügt. Genie und Tragik. 385 Man könnte nach dem bisherigen auf den Gedanken kommen, es sei nach dieser Auffassung des Tragischen die griechische Tra- gödie der Höchstpunkt der TagÖdie überhaupt, etwa nach der Auffassang Hebbels, der die Antigone allen andern Tragödien voranstellt. Doch liegt die Öache, wenn man genau zusieht, ge- rade umgekehrt. Allerdings verkörpert die hellenische Mythologie in ausgeprägtestem Maße das „Tragische" am Menschen. Dieses Jenseitige, Freiheitliche in der menschlichen Natur, das durch ein Göttliches veranschaulicht wird, ist dem Griechen nicht, wie heut uns, etwas kaum Glaubliches, sondern diese Eigentümlichkeit menschlichen Wesens ist ihm etwas durchaus Gegebenes, wovon er wie von einer Tatsache redet, an der niemand ernstlich zweifelt. Aber gerade deshalb, weil ihm dies Hineinragen des Göttlichen eine ganz geläufige Vorstellung ist, gerade deshalb bekommt diese Darstellung solchen Übermenschen- und Heroentums etwas Stereo- types, das nicht zum Vorteil der Tragödie ausschlägt. Die Freiheit im Menschen, das Tragische, ist eben etwas so Unfaßbares, daß es durch keine bestimmte Gestaltungsart wiedergegeben werden kann ; das höchste Geschenk der Musen läßt sich nicht weitergeben, auch bei den Griechen nicht. Nur dann ist die Götter weit, das Über- sinnliche, der echte Ausdruck für das Höchste im Menschen, die Unbedingtheit seines Wesens, wenn die Hauptsache der Dar- stellung immer die Freiheit, das Metaphysische im Menschen bleibt, das nötigenfalls sich leicht und schnell, verschwebend und ungreifbar, auswächst zu einer leichten und luftigen Geister- oder Götterwelt. Das ist in vollkommenster Weise geboten bei Homer. Bei Sophokles aber steht es anders ; wohl sind hier die Götter noch dieselben wie bei Homer: Athena ist im Ajax ebenso betrügerisch und grausam und über Ödipus und seinem Geschlecht liegt eine ungerechte, feindliche Götter weit. Aber während bei Homer die im höchsten Sinne tragischen, überragenden Persönlichkeiten da sind, aus deren Wesen diese Götterwelt ihre Begründung hat, fehlen sie bei SophoMes. Damit soll der Gestalt der Antigone nicht der tragische Gehalt abgesprochen werden. Aber er ist ein anderer und paßt nicht zu diesen Göttergestalten. Wohl erringt Antigone die Freiheit, indem sie das Sittengebot als das Unbe- dingte ansieht und in der Ergreifung dieses höchsten Gebotes ihrem Wesen Unbedingtheit erwächst. Aber dafür hat Sophokles keine göttliche Veranschaulichung. Wie ungleich mächtiger ist hier die Gestaltungskraft Goethes, bei dem ebenfalls Gretchen Kantstndien. XXVI. 25 3S6 Ottomar Wiehmann, durch Hinwerfen an das Sittliche Freiheit und Unbedingtheit ihrer Persönlichkeit gewinnt und durch den kurzen Ruf einer Stimme „Ist gerettet lu blitzartig der übersinnliche Zusammenhang hereinleuchtet. Somit liegt gerade in dieser Götterwelt, die bei den Tragikern schon Überlieferung, nicht mehr lebendiges Sich- bilden und Wachsen ist, die Schwäche der griechischen Tra- gödie1). Es ist nicht mehr die Freude an dem Herrischen, Ge- waltigen, was durch die Tragödien wirkt, sondern als dunkle, grausame Macjit liegt es feindlich über den Menschen. Am we- nigsten gilt das noch von dem genialsten der drei Tragiker, von Aischylos. Indem er große sittliche Ideen in den Göttern ver- körpert sein läßt, bleibt bei ihm diese Götterwelt in gewissem Grade flüssig: Wenn er seinen „Zeus" nur so nennt, wenn und wie es ihm lieb sein mag2), so liegt darin eine großartige Freiheit gegenüber dem Mythischen, und in den „Persern" gelingt es ihm sogar, in groß- zügiger Weise das „Dämonische in den Geschehnissen", wie Goethe sagen würde, zum Ausdruck zu bringen. In Sprache und Aufbau — z. B. dem Erscheinen des Geistes des Darius 3) und in der er- schütternden tragischen Ironie im Agamemnon4) — liegt etwas Shakespearesches. Aber diese Linie wird von Sophokles verlassen : Er stellt nicht mehr heroische sondern menschliche Tragik dar, und das gibt, da diese Menschen doch immer noch Heroen sind, schon bei Sophokles der ganzen Handlung etwas Beengendes. Am stärksten äußert sich das' dann bei Euripides. Während Aischylos den Einklang zwischen Leben und Übersinnlichem dadurch zu schaffen sucht, daß er die großen Taten seines Volkes ins Über- sinnliche hinaufreißt, will Euripides diesen Ausgleich schaffen, in- dem er die Heroen ins Irdische herunterzieht. Es ist darüber von Aristophanes bis Mommsen 5) genug gesagt worden, und ein längeres Verweilen ist unnötig. So ergibt sich gerade aus dem Vergleich mit der antiken Tragödie der Vorzug und das Wesen der mo- dernen. Mommsen hat vollständig recht, wenn er sagt, daß Sophokles vor Shakespeare zurücktreten muß. Die moderne Tra- gödie hat es an sich unendlich viel schwerer, ihren höchsten Gegen- stand, das Methaphysische im Menschen, das Unbedingte und Irra- tionale darzustellen, weil ihr keine überlieferte mythologische Aus- 1) Vgl. dazu Volkelt, Ästh. des Tragischen, S. 406 ff. 2) Agam. v. 160. 3) Pers. v. 681. 4) Agam. r. 921 ff. 5) Mommsen, Rom. Gesch. I, S. 910—913. Genie und Tragik. 387 gestaltung dieses im höchsten Sinne Persönlichen gegeben ist. Aber wenn es ihr gelingt, diesen tiefsten Kern alles Menschlichen durch Hereinbeziehung eines Jenseits zu veranschaulichen, so bleiben die übersinnlichen Bildungen dafür auch flüssig und schwebend, in jedem Augenblick zum besonderen Zweck sich neugestaltend, wie das Vischer so klar an Faust ausführt, während die antike Tra- gödie im wesentlichen doch eine „Redaktion der Mythologie" darstellt (Mommsen). Über dem modernen Geist lastet das kirch- liche und neuerdings das naturalistische Dogma; aber wenn die dichterische Kraft einmal diesen ehernen Himmel durchstößt, so findet sie nicht das luftige Gedränge der antiken Göttergestalten, das, zur Überlieferung geworden, die antike Tragödie beengte, sondern der Raum ist leer und der Mythos kann frei und spielend sich entfalten. V. Ausblick. Es fehlt hier an Raum, um den bisherigen Ausführungen die Ergänzung zu geben, deren sie natürlich bedürfen: es wurde ent- wickelt, wie der Dichter die Freiheit darstellt ; um aber ein volles Bild des Tragischen zu gewinnen, ist auch nötig auszuführen, wie der Dichter die Unfreiheit darstellt. Wir sahen, wie der tra- gische Mensch, die Persönlichkeit im höchsten Sinne, in seiner Freiheit zugleich unfrei ist, nämlich vom gewöhnlichen Leben aus betrachtet. Zum Tragischen gehört aber auch, wie der gewöhn- liche Mensch trotz seiner Unfreiheit und seiner Bedingtheit frei sein will, wie er den Bestimmungsgrund seines Handelns, um sich frei zu fühlen, ins Unbedingte erhebt und gerade dadurch seine Unfreiheit unentrinnbar macht. Hier tut sich das Gebiet auf, wo die Hebbelsche Anschauungsweise vom Tragischen berechtigt ist: daß mit jedem Einzelwillen die Überspannung des Willens gegeben ist. Weil der Mensch unter der Idee der Freiheit — oder Un- bedingtheit oder Allgemeingültigkeit — - handelt, und deshalb die Denkweise, das Gesetz, welches den Bestimmungsgrund seines Handelns ausmacht, für unbedingt gültig halten muß, entspringt auch auf dieser Stufe die Notwendigkeit aus der tragischen Frei- heit. Auch hier bietet wieder Shakespeare das Höchste : wenn Cassius von Brutus sagt : 25* 388 Ottoinar Wichmann, „Gut, Brutus, du bist edel! doch ich sehe, Dein löbliches Gemüt kann seiner Art Entwendet werden — — war ich Brutus nun, er Cassius, Er sollte mich nicht lenken!" Aber auch König Heinrich VI, und am machtvollsten wohl König Lear und Macbeth zeigen diesen Zug. Namentlich bei dem letzten erzeugt dieses an Wahnsinn grenzende Festhalten der einmal er- wählten Handlungsweise, die Unerfaßbarkeit der Handlung die auch in diesem Falle natürliche Hinaus Verlegung ihrer Bedingt- heit in einen übersinnlichen Zusammenhang. Aber auch bei der Gestalt Hektors liegt dies starre und letzten Endes sinnlose Fest- halten an dem einmal Erwählten vor : an der unbeirrbaren Ritter- lichkeit seines Wesens *), die er doch, wie der alte vernünftige Horaz schon gesehen hat2), dem infamen Paris gegenüber nur einmal über Bord zu werfen brauchte, um alles in Ordnung zu bringen und Volk und Vaterland wirksamer zu befreien als duich alles Heldentum. Auch sei hier noch kurz darauf hingewiesen, daß auch die schon oft bemerkte Verwandtschaft des Komischen mit dem Tragischen aus solcher am unpassenden Ort sich äußern- den Unbedingtheit des Wesens entspringt. Das gilt von den Ge- stalten Charles Dickens', wie vom Don Quixote und vom Unkel Bräsig. Alle wahrhaft komischen Gestalten sind tragisch, d. h. sie tragen eine solche Unbedingtheit des Wesens in sich, die zwar in diesen Fällen nicht zum Untergang, aber zu immer wiederholten Anstößen führen muß. Und so liegt denn in dem Ausspruch Goethes über Shakespeare der ganze ideelle Sachverhalt, der das Wesen des Tragischen aus- macht: „ Seine Pläne sind keine Pläne". Sehr recht! Denn jedes bewußte Konstruieren und Aufbauen, jeder „Plan", den man sollte merken können, widerspricht der Idee des objektiven Kunstwerks. „Aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt, . . . in dem das Eigentümliche unseres Ich, die prätendierte Freiheit unseres Wollens mit dem notwendigen Gange des Ganzen zu- sammenstößt". Die prätendierte, d. h. die beanspruchte oder die ideell geforderte Freiheit macht das Eigentümliche unseres Ich 1) II. B. VI, 444. iitsl pdd'ov fyfisvciL icd'Xog 2) Horaz, Epist. I, 2. Genie und Tragik. 389 aus. Entweder es liegt eine wirkliche Unendlichkeit des Persön- lichen, eine Unbedingtheit des Wesens vor, — dann erschauen wir das Höchste der Persönlichkeit, was Piaton und Goethe das Dä- monische nennen. Oder aber, der Mensch will frei sein und nimmt deshalb die Begrenzung und Bedingtheit seines Wesens als das Unbedingte und Allgemeingültige, er setzt alle seine Kraft und sein Leben daran, diese durchzusetzen und muß so sich selbst zer- stören. Darin liegt das Zusammenfallen von Freiheit und Not- wendigkeit im Tragischen, daß, je mehr der Mensch frei ist oder frei sein will, desto mehr diese Unabwendbarkeit des Untergangs in seinem Schicksal sich ausprägt. Daß die Freiheit in diesem Leben so vernichtet werden muß und daß sie trotzdem das Höchste für das Menschengeschlecht ausmacht, darin liegt die Objektivität, die das Auge des Dichters erschaut. Nicht wo irgend eine Art Theologie oder irgend eine liberale Lebensanschauung eine Ver- söhnung schafft, liegt die ideelle Art des Tragischen, sondern da, wo das Leben geschildert ist: Kühl vernichtend, schneidend wie blanker Stahl, und wo dennoch der Mensch dagegen sich auflehnt und ein eigner bleibt: an dem „geheimen Punkt ... wo das Eigen- tümliche unseres Ich, die prätendierte Freiheit unseres Wollens mit dem notwendigen Grange des Granzen zusammenstößt". Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. Von Anna Tumarkin, Prof. an der Universität Bern. Fragen wir nach dem besonderen Gegenstand, den die Psycho- logie zn behandeln hat, nach dem Psychischen, als einer besonderen Form der Wirklichkeit, so tritt nns das uralte ewige Rätsel vom Leben entgegen, das sich dem Menschen seit den ersten Anfängen seiner philosophischen Entwicklung immer von Neuem aufdrängt. Scheinbar so selbstverständlich, das am unmittelbarsten Ge- gebene, erscheint doch das Leben völlig problematisch, unfaßbar, sobald wir es begrifflich fixieren wollen. Wie sollen wir es in unserer dem begrifflichen Denken angepaßten Sprache formulieren, da es selber nicht begrifflich, sondern unmittelbar gegeben ist? Wie sollen wir es auch nur in schweigender Betrachtung für uns selbst fixieren, da das flüchtige Leben unserer Betrachtung nicht stille steht und in dem Augenblick, wo wir seine lebendige Flut halten wollen, uns entschwindet. Gerade das, was man am Leben im Gegensatz zu aller vermittelnden Erkenntnis preist, seine Un- mittelbarkeit, verliert sich vor dem aufmerksamen Blick der Selbs't- betrachtung. Ich will mein Gefühl beobachten, aber was ich er- fasse ist nicht mehr mein ursprüngliches, unbefangenes Gefühl selbst. Und weil sich das Psychische aller Fixierung entzieht, gibt es auch streng genommen keine innere Wahrnehmung des Psychischen, wie es eine äußere Wahrnehmung des räumlich und zeitlich fixierbaren außerpsychischen Geschehens gibt. Diese Ungreifbarkeit des unmittelbaren Erlebens ist es, was die feinsten Psychologen als die größte Schwierigkeit empfinden, die dem psychologischen Forschen in den Weg tritt. Am ein- dringlichsten hat diese Empfindung in unserer Zeit Bergson zum Ausdruck gebracht. Anna Tumarkin, Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 391 Und doch sind wir auf die Erkenntnis des Psychischen an- gewiesen, des fremden wie des eigenen. Das Znsammenleben mit den Anderen, wie das Bewußtsein der Kontinuität des eigenen Lebens wären unmöglich, wenn wir das Psychische nicht als solches erkennen könnten. Es gibt tatsächlich eine Erkenntnis des Psychischen, und wir müssen uns nur Rechenschaft geben, worin sie besteht und worauf sie beruht. Es gibt allerdings keine besondere innere Wahrnehmung des einzelnen, isolierten Erlebens, wohl aber gibt es ein Verstehen des gesamten psychischen Zu- sammenhanges, in den sich das einzelne Erleben einordnet, und aus dem heraus es sich auch verstehen läßt. Vergebens jage ich dem einzelnen Lebenselement nach: was isolierbar ist, ist nicht mehr psychisch, subjektiv, sondern nur das gegenständliche Korrelat eines Psychischen. Aber der ganze seelische Zusammenhang ist mir verständlich, und aus ihm heraus wird mir auch das Einzelne wieder lebendig, verständlich. Nur aus dem Zusammenhang heraus gibt es ein Verstehen des Psychischen ; wie es überhaupt ein Ver- stehen nur vom Zusammenhang oder aus einem Zusammenhang heraus gibt, nie von einem Einzelnen für sich genommen. Wir verstehen einen Satz oder eine Rechnung, nicht den Buchstaben oder die Zahl; verstehen können wir nur, was sich aus einander ableiten läßt. / Bei dem Psychischen, dessen einzelne Erscheinung wir außer- halb ihres Zusammenhangs gar nicht fixieren können, sind wir be- sonders darauf angewiesen, sie aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen, in den sie sich einordnet, so daß wenn sie auch selber entschwindet, ihre Stelle im Zusammenhang fixiert werden kann, wie die fliehende Bewegung fixiert wird in der durchlaufenen Linie. Daher kommt auch dem Verstehen des Einzelnen aus dem Zu- sammenhang heraus bei der Betrachtung des Psychischen eine ganz andere Bedeutung zu, als bei der Betrachtung der Außenwelt, deren einzelne Gegenstände wir zwar auch nur -aus dem allge- meinen Zusammenhang des Naturgeschehens erklären, daneben aber auch für sich, isoliert vom allgemeinen Zusammenhang denken können. Beim Psychischen aber gibt es überhaupt keine Erkenntnis außerhalb des Zusammenhangs, keine Erkenntnis des Psychischen, die nicht ein Verstehen aus dem Zusammenhang heraus wäre. Nur im Zusammenhang läßt sich das Einzelne, als psychisch, über- haupt fassen ; außerhalb dieses Zusammenhangs verflüchtigt es sich 392 Anna Tumarkin, in seiner Subjektivität und verhüllt sich hinter den gegenständ- lichen Bewußtseinsinhalten. Darum erscheint es als methodischer Grundfehler aller an der Naturwissenschaft orientierten Psychologie, daß sie von den Ele- menten des Seelenlebens ausgeht, um von da aufzusteigen zu höheren Funktionen; denn durch bloße Zusammensetzung psychi- scher Elemente läßt sich kein psychischer Zusammenhang in der Art gewinnen, wie man zur Erkenntnis eines körperlichen Ganzen gelangt durch sukzessive Betrachtung seiner Teile. Es ist das große Verdienst Wilhelm Diltheys um die Psychologie, daß er auf die Ursprünglichkeit des seelischen Zusammenhanges hinwies, von dem alles psychologische Verstehen auszugehen habe; für diese Er- kenntnis des Seelenlebens aus seinem ursprünglichen Zusammen- hang heraus hat er den Begriff „Verstehen" in Anspruch ge- nommen im Gegensatz zum „Erklären" des Natur geschehens, dem wir durch Hypothesenbildung den Zusammenhang erst unterlegen müssen. Die terminologische Unterscheidung scheint mir nicht be- rechtigt; denn Verstehen (von Verstand) ist der allgemeinere Be- griff, unter den die Erkenntnis eines jeden Zusammenhangs fällt, des psychischen Zusammenhangs nicht mehr, als des empirischen Zusammenhangs des Naturgeschehens oder des a priori deduzier- baren Zusammenhangs der Ideen; aber von der Eigenart des Zu- sammenhangs hängt auch die Besonderheit des entsprechenden Verstehens ab. Und so führt die Frage der psychologischen Er- kenntnis zur Frage nach der Eigenart des psychischen Zusammen- hangs. Es ist ein realer Zusammenhang: nicht bloß das negative Prinzip der logischen Widerspruchslosigkeit , auch nicht das for- male Prinzip der transzendentalen Einheit der Apperzeption, das jenseits des empirischen Reichtums und der individuellen Unter- schiede des psychischen Lebens bleibt, sondern der wirkliche Zu- sammenhang des konkreten Lebens in allen seinen Modifikationen. Und da liegt es nahe, den psychischen Zusammenhang als einen Ausschnitt aus dem allgemeinen Zusammenhang des Naturgeschehens zu verstehen, ihn einzureihen in den großen Kausalzusammenhang, den die positive Forschung mit Hilfe der Mathematik immer fester zu sichern strebt, und so die psychologische Forschung teilhaftig zu machen der Gewißheit positiver Wissenschaft: es soll die Be- Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 393 trachtung der flüchtigen Erscheinungen des psychischen Lebens dadurch auf einen festen Boden gestellt werden, daß man sie in kausalen Zusammenhang bringt mit greifbaren und meßbaren Er- scheinungen der Außenwelt. Wenn aber Wundt, der kritischste unter den Vertretern dieser an der Naturwissenschaft orientierten Psychologie, schließlich zum Eesultate kommt, daß das Gesetz der psychischen Kausalität, causa aequat effectum, sich nicht auf das psychische Gebiet über- tragen lasse, so erscheint damit die ganze Einreihung des Psy- chischen in den allgemeinen Kausalzusammenhang des Natur- geschehens von recht illusorischem Wert für das Verstehen des ersteren, denn zum Verstehen des Naturgeschehens führt die kau- sale Betrachtung nur dadurch, daß man annimmt, die Wirkung gleiche der Ursache und lasse sich aus ihr ableiten. Durch diese Annahme der Gleichheit von Ursache und Wirkung sucht die Naturwissenschaft einen Ersatz für die absolute Notwendigkeit des rein begrifflichen Zusammenhangs. Ohne sie gäbe es nur eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung des Nacheinander, aber keine Einsicht in die Notwendigkeit des Durcheinander, und damit auch kein Verstehen der Wirkung aus ihrer Ursache. Die ganze Be- deutung der Mathematik für die Naturwissenschaft beruht darauf, daß sie die Gleichung herstellt zwischen Ursache und Wirkung. Eine solche mathematisch bestimmbare Gleichung läßt sich aber zwischen der psychischen Wirkung und ihrer Ursache nicht her- stellen: die physische Ursache der psychischen Wirkung ist von der letzteren ihrem Wesem nach verschieden, ihr völlig inkommen- surabel; und die psychische Ursache läßt sich ebenfalls in kein genau bestimmbares Verhältnis zu ihrer Wirkung bringen, weil sich beide der mathematischen Bestimmung entziehen. Selbst wenn wir innerhalb des psychischen Zusammenhanges bleiben und nicht hinübergreifen in die wesensverschiedene Sphäre des phy- sischen Geschehens, erscheint so die kausale Erklärung des Psy- chischen fraglich; im besten Fall bleibt die Psychologie in bezug auf kausale Erklärung hinter der exakten Wissenschaft zurück, einem Ziele nachstrebend, das sie doch nie erreichen kann. Und da müssen wir uns fragen, ob denn die kausale Erklärung, die innerhalb der Naturwissenschaft dank der mathematishen Be- stimmbarkeit der Naturerscheinungen durchführbar und daher auch methodisch berechtigt ist, auch innerhalb der Psychologie, wo sie doch nie die Vollkommenheit exakter wissenschaftlicher Erklärung 394 Anna Tumarkin, erreichen kann, dieselbe Berechtigung habe. Von unserer Be- trachtung der Aussenwelt her sind wir so gewohnt, das Wirkliche in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, daß es uns ganz natürlich erscheint, auch den psychischen Zusammenhang als einen kausalen zu fassen. Ist das aber nicht eine unberechtigte Über- tragung der wissenschaftlich geprüften und gesicherten Methode der Naturbetrachtung auf das Gebiet der Psychologie, deren Me- thode doch ihrem Gegenstande angepaßt sein sollte? Den physi- schen Zusammenhang können wir nur als einen kausalen verstehen, d. h. ihn als eine Aufeinanderfolge von zeitlich fixierten Erschei- nungen denken, deren Notwendigkeit durch quantitatives Be- stimmen dieser aufeinander folgenden Erscheinungen gesichert wird. Für den psychischen Zusammenhang aber, ganz abgesehen davon, daß die genaue quantitative Bestimmung hier versagt, ist die zeit- liche Aufeinanderfolge überhaupt nicht wesentlich. Ein Zusammen- hang z. B., wie der zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und dem mit ihr verbundenen Gefühl der "Wahrheit, ist überhaupt nicht zeitlich zu fassen; wie die meisten eigentlichen psychischen Zusammenhänge, ist er außerzeitlich und insofern auch nicht unter das Gesetz der Kausalität fallend, das die eigentliche Aufeinander- folge voraussetzt. Es kann das Psychische unter Umständen, insofern es in der Zeit verläuft, auch in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden, aber dieser Kausalzusammenhang, dem nie die strenge Demonstrierbarkeit der mathematisch- naturwissenschaftlichen Er- klärung zukommen wird, setzt, auch wo er bloß plausibel ist, bereits einen anderen rein psychischen Zusammenhang voraus, der selbst nicht mehr kausal zu verstehen ist: wenn wir ein Ge- fühl der Befriedigung erklären sollen durch die vorausgegangene wissenschaftliche Betätigung, so müssen wir den außerzeitlichen Zusammenhang zwischen Gefühl und Erkenntnis bereits verstanden I haben. Das ursprüngliche Prinzip des psychologischen Verstehens kann die Kausalität nicht bilden. Diese Einsicht hatte Dilthey zu seinem Kampf gegen die auf Hypothesenbildung beruhende erklärende Psychologie getrieben. Was er dem kausalen Zu- sammenhang, als dem Prinzip der erklärenden Psychologie ent- gegensetzt, ist der im unmittelbaren Erleben gegebene Struktur- zusammenhang, von dem die beschreibende und zergliedernde Psy- chologie auszugehen habe. Wir verstehen das Leben, weil es Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 395 nicht nur um uns, sondern auch in uns selber strömt und atmet; das unmittelbare eigene Erleben wird uns zum Schlüssel alles Psychischen, das wir nach Analogie des eigenen Lebenszusammen- hanges, durch Einfühlung, würden wir heute sagen, in uns lebendig werden lassen. Und Dilthey selbst verstand es, wie kaum ein Anderer, einen fremden seelischen Zusammenhang wieder lebendig zu machen. Mit unvergleichlicher, einzigartiger Kunst ließ er Gestalten der Vergangenheit vor uns erstehen, daß man das Gefühl hatte, es sei nichts mehr zwischen ihnen und uns, die Schranken individueller Form fielen hin, und hüllenlos sah man die Seelen vor sich. Wer die Methode des einfühlenden Verstehens an Dilthey selbst beob- achtet hat, konnte sich dem Zauber dieser Meschenbeschwörung kaum entziehen. Aber mitten in aller Bewunderung mußte man sich sagen: das ist seine Gabe, die Gabe einer wunderbar im- pressionablen und auf Grund der Impressionabilität divinatorischen Natur; aber eine sichere, übertragbare, allgemein mitteilbare Me- thode ist es nicht; wie ja auch Dilthey selber von seiner be- schreibenden Psychologie zugibt, daß sie „immer etwas von dem lebendigen künstlerischen Prozeß des Verstehens" behält. (Ideen z. e. beschr. und zergliedernden Psychol.", Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1894, S. 1345). Was Dilthey uns zeigt, lebt in uns, löst eine Dynamik des seelischen Erlebens aus, wie sie nie durch verstandesmäßige Konstruktionen ausgelöst werden kann. Aber daß das, was in uns so lebendig wird, dem fremden Erleben wirklich entspricht, dafür haben wir keine Gewähr: es ist Dil- they's Hölderlin, Novalis, junger Hegel, was jetzt in uns lebt, wie des Künstlers Gestalten so intensiv in uns leben, daß wir darüber die Geschichte, die dem Künstler das Motiv geliefert hat, vergessen. Und so wunderbar wirksam dieses gefühlsmäßig nach- schaffende oder vielmehr neuschaffende Verstehen ist, was sich ihm erschließt, ist nicht der fremde Lebenszusammenhang, wie er für sich genommen ist, sondern wie er sich in dem unsrigen spiegelt. Denn, wie es Dilthey wieder selber zugibt, nach Analogie mit dem eigenen unmittelbar erlebten Zusammenhang läßt sich der fremde Zusammenhang überhaupt nur unter der Voraussetzung allgemeiner Verwandtschaft des menschlichen Seelenlebens ver- stehen, und „dasjenige an einem fremden Seelenleben, was von diesem eigenen Inneren nicht bloß quantitativ abweicht oder durch Abwesenheit von etwas, das im eigenen Inneren vorhanden ist, 396 Anna Tumarkin, sich unterscheidet, kann von uns schlechterdings nicht ergänzt werden". (Ibid. S. 1369). Das gilt vor Allem von jenen psychischen Erscheinungen, die so verschieden sind von dem, was der normale Mensch als den eigenen seelischen Zusammenhang in sich erlebt, daß wir sie als pathologisch bezeichnen; ihnen gegenüber versagt das einfühlende Verstehen prinzipiell, und selbst der impressionabelste Beobachter kann sie, vorausgesetzt daß er selber normal ist, durch Einfühlung nicht verstehen. Wir wissen, daß ein Anormaler Wahnideen hat und kennen vielleicht ihren Inhalt, aber für uns ist es Wahn, für ihn — Wirklichkeit. Da findet die Einfühlung ihre Grenze; der Unterschied zwischen unserem und seinem psychischen Zu- sammenhang ist zu groß, als daß der eine sich ohne Vergewalti- gung dem anderen unterlegen ließe. Dilthey selbst hat zwar sein einfühlendes Verstehen auch an diesen Erscheinungen ver- sucht; selbst systematisch philosophische Fragen, wie die nach dem Wesen unseres Wirklichkeitsglaubens, hat er aus der Seele von Geisteskranken mit ihren verschiedenen Formen des Realitäts- gefühls zu denken und lösen versucht; es gibt kaum ein Werk der philosophischen Literatur, das uns so nahe an den Rand des Irrsinns führt, wie Dilthey' s Akademieabhandlung über den Grund unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt. Aber solche Impressionabilität gegenüber den Geisteskranken, bei der man selber den festen geistigen Boden verliert, wird man nicht als Verstehen der Geisteskrankheit bezeichnen können ; jedenfalls darf das Verstehen, das der Psychiater braucht, das ihm die Überlegenheit gegenüber dem Kranken geben soll, statt ihn selber in seinem seelischen Gleichgewicht zu gefährden, nicht auf den schwankenden Boden der Einfühlung gestellt werden. Ein Verstehen des Psychischen ist aber hier dringend nötig, dringender, vielleicht, noch, als gegenüber dem Normalen, der auch ohne unser Verstehen sich selber im Leben zurechtfindet. Den dringenden Forderungen gegenüber, die da an unser Ver- stehen des Psychischen gestellt werden, können wir es nicht darauf ankommen lassen, ob eine ferne Zukunft eine sichere wissenschaftliche Methode der psychologischen Forschung finden werde, können uns nicht dabei beruhigen, daß die Psychologie, vielleicht, überhaupt keine Wissenschaft ist, sondern nur eine un- verantwortliche Kunst, die nur besonders begabten divinatorischen Naturen, mit einem besonderen psychologischen Takt zugänglich Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 397 ist. Es muß eine objektive Methode psychologischen Verstehens gefunden werden, die Not des Lebens duldet hier keine metho- dische Unsicherheit und verlangt gebieterisch, daß die Psychologie als Wissenschaft gestaltet werde. Und der Psychiatrie schließen sich in dieser Forderung an die Geschichte und die Geisteswissenschaften, die nicht die ganze Sphäre des Psychischen der Willkür des genialen Erratens preis- geben können und ebenso, wie die Psychiatrie, von der Psycho- logie verlangen müssen, daß diese sich auf eine wissenschaftlich gegründete Methode und auf objektive Prinzipien aufbaue. Solche wissenschaftliche Methode der psychologischen For- schung setzt aber, da das Verstehen des Psychischen nur aus dem Zusammenhang heraus möglich ist, voraus, daß der Zusammen- hang, aus dem das Psychische verstanden werden soll, nicht selber bloß als ein subjektiver, unmittelbar gegebener erlebt, sondern daß er in seiner Notwendigkeit auch objektiv verstanden werde ; in Dilthey's Sprache zu reden, es genügt nicht, daß der Strom des Lebens in uns selber fließt, wir müssen ihn auch in Beziehung bringen können zu festen Punkten, von denen aus sich seine Flut bestimmen ließe, zu bleibenden Ufern, die den Strom zusammen- halten. -Die Kausalität kann aber dieses bestimmende Prinzip des objektiven psychologischen Verstehens nicht sein; der Zu- sammenhang, aus dem heraus wir alles Psychische verstehen sollen, kann nicht ein Kausalzusammenhang sein. Und wäre die Kausalität die einzige Form alles objektiven Verstehens der Wirk- lichkeit, gäbe es keinen wirklichen nach objektiven Prinzipien faßbaren Zusammenhang, als den kausalen, so ständen wir in bezug auf die Psychologie vor einem unlösbaren Dilemma: entweder die einzig wissenschaftliche kausale Betrachtungsweise, aber nur in unvollkommener Weise auf das Psychische anwendbar, so daß die Psychologie immer dazu verurteilt bleibt, ohnmächtig der Natur- wissenschaft nachzuhinken, oder aber eine selbständige, der Eigen- art des Psychischen angepaßte Betrachtungsweise, aber dafür un- wissenschaftlich, auf die unberechenbare und unverantwortliche Kunst der Einfühlung angewiesen. Aus diesem Dilemma hilft uns nur die Einsicht, daß die Er- hebung der Kausalität zum einzigen Prinzip aller objektiven Wirklichkeitserkenntnis ein aus einseitiger Orientierung an der Naturwissenschaft erwachsenes Vorurteil ist. So gut wie der kausale Zusammenhang des zeitlichen Geschehens, kann auch ein 398 Anna Tumarkin außerzeitlicher, sinnvoller Zusammenhang Gegenstand objektiven Verstehens sein. Einen solchen sinnvollen Zusammenhang stellt auch das psychische Leben dar; freilich, was es von den anderen Formen des sinnvollen Zusammenhangs unterscheidet, nicht einen bloß ideellen Zusammenhang, wie es etwa der mathematische ist, sondern einen wirklichen sinnvollen Zusammenhang; aber das ist eben die nicht weiter abzuleitende Eigenart des Psychischen, daß es einen sinnvollen wirklichen Zusammenhang bedeutet. Und einen sinnvollen wirklichen Zusammenhang verstehen wir nicht aus seiner Ursache, sondern aus seinem Zweck. Damit ist nicht ein Zweck gemeint, der dem Leben willkürlich vorgesetzt wäre, sondern der Zweck, den das Leben selber sucht, als Wille zum Leben, zur Erhaltung des Lebens. Das Leben aber, das es da zu erhalten gilt, ist ein bewußtes, und, als solches, kann es sich selbst nicht erhalten, ohne die objektive Einheit des Bewußt- seins zu wahren. Der Wille zum seelischen Leben ist immer Wille zur Objektivität seiner Lebensinhalte. Warum das so ist, ist eine ebenso müssige Frage, wie die, warum es kein Subjekt ohne Objekt gibt, oder wie die nach dem Ursprung des Bewußt- seins. Psychisches Leben ist ein immerwährender Kampf um die objektive Einheit des Bewußtseins, d. h. um dessen sinnvollen Zu- sammenhang. Nichts-wird uns als psychisch bewußt, tritt als Er- lebnis in die Sphäre des Bewußtseins, was nicht in Beziehung steht zu diesem Zweck unseres Lebens. Dieser Lebenszweck be- stimmt den Inhalt des Erlebens, er vollzieht die Auswahl der Lebensinhalte, er ist das schöpferische Prinzip des Lebens. Sinn- widriges duldet das Bewußtsein nicht, es deutet es um, sodaß die Sinnwidrigkeit verschwindet, oder es sperrt sich dagegen; Sinn- leeres wird wohl eine Zeit lang als Ballast mitgeschleppt, aber, wenn es sich dauernd sträubt gegen die Einreihung in einen sinn- vollen Zusammenhang, über Bord geworfen. Nur was Anschluß findet an den einheitlichen sinnvollen Zusammenhang des Bewußt- seins, hat Bestand. Das Seelenleben ist Sinnsuchen; marche a l'esprit hat es Bergson . genannt, und als ein Chaos, das Kosmos werden will, definiert es Bickert. Vom Standpunkt unseres Problems drücken wir denselben Tatbestand so aus, daß wir den psychischen Zu- sammenhang, der den Gegenstand der Psychologie als Wissenschaft bilden soll, fassen als einen Zweckzusammenhang und alles Psy- chische aus seinem Zweckzusammenhang heraus zu verstehen Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 399 suchen. Wie das Kausalitätsprinzip das ursprüngliche, eigentüm- liche Prinzip der Erklärung des physischen Geschehens ist, so erscheint uns das Zweckprinzip als das ursprüngliche, eigentüm- liche Prinzip des psychologischen Verstehens; während innerhalb der Psychologie die Kausalität ebenso als ein übertragenes Prinzip erscheint, wie innerhalb der Naturerklärung das Zweckprinzip. Auch die Naturerklärung greift zum Zweckbegriff, wo die Kausalität nicht ausreicht, um den Zusammenhang des an den betrachteten Erscheinungen gegebenen Mannigfaltigen zu ver- stehen, bei der Betrachtung der organischen Natur; und sie glaubt sich dazu berechtigt, weil sie in der natürlichen Anpassung der organischen Wesen an die vorhandenen Daseinsbedingungen ein Analogon zu bewußtem Zweckwirken findet. Die Psychologie aber findet in ihrem Gegenstand nicht bloß Zweckmäßigheit, d. h. Analogie zu bewußtem Zweck wirken, sondern auch dieses bewußte Zweckwirken selbst. Denn psychisches Leben ist Zweckbewußtsein, d. h. nicht bloß Fähigkeit, sondern auch Wille zur Anpassung, zur Selbsterhaltung und zwar zu einer Selbsterhaltung, die auch ob- jektive Bewußtseinsinhalte, mithin objektive Zwecke, Aufgaben umfaßt: psychisches Leben ist Zwecksetzung, und aus seiner Ziel- strebigkeit verstehen wir alle seine Funktionen. Ein Psychisches verstehen, heißt die Rolle erkennen, die es in dem allgemeinen Zweckzusammenhang des Lebens spielt, im Dienste jener objektiven Einheit, die herzustellen und zu wahren alles Leben unablässig strebt. Jedes Erleben ist ein Ausgleich zwischen dem erworbenen seelischen Zusammenhang und dem neu hinzukommenden Eindruck, ein Kampf um das seelische Gleich- gewicht. Je darnach, ob wir an . sein greifbares Resultat, den neugewonnenen gegenständlichen Inhalt, denken oder an die durch ihn ausgelöste bewegende Kraft, oder an das allgemeine Bewußt- sein des Gleichgewichtszustandes, sprechen wir von Erkennen, Wollen oder Fühlen. Die objektive Einheit des Bewußtseins bleibt das Ziel, von dem aus wir alle diese Erscheinungen des Seelenlebens verstehen. Derselbe Zweck des Lebens, die Selbsterhaltung, führt unter verschiedenen Bedingungen auch zu verschiedenen Modifikationen des Lebenswillens: in der unbegrenzten Mannigfaltigkeit psy- chischer Individuen eine ebenso unabsehbare Mannigfaltigkeit ein- ander ablösender Entwickelungsformen. Derselbe Zweck der Selbsterhaltung erscheint als das bestimmende Prinzip unendlich 400 Anna Tumarkin, vieler von Augenblick zu Augenbick sich verschiebender Zweck- zusammenhänge. Und die Psychologie sieht sich dieser unend- lichen Mannigfaltigkeit von Zweckzusammenhängen und ihren Ver- schiebungen gegenüber. Das ist ihr Gegenstand. Was ihr die Möglichkeit gibt, sich in dieser Mannigfaltigkeit zurechtzufinden, ist die Richtung aller dieser Formen des Lebenswillens auf einen objektiven Bewußtseinsinhalt. Die Objektivität des Bewußtseinsinhalts, der in seiner Ob- jektivität uns allen gemeinsam ist, der objektive gemeinsame Kulturzusammenhang, an den unser Aller geistiges Leben einen Anschluß sucht, schlägt die Brücke über alle individuellen Ver- schiedenheiten von einem seelischen Zweckzusammenhang zum anderen. Als geistige Wesen bleiben wir nicht isolierte, jedes Verständnisses für einander entbehrende Individuen, sondern wir finden uns in der Einheit objektiver Ziele, die unser Bewußtsein als an sich gültig und insofern allen gemeinsam erkennt. In dieser Einheit objektiver Ziele haben wir die einzige feste Grundlage für das gegenseitige Verstehen und durch sie sind wir auch dem Zufall und der Unsicherheit der subjektiven Einfühlung entrückt. Auch wo die Einfühlung, als natürliches Band der Gemeinschaft, versagt, bleibt dieses geistige Band der Einheit der objektiven Aufgaben bestehen. Und von diesen objektiven Aufgaben aus, wie sie das Ziel der Kulturgemeinschaft bilden, vermag auch die Psychologie das Lebensziel und den Zweckzusammenhang der einzelnen Individuen zu verstehen. In dem Einzelmenschen erblickt sie einen Träger dieser Aufgaben, die von ihm als Zweck seines individuellen Strebens aufgenommen werden und eine je nach seinen Anlagen und seinen Lebensbedingungen bestimmte Lösung finden. Den individuellen Zweckzusammenhang sucht sie als eine Modifikation der objektiven Einheit geistiger Aufgaben zu verstehen: warum, aus welcher Nötigung des Lebens, hat die allgemeine, objektive Aufgabe in dem bestimmten Fall gerade diese Modifikation erfahren? An ob- jektiven Aufgaben findet so die Psychologie den festen Maßstab zur Beurteilung der subjektiven Zwecke des Menschen; als Wissen- schaft von den seelischen Zweckzusammenhängen, ihren Verschie- bungen und Entwickelungen , muß sie sich an geistigen Aufgaben orientieren, die zu erkennen der eigentliche Kern der Philosophie ist. Und wie die Psychologie des normalen Lebens, so bedarf auch diejenige des anormalen Lebens der Richtschnur der ob- Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 401 jektiven Aufgaben; schon der Unterschied zwischen normal und anormal setzt den Begriff der Norm voraus. Die Richtung auf Aufgaben, auf objektive Ziele behält auch der Anormale; denn ohne diese Tendenz gibt es überhaupt kein Bewußtsein, kein Seelen- leben; aber was er als objektives Ziel erkennt und erstrebt, ist unter dem Druck unüberwindlicher Entwickelungsstörungen so- weit abgewichen von dem, was das unbelastete, sich frei ent- faltende Bewußtsein sich zum Ziele setzt, daß eine sachliche Ver- ständigung mit ihm nicht mehr möglich ist. Ein Zweckzusammenhang ist das psychische Leben des Anor- malen so gut, wie das des Normalen, wenn auch ein verschobener Zweckzusammenhang. Nicht nur behält der Kranke — mit ge- wissen Ausnahmen — seinen Willen zur Anpassung, sondern er vollzieht auch wirklich eine Anpassung, die unter Umständen in ihrer Art viel bewundernswerter ist, als die des normalen Men- schen: eine Anpassung, die für ihn vielleicht in dem Augenblick, wo wir ihn für krank erklären, eine Gesundung bedeutet: durch die Verschiebung des Zweckzusammenhangs ist für den Kranken eine neue Möglichkeit des Lebens geschaffen worden, während sonst für ihn das Leben unerträglich wäre. Aber diese An- passung entsprechend den subjektiven Lebensbedürfnissen des Individuums bedeutet zugleich, da sie auf Kosten der objektiven Aufgaben geschieht, eine Isolierung von der Gemeinschaft. So erscheint die geistige Krankheit als das Produkt einer Aus- einandersetzung zwischen dem Willen zur individuellen Selbst- erhaltung und dem Willen zur Objektivität des Bewußtseins- inhalts, zwischen dem subjektiven und dem objektiven Zweck des Lebens, deren harmonischen Ausgleich der Kranke aus inneren oder äußeren Gründen nicht mehr zu finden vermag. Einen Kranken verstehen heißt darnach , den Ausgang dieser Aus- einandersetzung erkennen, aber auch erkennen, was den Kranken gerade zu diesem Ausgang getrieben hat. Ein Wahnsystem ver- stehen heißt nicht sich gefühlsmäßig hineinversenken, sondern verstehen, warum gerade dieser Wahn für den Kranken zur Lebensnotwendigkeit wurde, als Rettung, als Flucht aus der un- erträglichen Wirklichkeit, warum der Zweck der individuellen Selbsterhaltung für ihn es notwendig machte, das Bild der Wirk- lichkeit in solcher Weise zu verfälschen. So brauchen wir, um das normale, wie das anormale Leben zu verstehen, Normen; wir brauchen objektive Aufgaben, um die Kanfctndien. XXVI. 26 402 Anna Tu markin, Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. subjektiven Zwecke des geradgewachsenen, wie des verkrümmten seelischen Lebens zu verstehen. Und insofern die objektiven Aufgaben im letzten Grunde durch die Philosophie bestimmt werden, kann man sagen, daß die Psychologie sich methodisch an der Philosophie orientieren muß, wenn sie nicht darauf angewiesen bleiben will, die Naturwissen- schaft nachzuahmen, ohne je deren Exaktheit erreichen zu können, und auf der anderen Seite sich doch über die wunderbare, aber unverantwortliche Kunst der Einfühlung erheben will zur syste- matischen Wissenschaft. Die Aufgaben der Ästhetik. Antrittsvorlesung an der Technischen Hochschule Dresden. Von Privatdozentin Dr. Charlotte Bühler. In einem seiner bewunderungswürdig geschriebenen geistvollen Aufsätze *) hat Wilhelm Dilthey drei Epochen moderner Ästhetik konstruiert, wie sie sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelt hat. Die rationale Ästhetik des L e i b n i z , die in innerer Notwendig- keit aus seinem genialen metaphysischen System hervorgeht, findet in Dilthey einen ihrer Größe gewachsenen Interpreten. Der Greist jener strengen Ordnung und Regel, der die französische Klassik beherrscht, erhält in der metaphysischen Weltauffassung des Leib- niz Rechtfertigung und tiefen Sinn. Der logische Charakter der ästhetischen Form, Einheit im Mannigfaltigen, Gesetz- lichkeit des Aufbaus, Regel, Maß, Rhythmus, die Ordnung selbst ist Grund des ästhetischen Gefallens. „Von der Ordnung kommt alle Schönheit her und die Schönheit erweckt Liebe", dies sagt Leibniz. Mit vollem Recht hält Dilthey den Gedanken der Ge- setzlichkeit im Kunstwerk fest. Es gibt Gesetze im Schaffen des Künstlers, im Aufbau des Kunstwerks und im Wirken auf den Beschauer, und wie Dilthey in richtiger Voraussicht sagt, gilt es nur, die allgemeingültigen Regeln, die aus der Natur der Sache fließen, vom historisch Variablen im Geschmack zu sondern. Ein zweiter bedeutsamer Umkreis von Fragen, durch die eng- lische Ästhetik des 18. Jahrhunderts erschlossen, führt bis zu Fechners „Vorschule der Ästhetik" und zur modernen experimen- tellen Analyse des ästhetischen Eindrucks. Die schottischen und englischen Ästhetiker, denen in Deutschland und Frankreich Gleich- strebende zur Seite träten, untersuchten in sorgsamen Analysen die Beschaffenheit der Kunstwerke auf ihre Wirkung hin. Am berühmtesten war in England das seit 1762 erschienene Werk von 1) Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe. Dtsche. Rundschau Bd. 72. 1892. 26* 404 Charlotte Bühler, Home „Grundsätze der Kritik"; die Einzeluntersuchungen von Lessing, von Diderot sind bekannt, mit der großen Menge der anderen Namen will ich hier nicht aufhalten. Das Ent- scheidende ist, daß diesen Philosophen und Kritikern, die den Ge- schmack und die Ursachen der Kunstwirkungen nun im einzelnen untersuchten, zum ersten Mal auch die große und schwere Frage nach der Allgemeingültigkeit des Geschmacks und der ästhetischen Wissenschaft aufging. Home sprach vom Standard of taste, als er sich an diesen schwierigen Problemkreis wagte, der heute wieder einen Mittelpunkt ästhetischer Problemstellung bildet. Während man vorher allgemein über die ästhetische Form, über die Aufgaben des Künstlers, auch über die Schönheit und die Aufgaben der einzelnen Künste debattiert hatte, ging einem jetzt, als man es unternahm, die Wirkungsweisen einzelner Kunst- werke zu analysieren, erst auf, wie verschieden der Geschmack, wie verschieden das Werturteil ist, nnd man wurde zweifelhaft, wie weit im Grunde überhaupt von allgemeingültigen Regeln, von objektivem Werturteil, objektiver Erkenntnis die Rede sein könne. Die Fragen haben durch Kants Genie ihre erste Lösung erfahren. Diese psychologische Analyse und experimentelle Me- thode von Home bis Fechner gelangte mit ihren Mitteln zu keinem objektiven Maßstab ihrer Feststellungen, sie führte zu wichtigen Einsichten in die Gründe des Geschmacks, zeigte auf, was gefällt und was mißfällt, aber wie weit diese Einsichten all- gemeingültig und verbindlich seien, vermochte sie niemals aus- zumachen. Nach Dilthey verlangte sie direkt die Ergänzung durch die dritte Methode, die sich in einer dritten Epoche der Ästhetik tat- sächlich einstellte, nämlich durch die historische Methode, die im 19. Jahrhundert ausgebildet wurde. Durch Kant wurde das Genie für die Nachfolger in den Mittelpunkt der ästhetischen Be- trachtung gerückt. Denn da es einen objektiven Wertmaßstab, eine tatsächliche Allgemeingültigkeit auf ästhetischem Gebiet nach Kant nicht gibt, da nach Kant das Genie der Kunst die Regel vor- schreibt und schafft, so wandten sich nun aller Augen der Betrachtung dieses schaffenden Geistes, der Zergliederung des schöpferischen ästh- etischen Vermögens zu, und es folgen die zahllosen Erörterungen in der deutschen Ästhetik des vorigen Jahrhunderts über das Genie und sein Schaffen, über das Verhältnis des schaffenden Geistes zur Natur, über das Bewußte und Unbewußte im Schaffen des Geistes Die Aufgaben der Ästhetik. 405 usw., all diese Erörterungen, die bei Sehe Hing und Hegel, Solger und Vischer, Schopenhauer und Hartmann doch schließlich nirgends über prinzipielle Untersuchungen hinaus zu wirklich fruchtbaren und geprüften Einzelerkenntnissen führten. Es wird mit Recht von Dilthey betont, wie sehr fördernd neben diesen spekulativen Gedankengängen eine so ins einzelne und Tatsächliche hineingehende, seinerzeit nicht entsprechend ge- würdigte Arbeit wie Sempers Werk über den Stil war, und wie überhaupt in Deutschland schon seit Schiller und Goethe, Hebbel und Ludwig bedeutende ästhetische [Anregungen von den theoretischen Überlegungen großer Künstler über ihr Schaffen msgingen. An diesem Punkt steht nun Dilthey. An diesem Punkt die rbeit aufzunehmen schien ihm vor allen anderen Dingen erforder- ten. Und so ging denn von ihm eine starke Fülle von Anre- gungen in der Richtung der Analyse des künstlerischen Schaffens aus. Unter den Jüngeren hatte Meumann ähnliche Tendenzen. Aber Dilthey pflegte diese Analyse des künstlerischen Schaffens noch aus einem anderen Gedanken heraus. Während ihm die ex- perimentelle Ästhetik ungeeignet und unfähig schien, mehr als eine Sammlung verschiedenartigster Wirkungsweisen aufzufinden, glaubt er mit der historisch und individuell vorgehenden Analyse einzelner Künstlerpersönlichkeiten und -leistungen zum Verständnis der Einheit des Kunstwerks zu gelangen, die die Ästhetik sucht und fordert. Er sieht diese Einheit nicht in objektiven G-esetzen, sondern in der Individualität des Stiles, der künstlerischen Persön- lichkeit, die sie schafft. Es ist der Fortschritt, den Meumann über Dilthey hinaus macht, daß er die Objektivität der Kunstge- setze jenseits dieser subjektiven Bedingungen vermutet und über Dilthey hinaus eine Ergänzung der psychologischen Ästhetik durch eine normative Ästhetik fordert, deren Gesetze er im wesentlichen wie auch Lipps und Volk elt aus dem ästetischen Erleben heraus « folgern zu können glaubt. Die Normen sind als Umkehrungen psychologischer Erlebnisanalysen gedacht. Die Mannigfaltigkeit der Inangriffnahme ästhetischer Probleme war erstaunlich. Es tritt eine Fülle kunstpsychologischer Arbeitsansätze zutage, in denen die verschiedensten Momente am Kunstschaffen und Kunst- genießen aufgesucht wurden. Nur flüchtig seien hier Groos und Külpe, Lipps und W i t a s e k genannt. Gleichzeitig suchte Jonas Cohn von Wertgesichtspunkten aus der Struktur des Kunstwerks 406 Charlotte Buhle r, habhaft zu werden nnd brachte Max Dessoir uns die grund- legende systematische Trennung von Ästhetik und allgemeiner Kunst- wissenschaft mit einer Fülle feinsinniger Analysen. Dieser Reichtum ästhetischer Untersuchungen einerseits und die überaus schnelle Wandlung der fortschreitenden Kunst mit der aller wissenschaftlichen Ästhetik abholden Künstlerschaft anderer- seits hat uns heute vor eine Mannigfaltigkeit von Methoden und Ansichten gestellt, die vielen unentwirrbar und anderen nur nach Art des gordischen Knotens durch Gewalttat zu lösen scheint. Diese Leute verlangen zurück von aller irreführenden Psychologie zur spekulativen Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Ihnen stehen unheilbare Psychologisten verständnislos gegenüber. Die theo- retisierenden Künstler gehen ihre eigenen Wege, das Publikum verhält sich indifferent. In dieser Situation sich einen Weg zu bahnen, ist gewiß unendlich mühevoll, doch muß es gelingen, wenn man unbeirrt durch Psychologismus und Spekulation oder durch einseitige Kunstliebhabereien die Gesetze ausschließlich aus der Natur des Gegenstandes zu entnehmen sucht. Zunächst gilt es, sich über die Aufgaben, die man seiner Wissenschaft stellt, völlig klar zu werden. Sodann muß man sich fragen, wieweit man verbindlich und allgemeingültig diese Auf- gaben zu lösen imstande ist. Und schließlich gilt es, die geeig- neten Mittel und Wege zum Ziel sich aufzusuchen. Schon was die allgemeinen Aufgaben der Ästhetik anbelangt, herrscht noch in unseren Tagen keine ungetrübte Klarheit. Zwar daß die Ästhetik es irgendwie mit der Kunst und mit dem Schönen zu tun habe, hat sich von selbst ergeben, aber daß beide Gegen- stände nicht identisch sind, hat sich erst im Laufe der Zeit immer mehr herausgestellt. So haben Fiedler und Dessoir, Spitzer und Utitz auf eine getrennte Behandlung der rein ästhetischen und der kunstwissenschaftlichen Fragen gedrungen, und man muß hoffen, daß diese der Systematik förderliche Arbeitsteilung sich allmählich durchsetzt. Hier hat die reine Ästhetik die Modifikationen des Schönen in Natur und Kunst zu untersuchen, während die einzelnen Künste und das Problem der Kunst von der allgemeinen Kunst- wissenschaft durchforscht werden. Daß beide Teildisziplinen aufs engste verbunden und aufeinander angewiesen sind, sollte man nicht betonen müssen, es ist klar. Die für uns wesentliche Bedeutung der Aufgabenteilung wird uns indes erst in späterem Zusammenhang ein- leuchtend aufgehen. Einstweilen mögen die von Spitzer bis Utitz Die Aufgaben der Ästhetik. 407 vorgebrachten wichtigen Argumente, daß einerseits das Kunstwerk nicht nur und nicht immer schön, daß andererseits das Schöne nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Natur aufzufinden sei, genügen. Fragen wir uns nun einmal ganz primitiv: was soll denn an der Kunst und den Künsten erforscht werden? Es sind nicht wenige, die sagen : Kunst muß erlebt und gefühlt werden, und alle theoretische Diskussion darüber ist Unfug. Gerade sie übersehen aber völlig, daß die Kunsttheorie, weit entfernt davon, bloße ver- ständnislose Willkür zu sein, in erster Linie stets ein inneres Be- dürfnis der Schaffenden, der großen Künstler selber war. Es ist ganz irrig zu behaupten, daß große Kunst sieb stets unmittelbar und kampflos durchsetzt. Ausführliche Überlegungen über Ziele und Technik haben gerade das Schaffen aller großen Künstler vor- bereitet und geleitet und haben ihren Werken Verständnis und richtige Aufnahme beim Publikum gesichert. Die gleiche An- sicht faßt Dilthey in folgenden Sätzen zusammen1): „Die ästhe- tische Erörterung steigert die Stellung der Kunst in der Gesell- schaft, und sie belebt den arbeitenden Künstler. In einem solchen lebendigen Milieu arbeiteten die Künstler der griechischen Zeit und der Renaissance, Corneille, Racine und Moliere, Schiller und Goethe. In der Zeit ihrer höchsten künstlerischen Anstren- gungen finden wir Schiller und Goethe ganz umgeben von einer solchen sie tragenden ästhetischen Lebendigkeit der Nation, von Kritik, ästhetischem Urteil und lebhafter Debatte. Die ganze Ge- schichte der Kunst und der Dichtung zeigt, wie das nachdenkliche Erfassen von Funktionen und Gesetzen der Kunst die Bedeutung und die idealen Ziele derselben im Bewußtsein erhält, während die niederen Instinkte der menschlichen Natur sie beständig herab- ziehen möchten". . Und die Aufgabe der Poetik — wir können allgemeiner sagen: der Kunstwissenschaft — welche sich aus ihrer lebendigen Bziehung zur Kunstübung ergibt, formuliert Dilthey in folgenden Fragen: „kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die auf 1) „Die Einbildungskraft des Dichters". Philos. Aufsätze Ed. Zeller zum 50 jährigen Doktorjubüäum gewidmet. Lpz. 1887. 40g Charlotte Bit hl er, allen Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, allgemeingültige Sätze abzuleiten aus den inneren Erfahrungen, die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt und doch unzer- legbar sind? Die*alte Aufgabe der Poetik tritt hier wieder auf, und es fragt sich, ob sie nun durch die Hilfsmittel, welche uns die Erweiterung des wissenschaftlichen Gesichtskreises zur Verfü- gung stellt, gelöst werden könne. Und zwar gestatten die em- pirischen und technischen Gesichtspunkte der Gegenwart, daß wir von der Poetik und den nebengeordneten ästhetischen Einzelwissen- schaften zu einer allgemeinen Ästhetik aufsteigen. Auch unter einem zweiten Gesichtspunkt ist eine Poetik ein unabweisbares Bedürfnis der Gegenwart geworden. Die unüber- sehbare Masse dichterischer Werke aller Völker muß für die Zwecke des lebendigen Genusses, der historischen Kausalerkenntnis und der pädagogischen Praxis geordnet, dem Werte nach taxiert und für das Studium des Menschen sowie der Geschichte ausge- nutzt werden. Diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn neben die Geschichte der schönen Literatur eine generelle Wissenschaft der Elemente und Gesetze tritt, auf deren Grundlage sich Dich- tungen aufbauen". „Eine generelle Wissenschaft der Elemente und Gesetze, auf deren Grundlage sich Dichtungen, sich Kunstwerke aufbauen", diese klare Formel enthält die Aufgabe der Kunstpsychologie die seit dem 18. Jahrhundert den Ausgangspunkt aller ästhetischen Tatsachenforschung gebildet hat — - wie aber gewinnen wir „Nor- men der Kritik", Wertmaßstäbe? Das ist die brennende Frage der allgemeinen Kunstwissenschaft, die zweite Frage in unserm Programm, das Hauptbedürfnis, das uns vom Kunsterleben aufscheucht und forttreibt zur Kunstwissen- schaft. Gibt es objektive Wertmaßstäbe für die Kunstbetrachtung? Hier gilt es nun sorgfältiger als bisher geschehen den Tatbestand zu untersuchen. Wer mit Hume einen Standard of taste, Gesetze des Ge- schmacks, Kriterien der Beurteilung von Kunstwerken suchte, hatte stets mit der Gegnerschaft der vielen Leute zu rechnen, die im Geschmack eine persönliche Angelegenheit des einzelnen erblickten. De gustibus non est disputandum, über den Geschmack läßt sich nicht streiten, sagt schon das Sprichwort. Trotzdem ist die Rede vom . guten Geschmack und vom schlechten Geschmack geläufig. Und jeder Kunstkritiker erhebt den Anspruch, in der wertenden Die Aufgaben der Ästhetik. 409 Beurteilung eines Kunstwerks kompetent zu sein. Mit welchem Rechtsgrund, mit welchen Kriterien? Historische Kenntnisse, ein gesander Geschmack oder Instinkt, wie man auch- wohl sagt, Übung im Vergleichen und schnellen "Überschauen sind meistens die einzigen Ausweise des jeweiligen Beurteilers. Zwar werden auch Gründe angeführt. Aber diese Gründe lassen sich niemals auf Regeln bringen, sondern stützen sich gewöhnlich auf gewisse Geschmackstendenzen der Zeit. Es wäre interessant, die Bühnen- kritik im Hinblick auf die Kriterien, die sie verwendet, einmal durchzuarbeiten. Man wird gewöhnlich auf Zeitströmungen in An- erkennung und Verwerfung stoßen. So läßt sich, um nur ein Beispiel zu nennen, im Augenblick gerade ein scharfes Auge auf den Intellektualismus feststellen. Gelegentlich ist unklarste Mystik erwünschter als durchsichtige Zusammenhänge. Das sind so Zeit- strömungen. Trotzdem wird der Unvoreingenommene nicht leugnen können zu bemerken, das gewisse Ideale zu allen Zeiten festge- halten wurden und offenbar mehr darstellen als den flüchtigen Ge- schmack einer Epoche, oder weniger Individuen. Schon in der Verifizierung von Urteilen liegt etwas Objektives. Unvermerkt treten still und sicher allmählich die großen Erscheinungen aus der Masse der modischen Ware heraus, jene großen Kunst-Erschei- nungen, die irgendwie mit dem Ganzen unseres Lebens zusammen- hängen, die über den Augenblick hinaus Symbolwert behalten und allgemein menschlich bedeutsam bleiben. Auf die Dauer verleiht selten das Machtwort der Kritik, noch die Bevorzugung der Massen, noch der Zufall des günstigen Augenblicks, sondern der eigene Ewigkeitswert den Ruhm und die Geltung, und so müssen also doch wohl objektive Merkmale einer irgendwie begründeten wahren Be- deutung und Wer thaftigkeit aufzufinden sein. Irgendwelche Eigen- schaften des Kunstwerks müssen es doch sein, die ihm über den momentanen Streit der Meinungen hinaus Geltung oder Vergessen eintragen. Nur wenig davon wird im Erleben des Beurteilers aktuell und wenig im historischen Erforschen aller Zusammenhänge ersichtlich. Gewiß, der Reichtum und die Tiefe des Eindrucks ganz großer Werke ist unmittelbar, und doch täuscht ein er- schütterndes Zeitproblem, eine blendende Sinnenerscheinung tat- sächlich doch oft über die Nachhaltigkeit und Tiefe des Eindrucks- vollen. Kurzum, selbst kultivierter Geschmack und echtes Stil- gefühl, Erlebnisfrische und Erlebnistiefe — Fähigkeiten, die selten vereint auftreten — garantieren noch nicht ein Werturteil, das vor 410 rharlotte Btilfler, der Zeit besteht. Der „Gemeinsinn", den Kant voraussetzt, um ein vorbildliches Urteil fällen zu können, existiert in dieser Form nicht. Dagegen muß ein anderer Weg uns dem Ziele näher bringen. Wenn ich mich nicht täusche, ist dieser Gedankengang bereits in Kant angelegt. Nach Kant gibt es zwar keine objektiven, d. h. bei ihm keine in der Natur des Gegenstandes begründeten, Bedin- gungen des Geschmacks, aber doch auch herrscht keine Regellosig- keit und absolute Willkür im Sinne individuellen Beliebens. Viel- mehr nimmt er ganz richtig subjektive Bedingungen des Geschmacks- urteils an, das heißt bei ihm: Bedingungen die in der Natur des menschlichen Subjekts, also unseres Seelenlebens überhaupt begrün- det sind. Man muß sich hüten, Kants Begriff der Subjektivität mit individueller Willkür und Zufälligkeit gleichzusetzen, wie man heute vielfach den Begriff subjektiv gebraucht. Subjektiv ist bei Kant das vom menschlichen Subjekt bedingte und zwar regelhaft durch seine Struktur Bedingte. Also fern von aller Willkür des einzelnen gibt es eine Regelhaftigkeit der Bewertung auf Grund der allge- mein menschlichen Struktur der Psyche, einen subjektiven Rechts- grund nach Kant; Kant wird nicht müde zu betonen, daß diesem Geschmacksurteil kein Privatgefühl, sondern ein Gemeinsinn, eine jedermann notwendige Idee zugrunde liege, daß es nicht prinzipien- los, sondern mit Notwendigkeit gefällt werde — er will es also mit Recht der individuellen Willkür entreißen und ihm einen ersten Grad von Notwenigkeit geben, den wir nach heutiger Sprechweise bereits objektiv nennen. — Nun sieht Kant aber gleich, daß die Gesetzmäßigkeit des Geschmacks auch eine Gesetzmäßigkeit des Schaffens voraussetzen würde, während er doch zunächst die Ein- bildungskraft für absolut frei hält. Aus diesem Widerspruch findet er keine uns befriedigende Lösung. Wenn wir hier aber ansetzen und der neuen Forschung nachgehen, so finden wir, daß faktisch jene von Kant angenommene absolute Freiheit der Einbildungs- kraft gar nicht besteht, daß vielmehr auch das produktive Schaffen nach ganz bestimmten Gesetzen abläuft , die wir be- reits überschauen *). Mit der Gesetzmäßigkeit auch des Schaffens ist die Antinomie, der Widerspruch gelöst, wir finden nun für das 1) Vgl. 0. Selz, Die Gesetze der produktiven Tätigkeit. Arch. f. d. ges. Ps. Bd. 27. 1913, 0. Kroh, Eidetiker unter deutschen Dichtern. Zeitschr. f. Psych. 85. 1920. Eigene Arbeiten d. Verf. werden noch veröffentlicht. Die Aufgaben der Ästhetik. 411 Geschmacksurteil auch jene höhere Objektivität in Kants Sinne garantiert, d. h. die Struktur, der Aufbau des Kunstwerks selbst ist gesetzmäßig und bedingt gesetzmäßige Wirkungen. Indessen ist der Aufbau des Kunstwerks so kompliziert, die Wirkung durch so zahlreiche Komponenten beeinträchtigt, daß dem einfachen Er- leben und der unpsychologischen primitiven Analyse die Gesetz- mäßigkeiten nicht sogleich sichtbar werden. Mich dünkt, daß es zur Zeit der Alchemie mit den Naturwissenschaften nicht anders stand. Zur Erforschung von Gesetzen im Kunstwerk ist mehr er- forderlich als die lebhafte Freude und Genußfähigkeit und das Be- dürfnis nach Kunst. Es ist vom Altertum an immer wieder ver- sucht worden, die Bedingungen und Gesetze höchster Kunst auf Formeln und Regeln zu bringen, und noch bei Kant und nach Kant besteht das Bedürfnis, in irgend einem Prinzip der Grund- bedingung habhaft zu werden. Hierzu muß erstens gesagt werden, daß eine derartige Reduktion auf ein einziges Grundprinzip gerade das, worauf es ankommt, die Vielgestaltigkeit der Bedingungen, unzulänglich vereinfacht, und zweitens sowohl dieses Bestreben wie auch das Material, das man benutzte, die Ursache extremer Einseitigkeiten wurde. Man war entweder einseitig an klassischer Kunst orientiert und entnahm ihr Regeln, die der Entwicklung nicht standhielten. Oder wo man wie seit Hegel etwa mehrere Kunstepochen zu gründe legte, verfuhr man schematiseh und nahm die komplizierten fertigen Kunstgebilde, die als individuelle Ganze zunächst natürlich mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten präsentierten. Die innere Gleichheit der Struktur großer Werke erschließt sich erst der genauen Analyse. Um schnell verständlich zu machen, was gemeint ist, weise ich auf Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" hin, die einen Vorstoß in der gemeinten Richtung bedeuten. Bei Wölfflin sind einige Prinzipien herausanalysiert, die von theoretisch ungleichwertigen, aber höchst wichtigen Ge- sichtspunkten das Problem der Kunstgestalt anpacken. Nur an- deutungsweise sei mir vergönnt, durch eine kurze Analyse zu exemplifizieren, wie das Gesetzmäßige und Gleiche an den ver- schiedensten Kunstwerken aufzufinden sei und naturgemäß die ge- setzmäßig gleiche Wirkung bedingt. Ich wähle ein krasses und einfaches Beispiel. Seit Lessings „Hamburgischer Dramaturgie" sind wir gewöhnt, in der franzö- sischen und englischen Bühne nur schärfste Gegensätze zu erblicken. Und in der Tat was könnte dem unmittelbaren Gefühl und allem 412 Charlotte Bühler, Wissen historischer Verläufe zunächst wohl sinnloser erscheinen als die Zusammenstellung von Shakespeare und der franzö- sischen Klassik ! Was haben zwei Gestalten, — sagen wir einmal Moliere's Geizhals und Shakespeare'« Shylock im „Kaufmann von Venedig" überhaupt noch gemeinsam, außer daß sie zwei Hals- abschneider grausamster Sorte sind? Nichts, so scheint es. Trotz- dem wollen wir sie einmal zusammenhalten. Erwägen wir alle Verschiedenheiten. Moliere's avare, das Sammelbecken sämtlicher Attribute, die dem Typus des Geizhalzes in seiner langen drama- tischen Laufbahn je glücklichen Griffs verliehen wurden, ein Kon- zentration sfeld unangenehmster und lächerlicher Beigaben, die jenes Laster begleiten, ein Geizhals so raffinierter Konstruktion, daß sicher kein möglicher Zug dem Typus hinzuzusetzen bliebe. Die- sem vollendetsten Egoisten, dem auch die Liebe nur Besitzer- greifung mit sparsamsten Mitteln ist, steht in Shylock ein Typ ge- genüber, der zwar nicht minder extrem, nicht minder gewalttätig und doch von ganz anderem Holze geschnitzt ist. Moliere malt den Geizhals schlechthin und mit allen Mitteln und Ausweisen, eine internationale Seelenstruktur, — Shylock dagegen ist der geizige Jude, dessen individuelles, zum Typischen nur gesteigertes Bild in einer einzigen Vision geschaut scheint. Erschreckender, drohender wirkt diese totaler geschaute Gestalt des Shylock. Und die Handlung. Bei Moliere haben wir eine ganze An- zahl paralleler Verläufe, die sich ebenso wie alle charakterisierenden Taten des Helden um den Mittelpunkt herumgruppieren: die hoff- nungslose Liebe von Harpagon's Tochter zum besitzlosen Jüngling, die hoffnungslose Liebe von Harpagon's Sohn zum armen Mädchen. Der Liebhaber der Tochter tritt zum Geizhals in Beziehung, indem er ihn schmeichelnd zu gewinnen trachtet ; die Erwählte des Sohnes wird vom Geizhals selbst geliebt und begehrt. Zum Mittelpunkt hin und vom Mittelpunkt her bewegen sich diese wie alle anderen Gestalten und Vorgänge. Angefangen von der das Tun des Alten kontra- stierenden Generosität des Sohnes gipfelt schließlich alles Tun der andern in Kontrast und Abwehr zur Mittelfigur, die trotz des harmlosen Endes als jämmerlicher, gemeiner und geprellter Schuft entblößt steht. Ganz im Gegensatz zu dieser konzentrischen Be- wegung der streng geschlossenen Form des Franzosen herrscht nun im „Kaufmann von Venedig" die bei Shakespeare bekannte Freiheit des Baus. Der Episoden scheint gar kein Ende. Von der Geldanleihe beim Juden bis zn den Kästchenwahlen bei Porzia Die Aufgaben der Ästhetik. 413 scheint sich die Handlung immer weiter von ihrem Mittelpunkt zu entfernen. In der Bewerbung der unglücklichen Freier um Porzia wie in der Verlobung des Kammerkätzchens mit Graziano scheint schon jeder Zusammenhang mit dem eigentlichen Zentrum gelöst. — Bis räumlich und geistig die Reise wieder zurückgeht und mit dem verkleideten Auftreten der Frauen als Advokaten in Shylocks Rechtssache der Ring geschlossen wird, das Ende zum Anfang zu- rückkehrt. Wie Shylock selbst von größerem, wenn man will, auch primitiverem "Wurf ist als der umfassend durchdachte avare des Franzosen, so ist auch das kontrastierende Gegenspiel der generösen Wagelust über das Beispiel der eigenen Tochter des Juden hinaus zu einem großen gesammelten Gegensatz vereinigt worden, der in Modifikationen beim Kaufherrn, bei den Brautwerbern, bei der Braut selbst hervortritt. Und doch ist das Merkwürdige, daß die ungeheure Verschieden- heit des Aufbaus und der Gefühlswirkung beider Komödien von unserm vereinheitlichenden zusammenfassenden Denken zu einem gleichen zentralisierenden Querschnitt gebracht wird. Aus den weiten Räumen der Shakespeareschen Episodik zurückgekehrt wird in der Gerichtsszene der Querschnitt gemacht, der uns Überschau und Zusammenschau gibt wie nur je in dem Endbild der stets konzentrisch ruhenden Gruppe bei Moliere. Die Gerichtsszene zeigt uns Shylock isoliert, gedemütigt und entthront, der Gewalt beraubt, die er wie Harpagon bislang drohend besaß, und dieser Querschnitt zeigt uns zugleich die Verkettung der Zentralfigur mit allen anderen. Diese Zusammenfassbarkeit, die dem gestalt- erfassenden Denken in irgend einer noch unbekannten Vereinigung mit der Anschauung geboten wird, ist das, was man bislang „Idee" genannt hat, was aber nur von Mißverstehenden für ein abstraktes Gedankending gehalten wurde. Es ist eine der Strukturforderungen beim Kunstgenießen, eine vom individuellen Geschmack ganz un- abhängig auftretende Funktion, ein Bedürfnis, das, oftmals miß- verstanden und zu einem äußerlichen Prinzip herabgesunken, aber doch zu keinen Zeiten ernstlich verleugnet wurde. Nur als eine Ergänzung sei angedeutet, wie wir uns mit diesem Prinzip der Einheit mit Wölfflins Bildanalyse in Einklang befinden. Wölfflin hat unter seinen Grundbegriffen auch jenes eine Paar, das hierher gehört : vielheitliche Einheit und einheitliche Einheit. Ein Gegensatzbeispiel ist Dürer und Rembrandt. Während auf Dürerschen Bildern jeder einzelne Gegenstand für 11 1 Charlotte Bühler. sich zu betrachten klar und selbständig hervortritt, wird bei Rem- brandt das einzelne nur als Teil dem Ganzen eingebaut und ent- behrt durchaus jeder Eigenbedeutung. Ein Lichtfleck vereinigt und zentralisiert. Das Entscheidende für uns ist aber, daß auch die Vielheit bei Dürer trotz Selbständigkeit aller Teile auf ein Zentrum bezogen, zu einer Einheit zusammentritt. Diese Einheit ist eine der notwendigen Gestaltbestandteile des Kunstwerks. Denn das Kunstwerk ist Gestalt im psychologisch exakten Sinn. Die psychologischen Grundbedingungen der Gestalt überhaupt lassen sich auch als seine Existenzbedingungen nach- weisen, zu ihnen kommen spezifische Bedingungen der Kunstgestalt hinzu. 'Beide Gruppen ergeben kontrollierbare Bedingungen von Kunstsein und Kunstwert, aus denen nur ein Beispiel heraus- gegriffen wurde. Dies ist nun das Bild, das wir von der Kunstwissenschaft, wie sie zu fordern ist, gewonnen haben: eine Kunstpsychologie muß ihre Grundlage bilden, und auf dem Fundament wird sich das System der Kunst werte erheben. Frühere Ästhetik hielt es ihrer Dignität für angemessen, aus ihrer Kenntnis des Schönen Vor- schriften für den schaffenden Künstler zu folgern. Künftige Tat- sachenkenntnis wird sich begnügen, statt mit Normen die Zukunft einzuengen, das Geschaffene mit objektiven Maßstäben zu über- schauen und in umfassenden Wertsystemen seiner Mannigfaltigkeit, des Reichtums der uns geschenkten Kunstwerte, gerecht zu werden. Haben wir so die Aufgaben der Kunstwissenschaft umschrieben, so bleibt uns als letztes die genaue Bestimmung der reinen Ästhetik. Die Untersuchungen über das Schöne, das Erhabene, das Ko- mische, Tragische und die übrigen ästhetischen Kategorien sind von jeher gesondert von den einzelnen kunstwissenschaftlichen Fragen aufgetreten und waren in bisheriger Ermangelung einer Wertlehre der Kunst einstweilen der eigentliche philosophische Kern der ästhetischen Erörterungen. Ganz mit Unrecht. Genau wie die einzelnen Kunstwerte sind die Modalitäten dem Kunster- leben entnommen, das Schöne, das Erhabene, das Unschöne und Häßliche finden wir stückweise auf im Erlebnis von Kunst und Natur, und keine metaphysische Konstruktion konnte es uns vor dem Erleben geben. Als Schiller etwa die Kategorien des Na- iven und Sentimentalischen aufstellte, entnahm er sie zunächst dem unmittelbaren Erleben. Je genauer dieses studiert und beschrieben Die Aufgaben der Ästhetik. 415 werden kann, desto klarer treten immer differenziertere Kategorien hervor, die im ästhetischen Erleben gegeben sind: das Rührende und Sentimentale, das Spannende und Aufregende und die sämt- lichen Modifikationen des Schönen, als da sind: das Hübsche, An- mutige, Liebliche usw. Aber auch hier in der reinen Ästhetik sind die philosophischen Aufgaben mit der psychologischen Analyse nur fundiert, nicht erschöpft. Auch hier liefert die Beschreibung nur das Material. Auf der Grundlage der beschreibenden Tatsachenforschung erhebt sich die ästhetische Typenlehre. Indem das Gemeinsame und Grundlegende im Erlebnis des Schönen, Komischen oder was es sei, aufgesucht wird, gelangt man zu ästhetischen Typen. Hier handelt es sich nicht um Werte und Wertdifferenzen wie in der Kunst, sondern um die ästhetischen Erlebnismöglichkeiten und um ihre systematische Zusammenstellung, um die typische Struktur der ästhetischen Erlebnisweisen. Ich fasse zusammen. Die gesamte Ästhetik zerfällt uns in zwei Untersuchungsgebiete, in die Untersuchung der Kunst einer- seits und der ästhetischen Erlebnis weisen in Kunst und Natur andererseits. Wir nennen mit den Vorgängern diese Teile: all- gemeine Kunstwissenschaft und reine Ästhetik. Jedes der beiden Gebiete umfaßt nun seinerseits einen doppelten Kreis von Aufgaben. Eine Kunstpsychologie fundiert die allgemeine Kunstwissenschaft und befaßt sich mit der Analyse des Kunst- schaffens, des Kunstgenießens und vor allem mit dem Aufbau des Kunstwerks selbst, der Kunstgestalt. Auf der Kunstpsychologie erhebt sich das System der Kunstwerte. Die allgemeine Ästhetik ist in gleicher Weise fundiert von einer Psychologie der ästheti- schen Grunderlebnisse und gipfelt in einem System der ästhetischen Typen. Also Kunstpsychologie und Lehre von den Kunstwerten, psychologische Ästhetik und ästhetische Typenlehre wird das künf- tige System der gesamten Ästhetik zu umfassen haben. Beginnen wir da, wo die Aufgaben warten, am Fundament, das nicht solide genug werden kann, wenn es den philosophischen Aufbau tragen soll. Zum Problem der Philosophiegeschichte Ein methodologischer Versuch. Von Dr. Julius Stenxel. Die Überschrift bedarf einer Erläuterung. Es ist zu sagen, in welchem Sinne die Geschichte der Philosophie ein Problem ge- nannt wird. Nicht weil sie im gewöhnlichen Sinne des Wortes in ihrem faktischen Betriebe heute „problematisch" geworden wäre. Grabe es selbst Erscheinungen im heutigen Betriebe der Philosophie- geschichte, die zu dieser Auffassung berechtigten, so könnten sie doch nur die Veranlassung sein, sich auf das ganze sachliche „Problem" aller Philosophiegeschichte überhaupt zu besinnen. Daß es ein solches Problem gibt im eigentlichen Sinne einer vorgelegten zu lösenden Aufgabe, auch diese Formulierung läßt noch zwei Auffassungen zu; die eine von vornherein auszuschließen ist der Zweck des zweiten Titels. Nicht im entferntesten handelt es sich um die Frage, die etwa ein antiker Autor so fassen würde: Wie muß man Geschichte schreiben? Nicht also um Methodik, sondern um Methodologie, um den Logos der Methode handelt es sich in dem kritischen Sinne, Erfahrung aus ihren Bedingungen zu ver- stehen. Die Erfahrung ist hier die reiche philosophiegeschichtliche Arbeit von eigenartiger Prägung, die unsere Zeit geleistet hat. Ihre oft sich scheinbar widersprechenden Tendenzen aus der Sache heraus zu verstehen, in ihrer Notwendigkeit zu begreifen, ist unsere Aufgabe. Diese Einstellung enthält in sich die ideale For- derung, möglichst auf Kritik im populären Sinne, auf individuelle Werturteile zu verzichten; im Gegenteil ergibt sich aus dem „Ver- stehen" ein Lernen wollen und -können aus allen Richtungen, wenn irgend eine sachliche Bedeutung auch einseitiger Bestrebungen sich aus dem Wesen der Wissenschaft — hier der Philosophiegeschiche — aufzeigen läßt. Julius Stenzel, Zum Problem der Philosophiegeschichte. 417 Erster Teil. I. Wie sich Philosophie zur Geschichte der Philosophie verhalte, das ist die Kernfrage unserer ganzen Untersuchung, eine Frage, die in verschiedenen Richtungen gefaßt werden kann. Fast aus- nahmslos wird sie mit dem Blick auf die Philosophie in dem fol- genden Sinne gestellt: läßt sich Philosophie als Wissenschaft streng von Philosophiegeschichte absondern ? Mit anderen Worten : gibt es Philosophie als Wissenschaft völlig losgelöst oder lösbar von ihrer Geschichte — ähnlich wie der Mathematiker grundsätz- lich ohne Kenntnis seiner Greschichte sein wissenschaftliches Werk betreiben kann ? Man sieht, diese Frage ist ebenso sehr eine Frage nach dem Wesen der Philosophie überhaupt wie nach dem Wesen der Philosophiegeschichte, und sie ist demnach nicht ohne weiteres zu beantworten. Exponiert kann sie zunächst durch die Aufstellung zweier Grenzfälle werden, zwischen denen die Wahrheit notwendig liegen muß. Einmal könnte das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte grundsätzlich dasselbe sein wie bei den Einzelwissen- schaften; der Wissenschaftscharakter der Philosophie wäre kein anderer als der der Mathematik, Physik usw.; die historische Wissenschaft von der Philosophie stünde demnach in einem ebenso losen Verhältnis zu dieser selbst. Zwar erforderte die Philosophie- geschichte die Kenntnis der sachlichen Inhalte des philosophischen Systems, wie die Geschichte der Mathematik nur bei Kenntnis der mathematischen Probleme geschrieben werden kann; umgekehrt aber könne die Philosophie ihrer Geschichte völlig entraten. Die Methode der Philosophiegeschichte wäre in keinem anderen Sinne Objekt der philosophischen Methodenlehre als jede andere histo- rische Einzeldisziplin. Die andere Meinung bestreitet gerade diesen Wissenschafts- charakter der Philosophie nach Art und Muster der Einzeldis- ziplinen; die Philosophie könne auch nie zu diesem Grade von Exaktheit gelangen; sie bleibe dauernd ein subjektives Gebilde: Weltanschauung, bestimmt durch die Eigenart, die angeborene oder von der Umgebung, Bildung, Vertrautheit mit der oder jener Einzelwissenschaft abhängige Individualität des Philosophen; bei früheren Philosophen wäre auch der Stand der Einzelwissenschaft von bestimmendem Einfluß. Philosophie könne nichts anderes tun, als die vorhandenen Philosopheme beschreiben, die möglichen Typen der Weltanschauung historisch oder psychologisch registrieren. Kantstudion. XXVI 27 418 Julius Stenzel, Bestenfalls könne man gewissen Einzeldisziplinen, der Logik, der Psychologie — wenn man diese letztere nicht überhaupt den Na- turwissenschaften hinzuzurechnen habe — einen gewissen Bestand objektiver Erkenntnis zubilligen, die nach Art der Einzelwissen- schaften einen Fortschritt, einen sich mehrenden Bestand an Ein- sicht darstellen; die Philosophie als Ganzes könne auf diesen Wissenschaftscharakter keinen Anspruch machen; Philosophie sei eben mit ihrer Geschichte letzten Endes identisch. Zwischen diesen beiden Extremen müssen sich alle Möglich- keiten der Auffassung unterbringen lassen. Auf eine Widerlegung des Historismus und des mit ihm zusammenhängenden, hier zu- nächst unwesentlichen Psychologismus, durch den Nachweis des Wissenschaftscharakters der Philosophie muß im Rahmen dieser Untersuchung verzichtet werden1). Etwas könnte allerdings für diese Auffassung zu sprechen scheinen : die bunte Mannigfaltigkeit der Standpunkte und Richtungen innerhalb der Philosophie, die in der Geschichte und im philosophischen Leben der Gegenwart sich widersprechen. Diese Tatsache ist gewichtig genug, um sich auch auf den Standpunkt des anderen Poles : Philosophie strenge Wissenschaft vom Charakter der Einzelwissenschaften, nicht unbedingt zu stellen. Nicht nach dem Muster etwa der Mathematik darf die Philosophie sich ihren Wahrheitsbegriff formen, wenn sie nicht unendlich weit hinter ihm zurückbleiben und anstatt der erstrebten Allgemein- gültigkeit sich mit der Exklusivität einer Sekte, die den Stand- punkt einer Schule für den allein möglichen gelten läßt, begnügen will; ihren besonderen Wahrheits- und Wissenschaftsbegriff muß die Philosophie so fassen, daß von ihm aus das Phänomen ihrer scheinbaren Vielgestaltigkeit eine Erklärung findet — nicht aus der Schwäche der menschlichen Natur, sondern aus der eigenar- tigen Struktur der philosophischen Aufgabe. Von dieser darf von vornherein der bestimmende Zusammenhang vorausgenommen und vorausgesetzt werden, daß im Gegensatz zu den besonderen Me- thoden und Aufgaben der Einzel Wissenschaften Philosophie in ir- 1) Der Historismus und Psychologismus ist von jedem Standpunkt, der in irgend einem Sinne kritizistisch ist, ebenso unannehmbar wie von dem der Phä- nomenologie; vgl. die mit großem Verständnis für die in der Weltanschauungs- philosophie sich auswirkenden Werte geschriebene Programmschrift Husserls im Logos Bd. 1, 191-0/11 S. 289 Philosophie als strenge Wissenschaft. Über die innere Beziehung der Philosophie zu ihrer Geschichte s. u. S. 451 ff. Zum Problem der Philosophiegeschichte. 419 gend einem Sinne sicherlich ein allgemeineres, alle Wissenschaften gleichmäßig angehendes Ziel sich stecken muß. Damit ist natürlich ganz und gar nicht das auf früheren Stufen der Welt erkennt nis möglich scheinende Umspannen aller Wissenschaften in ihrer eigent- lichen Durchführung oder auch nur eine eklektische Berücksich- tigung von deren Ergebnissen gemeint. Vielmehr hat sich ein ganz anderer systematischer Wissenschaftsbegriff herausgebildet, der zugleich den Anspruch einer allgemeinen Beziehung auf alle Wissenschaften und den einer streng begrenzten wissenschaftlichen Sonderaufgabe der Philosophie zu erfüllen verspricht. Dieser mo- derne Wissenschaftsbegriff der Philosophie umspannt gleichmäßig die Probleme des Historismus und seines Gegenbildes „Philosophie als strenge Wissenschaft" und ist demnach, wie oben gezeigt, für das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte von grundle- gender Bedeutung. Mit diesem neuen Systembegriff hängen die verschiedenen Arten der Stellungnahme zur Frage der Philosophie- geschichte zusammen, und um sie in ihrer grundsätzlichen Ab- hängigkeit von ihm zu verstehen, muß dieser Systemgedanke mit einigen Strichen umrissen werden. Es wird sich dabei die für un- seren Zusammenhang wesentliche Tatsache ergeben, daß die schein- bar bunte Mannigfaltigkeit von Richtungen und Systemansätzen doch eine einheitliche Grandtendenz erkennen läßt II. Es war oben bereits der Systemgedanke der modernen Phi- losophie negativ dahin bestimmt worden, daß er nichts mit den Ergebnissen der einzelnen Wissenschaften zu tun habe. Geriete er in irgend welche Abhängigkeit davon, so wäre die Philosophie eine unmittelbare Funktion der Einzelwissenschaft; sie wäre eine eklektische und notwendig dilettantische Encyklopädie, und sie schlüge dem Charakter der heutigen Wissenschaft, der auf ein- dringender Differenzierung beruht, geradezu ins Gesicht. Nicht um die Endergebnisse, auch nicht um die Voraussetzungen im Sinne materialer Bestimmtheit, sondern um die spezifische Gegebenheits- weise des Gegenstandes der einzelnen Wissenschaften, der sich in ihrer Methode formt, bemüht sich die moderne Philosophie. Die Begriffsbestimmung der Philosophie als Einheit dieser for- malen Voraussetzungen der Wissenschaft könnte zunächst noch zu eng erscheinen. Zwar wird die Philosophie die Beziehung zu den wissen- schaftlichen Gegenständen nicht verleugnen dürfen; die Frage ist 27* 420 Julius Stenzel, aber, ob ihr Bereich nicht weiter sich erstrecke, ob nicht eine Fülle außerwissenschaftlicber Gegenstände: Sittlichkeit, Kunst, Religion, schließlich der Gegenstand des allgemeinsten, die Welt vorfindenden Bewußtseins, also das Sein schlechthin, hinzunehmen wäre, ja ob nicht an diesen Objekten die eigentliche Aufgabe der Philosophie sich erfüllen müsse ; dann umfaßte also der oben ge- gebene Begriff der Philosophie nur einen Teil von ihr, den man als Methodenlehre abgrenzen müßte. Bei näherem Zusehen er- weist sich diese Trennung freilich als undurchführbar. Die Ab- grenzung der Kompetenzen von Wissenschaft, Kunst, Sittlichkeit und Religion, also die kritische Frage nach den Grenzen der je- weiligen Geltungssphäre der besonderen Gebiete und Methoden, diese Aufgabe der Philosophie umfaßt auch zugleich jene scheinbar allgemeinere. Die ideale, systematische Einheit dessen, was als Wert oder Wissen Gültigkeit beansprucht, dies ist auch der Sinn der allgemeinen Gegenstandstheorie. Einen allgemeinen Gegen- stand schlechthin, dessen einfaches metaphysisches Sein die Philo- sophie zu begreifen hätte, gibt es nicht; er gliedert sich für jede methodische Betrachtung in die differenzierten Weisen des Be- wußtseins und ihrer gegenständlichen Entsprechungen, und nur als die diese Differenzierungen voraussetzende Einheit des Bewußt- seins überhaupt kann der Gegenstand schlechthin erfaßt werden. Wir nehmen also die Frage wieder auf: Ist mit einem System der methodischen Voraussetzungen der Wissenschaften der Umfang der Philosophie in irgend einem Sinne bezeichnet? Bedarf dieses System nicht, abgesehen von den angedeuteten grundsätzlich an- deren Einstellungsmöglichkeiten in seiner eigenen Richtung noch der inhaltlichen Erweiterung? Ohne Zweifel muß ausdrücklich bezeichnet werden, was alles mitgemeint ist, wenn von den Wissen- schaften gesprochen wird. Dazu gehört vor allem das Gebiet des Ethischen, Ästhetischen und Religiösen; inwiefern auch diese Ge- biete in einer wissenschaftlichen Formung zur Philosophie in eine analoge Beziehung treten können wie die anderen Einzelwissen- schaften, das wird ohne weiteres klar, wenn die strenge Aus- sonderung aller Einzelinhalte wissenschaftlicher Forschung aus dem Kreise philosophischer Betrachtung als Sinn jenes Philosophie- begriffes festgehalten wird. Man könnte sagen : die gesamte Arbeit von Wissenschaft, Kunst und Religion, kurz der Inhalt der Kultur im weitesten Sinne, wird von der Philosophie in seiner Bestimmtheit hingenommen als Antwort, als Erfüllung von Fragen. Zum Problem der Philosophiegeschichte. 421 Diese Fragen zu formulieren, sie als „Probleme" im alten eigent- lichen Sinne zu lösender Aufgaben zu fassen und aus einer Einheit als vollständiges System zu begreifen, das wäre dann der rechte Sinn jener philosophischen Kritik. Nur bedarf dann die Beziehung auf die oben gegebene Formulierung: die Philosophie handle von dem Apriori der Wissenschaften angesichts dieser empirisch klin- genden Fassung noch eines erläuternden Wortes. Es steht dann die Philosophie zur Erfahrung der Kultur in demselben Verhältnis wie zur Erfahrung überhaupt. Nur an der Erfahrung kann das denkende Bewußtsein sich über die konstitutiven Züge jeglicher Synthesis klar werden; nur an ihr kann es die Frage begreifen, die durch die jeweilig antwortende Kulturerfahrung nicht endgültig erledigt ist, sondern deren Fortgang bestimmt hat und in freier Entwicklung immer bestimmen wird. Denn diese Frage muß die Philosophie methodisch stellen. Es muß die Methode der Wissenschaft daraus ersichtlich sein — wieder nicht die Gültigkeit von einzelnen Urteilen, sondern die Form der Gültigkeit überhaupt, wie sie etwa aus der Form des historischen, mathematischen Ge- genstandes entspringt. Denn das ist letzten Endes der entschei- dende Unterschied innerhalb aller Wissenschaften, aller Arten von Bewußtseinsinhalten, welche Form der Gültigkeit, welche Geltung ihnen zugeschrieben werden kann; sofern sie überhaupt als Fak- toren der Kultur aufgefaßt werden, müssen sie aus der Sphäre bloßen subjektiven Erlebens heraus in irgend einer Form der Ob- jektivität aufgefaßt werden; und selbst für den Fall, daß auch noch in anderen Formen vom Bewußtsein Objektivität aufgefaßt werden könnte, das Moment des „für alle Geltenden" als des ein- fachen Ausdrucks übersubjektiver Wirklichkeit, wird darin in ir- gend einem Sinne beschlossen sein müssen. Jedenfalls ist es mög- lich, von dieser Seite her das System aller Grundbezüge mensch- lichen Bewußtseins aufzubauen: als ein geordnetes Reich von Prob- lemen, Fragen, auf die das Kulturbewußtsein die Antwort gibt — immer gegeben hat, solange Philosophie besteht. Diese kritische Auffassung der philosophischen Aufgabe liegt letzten Endes auch der historischen Form der Kantischen Philosophie zu Grunde. Freilich verschlingen sich bei ihm mit eigentlich kritischen, auf Begründung des Wissenschaftsbegriff abzielenden Motiven noch mannigfaltige andere, mit deren Herauslösung die wichtigsten systematischen Klärungen der Neueren in sachlichem Zusammen- hange stehen. Wie weit die Ansätze einer psychologischen und 422 Julius Stenzel, phänomenologischen Betrachtung bei Kant lediglich als Trü- bungen des reinen kritischen Gedankens ausgeschieden werden müssen, wie weit sie selbständiger Weiterführung fähig und zu einer wesentlichen Um- oder Ausgestaltung des kritischen Ge- dankens berufen sind, dies läuft letzten Endes auf die Grund- frage hinaus, ob neben dem wissenschaftlichen Bewußtsein ein anderer s faßbar ist, ob grundsätzlich ohne irgend welche Zu- ordnung zu dem in Geltungsbeziehungen sich selbst begründen- den „wissenden" Bewußtsein sich Inhalte erfassen und „beschreiben" lassen. Die Entscheidung dieser Frage ist die wesentliche Aufgabe der Philosophie der Gegenwart. III. Daß eine Problemstellung wie die Kantische, aus der heraus die Philosophie als das System gestellter und überhaupt möglicher Probleme aufgefaßt werden kann, zu dem die jeweiligen Kultur- inhalte als sich stets entwickelnde und erweiternde Antworten erscheinen, für die Beurteilung der Geschichte der Philosophie als der früheren Versuche, die jeweilige Kultur in einem Bewußtsein zu vereinigen, eine Fülle neuer Gesichtspunkte erschließen konnte und mußte, erscheint uns heute ganz selbstverständlich. Ordnen sich doch die noch so widersprechenden Meinungen der Philosophen, jenes scheinbare „Theater menschlicher Beschränktheit und Irr- tümer", zu einer Reihe von Versuchen, für notwendige, bestimmte Fragen die Antwort zu finden, die der jeweiligen Kultur entsprach. Mögen diese Antworten auf, die Frage des Substanzproblems, der Freiheit, der Sittlichkeit, noch so widerspruchsvoll und absurd er- scheinen, es läßt sich von dieser kritischen Auffassung aus doch ein Sinn in allem finden, wenn man weiß, daß das philosophische Denken etwas gemeint hat, was spezifisch philosophisches Problem ist. Sobald einmal die Richtung gebende, immanente Aufgabe des Denkens als solche erfaßt ist, gibt sie für die Stufen des Sichbe- wußtwerdens über die Frage einen Maßstab ab. Das Fehlen oder Zurücktreten gewisser Probleme andererseits gibt uns die Möglich- keit, ganz andere Systeme mit ganz anderer Schwerpunktslage zu verstehen — kurz, alles das, was wir heute problemgeschichtliche Forschung nennen, scheint uns gegeben, sobald einmal das, dessen Geschichte nun zu schreiben wäre, das Problem als Inbegriff der Philosophie erkannt ist. Doch der noch heute und wohl immer wirkende, weil sachlich begründete Antagonismus zwischen dem Zum Problem der Philosophiegeschichte. 423 zeitlosen Problem und der an das Medium der Zeit gebundenen Geschichte — erst heute als „das Problem" der Philosophiege- schichte erkannt — verhinderte hier zuerst eine wirklich kritische Verwertung des kantischen Gedankens. Das oben vorläufig angedeutete Prinzip problemhistorischer Betrachtung soll gleich an einem Beispiel erläutert werden. Das Problem des Historischen überhaupt war mit der kantischen Tat zunächst nicht mit umspannt. Die rücksichtslose Einseitigkeit, mit der Kant das unveräußerliche Recht der Philosophie auf All- gemeingültigkeit betonte, machte ihn gleichgültig gegen irgend welche relativierenden — historischen oder psychologischen — Ge- sichtspunkte. Darin lag seine, das Zeitalter der Auflklärung er- füllende Genialität, daß er den Gedanken des Apriori in den Mittelpunkt der Philosophie gründete, als das Herz, das alle Teile mit spezifischer Lebensenergie versorgt: Philosophie mag sich stellen, wie sie will, sie kann sich selbst in ihrer sichtbaren Form als menschliche, von Menschen betriebene Wissenschaft noch so bescheiden psychologischer Betrachtung unterstellen, das Recht der Vernunft auf sich selbst zu vertreten bleibt ihre Aufgabe. Das vergröbernde dogmatische Mißverständnis dieser Tendenz, gegen das doch Kant, eben weil es nahe liegt, sich eigentlich noch radi- kaler ausgesprochen hat als^gegen die relativistische Skepsis, äußerte sich bei seinen Anhängern daher sofort auf historischem Gebiet. Hatte Brucker alle Philosopheme unmittelbar mit den Konse- quenzen ausgestattet, die sie im System Wolffischer Metaphysik gehabt hätten, so mißt Tennemann ganz äußerlich alle früheren Philosophen am System Kants. Über die Auffassung, die Kant selbst von der Philosophiegeschichte hatte, soll später im Zusammen- hang mit der Marburger Schule gesprochen werden, die diesen An- regungen sich im wesentlichen angeschlossen hat. Eine wissenschaftliche Geschichte der Philosophie begründet erst Hegel. Man pflegt, ohne Zweifel mit gewissem Recht, ihn als den zu bezeichnen, der das Historische überhaupt in seiner Bedeutung erkannt hat. Freilich wächst das Historische — bei Kant nicht im Gegensatz zum Systematischen erfaßt, sondern ein- fach ausfallend — bei Hegel aus dieser Verdrängung heraus tief in das Philosophische hinein. Es tritt, nur aus der durch Kant bezeichneten Situation verständlich, ein höchst eigenartiger Aus- gleich beider Gedankenreihen ein. Das Philosophische wird histo- 424 Julius st enzel, risch, und umgekehrt. Auf unser Problem angewandt: Die Ge- schichte der Philosophie wird wissenschaftlich und „sogar zur Wissenschaft der Philosophie der Hauptsache nachu (Hegel Werke XIII, 17, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie). Die Entwicklung der Philosophie und der Kultur überhaupt wird bei Hegel zur Entfaltung eines objektiven Geistes. „Der Geist ist aber nicht nur als ein einzelnes, endliches Bewußtsein, sondern als in sich allgemeiner, konkreter Geist. Diese konkrete Allgemeinheit aber befaßt alle die entwickelten Weisen und Seiten, in denen er sich der Idee gemäß Gegenstand ist und wird. So ist sein denkendes Sicherfassen zugleich die von der entwickelten, totalen Wirklichkeit erfüllte Fortschreitung, — eine Fortschreitung, die nicht das Denken eines Individuums durchläuft, und sich in einem einzelnen Bewußtsein darstellt, sondern als der in dem Reichtum seiner Gestaltung, in der Weltgeschichte sich darstellende allgemeine Geist" ; 1. c. 46 f. Hegel ist also nicht auf die Aufeinanderfolge historischer In- dividuen eingestellt, sondern auf die zeitliche Entfaltung eines Weltbewußtseins ; gewiß meint er mit dieser Entfaltung des Welt- bewußtseins niemals etwas anderes als die dialektische Entwick- lung; aber dialektisch im kritischen Sinne ist eine „Entwicklung" doch nur, sofern ich von dem (freilich^Paktisch unlösbaren) in die Zeit Eingebettetsein absehe, die Geltungszusammenhänge des dia- lektischen Prozesses als quaestio iuris ausdrücklich von der quaestio facti logisch ablöse. Diese Ablösung erfolgt in der wissenschaft- lichen Arbeit des 19. Jahrhunderts dadurch, daß das Moment des Zeitlichen im- empirischen Sinne im Historischen immer größere Selbständigkeit erlangt. Für den rückschauenden Blick ist Hegels Aufnahme des Zeitlich- Historischen in das kritische System das Aufleuchten einer berechtigten Gedankenreihe; aber wenn Hegel 1. c. 43 behauptet, „daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Phi- losophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee", so liegt die große Gefahr vor, die historische Entwicklung einem vor- gefaßten System — mag dieses auch bereits im Hinblick auf die Geschichte konzipiert sein — zuliebe mit Gewalt umzupressen, eine Gefahr, die bei der angedeuteten Korrelativität an sich nicht notwendig einzutreten braucht, der Hegel aber doch in der Durch- führung oft genug unterlegen ist. Zum Problem der Philosophiegeschichte. 425 Wenn wir dagegen das uns als richtig scheinende kritische Verfahren davon abzuheben versuchen, so beruht es auf* einer größeren Betonung des Zeitlich- Historischen. Die Idee der Ent- wicklungsstufe — hier z. B. Hegels — ist das Ziel, das mit Zu- hilfenahme systematischer Erwägungen erstrebt wurde ; diese Idee ist aber zunächst eine Hypothesis, die erst an der historischen Er- fahrung sich zu bewähren hat, und die im Fortschritt der Er- kenntnis steter Korrektur ausgesetzt bleibt. So gewiß eine blinde historische Empirie, der das Auge für das Problem, die zu Grunde liegende sachliche Frage fehlt, einer Erscheinung von solcher Kompliziertheit wie einem philosophischen System gegenüber ver- sagen müßte und tatsächlich sich „dem ideenlosen Auge nur ein bloßer Haufe von Meinungen darbieten würde", (Hegel I.e. 44), so verzichtet historische Forschung im heutigen Sinne grundsätzlich darauf, ein hinter der historischen Erfahrung tatsächlich wirksames, diese konstituierendes Prinzip zu erfassen; sie begnügt sich, die Geschichte reguliert zu finden von gewissen wertbezogenen Ent- wicyungsgedanken, die sie natürlich „hineinlegt", in dem vollen Bewußtsein dieser methodischen Teleologie überzeugt, sich der theoretisch unerschöpflichen historischen Realität nur asymptotisch nähern zu können. Dem gegenüber ist Hegels Methode das Proto- typon einer „metaphysischen Teleologie1' (Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung l, 454 ff.), auch auf dem Gebiete der Philosophiegeschichte, wo sachlich der Hegeische Standpunkt aus der Natur des Gegenstandes noch am meisten be- rechtigt ist. Denn das verdient immer wieder hervorgehoben zu werden : bei aller Konstruktion bewährt Hegel gerade dort, wo er in der Geschichte Marksteine findet und nach ihnen seine dialek- tischen Stufen sichtlich orientiert, einen genialen Blick für die historische Einzelheit *). So hat zwar die wesenhafte Wirklichkeit des Historischen auf Hegels Denken gewirkt und sein System aufs stärkste beeinflußt, ohne in ihm ihren klarbestimmten logischen Ort zu erhalten. Darum wird seine philosophiegeschichtliche Leistung trotz ihrer glänzenden Ansätze — wie fruchtbar bleibt gerade hier seine Stufenfolge von 1) Man vergleiche z. B. Charakterisierungen wie die der platonischen Sub- jektivität in der Einleitung seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philo- sophie S. 68 oder die Warnung davor (S. 57), die alten Philosophen „in unsere Form der Reflexion umzuprägen". 426 Julius Stenzel, Thesis, Antithesis und Synthesis, freilich als heuristisches Prinzip ! - gerade in seiner Schule im Historischen überwunden. Ed. Zeller, Joh. Ed. Erdmann und Kuno Fischer begründen im Gegensatz dazu eine rein historische Philosophiegeschichte unter so starker Zurück- drängung des sj'stematischen Elementes, daß diese Antithesis die Synthesis ihrerseits in den letzten Jahrzehnten und damit das bewußte Zurückgreifen auf das modifizierte Prinzip Hegels zur Folge hatte. IV. Bei Kant und bei Hegel war das Historische mit allen seinen Nachbarproblemen des Individuellen und Psychologischen noch nicht zu voller Wirksamkeit gelangt, sodaß hier wesentliche Züge der gesamten Wirklichkeit verdrängt, in anderen, ihrem Wesen nicht adäquaten Formen sich ausgewirkt hatten. So war es bei Hegel weder Psychologie noch Geschichte im eigentlichen vollen Sinne; beide Wissenschaften mußten die ihnen zugeordneten Seiten der Realität erst für sich entwickeln, ehe sie in das System der^Phi- losophie eingeordet werden konnten, eine Aufgabe, an der jetzt noch immer neue Schwierigkeiten in das wissenschaftliche Bewußt- sein treten. Es ist nur natürlich, daß beide Wissenschaften, in dem Bestreben, Realität spekulationsfrei zu erfassen, auf die Me- thode verfielen, die bisher in der Erfassung der Realität die größten Erfolge erzielt hatte, auf die naturwissenschaftliche. Zwar merkte man wohl, daß die Realität des Historischen und Psycho- logischen nicht ohne weiteres mit der der mathematischen Natur- wissenschaft gleichzusetzen wäre, daß also die Methoden erweitert, umgestaltet werden müßten, aber der Typus der mathematischen Naturwissenschaft schien doch weiter das Ideal einer auf die gegebene Wirklichkeit angewandten Wissenschaft. Die klare Gegenüber- stellung einer erklärenden und beschreibenden Psychologie war noch nicht erfolgt, ebensowenig die Grenze der naturwissenschaft- lichen Methode erkannt. Das wichtigste Moment war, da man von den materialistischen Ausartungen des Positivismus hier füg- lich absehen kann, der stete Rückhalt, den die naturwissenschaft- liche Orientierung an Kant selbst immer wieder finden mußte, wenn sie über ihre Methode sich kritische Rechenschaft geben wollte. Die Stärke von Kants Idealismus beruhte gerade darauf, daß er das Reich der Natur von „Interpolationen" (Dilthey) des Ide- alen grundsätzlich freihielt und eine unbeschränkte Geltung der Zum Problem der Philosophiegeschichte. 427 Naturgesetze schlechthin lehrte. Daß er mit dieser unbeschränkten Geltung gerade ihren ideellen Ursprung aus dem Verstände in Verbindung brachte, weil die Erfahrung niemals Allgemeingültig- keit ergeben könne, das konnte eine spätere Generation um so eher übersehen, als nach seiner höchsten Anspannung in Fichte, Schelling und Hegel das idealistische Pathos verklang, aus dem heraus Kant die Antithese der praktischen und theoretischen Ver- nunft absichtlich in die schärfste, die Wurzeln von Vernunft und Verstand berührende Fassung gebracht hatte. Für Kant wogen die Grundtatsachen des sittlichen Lebens gerade in der Idealität, die er ihnen gab und in der er sie vor jedem Zweifel für immer geschützt zu haben glaubte, so schwer, daß sie dem Gedanken der allgemeinsten Naturgesetzlichkeit im Reiche der Erscheinung die Wage hielten. Wie nahe diese Schwierigkeit dem Mittelpunkt des kritischen Gedankens liegen muß, zeigen gerade die Divergenzen der ver- schiedenen Richtungen, in denen sich das Streben „zurück zu Kant" in der Mitte des 19. Jahrhunderts auswirkte. Bezeichnenderweise ist es der Geschichtsschreiber des Materialismus, der neben ge- bildeten Naturforschern wie Helmholtz zuert wieder auf die Be- deutung Kants nachdrücklich hinwies. Aber Lange ist weit von dem Primat der praktischen Vernunft entfernt, für ihn ist die kritische Methode im wesentlichen die Begründung der mathematisch- physikalischen Naturwissenschaft; und über dieses Ziel ist die Marburger Schule zwar fortgeschritten, aber doch im wesentlichen an ihm orientiert geblieben. Auch sie also versuchte nicht, die bedeutenden Ansätze, die zur adäquaten Erfassung der nichtnatur- wissenschaftlichen Realität, also des Individuellen, Psychologischen und Historischen vorlagen, in das eigentlich kritische System hin- einzuziehen. Sie blieb damit der Kantischen Philosophie auch in einem vielleicht nur historisch bedingten Sinne treuer als die süd- westdeutsche Richtung des Idealismus,; ihre Tendenz ist tatsächlich „zurück" zu Kant. Dieser Umstand ist wichtig für beider Ver- hältnis zum Problem der Philosophiegeschichte. Den Standpunkt der südwestdeutschen Richtung hat am schärfsten Rickert in den „Grenzen der naturwissenschaftlichen BegrifFsbildung" zum Aus- druck gebracht. Hier wird das Sonderrecht des historischen Ge- genstandes ausdrücklich begründet. Und zwar ist das Ziel der historischen BegrifFsbildung das Individuum im Gegensatz zu dem naturwissenschaftlichen Gegenstand, der nur Sonderfall eines all- 428 Julia« Stefieel, gemeineren Gesetzes ist. In der Feststellung des historischen Individuums spielt ein weiterer, für das moderne philosophische Bewußtsein charakteristischer Begriff eine entscheidende Rolle, der des Wertes. Wert ist immer auf ein persönliches Bewußtsein bezogen, das ihn erlebt; zugleich ist untrennbar überindividuelle Geltung mit ihm gesetzt, Tätigkeit des Bewußtseins, ein wesent- liches Motiv des Kritizismus, erhält durch die ausdrückliche Be- ziehung auf ein individuell wertendes Bewußtsein einen neuen, einfachen Sinn, weist aber zugleich über den rein psychologischen Vorgang hinaus in das Bereich objektiver Geltung. Eine neue Form der Bewußtheit spricht sich in ihm aus, die andererseits eine Anknüpfung gerade an die Motive des Kantischen Idealismus ge- stattet, die in der mathematisierenden Wendung unrettbar ver- loren gehen müssen. Eine kritische Synthese des Wert-, Wahr- heits- und Wirklichkeitsbegriffes, auf die im einzelnen hier nicht eingegangen werden kann, gestattete den Gedanken Kants vom Primat der praktischen Vernunft neu zu begründen; Rickerts System der Werte wird der letzte Ausdruck dieser Auffassung von Philosophie. Schon aus diesen kurzen Andeutungen ist die Stellung der südwestdeutschen Richtung zur Philosophiegeschichte zu erschließen. Einmal kommt hier die scharfe Erfassung des Historischen als des Individuellen zur Geltung. Auch die Philosophiegeschichte, sofern sie Geschichte ist, muß die individuelle, einmalige Konkretion des Historischen zur Anschauung bringen. Sie muß daher als eine „exakt historische Disziplin behandelt werden wie jeder sonstige Teil der Geschichte" (Windelband, Festschrift für Kuno Fischer, 543). Inhaltlich muß diese formale Überzeugung vom Wesen der Philosophiegeschichte noch bestätigt werden durch das sehr viel freiere Verhältnis zu Kant, das sich aus der Erkenntnis ergibt, in einem so wesentlichen Punkte wie der Wertung des Historischen weit über Kant hinausgehen zu müssen. Die sich allmählich immer mehr klärende Theorie des Historischen, die schließlich in Rickerts „Grenzen" gipfelte, führte insoweit bereits zu einer vollen Er- fassung der Eigenart des philosophiegeschichtlichen Gegenstandes, als- Windelband von vornherein die philosophische Seite dieser historischen Aufgabe ausdrücklich betonte, die er als „die Ge- schichte der Probleme und der zu ihrer Lösung erzeugten Begriffe" formulierte (Gesch. d. Philos. 2 1900, Prospekt z. 1. Lief. d. 1. Aufl. III). Doch so klar Windelband das Doppelgesicht der Phi- Zum Problem der Philosophiegeschichte. 429 losophiegeschichte, das philosophische und das historische, erkannt hat, so gründlich er sich die einzelnen Seiten der historischen Be- dingtheit der Philosophie (etwa in der Einleitung des eben zitierten Werkes) gegenwärtig hielt, so hoch seine Darstellungen im ge- samten Umkreis philosophiegeschichtlicher Leistungen dastehen, so hat er doch methodologisch nur die eine Seite möglicher Forschung, die Problemgeschichte, begründet. Seine * Arbeit und die der gesamten problemgeschichtlichen Forschung muß als eine methodische Antwort auf die Frage durch- aus anerkannt werden: Inwiefern ist Philosophiegeschichte philo- sophische Wissenschaft? Hier scheint das Historische, als gegeben vorausgesetzt zu werden. Eine zweite Frage, nach den allgemeinen historischen Voraussetzungen, den Quellen der Philosophie — be- sonders der alten — ist durch die philologische Forschung beant- wortet, die ihre eigentliche Aufgabe methodisch immer klarer und sicherer erfaßt. Aber das Problem der Philosophiegeschichte führt notwendig auf die dritte Frage : Wie kann diese Wissenschaft so- wohl den wissenschaftlichen Ansprüchen der Philosophie als zu- gleich denen der Geschichte genügen? Diese Vereinigung liegt tatsächlich vor, wo immer in eigentlich philosophischen Angelegen- heiten historische Gewißheit intendiert ist, worauf ja problemhi- storische Forschung grundsätzlich gar nicht gerichtet zu sein braucht. Diese Absicht liegt sämtlichen Arbeiten der Marburger Schule zu Grunde. Man mag den Ergebnissen der Marburger For- schung noch, so sehr diesen Doppelcharakter des Historischen und Philosophischen absprechen, — daß sie inhaltlich und formal die philosophiehistorische Forschung um neue Fragen bereichert hat, daß man nun und nimmermehr durch Ignorierung, sondern nur durch Überwindung ihrer Leistung weiterkommen kann, dies soll auch hier ausdrücklich begründet werden. Hinter dem philosophischen Bemühen Cohens und seiner Nach- folger steht immer die ausdrückliche Frage: wie gelange ich zu dem Sinn, dem wahren Sinn des früheren Philosophen? Hier ist — zum ersten Male — ausdrücklich die Aufgabe in ihrer ganzen Schwere gesehen, das festzustellen, was von Hegel an bis Windel- band ohne weiteres für erreichbar durch den einfachen Willen zur historischen Einstellung gehalten wurde, nämlich jenen historischen Ursinn „wie es gewesen war", die schlichte Frage nach dem Tatsächlichen. So wenig die Arbeit Cohens in seinen ersten Werken den Namen der Kantphilologie verdient, so bewußt er mit 43<> Julius Stenzel , der Kantischen Forderung, nicht Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren , ernst machte und an die reine Herausbildung der kritischen Methode, wie er sie verstand, sein ganzes Bemühen von vornherein setzte, so sicher ist andererseits, daß er zunächst die klare Erkenntnis dessen, was Kant eigentlich gemeint hätte, also eine Aufgabe der Philosophiegeschichte als historischer Wissen- schaft, in engster Verbindung mit diesem Bestreben auffaßte, und die gleichen Absichten leiteten ihn und seine Nachfolger bei ihren Deutungen der griechischen Philosophie, speziell Piatons. Welches sind nun die prinzipiellen Voraussetzungen, unter denen in spezifisch philosophischen Dingen historische Gewißheit erreicht werden kann? Nach dem — freilich in der Durchführung mannigfaltig modifizierten — Prinzip der Marburger Schule bedarf es für die Interpretation jedes Philosophen grund- sätzlich keines anderen Weges, das Historische festzustellen, als — nicht problemgeschichtlich — sondern unmittelbar problemhaft es zu durchdenken. So sagt Cohen, Plat. Ideenlehre u. d. Mathe- matik, Marburg 1879,6: „Denn das ist ja eine füglich anerkannte Sache, daß es in letzter Instanz kein anderes zureichend objektives Kriterium gibt für die Beurteilung des Echten, des Reifen, des Hauptsächlichen, ja beinahe muß man sagen, des Ernsthaft Ge- meinten in Piaton, als die eigene wissenschaftliche Subjektivität, als die erkenntnistheoretische Einsicht, über die ein jeglicher zu verfügen hat". Hier kann sich die Marburger Schule auf Kant selbst berufen, der Kr. d. r. V. 2, 371 Anm. den Grundsatz aufstellt, „daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Ge- spräche als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte". Durch die Forschung der Marburger Schule, die ihre an der Geschichte der modernen Philosophie gewonnene Methode auch an die griechische Philosophie — mit unleugbarem Erfolge — heran- brachte, ist eine neue Situation geschaffen worden, deren Unklar- heit am besten durch Wilamowitz' Piaton hervortritt. Wilamo- witz arbeitet in der für unsere ganze Frage überaus wesentlichen Einleitung mit einem doppelten Philosophiebegriff : Philosophie als Theorie und Philosophie als etwas anderes, als Inbegriff der Per- sönlichkeit Piatons; es ist schon in der Einleitung zu merken, Zum Problem der Philo Sophiegeschichte. 431 daß die Trennung sich schwer durchführen läßt. Was sich von der ersten Art der Philosophie an Piaton findet, das überläßt Wilamowitz den Philosophen ; ihm schwebt ohne Zweifel die Mar- burger Methode vor, wenn er davon spricht, daß die Philosophen „mit besonders erfreulichem Erfolge selbständige Parallelerschei- nungen beobachten" (S. 3). Höchst charakteristisch für diesen Be- griff der Philosophie ist das Bedauern, weder „Logik noch Mathe- matik, Astronomie und Physiologie genug zu verstehen, um den Inhalt seiner Lehrschriften auszuschöpfen und zu beurteilen" (ebenda). Wilamowitz wendet den Philosophiebegriff ins einseitig Logisch- Technische, um jene „für Piaton wertvolle" Philosophie, die ihm zugänglich ist, nach Umfang und Bedeutung hervortreten zu lassen. Der Grund ist klar, und hier liegt gerade die große grundsätzliche Bedeutung des Wilamowitzschen Buches für unsere Frage: Wila- mowitz muß anerkennen, daß nur der über wesentliche Züge der Philosophie Piatons ein Urteil hat, der Philosophie als besondere Wissenschaft versteht; vielleicht ohne es zu wissen erkennt er gerade durch die Nebeneinanderstellung von Logik und Mathe- matik eine alte Forderung Cohens wörtlich an, daß man an die Geschichte der Philosophie die Kenntnis ihres Systems genau so heranbringen müsse wie die der Mathematik an die Geschichte der Mathematik. Die nicht hoch genug zu bewertende Arbeit, die für die Erkenntnis mindestens der griechischen Philosophie Philologie als Kulturgeschichte leisten kann, insofern auch der Philosoph mit dem Boden der gesamten Kultur seiner Zeit durch tausend Wur- zeln verbunden ist, zeigt das bedeutende Werk Wilamowitzens ebenso klar, wie es in der Anlage und Durchführung jener Spaltung des Philosopbiebegriffs die ganze Problematik der Philosophiege- schichte ins helle Licht setzt. Und zu dieser Problematik, zu der Frage nach dem Sinn dieser „Arbeitsteilung" zwischen Historie und Philosophie steht, wie auch die Position von Wilamowitz zeigt, der Marburger Gedanke in engster Beziehung. Denn mit dem Erfolge, „selbständige Parallelerscheinungen zu Piaton beob- achtet zu haben", ist Natorps Absicht wirklich nicht erschöpft; auch er will Piaton „selbst" erfassen, durch jenes philosophische Erzeugen des Sinnes. Zweiter Teil. I. Die radikale Forderung Cohens nach Gleichsetzung dessen, was dem Betrachter richtig scheint und was deshalb des früheren 432 Julius Steuzel, Philosophen Meinung ist, soweit sie „ernst gemeint" ist, setzt sich zwar über andre wesentliche Züge der historischen Begriffsbildung hinweg; sie hat aber scharf und einseitig und deshalb wirksam einen bedeutsamen Punkt herausgehoben: daß auch in der Ge- schichte das Philosophische nicht vorliegt als irgend etwas einfach Abzulesendes; daß es erst entsteht, indem man es versteht, es „erzeugt", wie alle Geschichte erst durch die Auswahl, durch die Beziehung auf einen Wert, unter dem der Gegenstand im be- stimmten Sinne Bedeutung hat, zustande kommt. Diese erste Seite historischer Begriffsbildung ist nun für unsere Zwecke genauer zu betrachten. Zunächst schließt der Ausdruck „Wertauslese" immernoch nicht deutlich genug den Gedanken aus, es handle sich darum, aus irgendwie fertigen, nur äußerst zahl- reichen, daher etwas unübersichtlichen Gegenständen die Auswahl zu treffen. Dann hätte auch die Methode der Marburger Philo- sophiegeschichte damit nichts zu tun. In Wahrheit ist aber eine historische Tatsache, welcher Art auch immer*, gar nicht denkbar außerhalb des Zusammenhangs, der ihr erst irgend einen Sinn, irgend eine Bedeutung verleiht. Wenn der Historiker sagt : Dieser kleine, bisher übersehene Zug ist von größter „Bedeutung" für die Beurteilung, so kann diese allgemeinverständliche, häufige Bemer- kung am einfachsten zeigen, was unter der historischen Wertbe- ziehung gemeint ist; es ist die Auffassung des Einzelnen in einem sinnvollen Zusammenhang, außerhalb dessen es eben als „bedeu- tungslos" übersehen wird. Auf die äußere Abgrenzung des Gegen- standes ist daher auch in unserem Falle in dem Sinne weniger Wert zu legen, daß man das, was Philosophie ihrem äußeren Um- fange nach ist, in jedem Falle gegenwärtig haben müsse ; sondern viel wichtiger ist es, im einzelnen Falle unter einer sinnvollen Einheitsbeziehung eine Reihe von „Tatsachen" allererst zu ent- decken, die außerhalb dieses Zusammenhanges „nichts bedeuten", nun aber durch ihre Einordnung „Wert" erhalten haben und da- durch erst ins wissenschaftliche Bewußtsein gehoben sind. Wie wichtig dieses Ausbilden der apperzipierenden Organe gerade zur Herausstellung des philosophischen Sinnes irgendwelcher geschicht- licher Denkmäler ist, das ergibt sich aus dem formalen Charakter des Philosophischen, das nicht in einem Was, sondern in dem Wie der Betrachtung sich erst von anderen Prinzipien der Auswahl unterscheidet. So werden gerade in der Philosophiegeschichte die Möglichkeiten der Auswahl in jenem schöpferisch-kritischen, nicht Zum Problem der Philosophiegeschichte. 433 äußerlich scheidenden Sinne unzählige sein ; je nach dem Inhalte, der Struktur der philosophischen Methode, die sich der Betrachter ge- bildet hat, wird diese oder jene Motivreihe an einem Philosophen ins Licht gesetzt werden und eine neue Bedeutung gewinnen. Immer ist es der neue Sinn, wie er in einem systematischen Zusammenhang sich bildet, der den spezifischen Wertgesichtspunkt philosophie- historischer Forschung darstellt — das Systematische allein kann das formende Prinzip auch der Geschichte sein. Dieses Ergebnis wird im folgenden noch genauer begründet werden; zunächst aber muß ein dieser Anschauung diametral ent- gegengesetzter Einwand erledigt werden, zu dem auch wieder die Marburger Philosophiegeschichte, die der Ausgangspunkt dieser Betrachtungen war, Veranlassung gibt. Ist es nicht verkehrt, ein „bestimmtes System" der historischen Betrachtung zu Grunde zu legen ? Führt das nicht umgekehrt notwendig zu einer Verarmung des historisch Gegebenen, indem es einen Zug auf Kosten der anderen an dem Bilde übermäßig hervorhebt, andere ungebührlich in den Hintergrund drängt und so das historische Bild verfälscht? Ist das nicht der Vorzug einer „rein" historisch- philologischen Philo- sophiegeschichte, diese Gefahr zu vermeiden und der Problemge- schichte die eigentliche philosophische Betrachtung der Geschichte zu überlassen, die aus der bedenklichen Not der willkürlichen Aus- wahl eine Tugend macht und bewußt nur eine Reihe, ein Prob- lem in seiner Geschichte verfolgen will, ohne sich um die anderen Züge zu kümmern, die dadurch in den Hintergrund geraten ? Der Gang unserer Untersuchung, die nach dem spezifischen Auswahl- und Formungsprinzip der Philosophiegeschichte fragt, erfordert nicht minder wie dieser Einwand eine Analyse des Begriffs der Interpretation; denn die Aufgabe der philologischen Arbeit der Philosophie — oder der philosophischen der Philologie — kann nur die Erklärung und Deutung des philosophischen Werkes sein. Eine allgemeinere Betrachtung des Verstehens geschriebenen Wortes überhaupt wird zeigen, daß das Verstehen innerhalb der Philo- sophiegeschichte dem Übersetzen seiner Struktur nach nahesteht. Es sei noch einmal an den Anlaß dieses Exkurses erinnert, an die Behauptung, daß der Vorzug rein philologischer Betrachtung in dem Fehlen eines bewußten Systems bestünde. Übersetzen heißt Elemente eines bestimmten Sinnzusammen- hangs durch andere ersetzen, sodaß derselbe Sinnzusammenhang Kantstudien. XXVI. 28 434 Julius Stenzel, gewahrt bleibt1). Von den einfachsten Vorgängen dieser Art ab- gesehen, wird die Schwierigkeit stets damit beginnen, daß die ein- zelnen Sinnträger, die Worte, sich nicht einfach für einander ein- setzen lassen; man wird, um dem Sinne „treu" zu bleiben, „frei" übersetzen müssen. Oft ist die Möglichkeit des wortwörtlichen Übersetzens, die die einzelnen Worte an sich zulassen würden, des- halb nicht vorhanden, weil offenbar dies Wort „hier" etwas anderes bedeute. D. h. schon bei einfachen Gedanken schieben sich die Bedeutungen der Worte zurecht nach dem an die zu deutenden Worte herangebrachten Sinnzusammenhang, der von einem Teil als sicher angenommener „Bedeutungen" geleitet, in dem Bewußt- sein des Deutenden durch eine Antizipation entsteht; es besteht die doppelte Möglichkeit, daß diese ersten Bedeutungen schon falsch waren oder daß diese richtig, aber der Zusammenhang falsch war — es können auch beide Fehler zusammentreffen. Man kann den Fehler merken, wenn an einer anderen Stelle ein Wort in einer sicher ganz anderen Bedeutung erscheint, und diese vorher nicht bedachte Möglichkeit in jenen Zusammenhang einen neuen Sinn bringt — oder wie man sich weitere Complexionen aus- malen mag, psychologische Vorgänge, die natürlich dem, der sich um den Sinn eines Werkes bemüht, im Einzelnen gar nicht bewußt zu werden brauchen. Für jeden Zusammenhang, der sich über die Sphäre unmittelbar selbstverständlicher Gegenstände er- hebt, spielen also beim Übersetzen durchaus nicht ohne weiteres eindeutige Bewußtseinszusammenhänge, die der Deutende heran- bringt, eine wesentliche Rolle. Nun läßt sich jedes Verstehen eines in Worte gefaßten Sinnzusammenhanges nach dem Typus des Übersetzens betrachten, insofern es sich in allen Fällen um Herstellung eines eigenen Bewußtseinszusammenhangs auf Grund eines fremden handelt. Verstehe ich etwas in einer Sprache ohne „übersetzen" zu müssen, in der Muttersprache oder einer mir voll- ständig geläufigen, so wäre dies analog dem Vorgang beim wort- wörtlichen Übersetzen : es entstehen sofort in mir dieselben Bedeu- tungs- und Sinneseinheiten. Lese ich z. B. als Deutscher ein mir zunächst nicht ganz verständliches Goethesches Gedicht, so kann der — ich glaube sehr seltene — Fäll vorliegen, daß ich von vorn- herein die Worte in dem Bedeutungsgehalt Goethes auffasse, nur seine Sinnessynthese nicht vollziehen kann. Meines Erachtens wird 1) Vgl. Honigs wald, Prinzipienfragen der Denkpsychologie, Berlin, Reuther u. Reichardt 1913, 42. Zum Problem der Philosophiegeschichte. 435 aber in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die Bedeutung einzelner Worte eine andere sein als ich zunächst heranbringe — denn darin liegt ein wesentlicher Zug des Dichterischen — , und ich werde diese erst aus dem antizipierten Zusammenhange richtig verstehen; es kam also auf einen dem Übersetzen ganz analogen Vorgang heraus, aus dem Sinn eines antizipierten Zusammenhanges einige mir zunächst unbekannte Bedeutungs träger mit neuer Be- deutung zu erfüllen. Denken wir uns nun einen philosophischen Zusammenhang, etwa in griechischer Sprache die so vieldeutigen Worte Psyche Doxa Episteme, so ist sicher eine Antizipation be- stimmter Art notwendig, um diese Vorstellungen in einem Bewußt- sein zu vereinigen. Daß hier beim Verstehen eines griechischen Philosophen der denkpsychologische Vorgang nur graduell von dem eines in „unserer" Sprache Schreibenden verschieden ist, lehrt wohl die Unmöglichkeit, eine einzelne Seite Kant, Hegel oder Fichte für sich zu interpretieren. Daß auch hier die Erfüllung der ein- zelnen Termini mit einem klaren Inhalt nicht die unwichtigste Aufgabe des Verständnisses ist, daß nur aus der „Ahndung des Ganzen" (Schleiermacher) das Einzelne begriffen werden kann, wird selbstverständlich durch die Tatsache nicht erschüttert, daß das Ganze auch aus den Teilen wieder klarer verständlich wird; es kommt hier ja nur auf das stete Einwirken einer übergreifenden Synthesis an, die aus den Teilen, die zunächst allein ins Bewußtsein treten, niemals abgelesen, sondern nur in einer Eigentätigkeit des Verstehenden erzeugt werden kann. Schon an dieser Stelle könnte durch eine naheliegende Über- legung ein Zugang zu dem philosophischen Problem der Philoso- phiegeschichte gefunden werden. Denn wie anders kann der Sinn gerade eines irgendwie philosophischen Zusammenhanges ergänzt werden als aus dem, was dem Betrachter wahr erscheint, also aus seiner systematischen Einsicht, und es wird für den, der auf dem Standpunkt Cohens steht, sein oben zitiertes Wort sich bereits an dem historisch -philosophischen Einzelurteil bestätigen, daß die „eigene erkenntnistheoretische Einsicht" an der Herausstellung des historischen Sinnes wesentlich beteiligt ist. Doch seien diese Ge- danken ebenso wie die nicht minder naheliegende Auffassung phi- losophischen Verstehens als des Übersetzens eines Sinnes mittels anderer, durch den jeweiligen systematischen Bestand der Philo- sophie bestimmter Begriffe hier zurückgestellt. Denn noch darf die Abwehrstellung gegen die Meinung nicht aufgegeben werden, 28* 436 Julius Sftenzel, es wäre vorteilhafter, ohne ein „System" den Sinn eines Philo- sophen intuitiv zu erfassen, sich in die fremde Gedankenwelt ein- zufühlen oder wie sonst dieser Vorgang bezeichnet werden mag. Da eine Einheitsbeziehung in ihrer Entfaltung, die Ergänzung eines durch irgend welche Umstände Lückenhaften1) in den sel- tensten Fällen mittels diskursiver Erwägungen bewußt erschlossen wird, sondern eher durch einen phantasiemäßigen Akt zu Stande kommt, so kann diese Antizipation der Einheit aus zunächst un- vollständig erfaßten Elementen Intuition genannt werden. Freilich ist die stete Übertragbarkeit dieser Intuition ins Diskursive etwas, das bei wissenschaftlichem Verstehen im Gegensatz zum künst- lerischen stets der Idee nach gefordert ist. Daß dies nun gerade bei philosophischem Verstehen besonders notwendig ist, wird kaum bestritten werden können. Die Rechenschaft über die Bewußt- seinszusammenhänge, so töricht es wäre, sie als Vorbedingung des Verstehens eines Goetheschen Gedichtes hinzustellen — selbst bei sogenannter Ideendichtung, die eben deshalb nicht Begriffs- dichtung heißt — ist doch stets aufgegeben, sobald ich etwas phi- losophisch zu verstehen trachte; mögen auch die tatsächlichen Denk Vorgänge in beiden Fällen zunächst analoge Struktur auf- weisen. Wer deshalb etwa an einer Stelle eines platonischen Dialoges Eidos oder Doxa irgendwie zu „verstehen" behauptet, ist verpflichtet, darüber Rechenschaft zu geben, in welchen Denkzu- sammenhang er es einordnet. Es will ja auch niemand damit sich begnügen zu sagen: „ich fühle genau, was es bedeutet, es ergibt sich ja aus dem Zusammenhang". Und bei jedem der Termini, die etwa in der vorsokratischen Philosophie vorkommen, kompliziert sich die Frage einmal durch die fragmentarische Überlieferung und dann durch die Entfernung vom heutigen Allgemeinbewußtsein. Trotzdem „versteht" jeder die mehrdeutigen Ausdrücke kq%yj xCvqöLg Atom Zweck Grund aus einem systemartigen Einheitszusammen- hang heraus, mag er es wissen oder nicht Je unbefangener er glaubt, kein „System" zu haben, desto größer ist die Gefahr der Mißdeutung, weil er ohne weiteres die Bedeutungen, die in ihm bereitliegen, den zu verstehenden Sinnesträgern substituiert, weil er sich der Mehrdeutigkeit, der Bedeutungsfülle gar nicht be- wußt ist. „Systematisch" nenne ich auch diesen naiven Stand- punkt, weil es unmöglich ist, die Bedeutungen Abstrakt Kon- kret Realität Idealität Ursache Zweck anders zu begreifen als 1) Simmel, Logos VII, 128. Zum Problem der Philosophiegeschichte. 437 aus einem System, das das Verhältnis dieser Begriffe gegenseitig bestimmt. Wer „kein System hat", unterliegt ohne es zu merken unserm empiristischen Zeitbewußtsein; wer keine philosophische Schulung hat, der ist nicht im Stande, sich überhaupt einen anderen Seins begriff vorzustellen, der etwa zwischen den Begriffen Ab- strakt und Konkret völlig neue Beziehungen ermöglicht, als die einer empiristischen Abstraktionslogik; daran hängt aber nicht etwa bloß die Möglichkeit, sich bei Piaton über die übliche Alter- native: Sein als Copula, Sein als Existieren zu erheben, sondern an dem Eingehen auf den sich stets modifizierenden Seinsbegriff hängt doch tatsächlich das Verständnis Kants und Hegels nicht minder wie das des Parmenides oder Aristoteles *). Gerade in dem Begriff, den man am unbewußtesten gebraucht, dem Ist, auf das zu reflektieren einem zuletzt einfällt, ist man am engsten an ein System gebunden, das dem Denken zu Grunde liegt und an dem man alle ihm begegnenden Sinnesbeziehungen mißt und nach ihm sie „versteht". Wieder bedarf eine psychologische Voraus- setzung dieser Erwägungen eines erläuternden Wortes. Es muß ausdrücklich die oben aufgestellte Behauptung, daß jene Ergänzung lückenhafter Bedeutungs zusammenhänge auf dem intuitiv antizi- pierten Sinn des Ganzen beruht, dahin erweitert werden, daß auch so komplizierten psychischen Einheiten, wie es ein allgemeinster Seinsbegriff ist, ein unbewußtes Analogon entsprechen könne, für das wieder wegen seiner Phantasienähe der Ausdruck Intuition gewählt sei, das aber durch seine, wenigstens intendierte, Über- tragbarkeit in ein bewußtes Bedeutungs System vor ähnlichen Ge- bilden ausgezeichnet ist. Es macht hierbei nichts aus, wenn bei dem Versuche, dieses unbewußte System zu diskursiver Bewußt- heit zu erheben, es sich herausstellen sollte, das ihm ein wider- spruchsloser Sinn nicht innewohnt, daß es also den logischen An- sprüchen auf objektive Geltung durchaus nicht genügt. Ja, die Erfahrung gewisser Diskussionen im Leben und in der Wissen- schaft zeigt, daß dieser Prozeß durchaus nicht immer zur Zer- 1) Ein sehr interessantes Beispiel dafür, wie das Verständnis eines Philo- >phen von dem Seinsbegriff abhängt, den man ihm unterlegt, ist die Beurteilung ss aristotelischen Seinsbegriffs durch Natorp ; er will ihm aus bestimmten Gründen einen anderen als den gröbsten empiristischen Seinsbegriff nicht zugestehen, um liesen von dem eigenen — Natorps und Piatons — abzuheben und die Verkennung 'latons durch seinen Schüler recht kraß darzustellen (vgl. Jäger, Studien zur Intstehungsgeschichte der aristotelischen Metaphysik, 73). 438 Julius Stenzel Störung jener unbewußten Einheit zu führen braucht, daß also deren intuitive Form durchaus psychologische Realität besitzt. Es handelt sich bisher um die tatsächlichen Grenzen des Ver- stehens bei bestem Willen des Subjekts, die als psychologische Realitäten aufzuzeigen waren und von den logischen Gebilden der Wahrheit oder des Irrtums, des Geltens oder Nichtgel tens bewußt abgehoben waren. Sobald jedoch von der Frage, ob dem ver- stehenden Subjekt diese oder jene Möglichkeit der Verknüpfung überhaupt „einfallen" kann oder nicht, zu der weiteren fortge- schritten wird, ob die verstehende Verknüpfung den wahren Sinn trifft, so müssen Kriterien zu dem Sinn hinzutreten, die ihn als wahr determinieren können; der mögliche Sinn muß sich als ob- jektiv notwendig darstellen. So streng diese beiden Weisen der Bewußtheit logisch zu scheiden sind, durch die übergreifende Bedeutung des Sinnbegriffs sind beide Weisen soweit parallel zu denken, daß alles, was von Sinnbeziehungen ausgesagt werden kann, auch von dem objektiven Sinn, von der Wahrheit gilt. Wie das irgendwie sinnvolle Ganze von einem Satze bis zu umfassenderen \ Bedeutungszusammenhängen durch im Bewußtsein des Verstehenden | bereitliegende Antizipationen aus den Elementen sich aufbaute, so ist schließlich auch die unter den möglichen Verknüpf ungs weisen als notwendig erweisbare Deutung — korrespondierend der wahren Bedeutung — im wissenschaftlichen Prozeß der Erkenntnis auch als bloßer Sinn möglich, solange die Kriterien der Wahrheit nicht aktuell bewußt sind. Dieses Stadium ist auch nach der erken- nenden Erfassung der Kriterien möglich, ja es wird sogar die Regel sein, daß das wissenschaftliche Bewußtsein, auch ohne actu- aliter die Kriterien gegenwärtig zu haben, aus Antizipationen den wahren Sinn deutend erkennt. Mit anderen Worten, auch für das Zustandekommen, wenn auch nicht für den Gehalt der Wahrheit ist analog dem oben Geschilderten eine Intuition an- zusetzen, die aber in noch viel höherem Grade bereit ist, jeder- zeit in die aktuelle Form der Bewußtheit des Grundes überzugehen als jene früher beschriebenen psychologischen Vorgänge. Das Wesen dieser Intuition ist die stete Bereitschaft in systematische Begrifflichkeit überzugehen; wieweit diese Bereitschaft im beson- ] deren aktualisiert wird und aktualisiert werden kann, das ist eine Frage für sich. Sollte jedenfalls die mit dem Wesen der Wissen- I schaff, aufgegebene Begrifflichkeit, die urteilsmäßige Beziehung auf Kriterien, nicht restlos möglich sein, so käme dieser Intuition Zum Problem der Philosophiegeschichte. 489 freilich eine über das Erkenntnispsychologische hinausreichende, nicht nur sinnvolle, sondern sinn geben de Bedeutung zu. Doch diese Frage bleibt dabin gestellt; zunächst soll die Methode der Philosophiegeschichte betrachtet werden, die durch ausdrückliche Besinnung auf die Kriterien philosophischer Wahrheit die auf- fassenden Organe auszubilden, die antizipierenden Sinneszusammen- hänge zu wirklich systematischer Bewußtheit zu erheben sucht. Ihr, der problemgeschichtlichen Methode, kommt für die Konsti- tuierung des Gegenstandes der Philosophiegeschichte im Sinne hi- storischer Begriffsbildung ein hervorragender Anteil zu; diesen zu bestimmen und abzugrenzen ist die Aufgabe der folgenden Er- örterungen. II. Der Systembegriff, der der Betrachtung zu Grunde gelegt wurde, zeigte sich gerade in seiner formalen Natur bedeutsam für die Geschichte der Philosophie. Philosophie als Wissenschaft ist das System der Probleme: also, könnte man schließen, ist Philo- sophiegeschichte, wenigstens nach ihrer philosophischen Seite we- sentlich Problemgeschichte. Zuerst seien ihre Erscheinungsformen kurz beschrieben. Zwei Arten hat die Erfahrung der Wissen- schaft gezeitigt : Geschichte des Einzelproblems und Geschichte der Problemzusammenhänge. Die Grenze ist fließend, eine Geschichte des Erkenntnisproblems ist eine Geschichte der Philosophie auf der Grundlage eines scharf ausgeprägten Systembegriffs, und sie nähert sich methodisch den Darstellungen der Philosophiegeschichte, die ohne ihr Gebiet nach dieser Seite ausdrücklich zu beschränken, Philosophiegesenichte unter „problemgeschichtliche und systema- tische" Gesichtspunkte stellen. Diese Erscheinung ist in der Sache, dem Wesen der Philosophie tief begründet. Wer sich die Aufgabe stellt, das Problem der Substanz, der Kausalität historisch darzu- stellen, ist stets gehalten, erst das Problem, die Frage, um die es sich handelt, als solche zu explizieren. Jede solche Erörterung weist aber auf das Ganze der Erkenntnis hin; es muß zunächst gegen Nachbarprobleme abgegrenzt, diese selbst aber irgendwie bestimmt werden. Selbstverständlich ist es nicht nötig, explizite jeder derartigen Monographie ein System der Philosophie voraus- zuschicken. Es gibt aber in der heutigen Philosophie wie in den anderen Wissenschaften gewisse festliegende Begriffe, systematische Abbreviaturen, die einen bestimmten sachlichen Bedeutungsinhalt 440 Julius Stenzel, eindeutig repräsentieren. Mit solchen Begriffen, die für den Kun- digen sofort bestimmte systematische Einordnungen vollziehen, muß tatsächlich jedes einzelne Problem in dem System der Prob- leme überhaupt verankert werden, wenn es eindeutig bestimmt sein soll. Erst dann kann die Geschichte eines Problems darge- stellt werden. Wer Problemgeschichte treibt, der will ja gerade nicht das fertige System der Probleme vorführen, sondern eben seine Geschichte, die in ihrem Verlauf alle diese Probleme heraus- bildete, aber gerade dafür ist der Systemgedanke, wie er im Be- wußtsein antizipiert ist, Voraussetzung. Gewiß wird der Zweck einer derartigen Untersuchung sein, an der historischen Betrach- tung, an dem inhaltlichen Reichtum der Lösungen, die in verschie- denem Zusammenhange mit anderen Problemen der eigentlich unter- suchten Frage zu Teil wurden, diese selbst tiefer zu erfassen, den Rahmen der ursprünglichen Themastellung erweiternd zu erfüllen ; doch von dem Rahmen hängt eben der Reichtum dessen, was in die historische Erfahrung überhaupt eingeht, wesentlich ab; die volle systematische Klarheit über die Stelle des Problems im Ganzen der Philosophie, seine Zuordnung und Abgrenzung von den benachbarten Problemen befähigt erst, das Problem in den Verschlingungen zu erkennen, in denen es in der Geschichte auf- tritt, es aus diesen Verdunkelungen herauszulösen, und den Anteil zu bestimmen, den der einzelne Philosoph an der allmählichen Klärung der Sache, an der Entwicklung der Wahrheit beanspruchen kann. Dies zeigt die unersetzliche Bedeutung der Problemge- schichte für das Zustandekommen aller Philosophiege'schichte; in der Problemgeschichte ist der Wert, nach dem aus der Vielfältig- keit alles dessen, was an Material möglicher philosophiegeschicht- licher Forschung in der Geschichte bereitliegt, der spezifische Ge- genstand ausgewählt und geformt wird, unmittelbar sichtbar und und er muß ihr stets gegenwärtig sein, sie muß stets „philoso- phisch" bleiben. Sie stellt lediglich das Verfahren auf höherer Stufe dar, das allem auf irgend einen Sinn gerichteten Verstehen überhaupt eignet : aus antizipierten allgemeineren Zusammenhängen die Elemente der Erfahrung zu einem Ganzen zu fügen, nur daß hier dieser antizipierte Zusammenhang aus der Form deutender Sinneserfassung in die bewußte Form des systematischen Denkens hinübergetreten ist. Demnach ist unzweifelhaft die problemhistorische Einstellung die Voraussetzung aller philosophiegeschichtlichen Forschung und Zum Problem der Philosopkiegeschichte. 441 niemals ist bisher solche zustandegekommen, ohne daß sie in irgend einer Vorform gegenwärtig war. Deshalb ist sie die älteste Form der Philosophiegeschichte; die Ansätze dieser Wissenschaft bei Piaton im Phaidon und Sophistes bemühen sich durchaus um die sachliche Bedeutung eines Problems, im Phaidon um den Begriff der Ursache, im Sophistes um die Einheit oder Mehrheit der Prinzipien. Wo Aristoteles sich um historische Fragen kümmert, ist es das Problem, das den Zusammenhang abgibt, niemals die Individualität eines Philosophen. Freilich war diese Beschränkung der Antike keine selbstgewählte, methodische Einstellung, sondern sie entsprang aus der eigentümlichen Stellung des Altertums zum Historischen und Individuellen überhaupt; denn diese Seiten der Wirklichkeit blieben für das damalige theoretische Bewußtsein im Hintergrunde. Die moderne Problemgeschichte dagegen entspringt dem bewußten Willen, die Wahrheit zu suchen in ihrer geschicht- lichen Entwicklung, als deren Ergebnis das philosophische Bewußt- sein sich fühlt. Gegenüber der in solchen Fragen unbewußt und naiv rationalistischen Antike hat die moderne Philosophie diese Methode herausgebildet aus der Einsicht in das Wesen des philo- sophischen Wahrheitsbegriffes, der keine bequeme Relativierung, keinen Historismus zuläßt, aber die Geschichte als die Erfahrung begreift, ohne die jedes Denken notwendig verarmen muß, an der es sich allererst über seinen eigenen Sinn und Inhalt klar werden und zum Selbstbewußtsein gelangen kann. Doch wie weit kann dieser philosophische Wahrheitsbegriff als Auswahlprinzip den Be- dingungen der Geschichte genügen? Je größer der Anteil angenommen wird, der ihm bei der wert- bestimmten Auslese dessen, was philosophisch in der Geschichte ist, zukommt, desto geringer wird notwendig das, was ohne ihn durch sogenannte rein philologisch-historische Methode an philo- sophischem Gehalt der Geschichte apperzipiert werden kann. Wird von der tatsächlichen inneren Durchdringung historischer, philo- logischer und philosophischer Betrachtungweise, durch die allein auf philosophiehistorischem Gebiete Ergebnisse möglich 'sind, die eben im wissenschaftlichen Sinne zugleich philosophisch und histo- risch sind, abgesehen, wird also die Leistung jeder Methode logisch gesondert betrachtet, so müßte die Problemgeschichte auch das Historische, das sie als G e s c h i c h t e der Probleme notwendig enthält, aus sich erzeugen, da alles, was außerhalb ihrer Me- thode gefunden wird, streng genommen in das Gebiet des Philo- 442 Julius Stenzel, sophischen gar nicht hineinreicht. Kann sie das? Dies ist unter der angenommenen grundsätzlichen Scheidung nun zu untersuchen. Nicht um die tatsächliche wissenschaftliche Arbeit, die sich Prob- lemgeschichte nennt, und deren Ergebnisse handelt es sich dabei, sondern um die Frage, ob nicht in aller problemhistorischen For- schung grundsätzlich das Historische irgendwie mindestens als still- schweigende Voraussetzung gegenwärtig ist. Mit der Feststellung des Wertes, auf den die Auswahl des Historischen bezogen bleibt, ist nämlich noch nicht ohne weiteres der individuelle Charakter des historischen Gegenstandes gegeben, von dem gerade der Unterschied naturwissenschaftlicher und his- torischer Begriffsbildung und der Sinn spezifisch historischer Ent- wicklung abhängt. Doch was kann innerhalb der Problemgeschichte überhaupt als individueller Charakter des Gegenstandes bezeichnet werden? Die umfassende Aufgabe, das Ganze eines individuellen Systems aus seinen gesamten geistigen Wurzeln zu begreifen und den philosophischen Bios darzustellen, sie darf der Problem- geschichte erst garnicht gestellt werden, weil sie ihr grundsätzlich entgegengesetzt ist, indem sie Geschichte der Gedanken, nicht der Denker schreiben will. Aber wenn sie Geschichte der Prob- leme sein will, muß sie diese beziehungsweise ihre Lösungen — eine für die Philosophie der Sache nach unwesentliche Scheidung — in ihrer historischen Entwicklung zeigen; sie muß notwendig Stufen annehmen, und sie hat bisher noch nicht darauf verzichtet, diese an Namen der Philosophen zu knüpfen. Verzichtete sie darauf, würde sie nur Möglichkeiten der Problematik dialektisch ausein- ander entwickeln, ohne sie mit historischen Konkretionen zu ver- binden, so würde sie zwar immer noch philosophische Arbeit leisten, hätte aber aufgehört, Geschichte zu sein. Als solche muß die Problemgeschichte notwendig in Beziehung bleiben mit der Form und dem Grade der Bewußtheit, in der die Probleme in der Ge- schichte in Individuen (auch ganze Epochen sind als solche anzu- sehen) hervorgetreten sind. Der Wahrheitsbegriff der Philosophie, der aus der Idee des Systems der Probleme an die historische Aus- sage herangebracht wird und deren Sinn zu bestimmen geeignet ist, ist grundsätzlich aus sich heraus nicht im Stande, die Klar- heit und Unklarheit, in der ein Problem auf einer geschichtlichen Stufe anzusetzen ist, zu bestimmen. Wie der mögliche Sinn der Aussage eines Philosophen durch die problemgeschichtliche Ein- stellung an der Hand des systematischen Wahrheitsbegriffes eine Zum Problem der Philosophiegeschichte. 443 Determinierung erfuhr, sozusagen auf eine [Koordinate bezogen wurde, so bedarf dieser Sinn nun nach einer anderen Seite einer weiteren D et erminier ung. Dazu müßte die Problemgeschichte grundsätzlich aus der Linie ihrer eigenen Denkbewegung heraus- treten. Auf der ihr spezifisch eigentümlichen Linie bleiben die Möglichkeiten der Klarheit des Problems, wie weit der Philosoph tatsächlich sich der Wahrheit bewußt ist, stets fließend; denn das Hinblicken von einem Philosophen auf den andern, die Verbin- dung zwischen den Philosophen, ist gerade der Nerv dieser Be- trachtungsweise. Je konsequenter der Problemhistoriker den ei- gentlichen Grundgedanken einer Geschichte der Probleme erfaßt, desto klarer ist er sich über diesen Sachverhalt. Denn das Be- wußtsein, daß die eigentlich historische Arbeit im engeren Sinne in einer anderen Einstellung erfolgt, gibt ihm erst die Freiheit, die sachlichen Konsequenzen einer an ihre geschichtliche Bedingt- heit gebundenen Aussage herauszuarbeiten und dadurch auch ihre historischen Folgen verständlich zu machen. In dieser Freiheit, mitzuphilosophieren und den früheren Denker nach- und weiterzu- denken, entsteht erst die eigentümliche Selbstbewegung dieser Ge- schichte, die von der historischen Gegebenheit ausgehend sich doch nicht an sie bindet. Abgesehen von dem hohen didaktischen Wert einer solchen Betrachtungsweise kann auch nur aus dieser Freiheit die rückwirkende historische Wirkung entstehen. Durch schein- bar rücksichtsloses Weiterdenken der Probleme bis zu den äußer- sten, modernsten Konsequenzen ergeben sich oft wieder die über- raschendsten Bezüge auf andere historische Tatsachen, von denen die Betrachtung gar nicht ausgegangen war, die unmittelbar er- schöpfend zu deuten, Schwierigkeiten gemacht hätte1). Die Re- duktion auf die den historischen Bedingungen entsprechende Be- wußtheitsstufe ist nach der Vorarbeit der Problemgeschichte durch- aus möglich. Welches aber ist der Maßstab für die jeweilige Be- wußtheit des Problems, die zweite Koordinate neben der Problem- geschichte, an der die historische Wahrheit der Philosophiege- schichte gemessen werden kann?' 1) Das Buch Hönigswalds über die „Philosophie des Altertums" (München 1917) bietet dafür die merkwürdigsten Beispiele; gerade dort, wo er scheinbar am weitesten geht in der Ausspinnung sachlicher Konsequenzen, in der Urteilslehre der Kyniker, ergeben sich Anknüpfungspunkte an spätplatonische Probleme. Auch Einstellungen, die in der Art ihrer Bewußtheit der antiken Philosophie vollstän- dig fernliegen, können doch wesentliche sachliche Bezüge in ein neues Licht stellen, z. B. die phänomenologisch«'. 444 Julius S t e n z e 1 , III. Die Lösung dieser historischen Aufgabe der Philosophiege- schichte auf dem Wege irgend einer unmittelbaren Erfassung der Aussagen früherer Philosophen in nichtphilosophischen Methoden zu erwarten, ist nach dem Entwickelten ausgeschlossen. Nur aus dem Begriff der Philosophie, aus dem Ganzen ihrer Probleme, nur durch eine Wendung über die Einstellung der Problemgeschichte hinaus kann auch dieses Ziel erreicht werden, wenn es überhaupt im Bereich des Philosophischen liegen soll. Ja es wird hier der Systemgedanke der Philosophie noch in einer anderen Weise als in der Problemgeschichte gegenwärtig sein müssen. Es sei noch einmal von der Grundfrage, dem Verstehen der Aussage eines früheren Philosophen ausgegangen, die Problemge- schichte habe bereits ihre Einordnung der Aussage in einen Pro- blemzusammenhang vollzogen, und es handle sich darum, festzu- stellen, wie weit die Konsequenzen dieser Aussage, die sich aus der systematischen Struktur des Problems ergeben, dem Philo- sophen zum Bewußtsein gekommen sind, wie weit die logische Leistung der Begriffe sich in dem Denker bereits aus der Mög- lichkeit zur Wirklichkeit entwickelt hat. Niemals ist ein anderer Weg für die Beurteilung dieser historischen Wirklichkeit, d. h. Wirksamkeit der Begriffe beschritten worden als der, zu prüfen, ob die Konsequenzen, die ein Problem für uns hat, sich mit an- deren Aussagen des Philosophen vertragen. Widersprechen einige der Folgerungen unzweideutigen Aussagen des Philosophen, so ist anzunehmen, daß sie ihm nicht zu Bewußtsein gekommen sind, wenigstens nicht die Bedeutung gehabt haben, die nach unserer Ansicht ihnen gebührt, sie sind nicht wirksam geworden. Nicht also ist der einzelnen Aussage der gesuchte Grad der Klarheit abzulesen, sondern nur in dem Zusammenhang weiterer Aussagen ist darüber Aufschluß zu gewinnen. An welchen Kriterien wird nun der Widerspruch gemessen? Nur derselbe systematische Wahrheitsbegriff, der die Urteile der Problemgeschichte bestimmt, kann auch diese Beurteilung leiten. Die gegenseitige Vergleichung der Aussagen, die gegenseitige Korrektur ihrer Deutungen weist auf die Idee hin, jenes frühere Bewußtsein in seiner Gesamtheit als ein widerspruchsloses System aufzufassen. Dieses System wird durch Denkschritte erschlossen, die vom Systemgedanken des Ver- stehenden geleitet sind, aber es ist nicht das System dieses Ver- stehenden selbst, es ist ein historisches, d. h. in seiner historischen Zum Problem der Philosophiegeschichte. 445 Konkretion einzigartiges Individuum, ein immanenter Zusammen- hang der Gedanken, der jedem einzelnen bestimmten Sinn gibt, mag das System als solches ausgeführt vorliegen oder nicht. Nun beruht nach dem modernen Systemgedanken der Zusammenhang der Probleme auf ihrer kritischen Sonder ung, wie sie die Ent- wicklung des philosophischen Denkens, d. h. die Aufwicklung ge- bundener Komplexe mit sich gebracht hat. Diese Sonderung aber bestand früher nicht in derselben Weise ; wie wir heute Probleme trennen in erkenntnistheoretische und metaphysische, ethische und ästhetische, so wurden sie früher nicht getrennt; um so weniger, je mehr sich die Betrachtung den Zeiten mythischer „Gebunden- heit" (Dilthey) nähert. Der Sinn der Philosophiegeschichte steht und fällt mit dem Gedanken, daß die Summe der Probleme stets irgendwie gegenwärtig ist; daß aus dieser Summe das Eine oder das Andere sich ans Bewußtsein ringt, aber das Niclrb-Gegen- wärtige auch durch sein Fehlen das Gegenwärtige bestimmt und zu seiner Formung beiträgt. Zum Teil noch in ursprünglicher Verbundenheit tauchen die Probleme empor, hemmen, fördern sich gegenseitig in ihren Konsequenzen, drängen sich in den Vorder- grund, werden durch andere abgelöst — eine unendliche Mannig- faltigkeit von Verbindungen ergibt sich, die aber alle auf einen allgemeineren Systembegriff bezogen werden müssen, wenn sie in unser Bewußtsein eingehen und überhaupt verstanden werden sollen. Eine unerschöpfliche Aufgabe, systematische Möglichkeiten als solche zu begreifen, eröffnet sich unter diesem Gesichtspunkt des Systems, das in der Anordnung und Sonderung der Probleme individuell, in der zu Grunde liegenden Idee der Geisteseinheit und -ganzheit allgemeingültig ist. Die individuellen Systeme1), jedes als Einheit begriffen, d. h. in einem Bewußtsein vereinigt gedacht, stellen dem- nach den Umfang und Inhalt alles dessen dar, was bei den ein- zelnen Philosophen als bewußt anzusetzen ist, sie beantworten demnach auch die Einzelfragen, die die Problemgeschichte offen- lassen mußte. Zu der einen Koordinate der problemgeschichtlichen Entwicklung ergibt sich nun in dem System des jeweiligen Philo- sophen die zweite, an der der Bewußtheitsgrad des einzelnen Prob- 1) Ich wiederhole, daß ich unter System lediglich den Zusammenhang ver- stehe, dessen Teile durch das Ganze bestimmt sind. Ich meine daher, daß jedes Problem Abgrenzung und Bestimmung nur von der Idee eines solchen Systems erhalten kann, ein solches also immer anzusetzen ist, sofern das Problem in sich bestimmt ist. 446 Julius-Stenzel, lems einen festen Maßstab erhält. Zusammengefaßt entsprechen diesen Systemen als der Summe dessen, was den einzelnen Philo- sophen gültig war, ebensoviele Formen von Bewußtheit; denn das ist die Eigenschaft alles Psychischen, daß jeder Teilinhalt jeden anderen modifiziert1). Was so zusammengefaßt der systematische Bewußseinsinhalt eines Philosophen ist, das allein möchte ich seine philosophische Individualität im Sinne der Philosophiegescbichte nennen. IV. Der Sinn dieser neuen, auf historische Konkretion eingestellten Aufgabe der Philosophiegeschichte wird im Einzelnen deutlich werden, wenn ihre doppelte Leistung, die historische und philo- sophische, nun beschrieben werden wird. Daß die Philosophiege- schichte ihren historischen Gegenstand erst damit erhält, ergab bereits die Abgrenzung des Anteils, den die Problemgeschichte an dessen Erzeugung hat. Kraft der problemgeschichtlichen Komponente, ohne die Philosophiegeschichte nicht denkbar ist, wird der Ge- genstand der Philosophiegeschichte überhaupt abgegrenzt aus der Fülle des Historischen als philosophischer; kraft der anderen Wen- dung auf die historische Individualität im Sinne der Einzigkeit erhält die Philosophie g eschichte ihren Gegenstand als historisch 1) Ohne' in eine speziellere Methodik der Philosophiegeschichte, die den Rahmen dieser Abhandlung überschreiten würde, einzutreten, sei ein Punkt kurz berührt. Es liegt nahe, die ganz verschiedene Wirksamkeit und bewußtseins- mäßige Wirklichkeit gewisser Probleme und Konsequenzen auf Werte zurückzu- führen, die in der individuellen Persönlichkeit des Philosophen, an den oder jenen Bereichen der Kultur haften (s. Kynast, Intuitive Erkenntnis, Breslau 1919, 14 ff.). So sicher diese Betrachtungsweise die Einseitigkeiten der Systeme vielleicht schlag- lichtartig zu erhellen geeignet ist, so sicher ist sie doch erst möglich, nachdem durch eine systematische Besinnung das Vorwiegen der einen oder anderen Gedanken- reihe erkannt und durch das Messen an dem Maßstab des beurteilenden Subjekts adäquat beschrieben wurde. Diesen Sachverhalt durch die Beziehung auf eine andere Wertverteilung zu erklären, ist entweder nur eine Wiederholung des durch die Einstellung auf das individuelle System bereits Klargelegten, insofern man jede der Komponenten durch einen spezifischen Wert begleitet sein läßt, oder man muß für die Störung des Gleichgewichts einen besonderen, überwiegenden Wert ansetzen. Dadurch hat man grundsätzlich die Möglichkeit einer philosophischen, d. h. systematischen Erklärung aufgegeben, und gelangt zu einer ganz anderen Betrachtungsweise, einer „Psychologie der Weltanschaungen", wie sie als eine selbständige Aufgabe neben der hier geschilderten denkbar und notwendig ist (vgl. das so betitelte Werk von Jaspers, Berlin, Springer 1919). Zum Problem der Philosophiegeschichte. 447 gültigen. Sei es die einzelne Lehre, die den Beitrag zur Geschichte eines Problems darstellt, sei es das Ganze der jeweiligen Philo- sophie selbst, aus dem heraus dieser Beitrag allein bestimmbar ist, beides muß auf Grund einer derartigen Betrachtung festgelegt werden, muß aus der fließenden Bewegung der Problemgeschichte heraus in seiner spezifischen Bewußtheit fixiert werden. Nicht als ob nun die Problemgeschichte explizit diese andere Einstellung an jedem Punkte ihrer spezifischen Arbeit, bei jeder Stufe ihrer Ent- wicklung vollziehen müßte, aber implizit muß diese die Eigenart jeder einzelnen Problemlösung erst feststellende Idee des indivi- duellen Systems gegenwärtig sein ; entweder muß eine so gerichtete Betrachtung vorausgegangen sein oder sie kann an der als histo- risch vorausgesetzten Aussage jederzeit bestätigend angestellt werden. So erst kann die Problemgeschichte ihrem Entwicklungs- begriff den Charakter der Geschichte geben, wenn die einzelnen Stufen, nicht zu unbestimmten Vorstufen degradiert l), den Doppel- sinn historischer Entwicklung erfüllen sollen, zugleich Eigenwert als Realitäten zu haben und auf einen die Entwicklung bestimmenden Wert, der im systematischen Wahrheitsbegriff beschlossen ist, be- zogen zu werden. Diese Wertbeziehung bedeutet aber, solange die Stufen historischer Einzigartigkeit begriffen werden, keine Ableitung der Geschichte aus einem hinter ihr liegenden meta- physischen Prinzip, das in dialektischer Entwicklung unmittelbar zu erfassen wäre. Die historische Umstellung der systematischen, an den Prob- lemen orientierten Betrachtung auf die Erkenntnis des jeweiligen Systems genügt zwar der Idee nach sich selbst und kann für ihre Methode von außen keine Stütze erhalten, um so weniger, je 1) Anders die Marburger : Piaton und Kant haben nach ihnen tatsächlich im tiefsten Sinne nur das geraeint, was heute im Sinne der Marburger Schule kri- tische Philosophie ist. Daher lernt man kritische Philosophie aus diesen beiden Philosophen am besten kennen, und höchstens kann man zugeben, daß dunkel und verworren die anderen Philosophen alle sich um denselben Gedanken herumbe- wegen, nur immer klarer den wahren Sinn der Philosophie durch ihren Schatten begrenzend. Nicht die Hegeische Thesis und Antithesis, die beide berechtigt sind und zusammen erst die nächste Stufe der Klarheit ausbilden helfen, sondern rätsel- hafte Mißverständnisse, auf individueller Unfähigkeit eines Philosophen beruhend, verdunkeln auf lange Zeit das Licht, das bereits hell aufgeleuchtet haben kann, bis die eine, wahre Methode, endlich wieder entdeckt, die Kontinuität der Ent- wicklung nach der Art eines zu Zeiten unterirdisch fließenden Stromes wieder- herstellt. 448 Julius S t e n z e 1 , stärker in der zu erfassenden Philosophie der Systemgedanke zur Auswirkung gekommen ist. Sie muß sich jedoch nach einer Hilfe umsehen in Fällen, wo das zum Nach- und Mitphilosophieren nötige Material entweder fragmentarisch überliefert ist oder die philoso- phischen, auf ihren Sinn zu deutenden Aussagen in einer unsyste- matischen Form vorliegen. Naheliegende Beispiele bietet für beides die Philosophie des Altertums, doch ist jede sprachliche Einklei- dung mit unsystematischen Elementen notwendig behaftet, und so wenig der Gedanke, die philosophischen Begriffe durch feste Zeichen zu ersetzen, je Aussicht auf Verwirklichung hat, so zeigt doch diese Absicht am besten, wovon die Rede ist : von allem dem, was in jedem philosophischen Werk eben nicht eindeutiges Begriffs- zeichen ist. Die Philosophie als. der Inbegriff des „Geistes", des Kulturbewußtseins steht daher nach Form und Gehalt mit eben dieser Kultur, wie sie in Sprache, Kunst, Sitte, Religion, Recht u. s. w. sich objektiviert hat, in enger Beziehung; aus der lebendigen An- schauung dieser Kultur kann daher dem Bestreben, sich des Kul- turbewußtseins einer Zeit zu bemächtigten, eine wesentliche Klärung und Bestätigung erwachsen. Neben die für die Philo- sophiegeschichte wichtigste Beziehung zwischen den Philosophen, neben den Anteil an - der Klärung der Probleme tritt eine äußere Abhängigkeit, die in der Terminologie sich offenbart *) ; aber durch die Beziehung der Philosophie zu den Einzelwissenschaften ist auch deren Terminologie von Einfluß, um so mehr, je enger noch das Band zwischen den Wissenschaften und der Philosophie ist 2). Frei- lich bleibt der an dem philosophischen Sinn sich orientierenden Philosophie auch hier das letzte Wort, da über die jederzeit mög- lichen, mit dem Gange der begrifflichen Entwicklung unvermeid- lichen Bedeutungsänderungen und -Differenzierungen doch nur die systematische Besinnung Aufschluß geben kann, wie sie oben als das Wesen aller Deutung und Interpretation umrissen wurde (S. 432). Tiefer in den Gehalt der Philosopheme greift die unmittel- bare Wirkung der Sprache selbst ein; in den Worten liegen eine Menge von Bedeutungsverbindxmgen, oft höchst komplizierten Sinneseinheiten vor, deren Einwirkung ein Philosoph um so stärker 1) Wichtige Einstellungen werden durch einen richtig verstandenen Terminus erleichtert; vgl. Riehl, Der philosophische Kritizismus, 2. Aufl., S. 15 über den Sinn „möglicher" Erfahrung. 2) Für die griechische Philosophie ist die Sprache von Mathematik und Medizin von größter Bedeutung gewesen. Zum Problem der Philosophiegeschichte. 449 erfährt, je mehr er aus der eigenen Sprache sich erst eine Termi- nologie aufzubauen sucht, wie es z. B. bei Piaton der Fall ist. Durch das Medium der Sprache fließt der Charakter eines Volkes am unmittelbarsten in die Bildung der philosophischen Begriffe ein, und das Interesse, das die Philosophen von Heraklit an bis Leibniz und Fichte der Sprache entgegenbrachten, ist danach wohlbegründet. Mindestens für die alte Philosophie ist daher die Hilfe der Philologie auch bei der Deutung des philosophischen Sinnes — von den wesentlichsten Vorarbeiten ganz abgesehen — nicht zu entbehren ; zeigt diese die verschiedenen Kulturgebiete in ihrem Zusammenhange, in ihrer ersten Bewußtseinsstufe in Sprache und Mythus, Kunst und Rhetorik, so liegt gerade bei der hier zu Grunde gelegten Auffassung der Philosophie deren historische Arbeit in einer geradlinigen Fortsetzung philologischer Methode, wie dies ja schon die oben versuchte Analyse der Interpretation andeutete. Philosophiegeschichte gerät dadurch, in ein eigentümliches Ver- hältnis zur Kulturgeschichte, das wenigstens an einem Punkte noch berührt sei, der die Selbständigkeit der philosophiegeschichtlichen Aufgabe gegenüber der Kulturgeschichte deutlich zum Ausdruck bringt. Alle Kulturgeschichte stützt sich in erster Linie auf die irgendwie erhaltenen Erzeugnisse der Kultur, auf die Literatur und bildende Kunst, auf alle Beste des früheren Lebens. Wir können diese selbst zum Teil noch betrachten, sie auf uns wirken lassen, so wie sie — scheinbar — auf die Menschen früherer Zeiten gewirkt haben. Kulturgeschichte gewinnt damit eine gewisse Ob- jektivität gegenüber der nur erschlossenen Bewußtheit früherer Philosophen. Tatsächlich ist der Abstand dessen, was wir und was frühere Völker als Wirkung dieser objektiven Zeugnisse empfunden haben, meist viel größer, als man gemeinhin annimmt; das führt dann zu völlig falschen Perspektiven, unter denen ein ganz verzerrtes Bild des früheren Kulturbewußtseins entsteht. So ist z. B. die klassizistische, sentimentale Auffassung des Griechen- tums entstanden; man hat ohne weiteres den Eindruck, den uns heute, wo sich Kunst und Religion völlig getrennt haben, grie- chische Kunstwerke erwecken, dem gleichgesetzt, den die Griechen damals selber hatten; jene Einheit von Kunst und Religion kann jedenfalls ein Grund für die Tatsache sein, daß die Griechen Kunst nur in einem ganz bedingten Sinne überhaupt als Selbstwert empfanden. Der Niederschlag dieser Anschauungen ist die grie- chische Kunstphilosophie, z.B. die eigentümlichen Schwer- Kantstüdicn. XXVI. 29 450 Julius Stenzel, punktsverschiebungen und Motivdurchkreuzungen, die wir in der platonischen Philosophie da, wo von Schönheit gesprochen wird, antreffen; dies zu verstehen, wird immer nicht nur für die Philo- sophie, sondern für das gesamte Kulturbewußtsein der Griechen eine wichtige Aufgabe sein. Aus dieser flüchtigen Andeutung soll nur soviel erhellen, daß in dem Wechselverhältnis zwischen Kultur- und Philosophiege- schichte diese nicht nur nehmend ist ; sie ist gebend auch hier ge- rade durch ihren systematischen Charakter, wie er in diesem letzten Teil auch für die historische Aufgabe der Philosophie in besonderer Methode neben der Problemgeschichte entwickelt wurde. Das Verhältnis beider Methoden zu einander und zum Systemge- danken überhaupt, damit die philosophische Bedeutung auch jener „historischen" Philosophiegeschichte soll nun betrachtet werden. V. Es kann so scheinen, als sollte mit dem Begriff des indivi-- duellen Systems eine neue Art der Betrachtung empfohlen werden, die, insofern sie auf dem Grundbegriff des Systematischen, der Einheit der Probleme beruht, philosophisch — und doch nicht Problemgeschichte — ist. Dagegen wollte die Herausstellung dieses Zuges der philosophiehistorischen Forschung nichts anderes be- deuten als die gedankliche Isolierung einer Einstellung, die neben der problemhistorischen im engeren Sinne mindestens implicite über- all gegenwärtig ist, wo Philosophiegeschichte als Wissenschaft, gleichviel ob von philosophischem oder philologischem Ausgangs- punkt geleistet wurde. Beide Einstellungen, die systemgeschicht- liche und die probkmgeschichtliche, bedingen sich gegenseitig, sind ohne einander unmöglich und ergeben zusammen wie Zettel und Einschlag erst Philosophiegeschichte als eine Einheit, die zwei Gattungsbegriffen, dem philosophischen und historischen genügen kann. Da die Problemgeschichte das tiqoxeqov (pvösi hierbei ist, insofern ohne sie überhaupt von keinem philosophischen Gegen- stand gesprochen werden kann, kann man — das ist Sache der Terminologie — sie im weiteren Sinne alle Philosophiegeschichte umspannen lassen. Ich ziehe es vor, Problemgeschichte in dem strengeren Sinne beizubehalten als die Einstellung, die sie als neues der bloßen Historie gegenüber einführte. Problemgeschichte in dieser grundsätzlichen Isolierung, d. h. auf die Probleme ein- gestellt, muß die verschiedenen Stufen irgendwie fixiert erhalten, sie muß wissen, von welchen historischen Formen des Problems sie Zum Problem der Philosoplriegeschichte. 451 redet, wenn sie seine Geschichte schreibt; jene andere Erforschung der Bewußtheit individueller Systeme aber setzt umgekehrt die gedanklichen Verbindungen voraus, die von der heutigen Problem- form zu der des früheren Philosophen führen. Beide Einstellungen beruhen auf dem System — nicht in dem überwundenen Sinne einer erfüllten Einheit des Wissens, sondern des Fragens, des Wissens um den Umfang und Inhalt dessen, wonach vernünftig gefragt werden kann und muß — woraus sich auch erst der Sinn eines Einzelproblems erfassen läßt, ein Systembegriff, wie er mit dem der Philosophie gegeben und mit ihr unlösbar verknüpft ist. Denselben Systembegriff müssen wir, wenn wir historisch denken, auch jedem wahren Philosophen der Vergangen- heit zubilligen, und die Summe des ihm bewußten geistigen Le- bens als eine Einheit zu begreifen suchen. Nur als Wahrheit ist die Wirklichkeit geistigen Lebens zu erfassen, und nur von Wahrem können wir lernen. Philosophiegeschichte hat nicht zu zeigen, daß unsere Philosophie wohl auch falsch ist, weil die frü- heren es waren, sondern umgekehrt, daß wir nach einer gültigen Ordnung der Probleme suchen dürfen und müssen, weil in der Ge- schichte dieses Streben die belebende Triebkraft alles Denkens war, weil die Wahrheit im sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang der Probleme an jedem großen System sich von einer neuen Seite zeigt. Nicht weil dieses oder jenes Stück zwischen anderen „falschen" iso- liert zufällig die Angleichung an ein modernes Philosophem zu ge- statten scheint, deshalb lohnt sich sein Studium, sondern weil jenes frühere System als Einheit verstanden die Probleme, die auch unser Denken bewegen, in einer eigenartigen, uns neuen Beleuchtung und Abschattung zeigt und so unseren Begriff auch vom einzelnen Pro- blem in problemhistorischer Betrachtung zu klären und zu be- reichern gestattet1). 1) Dies scheint mir der entscheidende Gesichtspunkt für den Wert etwa der Marburger Piatondeutung zu sein: nicht weil sie an Piaton ihren Erkenntnis- begriff heranbringt, sondern weil sie die ihm ohne Zweifel entsprechenden Züge Piatons isoliert, ist ihre Leistung, so Bedeutendes sie für die historische Er- forschung der griechischen Philosophie vollbracht hat, der Idee nach unhistorisch. Das erkenntnistheoretische Motiv ist stark in Piaton, aber es ist ausbalanziert mit eigenartigen, durch neue Theorien wieder neu zu apperzipierenden Bezügen, sodaß ein unendlich reicherer philosophischer Inhalt aus Piaton zu gewinnen ist. Als Geschichte des Erkenntnisproblems gefaßt aber ist die Marburger Forschung ein starker Beweis für die oben stets betonte historische Bedeutung der Problem- geschichte. 29* 452 Julius Stenzel, Die Fülle des Gedachten, die in der Geschichte vorliegt, liegt unserem Denken zu Grunde, ob wir es wissen oder nicht. Be- greifen wir diese Geschichte, so begreifen wir unser Denken, bringen wir andererseits die in unserem Denken ruhenden Probleme, den Inhalt unserer Vernunft, uns in systematischer Einheit zu Be- wußtsein, so schaffen wir uns umgekehrt die Organe, das Denken der früheren, das unser Bewußtsein bestimmen half, in den inneren, sachlichen Beziehungen zu dem unseren zu verstehen. Jeder Fort- schritt in differenzierender Erfassung auf dem einen Gebiete be- deutet einen gleichen auf dem anderen. Darum ist die Arbeit der Philosophiegeschichte so wenig jemals abgeschlossen wie die der Philosophie. Jede Zeit muß die Fülle des Geschichtlichen in ihre Sprache, in diejenigen Begriffe „übersetzen", die ihrer eigenen systematischen Differenzierung entsprechen; aber der alte „Text" wird selbst immer wieder neu, und bisher verborgene Seiten zieht die neue Sprache ans Licht, die der früheren zu erfassen und aus- zudrücken nicht möglich war ; leicht kann die Übertragung in neue Gedanken den Zusammenhang lückenloser darstellen, Widersprüche verschwinden lassen, das Einzelne leichter zum Ganzen fügen. Freilich ist auch der umgekehrte Fall möglich, daß das Verständ- nis für einen Philosophen erschwert ist, daß das wissenschaftliche Bewußtsein einer Zeit kein Verhältnis zu ihm finden kann; die Gründe für beide Erscheinungen zu verstehen, bedeutet für jede Zeit ein wichtiges Stück wissenschaftlicher Selbsterkenntnis. Diese enge Beziehung der Philosophie zu ihrer Geschichte be- deutet aber durchaus keinen unsystematischen Relativismus. Ge- rade durch die Weitung des Horizontes, der nun die Geschichte des Geistes mit in das gegenwärtige Bewußtsein aufzunehmen trachtet, wird die zeitliche Beschränktheit der Gesichtspunkte, der jede Epoche unterworfen ist, überwunden. In jeder Zeit treten gewisse Seiten möglichen Kulturbewußtseins in den Vordergrund und modifizieren so das Gesamtbild geistiger Inhalte. So war es immer, und die verschiedenen Gleichgewichtslagen der Probleme, die in Thesis, Antithesis und Synthesis in viel reicherer Wechsel- wirkung stehen, als daß eine Dialektik im Sinne Hegels die Ent- wicklung je in ein Gesetz fassen könnte, befähigen das rückschau- ende historische Bewußtsein, sich über die Enge seiner Zeit zu erheben und den Gedanken eines Ganzen der Philosophie zu fassen, ein Versuch, der aus dem bloßen Gegenwartsbewußtsein heraus kaum gelingen kann. Mögen auch die großen Schöpfer ihre Arbeit Zum Problem der Philosophiegeschichte. 453 stets mit der Geste beginnen, die Bürde des Geschichtlichen bei ihrem systematischen Geschäft abzuschütteln — die Philosophie ist doch nicht zu einem ewigen, ihren Fortschritt vereitelnden von Vornanfangen verurteilt, denn gerade in der Selbstbesinnung des wirklich schöpferischen Philosophen kommt die Summe des Ge- schichtlichen, dessen Ergebnis er ist, zum reinsten Ausdruck. So ist das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte wesentlich anders als das der anderen Wissenschaften, z. B. der Mathematik zu der ihren. — Gerade wenn die Philosophie das Historische methodisch als Historisches begreift, ist sie vor jedem Historismus gesichert, denn das Historische ist nichts, das irgendwie fertig wäre, es besteht nur für das systematische Bewußtsein; wenn sie andererseits das Systematische richtig versteht, nicht als bald verdorrendes, dem Boden der Geschichte entfremdetes Gewächs, sondern mit seinen historischen Wurzeln, wird sie, anstatt nur ihr eigenes Echo aus der Geschichte zu hören, das Systematische im Historischen rei- nigen und bereichern. Dieses wechselseitige Verhältnis von System und Geschichte lebendig zu erhalten, ist die philosophische Aufgabe der Philosophiegeschichte. In dem hier beschriebenen Sinne ist sie eine methodisch abzugrenzende philosophische Disziplin neben der Problemgeschichte und eine historische neben der Philologie. Die Verwechslungen von „Beschreibungs- mittel" und „Beschreibungsobjekt" in der Einsteinschen speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. Von Oskar Kraus, Professor an der Deutschen Universität Prag. Motto: Denn das Koordinatensystem ist nur Beschreibungs- mittel und hat nichts zu tun mit den zu beschrei- benden Gegenständen. Einstein, Naturwissenschaften 1920, Heft 51. 1. Es gibt Philosophen die den Wahrheitsgehalt einer philo- sophischen Lehre, z. ß. jener Kants, darnach einschätzen, ob sie fähig ist einen tragfähigen Unterbau für die Relativitätstheorie Einsteins abzugeben; so erhaben dünkt sie ihnen über jeden Zweifel und von so umwälzender erkenntnis theoretischer Bedeutung. Demgegenüber erkläre ich es als die Pflicht jeder echten und darum kritischen Philosophie zu prüfen, ob die neu verkündeten umwälzenden Thesen vor den apriorischen Vernunfterkenntnissen, vor den verites de raison stand zu halten vermögen, ob die neue Lehre frei ist von logischen Gebrechen und ob, was in ihr etwa richtig sein mag, zu so unerhörten Folgerungen zwingt? In anderen Abhandlungen, so namentlich in meinem Vortrage „Fiktion und Hypothese in der Einsteinschen Relativitätstheorie" (Annalen der Philosophie IL Bd., 3. (Sonder)heft) habe ich bereits Beiträge zur negativen Beantwortung aller dieser Fragen geliefert. Die folgenden Untersuchungen — obgleich sie unabhängig von jener Abhandlung verständlich sein sollen — sind dazu bestimmt, das dort Gesagte zu ergänzen, indem sie den eingehenden Nach- weis einer Reihe von Fehlschlüssen der neuen Theorie erbringen, die auf der fortlaufenden Verwechslung von Beschreibungsobjekt und Beschreibungsmittel und auf ähnlichen Verwirrungen beruhen. Oskar Kraus, Verwechslungen von Beschreibungsmittel usw. 455 Das Ergebnis ist, daß weder unsere Zeit- noch unsere Raumaxiome im mindesten verändert werden müssen, daß weder die „Rela- tivität der Gleichzeitigkeit" noch die „Krümmung des Raumes" irgend einen Anhaltspunkt in dem empirischem Tatbestande vor- finden, daß die neue Theorie schlechthin untauglich ist, um einen tragfähigen Unterbau für irgend eine der von ihr aufgestellten philosophischen Lehren abzugeben und daß besten Falles gewissen ihrer Teile ein — vielleicht nicht unbedeutender — heuristischer Wert zukommen mag, über den die Erfahrung entscheiden wird1). 2. Einstein geht von einem „Dilemma", einem Widerspruch aus, der zwischen zwei Sätzen bestehe. Den einen dieser Sätze nennt er das „klassische Relativitätsprinzip", den anderen das „Ausbreitungsgesetz des Lichtes im Vacuum". Das klassische Relativitätsprinzip wird von verschiedenen Autoren verschieden formuliert; auch bei Einstein selbst finden sich verschiedene Fassungen. Die eine knüpft an Newton an, der es in den Prin- zipien der Naturphilosophie als Zusatz V zu den Bewegungs- gesetzen ausgesprochen hat. Darnach treten a) innerhalb eines Systems von Körpern, welches mit derselben konstanten Ge- schwindigkeit geradlinig durch den Raum wandert, infolge dieser Bewegung keine Kraftwirkungen auf die Körper dieses Systems auf. Es folgt weiter, b) daß die Kraftwirkungen, welche die Körper dieses Systems auf einander ausüben nnd die sich in Beschleunigungen kundgeben, unabhängig sind von der Ge- schwindigkeit, die dem System als Ganzem zukommt2). Daraus ergibt sich c), daß jene gleichförmige Bewegung des ganzen Sy- stems aus den Bewegungs - Vorgängen innerhalb dieses Körper- spstems nicht erschlossen werden kann. Der sub b) ausgesprochene Satz ist konform dem von Newton ausgesprochenem Gesetze — das später das klassische Relativitätsprinzip genannt wurde. Wir wollen es das Newtonsche Relativitätsgesetz nennen. In 1) Ich verweise zugleich auf die gegnerischen bzw. kritischen Äußerungen von Physikern wie Lorentz, Gehrcke (insb. Kantstudien XIX) und öfter, Lenard über Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation, Leipzig 1921, Abraham, W. Wien, Wiechert, Mie, Weinstein, Dingler, Holst, Jakob, Geißler, Isencrahe, Glaser, Fricke, Reuterdahl u. A. 2) Vgl. Einstein, Gemeinverständl. Darstellung § 5, Freundlich, Die Grund- lagen der Einsteinschen Gravitationstheorie. Mit einem Vorwort von Albert Ein- stein, S. 4 u. 5. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins S. 50 u. v. a. 456 Oskar Krane, der Literatur werden alle drei Formulierungen gleicherweise Relativitätsprinzip geheißen. Es handelt sich hierbei um Natur- gesetze, d. h. wir sollen durch diese Sätze etwas erfahren über ein ausnahmsloses Geschehen in der Natur unter gewissen Umständen. Das sog. Ausbreitungsgesetz des Lichtes besagt, daß das Licht sich im und relativ zum Äther mit der konstanten Ge- schwindigkeit c = 300000 km/See. fortpflanze, wobei die Bewe- gung der Lichtquelle ohne Einfluß sei auf die Lichtgeschwindig- keit. Der Äther wird als „stillstehend" angenommen und die Körper durchdringen ihn frei und lassen ihn bei ihrer Bewegung vollkommen in Ruhe, er nimmt keinen Anteil an ihren Bewegungen. Das Licht, das von einem solchen Körper system ausstrahlt, gehört demnach diesem Körpersystem nicht an. So nach der Lorentzschen Theorie des „ruhenden Äthers u. Das Relativitätsgesetz bezieht sich nun auf solche Körper- gesamtheiten, denen eine gemeinschaftliche Translationsgeschwindig- keit zukommt. Bestehen zwei Systeme, von denen jedes eine, von der des anderen verschiedene und im Ganzen unabhängige, gemeinschaftliche Translationsgeschwindigkeit besitzt, so bezieht sich das Relativitätsgesetz selbstverständlich nur auf die Bewe- gungen innerhalb jedes dieser beiden Systeme. Das Erdsystem, (sofern es während einer genügend kleinen Zeit als geradlinig fortschreitend aufgefaßt werden kann) und das Äthersystem sind zwei solche Systeme. Eine von der Erde ausgehende Lichtaus- breitung ist ein Vorgang, der einem anderen Systeme angehört als jenem, von dem die Lichtquelle getragen wird. Die beiden Systeme üben jedoch gewisse Wirkungen aufeinander aus: man denke an das Licht, von dem Goethe sagt: „von Körpern strömts , die Körper macht es schön , ein Körper hemmts auf seinem Gange". . . . Kann nun auch aus den Vorgängen innerhalb eines jeden der beiden Systeme, gemäß der obigen Folgerung c) aus dem Relativitätsgesetz eine Translation nicht erschlossen werden, so doch aus ihrer Wechselwirkung. Das Michelsonexperiment hätte durch eine Umlagerung der Interferenzstreifen die Bewegung der Erde relativ zum Äther erkennen lassen sollen. Sie blieb aus; so, daß man daraus schließen müßte: entweder gehört der Äther zum selben Systeme, wie die Erde und die auf ihr liegende Licht- quelle, der Äther wird also, wenigstens in gewisser Ausdehnung von der Erde mitgenommen, oder die Wirkung der irdischen Verwechslungen von Beschreibimgsrnittel und Beschreibungsobjekt usw. 457 Lichtquelle auf den Äther ist derart, daß sie die Fortschreitung des Lichtes in ihrer Geschwindigkeit so beeinflußt, wie es* etwa nach einer mechanischen Emissionstheorie der Fall wäre: jedes- falls ergab das Experiment, daß die Erdgeschwindigkeit in die Lichtgeschwindigkeit einzugehen scheint! (Vgl. hierzu „Fiktion nnd Hypothese" Anm. 2 zu S. 361.) Um seine Theorie zu retten, nahm Lorentz an, daß der Arm des Apparates in der Richtung der Erdbewegung sich um einen entsprechenden Betrag (Lorentzkontraktion) verkürze und so der längere Licht weg kompensiert werde. Dadurch wird die Zeit, die das Licht bei verlängertem Wege braucht, der Zeit im Ruhe- zustande angeglichen. — Seine Theorie hatte Lorentz gerettet, aber die ganze Newtonsche Mechanik hierbei verloren : Nach wie vor soll es sich um zwei Systeme handeln, denn der Äther soll von der Erde nicht mitgenommen werden; aber die Licht- geschwindigkeit soll auch nicht von der Geschwindigkeit der Erde, die die Lichtquelle trägt, beeinflußt sein. Die Erdgeschwindigkeit soll sich zur Lichtgeschwindigkeit auf keine Weise hinzufügen. — Die Erklärung durch das Relativitätsgesetz bleibt ausgeschlossen, weil es sich nicht um ein System handelt, aber auch eine sonstige Erklärung nach Newtonschen Gesetzen ist versagt — ja die ganze Newtonsche Mechanik ist gestürzt — denn mit der Annahme, daß der Apparat sich bei gleichförmiger geradliniger Bewegung in der Längsrichtung verkürze, verband Lorentz sogleich das allge- meine Naturgesetz, bei jeglicher derartiger Bewegung eines Körpers, Atoms, Elektrons finde die Lorentzkontraktion statt. Eine „neue Mechanik" hätte an die Stelle der Newtonschen zu treten. Auch das Relativitätsgesetz gilt daher nicht mehr; die Kon- traktion erzeugt lediglich den Schein, als ob es gälte. Die Ur- sache der Kontraktion selbst lag freilich so im Dunkeln, daß Minkowski sie als ein „Geschenk von oben" bezeichnete. — Methodisch bedenklich erscheint vielen hierbei, daß die durch mehr als zwei Jahrhunderte auf unzählige Weise glänzend be- stätigte mechanische Theorie Newtons aufgegeben werden soll, um der Annahme Platz zu machen, die ganze Natur sei darauf angelegt, den Interferenzapparat in so raffinierter Weise zu ver- fälschen, daß der Schein der Gültigkeit der Newtonschen Theorie ganz besonders dort erweckt wird, wo Lorentz ihre Un- gültigkeit entdeckt haben soll. — Denn daran ist kein Zweifel: 458 Oskar Kraus, mögen die Abweichungen noch so gering sein, hat Lorentz Recht, so ist das Newtonsche Gebäude erledigt, und die kleinste Ab- weichung in den Prinzipien nötigt zu vollständigem Umbau aller Folgerungen. Wie immer man über die Wahrscheinlichkeit, ja über die Möglichkeit dieser Hypothese denkt, sie ist jedenfalls der Versuch einer ursächlichen Erklärung des Michelsonexperimentes. 3. Man findet nun nahezu allgemein die Meinung vor, Einstein habe durch den Umsturz unserer Zeitauffassung den Michelson- versuch auf andere Weise aber auch ursächlich erklärt. Einstein hat jedoch — was ich insbesondere gegen Laue be- merke — in der Debatte am 8. Januar 1921 in Prag erklärt, daß seine Theorie „phänomenologisch" sei und einen Verzicht auf „Kausalerklärung" in sich schließe. In der Tat könnte eine ur- sächliche Erklärung des Michelsonexperimentes durch eine neue Theorie über die Zeit nur auf die Weise erfolgen, daß man be- hauptete, analog wie nach Lorentz eine Längenkontraktion des in der Bewegungsrichtung der Erde gelegenen Interferometerarmes, so träte nach Einstein an Stelle dieser Verkürzung eine Dehnung des reellen Zeitablaufes in diesem Arme ein, die quantitativ der Lorentzkontraktion entspräche. Ich sage „Zeit Verlaufes" nicht etwa des „Uhrenganges", denn beim Michelsonexperiment kamen keine Uhren in Verwendung, die gestatten die Zeit an Uhren- zeigern abzulesen. Ich sage ferner, daß selbst wenn man eine solche Hypothese aufstellen wollte, hiermit die Newtonsche Me- chanik und das Relativitätsgesetz im besondern ebenso gestürzt wäre, wie nach Lorentz' Kontraktionslehre. — Das Michelson- experiment würde auch hier nur den Schein erwecken, als ob das Relativitätsgesetz und die Newtonsche Mechanik gewahrt wäre. Das zeitliche Moment an den Körpern wäre es, das sich nun in den Dienst dieser Täuschung stellte. Es könnte keine Rede davon sein, daß Einstein durch „systematisches Festhalten an beiden Gesetzen"1) (Relativitätsgesetz und Gesetz der konstanten Lichtgeschwindigkeit) jenes Dilemma beseitigt habe. — Doch erübrigen sich weitere Erörterungen über derartige Hypo- thesen, nicht nur wegen der ausdrücklichen Erklärung Einsteins, auf Kausalerklärung zu verzichten, sondern vor allem wegen des Inhaltes seiner Theorie, die in nichts anderem, als in einer eigen- 1) „Gemeinverständl. Darst." § 7, S. 13. Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 459 tümlichen Verknüpfung von zeitlichen mit räumlichen Koordinaten (Bestimmungszahlen) besteht. 4. Ich behaupte nun, daß Einstein von einem ganz anderen Dilemma ausgeht als dem eben behandelten zwischen Relativitäts- gesetz und Konstanzgesetz, daß er jedoch dieses quid pro quo nicht bemerkt. Seine Theorie beginnt mit einer Verwechslung. Dies ergibt sich aus Folgendem: Bei der quantitativen For- mulierung der Bewegungsgesetze durch Gleichungen bedient man sich gewisser Gedankengebilde, die man Koordinatensysteme nennt, als Bezugssysteme und zur analytisch geometrischen Darstellung. Neben das Newtonsche Relativitätsgesetz — wonach die Größe der Beschleunigungen, herbeigeführt durch die relativen Kraftwirkungen der Körper, die einem gleichförmig geradlinig transferierten Körpersystem angehören, invariant ist gegenüber dieser Bewegung d. h. unabhängig von der gemeinsamen Trans- lation dieses Systems (oben Satz a) und b)) — tritt nun ein geo- metrisch-mathematisches Hilfsgesetz. „Zur Beschrei- bung der mechanischen Vorgänge" sagt Freundlich a. a. 0. S. 4 „sind alle Bezugssysteme gleichwertig, die geradlinig, gleich- förmig gegeneinander bewegt sind". — Aber so schreibt neuestens Einstein (Naturw. 1920) „das Koordinatensystem ist nur Beschreibungsmittel und hat nichts zu tun mit den zu beschreibenden Gegenständen". Daß also gewisse Beschreibungsmittel äquivalent sind für die Beschreibung der Naturvorgänge, oder daß die Vorgänge und Ge- setze der Mechanik invariant sind gegen sogenannte Galileitrans- formationen (gegen gewisse Veränderungen der „Beschreibungs- mittel") ist zweifellos kein Naturgesetz, sondern ein mathematisches Gesetz, und zwar ein bloßes mathematisches Hilfsgesetz. Es ist daher mit dem Newtonschen Relativitätsgesetz nicht zu vermengen, wird aber meistens und auch von Einstein damit verwechselt. Es belehrt nicht über die Vorgänge in der Natur, die wir be- schreibenwollen, sondern über die Äquivalenz der Beschreibungs- mittel. Es ist daher auch terminologisch von dem Newtonschen Relativitätsgesetz als Koordinaten-Äquivalenz- prinzip zu sondern, um Verwirrungen vorzubeugen. Ich frage Einstein und seine Anhänger, ob sie die Verschiedenheit des Newtonschen Relativitätsgesetzes und des Transformations-Äqui- valenzprinzipes, wie ich sie hier kennzeichne, zugeben oder nicht ? 460 Üskur Kraus, leb behaupte nun, daß das Kewtonsche Relativitätsgesetz (oben § 2 sub a), b) und c) als ein Naturgesetz ausgesprochen ist, das von den zu beschreibenden körperlichen Dingen der transmentalen Körperwelt handelt , während das Transformations - Aquivalenz- prinzip von den geometrisch-mathematischen Beschreibungsmitteln, von den Koordinatensystemen handelt, also kein Naturgesetz for- muliert, sondern nur aussagt, daß an dem Ergebnisse der Rech- nung oder Beschreibung sich bezüglich der Bewegungs - Gesetze nichts ändert, mag man' sich diese oder jene Koordinatensysteme relativ zu einander und dem zu beschreibenden Dinge in gerad- linig gleichförmiger Bewegung begriffen denken. Es ist ein ma- thematisches Hilfsgesetz, das eine Aussage macht über die mathe- matische Formulierung von — Naturgesetzen. 5. Es ergibt sich ferner Folgendes: Gemäß dem Transform ations- Aquivalenzprinzip ändern sich bei der sog. Galileitransformation die Größen der Geschwindigkeiten und Koordinaten. Invariant bleiben die Beschleunigungen. Auf S. 8 der gemeinverständlichen Darstellung führt Einstein dies folgendermaßen aus: „Es fliege ein Rabe geradlinig und gleichförmig — vom Bahn- damm aus beurteilt durch die Luft. Dann ist — *- vom fahrenden Wagen aus beurteilt — die Bewegung des Raben zwar eine Be- wegung von anderer Geschwindigkeit und anderer Richtung, aber sie ist ebenfells geradlinig und gleichförmig. Abstrakt ausgedrückt: Bewegt sich eine Masse m geradlinig und gleichförmig in bezug auf ein Koordinatensystem K, so bewegt sie sich auch geradlinig und gleichförmig in bezug auf ein zweites Koordinatensystem K', falls letzteres in bezug auf K eine gleichförmige Translations- bewegung ausführt". Verallgemeinert formuliert er es S. 9: „Ist K' ein in bezug auf K gleichförmig und drehungsfrei bewegtes Koordinatensystem, so verläuft das Naturgeschehen in bezug auf K' nach denselben allgemeinen Gesetzen wie in bezug auf K." Diese Aussage nennen wir das „Relativitätsprinzip" im engeren Sinne. — Es ist klar, daß dieses „Relativitätsprinzip" nichts anderes als die Gleich- wertigkeit (Äquivalenz) der als Beschreibungs mittel benutzten Koordinatensysteme ausspricht. — Vor allem wichtig ist nun, daß hier die Rechnung für die Geschwindigkeit des Punktes, dessen Bewegung studiert wird, veränderliche Maßzahlen relativ zu den verschieden bewegten Koordinatensystemen ergibt. Hat der Rabe die Geschwindigkeit c und das Koordinatensystem die Geschwindig- Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 461 keit v, so bleibt seine Bewegung zwar geradlinig und gleichförmig, aber ihre Relativ- Gesch. windigkeit ändert sich notwendig ; sie wird = c — v. — Auf Seite 12 a. a. 0. heißt es nun: „Längs des Bahn- dammes werde ein Lichtstrahl gesandt, dessen Scheitel sich nach dem vorigen mit der Geschwindigkeit c relativ zum Bahndamm fortpflanzt. Auf dem Geleise fahre wieder unser Eisenbahnwagen mit der Geschwindigkeit v und zwar in derselben Richtung, in der sich der Lichtstrahl fortpflanzt, aber natürlich viel langsamer. Wir fragen nach der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Licht- strahles relativ zum Wagen, w ist die gesuchte Geschwindigkeit des Lichtes gegen den Wagen, für welche also gilt w = c — v. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtstrahles relativ zum Wagen ergibt sich also kleiner als c". — Wie man sieht, stimmt dieses Beispiel völlig mit dem des Raben überein, es ist nur inso- fern noch vereinfacht, als hier auch die Richtung des Licht- strahles dieselbe bleibt, wie die des Wagens. Gesetzt, der Zug fährt sehr langsam und der Rabe fliege rascher, so erhalten wir auch für die Geschwindigkeit des Raben gegen den Wagen, wenn c die relative Geschwindigkeit des Raben gegen den Bahn- damm ist w = c — v. Es besteht kein Unterschied zwischen den beiden Fällen. Einstein behandelt die Fälle ungleich. Beim Raben (§ 5, S. 8) betont er die Übereinstimmung; mit dem Relativitäts- prinzip (unserem Aquivalenzprinzip) — bei dem Lichte schreibt er: „das Ergebnis (w = c — v) verstößt gegen das im § 5 dar- gelegte Relativitätsprinzip. — Das Gesetz der Lichtausbreitung müßte nämlich nach dem Relativitätsprinzip wie jedes andere Naturgesetz für den Eisenbahnwagen als Bezugskörper gleich lauten wie für das Geleise als Bezugskörper; das erscheint nach unserer Betrachtung unmöglich. Wenn sich jeder Lichtstrahl in bezug auf den Damm mit der Geschwindigkeit c fortpflanzt, so scheint deshalb das Lichtausbreitungsgesetz in bezug auf den Wagen ein anderes sein zu müssen (c — v) im Widerspruch mit dem Relativitätsprinzip". Ich .behaupte nun, und ersuche um Widerlegung, daß eine Begriffsverwechslung Einstein und mit ihm die zahlreichen physikalischen und philosophischen Verfechter seiner Lehre und erst recht das Laienpublikum der ganzen Welt perplex gemacht hat. — Ich frage: sind nach dem „Relativitätsprinzipe" d. h. nach dem „ Koordinaten- Aquivalenzprinzipe" Relativ- Geschwindigkeiten 462 Oflka r K ri as, bewegter Dinge — gleichgültig ob Raben oder Lichtpunkte - invariant oder nicht? Kein Zweifel, sie sind nicht invariant! Darin besteht ihr Wesen. Das ist es ja gerade, was das „Relativitätsprinzip" (= Aqui- valenzprinzip) verlangt: invariant bleiben die Beschleunigungen, invariant bleibt das Trägheitsgesetz, nicht die Geschwindigkeit! („die Bewegung des Raben bleibt geradlinig und gleichförmig aber von anderer Geschwindigkeit und eventuell anderer Rich- tung" ! ! § 5). — Wie also kann Einstein hier von einem Widerspruch, einem Dilemma zwischen dem Gesetze der Lichtausbreitung und dem Relativitätsprinzip (= Aquivalenzprinzip) sprechen? Er und seine Anhänger sind das Opfer einer Begriffsverwechslung. Die Verwirrung besteht in folgendem: 1. glauben Einstein und seine Anbänger von dem Newtonschen Relativitäts- gesetze zu sprechen, wonach die Beschleunigungen, welche die Kraftwirkungen der Körper aufeinander ausüben, unabhängig sind von der gleichförmigen Translations - Geschwindigkeit , die dem Körpersystem als Ganzem zukommt, sprechen aber in Wahrheit von dem Koordinaten- Aquivalenzprinzip , das nicht von diesen Körpern, sondern von dem „BeschreibungsmitteF handelt und gewisse dieser Beschreibungsmittel (nämlich geradlinig und gleichförmig gegen einander bewegte Koordinatensysteme, die stets Gedankengebilde sind) als gleichwertig für die Zwecke der Beschreibung erklärt, so daß Beschleunigungen und geradlinig gleichförmige Bewegungen als solche, d. h. die Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit invariant bleiben gegenüber diesen Beschreibungs- mitteln. 2. Die Äquivalenz dieser Beschreibungsmittel Jbesteht nur gegenüber den Beschleunigungen und den Newtonschen Ge- setzen, die nur von Beschleunigungen handeln, nicht aber besteht sie gegenüber den Relativ - Geschwindigkeiten. Einstein aber fordert von der Lichtgeschwindigkeit, daß sie relativ zu jenen Koordinatenbewegungen eine Invariante sei. Diese Forderung widerspricht dem Koordinaten-Aquivalenz- prinzip, das er „Relativitätsprinzip" nennt. Hier haben wir nun das „Dilemma" — in ganz neuer Gestalt: einerseits nämlich soll das Relativitätsprinzip (d. h. Koordinaten- Aquivalenzprinzip) gelten und somit den gleichförmig geradlinig bewegt gedachten Koor- dinaten gegenüber zwar die Beschleunigungen invariant, die Re- Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 463 lativgeschwindigkeiten aber — selbstverständlich — variant sein, andererseits soll die Geschwindigkeit des Lichtes relativ zu jedem geradlinig bewegten Koordinatensystem invariant = c sein! Dieses Dilemma ist kein scheinbarer, sondern ein wirklicher Widerspruch. Es liegt im Begriffe der Relativgeschwindigkeit, daß sie relativ zu verschieden bewegten Koordinatensystemen ver- schieden ist. Aber dieses Dilemma ist von Einstein ge- s chaf fen. Sprach man als Gesetz aus, daß die Lichtgeschwindigkeit konstant = c sei, so war gemeint, sie sei konstant im und relativ zum Äther. Hiermit ist nicht nur vereinbar, daß sie relativ zu einem Koordinatensystem, das relativ zum Äther bewegt ist oder bewegt gedacht wird, eine andere Relativgeschwindigkeit aufweist, sondern dies ist auch so selbstverständlich, daß hierüber kein Wort verloren werden dürfte, würde die neu entstandene Verwirrung nicht hierzu nötigen. Ein Widerspruch zwischen dem richtig for- mulierten Konstanzgesetz und dem richtig formulierten Äqui- valenzprinzip ist also gar nicht vorhanden. Aber Einstein formu- liert vorerst das Konstanzprinzip unrichtig. Er anerkennt einer- seits, daß die Relativgeschwindigkeit eines grd. gl. transferierten Beweglichen relativ zu ebensolchen Koordinatensystemen variant sein muß, z.B. des Raben, er leugnet gleichwohl diese Varianz bei der Geschwindigkeit des Lichtes relativ zu solchen Koor- dinatensystemen, indem er sonderbarerweise das Gesetz, die Lichtausbreitung erfolge mit der Geschwindig- keit = c, nicht auf den Äther beziehen will, relativ zu dem es ausgesprochen ist, sondern relativ zu jedem beliebigen geradlinig und gleichförmig be- wegten Koordinatensystem, was sich auf die Beschrei- bungsobjekte bezieht und eine mathematische und physikalische Widersinnigkeit einschließt. Einstein behauptet daher einerseits : , das „Relativitätsprinzip" d. i. das Äquivalenzprinzip,- in welchem die Varianz der Relativgeschwindigkeit jeglicher Translations- bewegung enthalten ist, andererseits ein (von ihm erfundenes) Konstanzprinzip des Lichtes, wonach diese Translationsgeschwindig- keit invariant sein soll. 6. Bevor wir weitergehen, vergleichen wir die beiden Dilemmen sub § 2 und sub § 5. Wir bezeichnen sie als I und II. Das Dilemma (I), das Lorentz beschäftigte, war das zwischen Newtonschem Relativitätsgesetz und dem Ausbreitungsgesetz des 464 Oskar Kraus, Lichtes unter Zugrundelegung der Theorie des ruhenden Äthers und des Mangels eines Einflusses der Bewegung der Lichtquelle auf die Lichtgeschwindigkeit. — Lorentz erkannte die Unverein- barkeit beider Sätze und gab das Relativitätsgesetz auf. — Die Lorentzkontraktion stürzt die alte Mechanik. — Eine reelle Zeit- dehnung würde — wenn sie nicht apriori absurd wäre — dasselbe leisten. Es handelt sich hierbei um den Versuch einer Kausal- erklärung des Michelsonexperimentes. Das Dilemma Einsteins (II) hat hiermit nichts mehr zu tun. Nicht das Newtonsche Relativitätsgesetz, das von den Be- wegungsvorgängen der physischen Dinge handelt, sondern das Aquivalenzprinzip der Galilei- Transformationen, das sich auf die Beschreibungsmittel jener Vorgänge bezieht, ist der eine Satz, und der andere ihm widersprechende ist jener, der die Invarianz der Varianten Relativgeschwindigkeit des Lichtes gegenüber diesen als Beschreibungsmittel dienenden geradlinig, gleichförmig trans- feriert gedachten Koordinatensystemen behauptet. — Dieses Dilemma (II), welches meist mit dem Dilemma (I) ver- wechselt wird, behauptet er (§ 7 S. 13 der gemeinverstdl. Darst.) durch systematisches Festhalten anbeiden Prinzipien (1. Relativitätsprinzip = Koordinatenäquivalenzprinzip und 2. Kon- stanzprinzip = Invarianz der Relativgeschwindigkeit des Lichtes) als scheinbar d. h. nicht vorhanden nachzuweisen. Dieser Nachweis ist hoffnungslos. Seine eigenen Anhänger bekennen das. So hat z. B. schon Laue (Die Relativitätstheorie, 4. Auflage, S. 19) durch Fett- und Sperrdruck hervorgehoben, „daß es nur ein Relativi- tätsprinzip in der ganzen Physik geben könne, wenn es diesen Namen wirklich verdienen soll" dieses eine sei aber eben nicht das der klassischen Mechanik entsprechende „Galilei sehe u Koordinaten- Aquivalenzprinzip. Dieses ist vielmehr geopfert! — Ganz analog, wie Lorentz bei seiner Kausal erklärung durch Längenkontraktion die Newtonsche Mechanik geopfert hat, ganz analog, wie bei einer Kausalerklärung durch reelle Zeitdehnung die klassische Mechanik und das Relativitätsgesetz aufgegeben wäre, ganz analog ist die „der klassischen Mechanik entsprechende Beschreibungs weise" vermittels der Regel der Galileitransforma- tionen preisgegeben, wenn die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber Koordinatentransformationen „postuliert" wird. — Keine der 11 Auflagen der Einsteinschen „gemeinverständlichen Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 465 Darstellung" bat diese unrichtige und verwirrende Behauptung Einsteins, die außerdem gesperrt gedruckt ist, richtig gestellt. 7. Ich behaupte ferner: Im klassischen Aquivalenzprinzip (klass. Relativitätsprinzip genannt) ist die Varianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber den geradlinig gleichförmig transferiert gedachten Koordinaten- systemen eingeschlossen, wobei jedoch bisher allgemein stillschwei- gend die Voraussetzung als selbstverständlich zugrunde ge- legt wurde, daß die Maßeinheiten der benutzten Beschreibungs- mittel als unveränderlich angenommen werden müßten. Will einer daher das klassische Aquivalenz- prinzip aufr,echt erhalten, so darf er andieserVor- aussetzung nicht rütteln. Unter Auf rech terhaltung dieser Voraussetzung ist die Invarianz der Licht- geschwindigkeit gegenüber einer solchen Koordinatenge- schwindigkeitsänderung ein unaustilgbarer Widerspruch. Er ist durch nichts zu beseitigen. — Was aber tut Einstein ! ? Er geht daran, diesen Widerspruch unter „systematischemFesthalten an beiden Prinzi- pien" aufzuheben, indem er die Voraussetzung beseitigt auf Grund deren die Varianz der Lichtgeschwindigkeit einzig und allein behauptet wurde, nämlich die Unveränderlichkeit der Maß- einheiten der benutzten Beschreibungsmittel! An Stelle dieser selbstverständlichen Voraussetzung führt er eine andere ein, nämlich die Abhängigkeit der Maßeinheiten für Zeit und Raum vom Bewegungszustand der betreffenden Beschrei- bungsmittel ! Hierbei nennt er jene selbstverständliche Voraussetzung, die er verwirft „Hypothese" (§11 S. 20 der gemeinvefstdl. Darst.). Unter dieser abgeänderten Voraussetzung ist es ohne weiters mög- lich die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber diesen, im Verhältnis zur Geschwindigkeit verkürzt gedachten, Koordinaten herzustellen. Aber, so behaupte ich, von einer Aufweisung jenes Widerspruches als eines scheinbaren kann nicht die Rede sein, und das Fallenlassen jener Voraussetzung verändert den Begriff der Maßeinheit von Grund aus. Nachdem also Einstein erstens das Relativitätsgesetz Newtons von dem auf die Beschreibungsmittel sich beziehenden Koordinaten aquivalenzprinzip nicht genügend ge- schieden hat, behauptet er zweitens, dieses Aquivalenzprinzip, das er auch „klassisches Relativitätsprinzip" nennt, und das nach allen Kantstudien. XXVT. 80 466 Oskar Kraus, Voraussetzungen die Varianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber den transferiert gedachten Koordinaten fordert, mit der Invarianz der Lichtgeschwindigkeit relativ zu diesen Koordinaten vereinbar machen zu können, springt aber von dieser Aufgabe, ohne es zu merken und merken zu lassen dadurch ab, daß er die wesent- lichste Voraussetzung dieser Varianz fallen läßt: die Unveränderlichkeit der Maßeinheiten bei jener gedachten Ko- ordinatenverschiebung ! Dadurch verschiebt sich das ganze Problem. Die vollständig neue Aufgabe formuliert Einstein wiederholt im § 11 der „gemeinverständlichen Darstellung" : „Ist eine Relation zwischen Ort und Zeit der einzelnen Er- eignisse in bezug auf beide Bezugskörper denkbar, derart, daß jeder Lichtstrahl relativ zum Bahndamm und relativ zum Zug die Ausbreitungsgeschwindigkeit c besitzt?" und weiter S. 21 „Unser Problem (!) lautet in exakter Formulierung offenbar folgender- maßen : Wie groß sind die Werte x', y\ z\ t', eines Ereignisses in bezug auf K'f wenn die Größen x, y, z, t, in bezug auf K gegeben sind?" Hiermit ist das Problem der widerspruchslosen Vereinigung von klassischem Relativitätsprinzip = Äquivalenzprinzip und In- varianzprinzip aufgegeben, ja als unmöglich zu lösen zugestanden, denn das Newton- Galileische Koordinatenäquivalenzprinzip (klassi- sches „Relativitätsprinzip" genannt) behauptet die Äquivalenz, Gleichwertigkeit im Sinne der gleichen Brauchbarkeit gegenein- ander gleichförmig geradlinig bewegt gedachter Koordinatensysteme zur Beschreibung der mechanischen Vorgänge, behauptet die In- varianz der Beschleunigungsgesetze und insbesondere des Trägheits- gesetzes jenen Verschiebungen gegenüber, die sich in der soge- nannten Galileitransformation ausspricht, und was das notwendige Korrelat dieser Aussage ist : es behauptet die Varianz der Relativ- geschwindigkeiten aller Bewegungsvorgänge — auch des Lichtes — gegenüber diesen Koordinatenverschiebungen, stets unter Voraus- setzung unveränderlicher Maßeinheiten. Die Galileitransformation ist ein mathematischer Hilfssatz von leicht faßbarer Evidenz. Einstein „dreht" wie Born (Physik. Zeitschrift XVII. 1916, S. 53) richtig bemerkt „den Sachverhalt um": er fordert die In- varianz einer geradlinig-gleichförmigen Relativgeschwindigkeit — in deren Begriffe als Relativbewegung es liegt variant zu sein — nämlich die Invarianz der Geschwindigkeit des Lichtes den Koordinaten gegenüber, die zu ihrer Beschreibung zu dienen haben — mögen diese Koordinatensysteme mit beliebiger gleich- Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 467 förmiger Geschwindigkeit gegeneinander verschoben gedacht werden — und fragt nach den Veränderungen, die sich rechnerisch aus dieser verlangten Invarianz für die Koordinatenmaßzahlen ergeben. 8. Die Antwort ist in den sogenannten „Lorentztransforma- tionen" enthalten. Die Galileitransformation beantwortet folgende Frage : gesetzt die Geschwindigkeit eines Beweglichen, dessen Be- wegung mit Hilfe von Koordinaten beschrieben wird, beziehe man zuerst auf das galileische Koordinatensystem K und sodann auf ein relativ zu jenem in der Richtung der x- Achse geradlinig und gleichförmig verschobenes K\ welches ist die Rechnungsregel oder die Relation, nach welcher sich die so verändert zu beziehende Geschwindigkeit ändert? Hierbei ist die Unveränderlichkeit der Maßeinheiten als selbstverständlich vorausgesetzt. Eine fundamental verschiedene Frage beantwortet die „Lorentz- transformation". Gesetzt 1. die Geschwindigkeit eines Beweg- lichen, dessen Bewegung mit Hilfe von Koordinaten „beschrieben" wird, beziehe man zuerst auf ein galileisches Koordinatensystem K und sodann auf ein relativ zu jenem in der Richtung der x- Achse geradlinig und gleichförmig verschobenes K', und gesetzt 2. es werde gefordert, daß die Geschwindigkeit des Beweglichen Telativ zu den Koordinatensystemen als invariant „beschrieben" werden solle, welchen quantitativen Veränderungen müssen die Maßeinheiten der als Beschreibungsmittel dienenden Koordinaten unterzogen werden?1) Die Antwort auf die soeben formulierte Frage ist es, die Ein- stein sucht und erteilt. Im § 14 faßt er den Gedankengang fol^ gendermaßen zusammen: „Die Erfahrung hat zu der Überzeugung geführt, daß einerseits das Relativitätsprinzip (im engeren Sinne) gelte und daß andererseits die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes im Vacuum gleich einer Konstanten c zu setzen sei. Durch die Vereinigung dieser beiden Postulate ergab sich das Trans- formationsgesetz für die rechtwinkeligen Koordinaten x, y, #, und 1) Die vorstehenden Ausführungen stützen sich größten Teiles auf die ge- meinverständliche Darstellung, die „eine möglichst exakte Einsicht" in die Relati- vitätstheorie vermitteln will. Doch ist es vielleicht nicht überflüssig zu bemerken, daß nicht nur die „gemeinverständliche Darstellung", sondern auch die Abhand- lung aus dem Jahre 1905 (Zur Elektrodynamik bewegter Körper) und spätere Aufsätze dieselhen Irrtümer enthalten. Auch dort glauht Einstein sich auf beide Prinzipien zu stützen, auf das Relativitätsprinzip und Konstanzprinzip, ohne die Verwechslungen zu merken, denen er erliegt. 30* 468 Oskar Kraus, die Zeit t der Ereignisse, welche das Natur geschehen zusammen- setzen und zwar ergab sich nicht die Galileitransformation sondern die Lorentztransformation". — Das was Einstein „Relativitätsprinzip" nennt ist jedoch nichts anderes als das S. 9. § 5 formulierte rein mathematische Hilfs- prinzip der Koordinatenäquivalenz — bei vorausgesetzter Unver- änderlichkeit der Maßeinheiten, und dieses ist, wie wir gesehen haben, gerade durch die Verwendung der Lorentztransformation geopfert — es kann „nur ein Relativitätsprinzip" geben, und dieses, sagt Laue, ist das der Lorentztransformation entsprechende. Und das sogenannte „Ausbreitungsgesetz des Lichtes" ist aber- mals nicht der bekannte als Naturgesetz angesehene Satz, der dem Lichte die konstante Geschwindigkeit = c relativ zum Äther zu- schreibt, sondern nichts anderes als das Postulat einer Invarianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber den Beschreibungsmitteln, das nur durch entsprechende — dem charakterisierten „Relativitäts- prinzipe" ( Aquivalenzprinzipe ) widersprechende Voraussetzungen ermöglicht wird. Ungeachtet dieses Sachverhaltes spricht Einstein von der Aufrechterhaltung beider Prinzipien und von Bedingungen, welche die Relativitätstheorie den Naturgesetzen vorschreibt! 9. Doch weiter : Niemand kann es einem Menschen verwehren, sich vorzustellen, daß die Beschreibungsmittel, die fingierten Ko- ordinaten — und zwar Raum und Zeitkoordinaten — durch Maß- stäbe und Uhren ersetzt wären. Man kann sich weiter denken, daß jene Maßstäbe und Uhren eben denjenigen Veränderungen unterworfen seien, denen eben die Beschreibungsmittel unterworfen werden müssen, um das postulierte Resultat der Invarianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber diesen Beschreibungsinstrumenten zu erhalten. — Dieses Gedankenspiel ist unschädlich, wofern man nur nicht wähnt, der Natur und den Naturgesetzen hiermit etwas „vorgeschrieben", oder selbst ein Naturgesetz gefunden zu haben. — Einstein hat jedoch auch diesen Schritt gewagt. — Ja! die Maßstäbe und Uhren müssen sich zu diesen durch die Lorentz- transformation vorgeschriebenen Veränderungen ihrer Einheiten bequemen. Jener gedankliche Vorgang, der nötig ist, um die In- varianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber den Beschreibungs- mitteln herzustellen, jene gedankliche Veränderung, die sich die Maßeinheiten gefallen lassen müssen, um jenes Postulat zu er- füllen, sie wird durch einen Sprung von Fiktion zur Hypothese, zur transmentalen Realität. — So gelangt Einstein von Newtons Verwechslungen von Besclireibungsrnittel und Beschreibungsobjekt usw. 469 Relativitätsgesetz, das von den Naturdingen handelt, zu einer Aussage über bloße gedankliche Beschreibungsmittel, und zu einer Aussage über Meßinstrumente, die einwandfrei wäre, sofern sie nicht mehr einschlösse als die Regel, nach welcher sich Meßinstrumente verändern müßten, um ein gewolltes „Meßresultat" (Invarianz der Lichtgeschwindigkeit ihnen gegenüber) zu ergeben; aber damit nicht genug, fordert er nun von den Meßinstrumenten, daß sie sich tatsächlich jenen Regeln gemäß verändern! Daß hierbei der Be- griff des Meßapparates und der Maßeinheit von Grund aus zerstört wird, wird von den Relativisten nicht als störend empfunden. — Und diese Aussage über untauglich gemachte Beschreibungs- und „Meß"-mittel wird je nach dem zu einer Aussage über das zu be- schreibende und zu messende gemacht und von den Vorgängen optischer, elektrischer und schließlich mechanischer Art behauptet, daß sie tatsächlich diesen Rechnungen gemäß verlaufen; so wird insbesondere die vermöge variabler Beschreibungsmittel errechnete Invarianz der Lichtgeschwindigkeit in ein unmögliches Kon- stanzgesetz umgedeutet. Hiermit ist die herrschende physikali- sche und philosophische Deutung des Einsteinschen Rechenverfahrens der speziellen Relativitätstheorie Schritt für Schritt als verfehlt nachgewiesen. 10. Es liegt in der „speziellen Relativitätstheorie" eingeschlossen, daß die Zeitkoordinate, die bisher stets als eine von dem Raum- koordinatensystem unabhängige Variable betrachtet wurde, nun diesen ihren Charakter verliert. Die Minkowskitheorie hat diesen Zusammenhang in einer symbolisch-geometrischen Darstellung be- quem oder „elegant" zum Ausdrucke gebracht und dadurch den rein mathematischen Charakter der speziellen Relativitätstheorie noch auffälliger gemacht. Der Wahn, der eine Zeit lang die Geister soweit gebracht hatte, daß sie ernstlich die Zeit als vierte Raumdimension auffassen wollten, ist heute bereits zerstoben. Selbst Laue nennt die Minkowskitheorie nur ein Darstellungsmittel analytischer Relationen zwischen vier Variablen. Ich zweifle ebensowenig wie Gehrcke, Lenard u. a., daß die „Relativität der Gleichzeitigkeit" über kurz oder lang dasselbe Schicksal ereilen wird, sofern nämlich unter dieser mehr verstanden sein soll, als jene eben geschilderte Veränderung der Zeitmaße, die man sich einge- führt denken muß, um der Forderung der Invarianz der Licht- geschwindigkeit rechnungsmäßig zu genügen; so lange man sich diese Veränderungen auf die gedachte Zeitkoordinate beschränkt 470 Oskar Kraus, denkt, ist diese Fiktion ebenso unschädlich, wie wenn man Uhren fingiert, welche die geforderten Änderungen erleiden, und sich hierbei seiner Fiktion bewußt bleibt. Die Lorentzsche „Ortszeit" z. B. war sich ihres fiktiven Charakters bewußt. In dem Augen- blicke aber, wo man von den wirklichen Uhren und Stäben der- gleichen Veränderungen behauptet, ist der Sprung von Fiktion zur Hypothese vollbracht, den ich in meinem Hallenser Vortrage (Sonderheft der Annalen der Philosophie, Bd. II) genügend gekenn- zeichnet habe. Vollends aller unmittelbaren Evidenz widersprechend und ohne den geringsten Anhaltspunkt in der Erfahrung, ist der weitere Schritt, den die Einsteinphilosophie wagt, Uhrenangaben und Uhrenabläufe als „Zeit" schlechthin anzusprechen. Die Kom- petenzüberschreitung des einseitigen Rechen- und Meßverstandes ist hier so offenkundig, daß ich, trotzdem Philosophen wie Schlick auch hier Gefolgschaft leisten, an dieser Stelle diese ^stocßaetg slg iklXo yivog erörtern zu müssen, mich enthoben glaube. Habe ich oben nachgewiesen, daß es unzulässig ist, gedachte Koordinaten in wirkliche Uhren zu verwandeln, so brauche ich nicht nachzuweisen, daß man Gangarten und Zeigerstellungen fingierter oder wirklicher Uhren nicht für wirkliche Zeit nehmen darf. 11. Es entfallen selbstverständlich alle physikalischen Folge- rungen aus jener mathematisch hergestellten Invarianz. Das habe ich bereits hinsichtlich des Michelsonexperimentes an anderem Orte nachgewiesen. Gesetzt es sei dieses Experiment einwandfrei; so hat sich, wie gezeigt, prima facie nichts anderes ergeben, als daß die Erdgeschwindigkeit sich zu der Lichtgeschwindigkeit addiere — hätte doch sonst nicht Lorentz sagen können, durch eine Emis- sionstheorie wäre es an und für sich vollkommen erklärbar — ebenso erklärbar wäre es — an und für sich — durch die Mit- nahme des Äthers. Werden diese Erklärungsmöglichkeiten als mit anderen Erfahrungen nicht stimmend zurückgewiesen, so folgt daß irgendwo in der physikalischen Theorie ein Fehler oder eine Lücke steckt. Es ist aber klar, daß die Einsteinsche Relativitätstheorie eine Erklärung des Versuches auf keine Weise liefern würde, selbst wenn man — posito sed non concesso — sie zuließe. Um dies einzusehen, vergegenwärtige man sich doch nur, daß beim Michelsonexperimente weder Zeitkoordinaten beobachtet wurden, deren Maßeinheiten hätten Veränderungen erleiden können, noch etwa Uhren an dem Apparate aufgestellt waren, an denen man hätte Zeigerstellungen ablesen können. Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 471 Sodann aber erwäge man doch, daß die Lorentzkontraktion, die angeblich „aus der Einsteintheorie sich ergibt", wie ich eben- falls bereits in „Fiktion und Hypothese" gezeigt habe, in der Ein- steinschen Theorie eine „Putativkontraktion" sein muß, (Witte) die nicht primär an dem bewegten Koordinatensystem K! auf- treten darf, sondern an dem ruhenden (vgl. Fr. Adler). Mit an- deren Worten: durch Verknüpfung der Längenmessung mit den bereits durch Menschenhand entsprechend regulierten Zeitmaßen erhält man im bewegten System K! vergrößerte, gedehnte Längen- maße und erst dadurch, daß man mit größerem Längenmaße mißt, ergeben sich verkleinerte, kontrahierte Längen in dem System K, und die quantitative Übereinstimmung der Einsteinkontraktion mit der Lorentzkontraktion erklärt sich durch die quantitativ ent- sprechende Uhrenregulierung bzw. Zeitmaß Veränderung. Endlich aber sollen ja alle diese Veränderungen an den Beschreibungs- und Messungsmitteln ja gar nicht das alte Gesetz von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit relativ zum Äther aufrecht erhalten, sondern die Invarianz relativ zu den Beschreibungs- mitteln. Daher hat schon Einsteins Anhänger Ph. Frank (Ann. der Naturph. X) erklärt, daß die Kontraktion bei Einstein „keine wirkliche physikalische ist, sondern auf verschiedenen Messungs- arten der Entfernung beruht" S. 156 a. a. 0., und neuestens betont der Relativist Born S. 183 seines Buches über die Relativitäts- theorie: „Die Kontraktion ist also nur eine Folge der Betrach- tungsweise, keine Veränderung einer physikalischen Realität, also fällt sie nicht unter die Begriffe von Ursache und Wirkung". — Nimmt man hinzu, daß Einstein selbst seine Theorie eine phänomeno- logische nennt und den Verzicht auf Kausalerklärung — wenig- stens in Prag — als in der Theorie involviert, ausdrücklich zuge- geben hat, so muß der Rettungsversuch Laues, der allen Ernstes Koordinatensystemen „genau so gut, wie irgend einem anderen durch Beobachtung festzustellenden, also physikalisch wirklichen Gegenstande" die Ausübung physikalischer Wirkungen zuschreibt (vgl. den Aufsatz Laues KSt 1921, Heft 1/2!), als Rettungsversuch einer verlorenen Sache bezeichnet werden. Dies umsomehr als Einstein selbst sich an anderer Stelle (Naturwissenschaften 1918) über „humorvolle Kritiker" lustig macht, die ihm zuschreiben wollen, er mache Koordinatensysteme zu Ursachen. Allerdings habe ich in den Annalen der Philosophie a. a. 0. auch eine andere Stelle desselben Artikels zitiert, wo Einstein wiederum das Gegenteil lehrt. 472 Oskar Kraus, 12. Die „allgemeine Relativitätstheorie" Einsteins beginnt mit einer verwirrenden und unrichtigen Charakterisierung der „spe- ziellen", Einstein hebt nämlich in seiner Schrift „Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie" mit den Worten an: „Der spe- ziellen Relativitätstheorie liegt folgendes Postulat zugrunde, welchem auch die Gralilei-Newtonsche Mechanik Genüge leistet: „Wird ein Koordinatensystem K so gewählt, daß in bezug auf dasselbe die physikalischen Gesetze in ihrer einfachsten Form gelten, so gelten dieselben Gesetze auch in bezug auf jedes andere Koordinatensystem K', das relativ zu K in gleichförmiger Trans- lationsbewegung begriffen ist. Dieses Postulat nennen wir „spe- zielles Relativitätsprinzip". — Mit diesen Sätzen führt Einstein sich selbst und seine Leser irre. Der Satz spricht nicht das Einsteinsche spezielle Relativitätsprinzip aus, sondern nichts an- deres als das klassische Koordinatenäquivalenzprinzip, das stets unter der stillschweigenden — weil selbstverständlichen Voraus- setzung der Unveränderlichkeit der Maßeinheiten ausge- sprochen wurde. Er verschweigt die von Einstein eingeführte fundamentale Änderung dieser Voraus Setzung! — Ganz ähnlich sagt die „ gemeinverständliche Darstellung " : „ Für die physikalische Beschreibung der Natur Vorgänge ist keiner der gerad- linig, gleichförmig gegeneinander bewegt gedachten Bezugskörper K, K' vor dem anderen ausgezeichnet". — Auch dieser Satz ent- spricht völlig der klassischen Mechanik und ihrem Aquivalenz- prinzip. Einsteins Neuerung kommt in ihm nicht zum Ausdruck x), auf sie aber kommt alles an ; — wenn nun Einstein das allgemeine Relativitätsprinzip in der gemeinverständlichen Darstellung S. 42 und 65 dahin formuliert: „Alle Bezugskörper K, K' usw. sind für die Naturbeschreibung (Formulierung der allgemeinen Naturgesetze) gleichwertig, welches auch deren Bewegungszustand sein mag", und S. 66 „alle Gaußschen Koordinatensysteme sind für die Formu- lierung der allgemeinen Naturgesetze prinzipiell gleichwertig", so hat er das Postulat aufgestellt, es sei das Koordinatenäquivalenz- prinzip von der gleichförmigen Translationsbewegung der Koor- dinaten auf jede beliebige Koordinatenbewegung zu übertragen. Gesetzt es wäre ihm dies gelungen, so hätte er eine Aussage über Beschreibungsmittel gemacht, die nach seinen eigenen 1) Manche stimmen der speziellen Relativitätstheorie nur darum zu, weil sie sie mit dem klassischen Koordinatenäquivalenzprinzip — durch diese Sätze irre geführt — verwechseln. Verwechslungen von Besckreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 473 Worten nicht mit den zu beschreibenden Gegenständen verwechselt werden dürfen, somit könnte von der Formulierung eines Natur- gesetzes nicht die Rede sein, denn physikalische Gesetze handeln von den Körpern und nicht von den Koordinaten. Es liegt jedoch, wie wir gesehen haben, im Begriffe des klassischen Koordinaten- äquivalenzprinzips, daß es unmöglich gelingen kann. Im Begriffe des nicht alterierten klassischen Koordinatenäqni- valenzprinzipes liegt, wie wir gezeigt haben, daß wohl die Ge- schwindigkeiten variieren, daß aber die Beschleunigungen und die geradlinig gleichförmige Bewegung als solche invariant bleiben, wir erhalten die Invarianz des Trägheitsgesetzes und der Newton- schen Bewegungsgleichungen. Soll daher, was von der Gleich- wertigkeit gleichförmig transferierter Koordinaten ausgesagt wird, auch von beliebig bewegt gedachten Koordinaten gelten, so muß diese Invarianz ohne eine neuerliche Begriffsveränderung gewahrt werden. Dies ist nicht möglich. Nur dadurch, daß Einstein den Begriff der geradlinigen gleichförmigen Bewegung, mit dem die klassische Mechanik arbeitete, ersetzt durch den Begriff der kürzesten Verbindung zwischen zwei Punkten einer drei bzw. vierdimensio- nalen gekrümmten Oberflächenwelt, erhält er in der Invarianz des Linienelementes dieses übereuklidischen Gebildes gegenüber belie- bigen Gaußschen Koordinaten ein neues invariantes Element ; dieses Element ist aber nicht das Symbol der Trägheitsbewegung, sondern einer ungleichförmigen, in diesem Sinne beschleunigten Bewegung beziehungsweise einer unter dem Einflüsse der Gravitation erfol- genden Bewegung. Es kann also nicht die Hede davon sein, daß Einstein das klassische Koordinatenäquivalenzprinzip (von ihm klassisches Relativitätsprinzip genannt) von gleichförmig transferierten auf beliebig bewegte Koordinaten erweitert und in diesem Sinne „ver- allgemeinert" habe, vielmehr ist die Erweiterung nur postuliert, und der Schein der Erfüllung des Postulates mit einer Veränderung des geometrischen Begriffes der Geradlinigkeit und demzufolge mit einer entsprechenden Abänderung des Begriffes der Trägheits- bewegung erkauft. Um noch deutlicher zu sprechen: die allgemeine Relativitäts- theorie beginnt mit einer begrifflichen Veränderung des zu Beschreibenden. Die verallgemeinerte Forderung, die Ein- stein erhebt, die Aufgabe, die er sich stellt : „Gleichwertigkeit be- liebig bewegter Koordinatensysteme" muß das euklidische Linien- 474 Oskar Kraus, dement der räumlichen Welt von vornherein durch ein gekrümmtes „nicht euklidisches" ersetzen — d. h. der Physik werden nun nicht mehr jene Begriffe zugrunde gelegt, die ihr bisher auf Grund un- zähliger Erfahrungen stillschweigend zugrunde gelegt wurden. Von vornherein wird, um dem Postulate scheinbar zu entsprechen, das zn Beschreibende als ein anderes hingestellt, als es bisher aufgefaßt wurde. Auf andere Weise kann der Schein einer Äquivalenz der Beschreibungsmittel nicht hergestellt werden. Die zu beschrei- bende Realität wird den willkürlich gewählten Be- schreibungsmitteln „angepaßt" (Freundlich S. 27). Dieses Anpassungs verfahren ist methodisch unerlaubt. In der speziellen Theorie läßt Einstein die stillschweigende und selbstverständliche Voraussetzung der Unveränderlichkeit der Maßeinheiten fallen, in der allgemeinen verändert er von vornherein den bisher still- schweigend vorausgesetzten, weil empirisch seit Menschengedenken bewährten Begriff des dreidimensionalen für sich bestehenden und ebenen (homogenen) Räumlichen. 13. Um mit beliebigen Graußschen Koordinaten beschreiben zu können, greift Einstein zu einer fun- damentalen Veränderung des Beschreibungsobjektes. Nun kann eine gekrümmte dreidimensionale Mannigfaltigkeit wider- spruchslos nur gedacht werden als eingebettet einer topoiden Mannigfaltigkeit von mehr als drei Dimensionen. Einstein behan- delt seine sphärische Welt wie ein für sich bestehendes Gebilde, und prägt ihr dadurch den Charakter des Fiktiven und unmöglich Realisierbaren a priori auf. Die andere Annahme der „Einbettung" in eine mehrdimensionale Welt wird nicht erörtert und die Frage bleibt offen, wie man eine derartige Hypothese, die uns in eine mehr als dreidimensionale Welt (mit unbestimmt vielen Dimensionen unseres „Körpers") hineinragen läßt, mit der Erfahrung verein- bar machen kann, die uns nur von drei Dimensionen Kunde gibt *). Die erste Annahme ist unmittelbar absurd, die zweite zum mindesten unendlich unwahrscheinlich. — (Vgl. Isencrahe, Zur Ele- mentaranalyse der Relativitätstheorie, bei Vieweg 1921, S. 63 u. f. Meißner, phys. Zeitschr. 1921). Wie immer dem sei: Die Hypo- these einer gekrümmten Welt ist also nicht etwa durch eine em- pirische Tatsache nahe gelegt, sondern einzig und allein durch 1) Der Einfachheit wegen habe ich in diesem § von der Einführung der Zeitkoordinate als vierte Koordinate vorläufig abgesehen, ähnlich wie Freund- lich, S. 22. Verwechslungen von Beschreibnngsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 475 die Forderung der Gleichwertigkeit der beliebig bewegten Beschreibungsmittel; ein solches Verfahren widerstreitet aller induktiven d. h. empirischen Naturforschung. Aber nur so erklärt es sich, wieso aus einer Forderung betr. die Äquivalenz von Beschreibungsmitteln eine Forderung über die Beschaffenheit des Räumlichen, d. i. des physikalisch zu Beschrei- benden folgen kann. Die letztere ist einfach das Korrelat der ersteren. Diese aber ist keine Erfahrungstatsache, sondern eine „Forderung", ein Postulat und daher auch jene. Es wird nicht gefragt, wie die Natur beschaffen ist, sondern wie sie sein müßte, um einer bestimmten sogenannten „Beschreibung" zu entsprechen. 14. Doch nicht genug! — Wir haben bis jetzt nur den einen Gedanken Einsteins verfolgt, der das allgemeine Relativitätsprinzip in einer angeblichen Erweiterung des klassischen Koordinatenäqui- valenzprinzipes bestehen läßt. — Allein so einfach ist die Sache nicht! — Wenn Einstein erklärt „die spezielle Relativitäts- theorie weiche von der klassischen Mechanik nicht durch das Re- lativitätsprinzip ab" (S. 7 der Grundlagen der allg. Relativitäts- theorie), so haben wir diese Behauptung als eine durchaus irrige dargetan : wir sahen, daß durch die Invarianz der Lichtgeschwindig- keit, die nach Einstein den Unterschied von der klassischen Theorie ausmacht, notwendig die wesentlichste Voraussetzung der letztern, die Unveränderlichkeit der Maßeinheiten der benutzten Koordinaten- systeme aufgegeben ist. — Einsteins allgemeine Relativitätstheorie will die spezielle, deren wesentlichstes Kennzeichen die Invarianz der Lichtge- schwindigkeit ist als Spezialfall in sich aufnehmen, also auch die Modifizierung der wesentlichsten Voraussetzung des klassischen Ko- ordinatenäquivalenzprinzipes, nämlich der Unveränderlichkeit der Maßeinheiten; mit anderen Worten: die allgemeine Relativitäts- theorie nimmt ein Prinzip in sich auf, welches das klassische Ko- ordinatenäquivalenzprinzip preisgibt. Andererseits — wir setzten dies soeben auseinander — entspringt sie dem Wunsche ebendas- selbe Aquivalenzprinzip auf beliebige Koordinatensysteme zu er- weitern!! Diese Forderung konnte aber nur durch Preisgabe ge- wisser (euklidischer) Voraussetzungen des klassischen Aquivalenz- prinzips erfüllt werden, deren Beibehaltung sie als unerfüllbar erscheinen läßt; die Erfüllung ist also nur eine scheinbare „Er- weiterung des klassischen Relativitätsprinzipes d. h. Koordinaten- 471) Oskar Kraus, äquivalenzprinzipes". Dieses ist vielmehr in doppelter Weise ge- opfert : 1 . durch die Aufnahme der speziellen Relativitätstheorie, sofern diese das Invarianzprinzip enthält; 2. sofern die allgemeine Theorie nicht mehr euklidische Raumbeschaffenheiten beschreibt, sondern „nichteuklidische", die der bisherigen Physik, demnach auch der klassischen, fremd waren. Es ist von fundamentaler Wichtig- keit sich klar zu machen, daß die sogenannte erweiterte oder all- gemeine Relativitätstheorie weder eine Erweiterung, d. h. Verall- gemeinerung, des klassischen Äquivalenzprinzipes, (sogenannten klassischen Relativitätsprinzipes), noch eine Erweiterung der Ein- steinschen speziellen Relativitätstheorie ist, obgleich sie sich als beides ausgibt, vielmehr beiden widerspricht *). Daß auch von einer Erweiterung des Einsteinschen , „speziellen Relativitäts- prinzipes" nicht gesprochen werden darf, erhellt daraus, daß die „spezielle" Theorie, solches „beschreibt", was euklidische Raum- beschaffenheiten aufweist und auch mit derartigen Koordinaten- gebilden arbeitet, während die „allgemeine" die euklidische Raum- beschaffenheit des Beschriebenen und des „Beschreibungsmitteis" opfert. Verallgemeinert ist lediglich das Postulat, d. h. der Wunsch. Es ist auch ausgeschlossen, daß die „allgemeine" Theorie die „spe- zielle" als Spezialfall, d. h. wie die Gattung die Spezies unter sich begriffe. Beide widersprechen einander. Ich weiß wohl, daß die Relativitätstheoretiker der Feststellung dieses Widerspruches seit jeher widersprechen. Aber vergeblich. Das Unvereinbare vereinbar zu machen war schon fruchtloses Bemühen Einsteins — wir zeigten es — in der „speziellen" Theorie. Die Kunst, das Widersprechende zu vereinigen, scheitert auch in der „allgemeinen". 15. Man erlaubt sich zu sagen, die „spezielle" gelte nur im „unendlich Kleinen". Was für eine Bewandtnis es mit dieser Rede- weise hat, ersieht man daraus, daß, wie Born sagt (Physikal. Zeitschr. XVII, 36) „riesige, sogar astronomische Dimensionen" noch unendlich klein sind — für die Einsteins che Theorie. Es ist mathematisch erlaubt, endlich Großes als unendlich klein zu fin- gieren. Einstein will aber Naturwissenschaft treiben und nicht Mathematik : Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit soll ein Natur- gesetz sein. Gibt es nun eine einzige Natur und eine Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes oder gibt es zwei Na- 1) Vgl. schon Gehrcke Kantstudien a. a. 0. Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 477 turen, eine der „speziellen" Theorie und eine der „allgemeinen"? Eine Natur, in der das Konstanzgesetz gilt, und eine, in der es nicht gilt? — Entweder die Lichtstrahlen krümmen sich im Schwerefeld oder sie tun es nicht. — Entscheidet „die Beobach- tung" zu Gunsten der Krümmung, dann ist es falsch ein Gesetz der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu behaupten, denn in dem Wesen eines Naturgesetzes liegt die Ausnahmslosigkeit, die Un- möglichkeit des Ausbleibens eines gewissen Geschehens unter ge- wissen Umständen. Krümmen sich die Lichtstrahlen im Schwer- felde, so kann nur behauptet werden, daß ihre Bewegung, sofern keine äußern Kräfte auf diese Bewegung einwirken, keine Änderung der Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit aufweisen könne. Wo ist aber dann der angebliche Widerspruch zwischen Konstanzgesetz und mechanischem Relativitätsgesetz (oben § 2)? Dann gibt es eben kein Konstanzgesetz der Lichtgeschwindigkeit. Man kann höchstens sagen: In relativ kleinen Bereichen sei es so, als ob es gelte; es wird dort als geltend fingiert. Hierbei darf aber unter „Konstanz" keinesfalls die „Invarianz" verstanden werden! 16. In der speziellen Theorie „postuliert" Einstein, die Maße sollen als invariant beschreiben, was variabel ist, er verwandelt Koordinaten in Uhren und in Maßstäbe, und postuliert von diesen dasselbe. Er verwandelt schließlich das, was wir an unbrauchbar gewordenen Maßstäben und Uhren ablesen, in Raum und Zeit, ver- langt von Raum und Zeit, daß sie sich seinen Postulaten fügen. So wenig aber als diese, so wenig füge ich mich dieser Postulaten- philosophie. In der allgemeinen ist Einstein noch kühner. Das verallgemei- nerte Koordinatenäquivalenzpostulat beugt von vornherein den Raum unter sein Joch, er kann nur noch als gekrümmter sein Dasein fristen, hat aber die Genugtuung dem Postulate Einsteins zu genügen. Daß auf solchem Boden kein dauerndes Gebäude aufgeführt werden kann, ist zweifellos. Ob gewisse' seiner Teile werden ver- wertet werden können, ist eine andere Frage. An anderer Stelle schien mir die Symbolik einer vierdimensionalen gekrümmten Ober- flächenwelt, wegen der Parallelität der Unmöglichkeit gleichförmiger Bewegung in einer ausschließlich von der Gravitation beherrscht gedachten Welt und der Unmöglichkeit gerader Linien in einem solchen fiktiven System ausschließlich geodätischer Linien von heuristischem Werte sein zu können (Annalen der Phil. 1921). 478 Oskar Kraus, Dieser heuristische Wert würde sich z. B. darin zeigen, daß Lichtstrahlen in Analogie zur Beschaffenheit geodätischer Linien in Gravitationsfeldern wirklich — also von wo immer aus mit tadel- losen Instrumenten beobachtet — eine Ablenkung infolge der Gravi- tation erfahren müßten — welche Beschaffenheit des Äthers bzw. der „Strahlen" man auch immer zugrunde legte, — es würde dies aus der Symbolik der geodätischen Linien ohne weiters sich er- geben — . Es müßte dann gestattet sein, dasjenige, was im soge- nannten Lichtstrahl sich periodisch verändert, dem Gravitations- gesetze zu unterwerfen. — Über die Brauchbarkeit dieser Sym- bolik wird die Beobachtung und Nachprüfung entscheiden. Daß eine weitgehende Analogie der Gesetzmäßigkeiten unserer Erfahrungswelt mit apriorisch-geometrischen Gesetzmäßigkeiten be- steht, war schon ein dem griechischen Altertum geläufiger Gedanke und ist neuerdings mehrfach hergehoben worden (A. Haas, Dingler), vielleicht bleibt hier ein wertvoller Wahrheitskern der „allgemeinen Relativitätstheorie" ? — 17. Noch auf anderem Wege ergibt sich die Möglichkeit der sogenannten „allgemeinen Relativitätstheorie" — nach Ausschaltung der ihr anhaftenden Irrtümer — heuristische Vorteile zusprechen zu dürfen. Dadurch, daß man das betrachtete Bewegliche auf Koor- dinatensysteme bezieht, ist man genötigt von Bewegungsgesetzen zu sprechen, die nur in bezug auf gewisse Koordinatensysteme gelten. (Vgl. Einstein S. 8 gemeinverst. Darst. und öfter). Relativ zur Erde als Bezugssystem beschreiben die Fixsterne Kreis- bewegungen. Man hat sich nun bemüht empirisch solche Körper oder Körper- gesamtheiten oder solche Punkte in der Erfahrungswelt zu finden, durch die man sich ein Koordinatensystem so gelegt denken kann, daß mit Beziehung auf dieses System „das Trägheitsgesetz und die übrigen Bewegungsgesetze exakt gelten". Der Fixsternhimmel wurde als ein solcher Fundamentalkörper befunden; auf ihn als Träger eines Koordinatensystems bezogen „gelten die Naturgesetze möglichst exakt". — D. b. in Newtons Sinne gesprochen, wir können sicher sein, daß die so bezogenen Bewegungen „wirkliche", „absolute", nicht „bloß relative d. h. scheinbare" sind. Jenes Koordinatensystem nennt man Inertialsystem. Einstein spricht von Galileischem System. Das Ausschlaggebende ist, daß es empirisch festgestellt, Verwechslungen von Beschreibungsmittel uud Beschreibungsobjekt usw. 479 jeder Willkür entzogen ist. — Von einem solchen nur empirisch feststellbaren Inertialsystem geht Einstein in den Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie S. 10 aus. „Es sei K'", fährt er fort, „ein zweites Koordinatensystem, welches relativ zuK in gleich- förmig beschleunigter Translationsbewegung sei. Relativ zu K' führte dann eine von anderen hinreichend getrennte Masse eine beschleunigte Bewegung aus, derart, daß deren Beschleunigung und Beschleunigungsrichtung von ihrer stofflichen Zusammen- setzung und ihrem physikalischen Zustande unabhängig ist". D.h. eine von äußeren Kräften unbeeinflußte Masse, die sich relativ zu K geradlinig und gleichförmig bewegt, wird relativ zu K' als beschleunigt bewegt phoronomisch beschrieben werden können. Nun wissen wir aus dem Koordinatenäquivalenzprinzip der klassi- schen Mechanik, daß alle gegenüber einem Inertialsystem gerad- linig und gleichförmig bewegten Koordinatensysteme — aber nur solche, äquivalent sind zur Beschreibung der mechanischen Vor- gänge, daß ihnen gegenüber die Beschleunigungen und das Träg- heitsgesetz invariant bleiben — aber nur ihnen gegenüber. Somit ist sicher, daß K' ein Inertialsystem unmöglich sein kann, d. h. daß es als dynamisches Beschreibungsmittel unmöglich mit einem Inertialsystem äquivalent sein kann. Einstein aber behauptet, daß K und K' trotzdem „als Bezugs- systeme für die physikalische Beschreibung gleichberechtigt seien" (S. 10). Diese Behauptung sucht er damit zu stützen, daß wir aus der Relativbeschleunigung jener unbeeinflußten Masse gegen- über K', an und für sich nicht entnehmen können, daß K' kein Inertialsystem ist. Man könne mit gleichem Rechte annehmen, daß K' ein Inertial- system sei, in welchem ein Gravitationsfeld die Beschleunigung der Masse relativ zu K' bewirke. „Das . mechanische Verhalten der Körper relativ zu K' ist dasselbe" lehrt Einstein, „wie es gegen- über Systemen sich der Erfahrung darbietet, die wir als „ruhende" bezw. als „berechtigte" Systeme anzusehen gewohnt sind"; — dieser Satz ist irreführend; die phorönomischen kinematischen Bezie- hungen sind die gleichen; ob das mechanische Verhalten, d.h. die mechanisch- dynamischen die gleichen sind — das ist nur postuliert und erst zu beweisen — und gerade dies ist zu beweisen unmög- lich, weil die Wahl der „berechtigten" Systeme, d. i. der Inertial- systeme nicht von unserer Willkür abhängt, sondern empirisch festgestellt ist, durchaus nicht auf „Gewohnheit" beruht, wie 480 Oskar Kraus, Einstein glaubt. Wahr ist, daß sowohl das System K als das System K', das heißt sowohl Inertialsysteme als auch solche, die es nicht sind, für die kinematisch -mathematische Beschreibung gleichwertig als Bezugssysteme benutzt werden können. Das ist eine alte Sache — falsch aber ist es, daß sie darum als dyna- misch-physikalische Beschreibungsmittel äquivalent sind. Gleichwertigkeit als Bezugspunkt kinemati- scher-phoronomischer Beschreibung darf nicht mit Gleichwertigkeit als physikalisch dynamisches Be- schreibungsmittel verwechselt werden. Bei Benutzung von K' bleibt vielmehr die Beschleunigung der betrachteten Masse nicht invariant, sonach ist das verallgemeinerte Aquivalenz- postulat unerfüllbar. (An der bereits zitierten Stelle der „allg. Relativitätstheorie" S. 10 verfällt Einstein in die Verwechslung bezw. Gleichstellung von „ruhendem" und „berechtigtem" (gleichwertigem) System. „Ruhend" ist nämlich lediglich ein synonymer Ausdruck für das im Beschreibenden ruhende Bezugssystem oder das beschreibende Bezugssystem. Für die kinematische Beschreibung ist nun jedes im Beschreibenden ruhende Bezugssystem gleichberechtigt ; weil jede Beziehung richtig beschrieben wird, welches immer der beiden in Beziehung stehenden Dinge ich zum Fundament und welches immer ich zum Terminus der Beziehung mache. (Vgl. Oskar Kraus, „Franz Brentano", mit Beiträgen von Carl Stumpf und Edmund Husserl, München 1919, S. 26). Bei der dynami- schen Beschreibung aber heißt ruhendes oder berechtigtes Sy- stem nichts anderes als Inertialsystem. Von diesen ist aber empirisch sicher gestellt, daß nicht jedes im Beschreibenden ruhende Bezugssystem ein Inertialsystem sein kann. Nicht jedes im Beschreibenden ruhende, in diesem Sinne berechtigte Bezugssystem ist als ruhendes, d. h. Inertialsystem oder ihm äquivalentes, gleichberechtigtes, bewegtes zu gebrauchen. Man einige sich über die Termini ! — Einstein wünscht, daß jedes im Beschreibenden ruhende Bezugssystem gleichwertig sei als Beschreibungsmittel der dynamischen Gesetze; diesen Wunsch nennt er Postulat, nach dem die Natur sich zu richten hat.) 18. Eine andere Frage ist es, ob die von Einstein als „Aqui- valenzprinzip" bezeichnete1) Inertialfiktion nicht — wie auch 1) Nicht mit unserem Koordinatenäquivalenzprinzip zu verwechselnde. Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 481 Loren tz (3 Vorträge S. 34) glaubt — einen heuristischen Wert enthält ? Soll es möglich sein ein Koordinatensystem, das kein Inertial- system sein kann, trotzdem, wenn man es als Beschreibungsmittel benutzt, hinsichtlich relativ zu ihm beschleunigter Vorgänge als Inertialsystem zu fingieren, so schließt das gewisse physikali- sche Voraussetzungen in sich, so vor allem, daß auch die Licht- strahlen den Gesetzen der Trägheit und der Schwere unter- worfen sind; die Durchführung der Inertialfiktion ist nämlich nur möglich auf Grundlage bestimmter Hypothesen über die Natur des Lichtes und der Elektrizität, die auf eine vereinheitlichende Naturbetrachtung und auf eine Synthese von Emissions- und Un- dulationstheorie hinweisen. Lichtstrahlen in einem echten Gravi- tationsfeld müßten abgelenkt werden, — und ihre Geschwindigkeit ändern — womit das Gesetz der Konstanz der Lichtgeschwindig- keit aufgegeben wäre, und Licht, das von größeren Massen zu uns gelangt, müßte eine spektrale Rotverschiebung zeigen, weil dort die Schwingungsdauer der Lichtquelle reell größer, die Schwingungs- zahl reell geringer wäre 1). Nur so kann nämlich die Inertialfiktion auch dem Lichte gegenüber gewahrt werden. Hierüber wird die Beobachtug entscheiden. Als Postulat ist das „Einsteinsche Aquivalenzprinzip" un- erfüllbar, als heuristische „Inertial- und Gravitations-Fik- tion" könnte es nützlich sein. Zugleich zeigt sich der logische Zusammenhang der Einstein- schen Inertialfiktion mit der Einsteinscheu Symbolik der geo- dätischen Linien. Die Inertialfiktion (von ihm Aquivalenzprinzip genannt) kann sich nur bewähren, wenn das Licht — und somit auch die Elektrizität — dem Gravitationsgesetze unterliegt, sie legt somit den Gedanken einer universellen Herrschaft des Gravitations- gesetzes nahe. Auf der Annahme dieser Herrschaft aber beruht die Symbolik des gekrümmten Raumes 2). Vielleicht gelingt es auf diese Weise aus dem erkenntnistheoretischen Dunkel der Theorie die physikalisch-heuristisch wertvollen Elemente auszusondern. 19. Noch ein dritter Gedanke Einsteins zielt vielleicht auf etwas Richtiges. Wer ein Naturgesetz aussprechen will, der will aus- sagen, daß es schlechthin unmöglich sei, daß unter gewissen Um- 1) Vgl. hierzu insbes. Kopff S. 112—178, Born S. 231, Freundlich S. 63. 2) Vgl. Kantstudien XXV. S. 22 f. u. „Fiktion u. Hypothese" S. 384. Kantrtudien. XX Tl. 31 482 Oskar Kraus, ständen ein gewisses X ausbleibe. Die Allgemeinheit, Allgemein- gültigkeit, Ausnahmslosigkeit gehört zu dem Begriffe eines Natur- gesetzes. Dadurch aber, daß man das betrachtete Bewegliche auf Koordinatensysteme bezieht, ist man genötigt von Bewegungs- gesetzen zu sprechen, die nur in bezug auf gewisse Koordinaten- systeme gelten. (So Einstein, gemeinverständl. S. 8, § 4). Relativ zur Erde beschreiben die Fixsterne Kreisbewegungen. Nur wenn man das im Beschreibenden ruhend gedachte Koor- dinatensystem, gewöhnlich irreführender Weise schlechthin „ruhen- des" genannt, in den Fixsternhimmel verlegt, erhält man ein empiri- sches Inertial System, und entsprechen daher die Naturvorgänge mög- lichst genau den Newtonschen Bewegungsgesetzen und dem Inertial- gesetze im besondern. Das Unpassende eines „Gesetzes, das nicht allgemein gilt" bezw. einer solchen Redeweise hat sich allmählich fühlbar gemacht. Denn um eine Redeweise f um nichts mehr handelt es sich. „Das Koordinatensystem" sagt Einstein (Natur- wissensch. 1920, S. 1010) ist nur Beschreibungsmittel und hat an sich nichts zu tun mit den zu beschreibenden Gegenständen!" Sehr richtig ! Zieht man aus diesem Satz die Folgerung, so ergibt sich erstens, daß — wie es auch Newton getan hat — die Natur- gesetze ohne Bezugnahme auf Koordinatensysteme — absolut — zu formulieren sind. Zweitens folgt: Benutzt man als Hilfen Koordinatensysteme, so muß man unter diesen Beschreibungs- mitteln die untauglichen beiseite lassen. Tauglich ist aber nur das Inertialsystem bezw. — unter Berücksichtigung des Koor- dinatenäquivalenzprinzips — die Inertialsysteme. Statt von Gesetzen, die nicht allgemein gelten, hätte man von Koordinatensystemen sprechen sollen, die nicht all- gemein brauchbar sind. Das sind jene, die nicht Inertial- systeme sind. Statt die herkömmliche Redeweise abzulegen, sucht Einstein nach allgemein brauchbaren Koordinatensystemen, nach der „kovarianten Formulierung der Naturgesetze". An den Gaußschen Koordinatensystemen glaubt er solche gleichwertige Beschreibungsmittel gefunden zu haben. Wir haben soeben (§ 12) gesehen, daß dieses Unternehmen aussichtslos ist. — Dazu kommt folgendes: Das Trägheitsgesetz, das Newton absolut ausgesprochen hat, wird von Einstein verändert wiedergegeben (Naturw. 1920): „Von einander hinreichend entfernte materielle Punkte bewegen sich geradlinig gleichförmig" — so sagt Einstein — „vorausgesetzt, daß man die Bewegung auf ein passend be- Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 483 wegtes Koordinatensystem bezieht und daß man die Zeit passend formuliert1)." — „Wer empfindet" so fährt er fort, nicht das Pein- liche einer solchen Formulierung. Den. Nachsatz weglassen aber bedeutet eine Unredlichkeit". — Ich meine, daß diese Formulierung darum peinlich ist, weil sie die Newtonsche entstellt und weil sie eine Zirkeldefinition ist. Denn ein passend gewähltes Koordinaten- system ist ja eben ein Inertialsystem, d.h. ein solches, „in bezug worauf das Trägheitsgesetz gilt". — Es ist ferner ein Irrtum, Allgemeingültigkeit der Naturgesetze mit ihrer kovarianten Ge- stalt zu verwechseln, d. h. ihr durch die unmögliche Gleichwertig- keit aller Koordinatensysteme gerecht werden zu wollen. Die Forderung, daß alle Koordinatensysteme gleichwertig seien für die dynamische Beschreibung der Naturvorgänge, haben wir dem empirisch Räumlichen gegenüber als unerfüllbar erkannt. — Was jedoch diesen Postulaten etwa Richtiges vorschwebt, scheint mir folgendes zu sein: Schon der Name „allgemeine Rela- tivitätstheorie" deutet darauf hin, daß der leitende Gedanke die sog. Relativität aller Bewegung ist. Wir schauen nur relative Bewe- gungen an, wir können kinematisch, phoronomisch nur Relativ- bewegungen beschreiben. Es muß daher, meint Einstein, möglich sein, alle Bewegungen auch dynamisch als relative zu beschreiben. Diese Aufgabe ist erfüllbar. Denn eine Bewegung als relative beschreiben , heißt sie als nicht voll- kommen bestimmte — in allgemeiner Weise beschreiben (vgl. neben Aloys Müller , insbesondere Franz Brentano Kantstudien XXV, Angersbach, Das Relativitätsprinzip, Leipzig 1920, S. 8 und neuestens Kopff, Grundzüge der Einsteinschen Relativitäts- theorie S. 14. 107. 108 u. 189). Da es jedoch im Begriffe der Relativbewegung liegt, daß mindestens zwei Beschreibungs- objekte in Frage kommen, so kann man natürlich eine Relativ- bewegung nicht anders beschreiben als indem man die Abstands- änderung zweier Körper oder die Änderung der Richtung ihres Abstandes «oder beides beschreibt. Relativistisch d. h. unbe- stimmt formuliert müßte m. E. das Trägheitsgesetz so formuliert werden, daß man sagt: „der Abstand zweier Körper oder eine vorhandene geradlinige gleichförmige Abstandsveränderung zweier Körper kann unmöglich eine Änderung erfahren, sofern nicht 1) Newtons Formulierung lautet: Ein jeder Körper verharrt in seinem Zu- stande der Ruhe oder gleichförmigen Bewegung, „solange er nicht von äußeren Kräften zu einer Änderung gezwungen wird". 31* 484 Oskar Kraus, äußere Kräfte auf mindestens einen von diesen beiden Körpern einwirken". — Das Beschreibungsmittel ist hierbei begrifflich von den beschriebenen Objekten getrennt. Gesetzt nun, eine kontinuier- liche Richtungsänderung des zwischen Erde und Fixsternhimmel (Fixsternhimmel und Erde) bestehenden Abstandes, also eine Re- lativrotation, werde festgestellt. Sogleich steht fest, daß diese Richtungsänderung auf ein An- greifen äußerer • Kräfte gemäß dem „relativierten, d. h. verall- gemeinerten Trägheitsgesetze" schließen läßt, nur bleibt unbe- stimmt, ob dieselben an der Erde oder an den Fixsternmassen angreifen. Will man aber „eine Hypothese über den Sitz der Bewegung" einführen, so muß man sich fragen, ob bei Benutzung des so oder so gelegten Koordinatensystems sich das spezielle Newtonsche Trägheitsgesetz ergibt, ob also eines von ihnen ein Newtonsches Inertialsystem ist? Denn dieses entscheidet nicht über relative, sondern über die absolute Bewegung1) der Körper. Einstein erklärt jedoch eine kausale Hypothese über den Sitz der Bewegung überhaupt nicht beabsichtigt zu haben. Er müßte daher seine Anhänger darauf aufmerksam machen, daß seine Wendung weder eine ptolemäische noch eine koperni- kanische ist, weil er eben keine Hypothese über den Sitz der Be- wegung machen wolle (Naturw. 1918). — Dann müßte er zurück- nehmen, was er in den Grundlagen der allg. Relativitätstheorie verkündet hat, daß die fernen Massen und ihre Relativrotation Deformationsursachen sind. Was Ursache ist, bleibt unbestimmt, weder daß die fernen Massen allein wirken, noch daß sie mit- wirken, ist gesagt. Es ist nichts für und nichts gegen Kopernikus oder Ptolemäus gesagt. Freilich ist diese allgemeine Art der Be- schreibung, mag sie welche Vorzüge immer besitzen, nicht das letzte Ziel der Naturforschung, die stets konkrete Kausalforschung ist. Ein- stein hat in Prag zugegeben, daß seine Theorie den Verzicht auf Kausalerklärung in sich schließe. Das Allgemeine und Unbestimmte verlangt nach näherer Determinierung; schon Aloys Müller und Franz Brentano, wie andere auch, haben erkannt, daß die Be- schreibung einer Bewegung als bloß relativer eine unvollkommen bestimmte ist, und daher eine bloß relative Bewegung behaupten, 1) Über diesen Begriff vgl. Kantstudien XXV Brentanos Abhandlung über „Zeit und Raum"; er ist ohne die Gefäßtheorie des Raumes und der Zeit voll- ziehbar. Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 485 soviel heiße, wie eine unbestimmte Bewegung als wirklich setzen. Niemand hat ihre Argumente widerlegt. Dadurch, daß eine Behauptung immer wieder erhoben wird, dadurch wird sie um nichts wahrer. — Wir wissen nicht, was sich in individuo bewegt, wenn wir nur wissen, daß zwischen Erde und Fixsternhimmel eine Relativ- rotation stattfindet. Ein böses Sophisma aber ist es nun, behaupten zu wollen, der Beobachter bringe die Bestimmtheit hinein, indem er je nach Lage mit gleichem Rechte die Erde, wie jene fernen Massen als ruhend oder bewegt betrachten dürfe. Das heißt den Teufel durch Beel- zebub austreiben und an Stelle der Existenz des Unbestimmten, den protagoräischen Subjektivismus setzen, wie ihn z. B. Petzold als höchste Errungenschaft der Philosophie und Einsteins im be- sondern verkündet. Lehnt Einstein Petzold ab, wie er dies in Prag ausdrücklich erklärt hat, so bleibt die Frage, ob er meint, daß Allgemeines, Unbestimmtes existieren könne? Einstein scheint dies zu glauben. Denn er verkündet, es sei eine „Binsenwahrheit" (so nach seinem Prager Vortrag), daß es keine andere als relative Bewegung überhaupt geben könne. Aber auch die geradlinige gleichförmige Translation bleibt un- bestimmt, wenn nichts weiter ausgesagt wird, als daß zwei Körper oder Punkte ihren Abstand relativ zu einander so und so ändern. Die Beschreibung ist nicht falsch, aber unvollständig. Zugegeben, wir könnten nicht erkennen, welcher der beiden Körper sich ab- solut bewegt, so ist doch apriori sicher, daß einer von ihnen oder beide sich absolut bewegen müssen, daß nicht beide absolut ruhen können. Die Unmöglichkeit bloß relativer Bewegung steht apriori fest, ist eine einfache Folge des Satzes des Widerspruchs, wie der Artikel Brentanos Kantstudien 1920 genügend deutlich ge- zeigt hat. Newton hat nicht an ihr gezweifelt, obgleich er nur bei der Rotationsbewegung Kriterien für absolute und relative Bewegung aufgezeigt hat. Das Relativitätsgesetz (oben § 1 c) steht hiermit nicht in Widerspruch, es handelt nur von der Unmöglichkeit, aus Vorgängen innerhalb eines geradlinig gleichförmig transferierten Systems die Translation dieses Systems zu erkennen. Die Unanschaulichkeit der absoluten Bewegung ist ebenso- wenig ein Beweis gegen ihre Wirklichkeit, wie die Anschaulich- 486 Oskar Kraus, Verwechslungrfn von Beschreibungsmittel usw. keit der Sinnesqualitäten — der Farben und Töne ein Beweis ist für ihr transmentale Existenz. Man muß sich — so mahnt Newton — in der philosophischen Betrachtung von den Sinneseindrücken befreien, und die Ver- wechslung der wahren Größen mit ihren Relationen und gewöhn- lichen Messungen erklärt er als eine Versündigung gegen den Geist der Philosophie und Mathematik '). 1) Daß auch die vollständig einwandfreie Feststellung der drei Gravitations- effekte nicht zur Einsteinschen Raum-Zeitauffassung nötigen würde, erklärt Bott- linger (Jahrbuch der Radioakt 1920, S. 159) unter Hinweis auf Wiechert. — Die ablehnende erkenntnistheoretische Stellung von Lorentz (drei Vorträge) ist bekannt. — Desgleichen die von Gehrcke und Lenard : (Gehrcke vgl. insbesondere Kantstudien XIX, Naturw. 1913, Die Relativitätstheorie, Berlin 1920, „Die Stellung der Mathematik zur Relativitätstheorie" in den Beitr. zur Philos. des Deutschen Idealismus 2. Bd. usw.; Lenard, Über Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation Leipzig 1921 in 3. Auflage). Gegnerische bezw. kritische Äußerungen ferner bei Wiechert, Annalen der Physik 1921 wie schon im Bande „Physik" der Hinne- bergschen „Kultur der Gegenwart"; ich nenne weiter Abraham, Scientia Bd. XV 1914, W. Wien: Neuere Entwicklung der Physik, Leipzig 1919. Mie, Helge Holst, Dingler, Geißler, Glaser, Kottier, Fricke, Weinstein, Jacob, Isencrahe, Reichenbächer. Von Philosophen erinnere ich an Becher, Berg, Bernays, Lip- sius, Ripke-Kühne, Sellien, Frischeisen-Köhler, Hartmann, Kries. — Bei Isencrahe begegnen wir dem Versuche einer eingehenden Begriffsanalyse. Die soeben er- schienene „Mechanik" von Hamel (Teubner 1921) deckt sich vielfach mit meinem Standpunkt. — Während der Drucklegung dieses Artikels, der im Mai 1921 ab- geliefert war, erschienen Lenards Abhandlungen „Äther und Uräther" (Verlag S. Hirzel, Leipzig 1921) und „Fragen der Lichtgeschwindigkeit" (Astr. Nachr. Bd. 213 Nr. 5107), in denen vermöge einer „Synthese von Undulationstheorie und Emissionstheorie" (vgl. oben § 16) von all den Erscheinungen quantitative und qualitative Rechenschaft zu geben versucht wird, die den Anlaß zur Ent- stehung der „Relativitätstheorie" gebildet haben. Nur auf diese oder ähnliche Weise wird der Weg zu einer philosophischen Gesundung der Physik gefunden werden. Besprechungen. Einleitungen in die Philosophie. Wandt, Wilhelm, System der Philosophie. Vierte, umgearbeitete Auflage. 2 Bände, 1919. Alfred Kröner Verlag in Leipzig. 1. Band: XVI und 436 Seiten; 2. Band: VI u. 304 Seiten. Geheftet 20 Mk., gebunden 25 Mk. und Teuerungszuschlag. Alsbald nach der Fertigstellung der neuesten Auflage seiner „Logik" (Ja- nuar 1919) war es Wundt vergönnt, diese neue Auflage seines „Systems" nach Erledigung einiger Umarbeitungen und Einfügung einiger Ergänzungen fertigzustellen (März 1919). Um seinen philosophischen Standpunkt zu ver- deutlichen und in gewissem Sinne zu rechtfertigen und zu begründen, gibt er Kenntnis von dem Wege, auf dem er zur Philosophie gelangt ist. Es macht nach W. „einen Unterschied, wo man anfängt, und wo man aufhört". Da ich von den Naturwissenschaften ausgegangen und dann durch die Beschäftigung mit empirischer Psychologie zur Philosophie gekommen bin, so würde es mir un- möglich erscheinen, anders zu philosophieren als nach einer Methode, die dieser Folge der Probleme entspricht" (Vorwort IX). Gemäß ihrer geht W. also den Weg von unten nach oben, den der Induktion, und so ist ihm die Philosophie nicht das erste ,- sondern das letzte Glied im System der Wissenschaften. Ihren allgemeinen Zweck erblickt er darin, unsere Einzelerkenntnisse zu einer die Forde- rungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemütes befriedigenden Welt- und Lebensanschauung zusammenzufassen, und ihr Verhältnis zu den Einzelwissen- schaften bestimmt er darin, daß sie den Tatbestand dieser Wissenschaften rück- haltlos als die Basis anzuerkennen habe, von der allein sie ausgehen dürfe. So ergibt sich W.s bekannte Begriffsbestimmung: die Philosophie ist „die allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat." Die Philo- sophie vermag also ihr Geschäft erst dann zu beginnen, wenn dasjenige der Einzelwissenschaften bereits bis zu einem gewissen Abschluß gediehen ist. Indem sie aber die Ergebnisse der Einzelforschung in der angegebenen Weise zusammen- faßt, tritt sie jenen selbst regulierend und richtunggebend gegenüber. In diesem doppelten Verhältnis der Philosophie zur Einzelforschung ist ihr Charakter als wissenschaftliche Philosophie begründet. Ihre erste Aufgabe gegenüber den Einzelwissenschaften besteht in der Gliederung derselben, die also nicht neue Wissenschaften zu schaffen, sondern nur die tatsächlich ge- gebenen Forschungsgebiete zjj ordnen hat.. Diese Einteilung hat folgende Gestalt : 1) Formale oder mathematische Wissenschaften ; 2) Naturwissenschaften; 3) Geistes- wissenschaften. Hat aber die Philosophie auch den Inhalt mit der Gesamtheit der Einzel- wissenschaften gemein, so weicht ihr Standpunkt, von dem aus sie diesen In- halt betrachtet, insofern von den positiven Wissenschaften ab, als „sie von vorn- herein den Zusammenhang der Wissensobjekte im Auge hat" (S. 22). Von hier aus gesehen gliedert sich ihre allgemeine Aufgabe in zwei Hauptprobleme und in zwei, diesen entsprechenden philosophische Wissenschaften: in die Er- kenntnislehre und die Prinzipienlehre oder Metaphysik. 488 Besprechungen (Wundt — Jerusalem). gemeine Erkenntnistheorie, die mit der formalen Logik zusammen die Logik im weiteren Sinne des Wortes bildet und die Bedingungen, Grenzen und Prinzipien der Erkenntnis im allgemeinen untersucht, und in die Methodenlehre, die sich mit den besonderen Gestaltungen dieser Prinzipien innerhalb der verschiedenen Gebiete wissenschaftlicher Forschung beschäftigt" (S. 23). Die Metaphysik da- gegen gliedert sich in die Philosophie der Mathematik, der Natur- und der Geistes- wissenschaften oder — wie W. diese beiden letzten Teile des Systems auch nennt — in die Naturphilosophie und in die Philosophie des Geistes. Unter Zugrundelegung dieses Schemas wird nun eine übersicbtliche Darstellung des Systems der Philosophie geboten. In jeder Zeile merkt man die Hand des Meisters, verspürt man die außerordentliche Begabung zur logischen Analyse und Differenzierung, die uneingeschränkte Sicherheit in der vollendeten Beherrschung des Stoffes und in der diesen Stoff ordnenden Technik. Man sieht sich vor einen überwältigenden enzyklopädischen Reichtum an Kenntnissen gestellt, und man ge- wahrt die imposante Arbeit eines architektonisch formenden Verstandes, dem eine scheinbar nie erlahmende Energie zur Verfügung steht, und der in unbeirrbarer Sachlichkeit und Ruhe Punkt für Punkt in dem ungeheueren Gebiete der Philo- sophie zur Untersuchung vornimmt. Berlin. Arthur Liebert. Jerusalem, Wilhelm, Professor a. d. Univ. in Wien, Einleitung in die Philosophie. 7. u. 8. Aufl. Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller 1919. 389 S. Preis 18 Mk. Die neue Auflage dieser Einleitung, die zu den am meisten gelesenen philo- sophischen Büchern gehört — die 6. Aufl. war 1918 vergriffen und Uebersetzungen in 7 Sprachen sind bereits erschienen — unterscheidet sich von den früheren durch die Umarbeitung und Erweiterung der Abschnitte über Ethik und Soziologie. Unter dem Eindrucke des Weltkrieges hat J. sein Ideal der Humanität, der Mensch- heitssolidarität nicht etwa aufgegeben, sondern desto nachdrücklicher als Ziel der geschichtlichen Entwicklung und ethische Aufgabe hingestellt. Ich gebe eine kurze Inhaltsübersicht mit besonderer Betonung der originellen und fruchtbaren soziologischen Betrachtungen. I. Bedeutung und Stellung der Philosophie. Die Philosophie ist darum nicht minder eine Wissenschaft, weil sie mehr ist als Wissenschaft. Sie hat nicht nur die Erfahrung des täglichen Lebens und die Ergebnisse der Wissen- schaft zu einer einheitlichen Weltanschauung zu vereinigen, sondern auch „den unermeßlichen Kräften, die uns die Wissenschaft zur Verfügung stellt, die Rich- tung zu geben und die Ziele zu zeigen" (S. 15). II. Die propädeutischen Disziplinen. In der empirischen Psycho- logie sieht J. die Grundlage aller philosophischen Forschung. Das Wesen der experimentellen Methode, der genetischen und biologischen Betrachtungsweise, der differentiellen Psychologie wird kurz erläutert. Ebenso werden die Hauptrich- tungen der Logik aufgezeigt, wobei Verf. gemäß seinem pragmatistisch - psycho- logistischen Standpunkt freilich nicht der großen von Husserl ausgehenden Re- naissance der reinen Logik gerecht werden kann, die Möglichkeit einer Phäno- menologie, die von empirischer Psychologie so weit entfernt ist wie von Meta- physik nicht einzusehen vermag (S. 40). III. Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie. Aus ähnlichen Gründen wird der kritische Idealismus abgelehnt, weil er entweder zum Solipsismus führe oder eine spiritualistische Metaphysik voraussetze. Dagegen wird einem „kritischen Realismus" das Wort geredet, der nicht wie der naive glaubt, daß die Dinge so sind, wie sie erscheinen, sondern sagt, daß sie auch so sind. Die fruchtbarsten Gedanken für das Verständnis des Ursprungs und der Entwicklung der Erkenntnis findet J. im Pragmatismus. Es fällt auf, daß J. in diesem Zu- sammenhang nicht auf den von Avenarius begründeten Empiriokritizismus hin- weist, der m. E. die biologische Theorie des Erkennens mit ganz anderer wissen- schaftlichen Gründlichkeit und weit entfernt von jener groben Einstellung auf das unmittelbare praktische Bedürfnis, die sich bei James und den meisten Pragma- Besprechungen (Jerusalem). 489 tisten findet, entwickelt hat. Verf. glaubt das Wesen der Erkenntnis in der Ur- teilsfunktion gefunden zu haben, welche alles Gegebene als Kraftäußerung eines Kraftzentrums auffaßt. Der Begriff der Wahrheit eines Urteils, die nichts anderes sein soll als „die Bedingung seiner Verwertbarkeit für die Bestimmung der nötigen Maßnahmen", gewinnt erst seine Bedeutung, wenn das Denken nicht mehr bloß unmittelbar praktische Zwecke verfolgt, sondern sozusagen auf Vorrat gedacht wird. Neben das objektive Kriterium, das sogleich in das tatsächliche Ein- treffen von Voraussagen umgedeutet wird (so wird schließlich doch Wahrheit auf Tatsächlichkeit zurückgeführt, als ob wir etwas von Tatsächlichkeit wissen könnten, wenn wir nicht erst wüßten, was Wahrheit ist), tritt das intersubjektive der Zu- stimmung der Denkgenossen. Wenn Verf. dem Apriorismus vorwirft, daß er sich dem historisch-genetischen Verständnis des menschlichen Denkens verschließe, so ist zu sagen, daß die Untersuchung der Gesetze des Denkens, ohne die es kein Denken wäre, freilich nur am Denken selbst erfolgen und durch keine empirische Tatsachenforschung gefördert werden kann, daß das aber durchaus nicht hindert, die Entwicklung der einzelnen Denkmethoden unter biologischem und soziologischem Gesichtspunkt zu verfolgen. Zur Soziologie des Erkennens liefert J. einen wert- vollen Beitrag, indem er zeigt, wie die historische Entwicklung zu einer durch die soziale Differenzierung bedingten immer weiter gehenden Emanzipation des denkenden Individuums von den „sozialen Verdichtungen" (das sind geistige Ge- bilde, die zum Gemeingut einer Gruppe geworden, überpersönliche Autorität an- nehmen) führt. IV. Metaphysik oder Ontologie. Nach einer Darstellung der ver- schiedenen Richtungen des Monismus entscheidet sich Verf. für einen an Wundt, Bergson und Joel orientierten Dualismus. V. Wege und Ziele der Aesthetik. Die Aufgabe der Ae., als einer „Philosophie des Fühlens", wird hauptsächlich in einer Psychologie des ästhetischen Genießens gesehen und dieses als „eine besondere Art von Funktionslust, die durch Betrachtung hervorgerufen wird" (171), bestimmt. . VI. Allgemeine Ethik. Der „Philosophie des Wollens" weist J. außer der normativen, auf der bisher alles Gewicht gelegen, die historisch-psychologische Aufgabe zu, die Gesetze der moralischen Beurteilung zu erforschen. In einem historischen Ueberblick werden sittliche Autonomie und Autarkie, der Gedanke des Universalismus und der Humanität als das Vermächtnis der bisherigen ethi- schen E«twicklung aufgewiesen. VII. Soziologie und Geschichtsphilosophie. Die Aufgaben der So. werden eingeteilt in „äußere" : Darstellung der Struktur der sozialen Verbände und „innere": Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Die induktiv-naturwissenschaftliche, die biologisch-entwicklungsgeschichtliche, die psychologisch, anthropologisch, national-ökonomisch fundierte Richtung wird uns vorgeführt. §44 (S. 286 ff.) formuliert „die soziologischen Grundeinsichten": Die Menschengruppe ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder; alle sozialen Gebilde haben eine doppelte Funktion, sie sind außer uns und über uns, zugleich aber auch in uns. So treten uns z. B. die sozialen Gebote als Befehle einer mit der Macht zu strafen ausgerüsteten Autorität und als Stimme des eigenen Gewissens entgegen. Der Mensch hat sich vom sozial gebundenen Herdentier allmählich zur selbständigen Persönlichkeit entwickelt. Die individualistische Entwicklungstendenz führt aber zum Universalismus und Kosmopolitismus. Denn wenn das selbständige Denken zum Widerspruch mit der nächsten, engeren Gruppe führt, so weiß sich der einsame Denker gerade in seiner Vernunft mit ,allen Denkenden einig. Dem von Kant aufgestellten Ideal der „Menschenwürde" wird das der „Staatenwürde" an die Seite gestellt und die Forderung erhoben, daß zu dem Gefühl der allge- mein-menschlichen Solidarität „in uns" eine Menschheitsorganisation „über uns" die notwendige Ergänzung schaffe. In dem Abschnitt über Philosophie der Geschichte lernen wir die grund- legenden Gedanken von Herder, Kant und Hegel kennen. In der ökonomischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels sieht J. ein „heuristisches Prinzip von allergrößter Bedeutung", glaubt aber nicht, daß sie zur Deutung des gesamten 490 Besprechungen (Jerusalem-*- Rausch — Uebervveg). historischen Prozesses ausreicht. Gegen Ricker t betont er, daß die Auffassung der Geschichte als individualisierender Kulturwissenschaft zum Verständnis der historischen Entwicklung nichts beiträgt und die Auffindung der Gesetze des historischen Geschehens neben der Darstellung der einzelnen Ereignisse weiter eine Aufgabe der Wissenschaft bleibt. Die Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum ist für J. der Kernpunkt des geschichtlichen Geschehens und eine Synthese von Individualismus und Sozialismus das Ziel der Entwicklung. Ueberall ist J. bemüht in allen Richtungen das Positive, Wertvolle hervor- zuheben, ohne darum die klare Stellungnahme von seinem Standpunkte aus ver- missen zu lassen. Daß trotzdem der dem Verf. so fern liegende kritische Idealis- mus zu kurz kommt, ist wohl notwendig. Vollkommene Objektivität ist hier gar nicht möglich und scheint mir gerade für eine solche Einführung gar nicht wünschenswert, ist doch konsequente Durchführung einer bestimmten Grundauffassung und scharfe Auseinandersetzung mit abweichenden Richtungen am besten geeignet in das Wesentliche der Philosophie einzuführen: in ihre unendliche Problematik. Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz. Rausch, Alfred, Direktor des Friedrichs - Kollegiums in Königsberg, Ele- mente der Philosophie. 4. Aufl. Halle a. d. S. Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1920. XII und 345 Seiten. „Ein Lehrbuch für höhere Schulen zur Einführung in die Philosophie" hat der Verfasser, der selbst Schulmann ist, schaffen wollen, es ist aber mehr ge- worden, nämlich ein Werk, das, wie kein zweites, geeignet ist, in philosophisches Denken einzuführen, das vor allem den Studierenden unschätzbare Dienste leisten kann. Ausgehend von dem geistigen Niveau des Durchschnittsgebildeten führt das Werk den Leser spielend in alle Gebiete der Philosophie ein. Der etwas einseitig Wundtische Standpunkt des Verfassers kommt in dem Buche zwar zur Geltung, dürfte aber seinem Wert als Einleitungswerk keinen Eintrag tun, eben- sowenig wie die Tatsache, daß einige, für den Anfänger schwierige philosophische Probleme (z. B. das Problem der Willensfreiheit, S. 328 ff.) nicht erschöpfend be- handelt sind. Wünschenswert wäre nur eine eingehende Literaturangabe gewesen, die der Verfasser leider weggelassen hat. Königsberg i. Pr. Dr. Paleikat. Alte und mittelalterliche Philosophie. Ueberweg1, Friedrich, Grundriß der Geschichte der Philosophie. Erster Teil: Das Altertum. Elfte, vollständig neubearbeitete und stark vermehrte, mit einem Philosophen- und Literatorenregister versehene Auflage, herausgegeben von Karl Praechter, ord. Professor der klassischen Philologie an der Universität Halle. Berlin 1920. Ernst Siegfried Mittler & Sohn. 696 Seiten Text, 300 Seiten Literaturnachweise und Register. Der vorliegende Band des zu höchstem wissenschaftlichen Ansehen gelangten Grundrisses von Ueberweg stellt sich, wie sein Herausgeber, der hervorragende Vertreter der klassischen Philologie an der Universität Halle, Karl Praechter, mit Recht angibt, als ein neues Buch dar. Und was P. geleistet hat, dient dazu, den alten, anerkannten Ruhm dieses Grundrisses nicht bloß zu wahren, sondern in sehr beträchtlichem Umfange zu mehren. Wir verdanken seiner mit vollendeter Umsicht, Treue, Sachlichkeit und Zuverlässigkeit durchgeführten Arbeit eine ge- radezu klassisch zu nennende Leistung, und wenn der , Ueberweg' schon immer als ein schlechthin unentbehrliches Handbuch für jeden auf dem Gebiete der Ge- schichte der Philosophie Tätigen galt, so bedingt Praechters neue Bearbeitung der Geschichte der antiken Philosophie in entscheidender Weise eine sozusagen potenzierte Unentbehrlichkeit dieses Werkes. Zunächst seien die hauptsächlichsten Fortschritte der neuen Ausgabe gegen- über den früheren gekennzeichnet. Daß eine außerordentliche Erweiterung und Vervollständigung des Literaturverzeichnisses vorgenommen wurde, ist selbstver- Besprechungöii (Ueberweg). • 491 ständlich; begründen sich doch der Wert und die zahllose Benutzung dieses Grundrisses auf der einzigartigen Fülle und Sorgfalt der Literaturangaben, sowie auf der übersichtlichen und geschickten Verteilung und Anordnung derselben. Steckt hierin ein wesentliches, allerdings vergleichsweise untergeordnetes, durch regelmäßige Ergänzung des Zettelkastens zu bewältigendes Stück Arbeit, so beruht dagegen ein sehr bedeutender Vorteil des neuen Buches auf der beträchtlich größeren Ausführlichkeit der Darstellung. Die früher oft allzu knappen, fast fragmentarisch anmutenden, thesenartigen Bemerkungen des alten Ueberweg be- deuteten eine rechte Erschwerung für die Lektüre, da es bei diesem Bestand des Textes nahezu unmöglich war, ein einheitliches, zusammenfassendes Bild der be- treffenden philosophischen Systeme zu gewinnen. Gegen diesen Uebelstand ist nun gründlichst Abhilfe geschaffen und zwar dadurch, daß eine ganze Reihe von Par- tien überhaupt neu geschrieben wurde. Diese wichtige, aber unvermeidlich ge- wordene Aenderung kam besonders der Darstellung der Platonischen und nächst ihr der Hellenistischen Philosophie zugute. Aber bei diesen Umgestaltungen ging P. immer so zu Werke, daß das Prinzip der ursprünglichen Behandlung gewahrt blieb, indem es ihm vor allem darauf ankam, fern von jedem besonderen philo- sophischen Gesichtspunkt und jeder systematisierenden Einstellung dem Bericht eine möglichst große philologisch - historische Treue zu geben. So ließ er, wie das für ein Handbuch auch unentbehrlich ist, in weitestem Umfang die Quellen und ursprünglichen Dokumente selber sprechen. Er bietet uns einen erheblich vermehrten Strom von Autorenstellen, sodaß man im Material geradezu herum- schwimmen kann. Welchen eminenten Nutzen dabei Diels' garnicht genug zu prei- sende Ausgabe der Fragmente der Vorsokratiker für die quellenmäßige Bereiche- rung der betreffenden Kapitel gewährte, läßt deren Lektüre auf Schritt und Tritt erkennen. Und diese reiche, wohl fast erschöpfende Bereitstellung des Quellen- materials — für die nachsokratischen Systeme und Schulen in sehr umfangreichen Auszügen — läßt die Schwierigkeiten ermessen, die seiner Deutung und Auffassung entgegenstehen. Man vermag an Hand der Belege einzusehen, warum über erheb- liche Punkte der alten Philosophie noch keine Uebereinstimmung in der Erfassung des Sinnes jener Punkte erreicht ist, ja, voraussichtlich nie erreichbar sein wird. Deshalb liegt ein Hauptreiz des Werkes gerade in der durch seine Eigenart er- möglichten Einführung in die höchst interessante Problematik der Interpretation und in die relative Berechtigung der verschiedenen, nicht nur nebeneinander her- gehenden, sondern oft konträren Deutungen. Ohne nun die soeben berührten ungewöhnlichen Vorzüge des Werkes auch nur um einen Grad herabdrücken und ohne auch nur das Geringste von der nach- drücklich ausgesprochenen Anerkennung und Zustimmung zurücknehmen zu wollen, seien nun doch einige Momente der Kritik berührt, deren Berücksichtigung zum Mindesten als Gegenstand der Diskussion der Erwägung wert sein dürfte: 1) Es hängt mit der alten, noch ursprünglich von Ueberweg getroffenen Einrichtung zusammen, daß die Darstellung nicht eigentlich den Charakter einer einheitlichen, organisch verlaufenden Behandlung der maßgebenden Probleme trägt. Gegen die jetzt von Praechter getroffene Einteilung in a) Die vorattische Philosophie, b) Die attische Philosophie, c) Die hellenistisch-römische Philosophie wird man nichts einwenden können, wenn man die Eigentümlichkeit des vor- liegenden Lehrbuches und seinen Zweck im Auge behält. Trotzdem wäre es wünschenswert, wenn bei der allgemeinen Kennzeichnung der griechischen Philo- sophie (§ 9 S. 37 — 50) die große Linie der Probleme energischer und systematischer herausgearbeitet würde. Der außerordentliche Reichtum der Einzelausführungen und die an sich bewunderungswürdige Ausbreitung des Materials lassen auf der anderen Seite die deutliche, am besten einem besonderen, zusammenfassenden Paragraphen zuzuteilende Hervorhebung des Ganges der philosophischen Entwick- lung empfehlenswert erscheinen. Was in dieser Beziehung in den §§ 10, 26 und 54 a geboten wird, darf nur als eine wertvolle Vorarbeit für eine solche straffere, die einzelnen Problemzusammenhänge ans Licht hebende Gesamtdarstellung an- gesehen werden. 2) Ein Mangel ist die gar zu knappe Berücksichtigung der orientalischen Ü92 * Besprechungen (TJeberweg). Philosophie; im ganzen nur drei Druckseiten. Hier muß m. E. eine grundsätzliche Erweiterung vorgenommen werden, zweckmäßigerweise wohl unter Heranziehung eines zweiten Fachmannes. Was P. zur Begründung dieser Außerachtlassung an- führt, daß nämlich ein Einfluß der indischen auf die griechische Philosophie kaum nachweishar ist, rechtfertigt nicht diese weniger als summarische Ahfertigung der orientalischen Philosophie. Denn abgesehen davon, daß die Frage dieses Ein- flusses noch recht ungeklärt ist, so stellt die orientalische Spekulation auf alle Fälle eine selbständige und hochbedeutende philosophische Größe dar, die ein- gehende Berücksichtigung verdient. Verwiesen sei nur auf das von Hinneberg bei Teubner herausgegebene ausgezeichnete Sammelwerk: Die Kultur der Gegen- wart, wo in dem einzigen, der Geschichte der Philosophie gewidmeten Band von 543 Seiten der orientalischen Philosophie etwa 80 Seiten eingeräumt sind, während der ,Ueberweg' für die Darstellung der Geschichte der Philosophie über vier starke Bände verfügt. 3) Ein grundsätzliches Bedenken möchte ich gegen die im 1. Paragraphen gebotene Begriffsbestimmung der Philosophie aussprechen. Ein jeder, der sich in historischer oder in systematischer Absicht mit der Philosophie beschäftigt, weiß, wie überaus schwer eine solche Begriffsbestimmung ist. Diese sachlich höchst beachtenswerte und interessante Schwierigkeit ergibt sich aus der Kompli- kation und Antinomik im Begriff und in der Struktur der Philosophie. Wenn aber P. definiert: die Philosophie ist die Wissenschaft der Prinzipien, so ist diese Bestimmung entschieden zu eng und zu locker. Denn erstens ist der Ausdruck: Prinzipien schon an sich zu vieldeutig, als daß man ihn ohne Zusatz lassen könnte. Zweitens ist die Philosophie Wissenschaft von den Prinzipien in einem bestimmten Sinne, d. h. im Sinne einer bestimmten Erfassungsart dieser Prinzipien auf Grund einer bestimmten Methode ; und die wenigstens allgemeine Angabe der für die Philo- sophie charakteristischen Methode ist in einer solchen Begriffsbestimmung unerläßlich. Drittens genügt jene Begriffsbestimmung auch aus dem Grunde nicht, weil sie die weltanschauliche Tendenz und Bedeutung* der philosophischen Spekulation, ihr Hin- streben sowohl zu einer Weisheitslehre und zu einer Lehre von der richtigen Lebensführung, als auch zur praktischen Bewährung einer solchen Lebensführung außer Acht läßt. Dabei ist doch dieses Streben gerade für wichtige Perioden der griechischen Philosophie von entscheidender Bedeutung. Viertens bleibt der für alle philosophischen Bemühungen grundlegende und wegweisende Gedanke der Einheit und Systematik der Erkenntnis und Wissenschaften, ihre Zusammenfassung durch ein übergeordnetes Prinzip in jener Begriffsbestimmung unberücksichtigt. 4) Ich würde für die Milderung jener tadelnden Bemerkungen plaidieren, die den gewaltigen, von Pr. auch in gewissem Umfang anerkannten Verdiensten Hegels um die geschichtsphilosophischeErfassung der großen Epochen des Geistes- lebens der Menschheit zuteil werden (S. 11). Was die Philosophie der Geschichte Hegel verdankt, ist von so grundlegendem Wert, von so großer Fruchtbarkeit und Tragweite, daß gewisse Härten dieser Konstruktion mit in Kauf genommen werden können, weil sie mit zum Wesen jeder Systematik gehören. Daß Hegels „Sche- matismus viel Unheil gestiftet" habe, erscheint mir gegenüber der positiven Förde- rung der Geschichtsphilosophie durch jenen Schematismus eine zu absprechende Kennzeichnung des Tatbestandes (vgl. auch S. 5*). — Im Zusammenhang mit diesem Hinweis möchte ich für eine Verstärkung der Anerkennung eintreten, die dem wirklich hervorragenden Werk von Joh. Ed. Erdmann, Grundriß der Gesch. der Philosophie gewidmet wird (S. 6*) Sehr schön und treffend dagegen ist die Würdigung der Zellerschen Leistung, deren Vorzüge und Schwächen knapp und sicher hervorgehoben werden (S. 26*). Ist es nicht aber doch zu viel gesagt, dem Werk von Zeller „die trefflichste Vereinigung von philosophischer Vertiefung und kritischem Blick" nachzusagen? Dringt Zeller wirklich bis zu den letzten Wurzeln des philosophischen Gedankens vor? 5) Eine der beherrschenden Fragen für alle Darstellungen der griechischen Philosophie bezieht sich auf das Problem der Plato - Interpretation, ein Problem, das jetzt fast ganz und gar an die Stelle der jahrzehntelang mit der größten Emsigkeit betriebenen Untersuchung der Echtheit und der Reihenfolge der Pia- Besprechungen (Ueberweg). 493 tonischen Schriften getreten ist. Es handelt sich um die Entscheidung darüber, ob der Begriff der Idee mehr im ontologistischen Sinne oder mehr im erkenntnis- theoretischen und methodologischen Sinne aufzufassen sei. Diese Streitfrage ist in erster Linie durch P. Natorps Buch: Piatons Ideenlehre, eine Einführung in den Idealismus (Leipzig 1903) in Fluß gekommen, in dem Natorp mit großartigem Scharfsinn und in echt philosophisch-dialektischer Methode die logische Bedeutung der Ideen verficht. Wenn nun Pr. schreibt: „Letzten Endes ist der Grund der logischen Umdeutung der Ideenlehre" in Bemerkungen zu suchen, die Lotze in seiner Logik getan hat, so stimmt dieser Hinweis nicht ganz. Denn man kann einen noch viel bedeutenderen Vertreter der logizistischen Auffassung der Ideen nennen. Es ist Kant, der zwei Mal und zwar in sehr markanten Ausführungen jene Umdeutung vorschlägt, in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft und in der kleinen Schrift : Ueber einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. — Praechter stellt sich nun im großen und ganzen auf die Seite der Vertreter der ontologistischen Auffassung (S. 278 ff., 299, 338 und 341). und zwar begründet er seine Entscheidung durch die Berufung auf die Autorität des Aristoteles. „Ein Hauptindiz gegen Natorps Deutung ist der Bericht des Aristoteles .... Wenn irgendwo so liegt bei Aristoteles die Entscheidung der Ideenfrage. Er vertritt uns die mit den veröffentlichten Dialogen parallel gehende zweite Quelle für die Kenntnis der Lehre Piatons, den mündlichen Unter- richt. Dieser verdiente vor der schriftlichen Lehrübermittelung den Vorzug, da er Mißverständnissen weniger ausgesetzt war." Hier stock' ich schon! Weiß nicht jeder akademische Lehrer aus zahlreichen Erfahrungen, daß auch der Vor- trag, und selbst der klarste, gegen Mißverständnisse nicht gefeit ist ? Aber weiter : Wer gibt uns eine hinreichende Bürgschaft dafür, daß gerade Aristoteles in völlig einwandfreier Weise befähigt war, den Sinn der Ideenlehre adaequat zu begreifen? Zeigt sich Aristoteles nicht in sehr wichtigen, garnicht zu übersehenden Beziehungen als ein von dem Platonischen abweichender philosophischer und geistiger Typ? Man erwäge nur einmal die Verschiedenheit des Interesses beider Philosophen gegenüber der Mathematik. „Aristoteles kann als das Haupt der Empiristen, Plato aber der Noologisten angesehen werden", heißt es in der Kritik der reinen Vernunft. Es ist aber ein Merkmal der Empiristen aller Zeiten und Völker, daß sie auf Grund ihrer Geisteshaltung ideelle Werte nicht anders als in substan- tialistischer Weise aufzufassen vermögen, um dann von dieser Auffassung aus eine Kritik jener Werte zu versuchen. Lockes unzutreffende Charakteristik und Interpretation der Substanzidee ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Und nun ist es beachtenswert, daß auch Aristoteles der Philosophie Piatons innerlich als Kritiker gegenüberstand. Inbezug auf diesen Punkt gibt Pr. selbst eine inter- essante, die Authentizität der Aristotelischen Darstellungen jedoch stark ein- schränkende Charakteristik vom Wesen des Stagiriten. „Er — Aristoteles — berichtet vorzugsweise als Kritiker — nämlich über die früheren Philosopheme — aber eben deshalb sind auch seine Angaben nicht überall unbedingt zuverlässig, besonders da er an fremde Lehren den Maßstab seiner eigenen Grundbegriffe legt" (S. 19). Mit dieser m. E. durchaus zutreffenden kritischen Kennzeichnung des Aristoteles mindert Pr. aber in recht erheblichem Maße die Zuverlässigkeit und die Objektivität seines Gewährsmannes. Lotzes, Natorps und vieler Anderer Platon-Auffassung hat ihren Grund auch nicht in dem „Empfinden moderner Philo- sophen" (8. 279), sondern in sehr eingehenden Forschungen, die darauf gerichtet sind, den philosophischen Sinn des Ideenbegriffs herauszuarbeiten im Gegen- satz zu der doch vorherrschend nur durch Aristoteles gestützten traditionellen ontologistischen Interpretation, von der man nicht so einfach sagen kann, sie habe „sich auch unter den neueren Platonerklärern als die herrschende behauptet" (S. 278). Und wenn Pr. zur Stützung der ontologistischen Ideendeutung darauf hinweist, daß „die Neigung, Abstraktes plastisch zu verkörpern, tief im griechischen Wesen wurzelt" (S. 279), so kann man mit Fug auch auf die entgegengesetzte Fähigkeit der wirklichen Philosophen aufmerksam machen, die dahin geht, ihre Kraft in der Konstruktion unsinnlich-formaler, rein logischer Gebilde zu betätigen : die Schöpfung der Mathematik und der formalen Logik sind ein Zeugnis dieser 494 Besprechungen (Uebergweg — Wichinann). ganz unontologischen Begabung und Tendenz. — Pr. ist übrigens keineswegs blind für die erkenntnistheoretisch-logische Seite der Ideenlehre, wie einsichtsvolle Be- merkungen z. B. auf S. 280 und 299 belegen. Da sich aber bei Aristoteles keine Erkenntnis dieser doch so unendlich wichtigen, ja der eigentlich grundsätzlich be- deutungsvollen Seite der Ideenlehre findet, so ist die bedingungslose Berufung auf ihn und sein angeblich adaequates Verständnis des Sinnes der Platonischen Leistung nicht aufrechtzuerhalten. Ceterum censeo: Die Deutungsschwierigkeiten der Pla- tonischen Ideenlehre stellen ein Musterbeispiel für die außerordentlichen Schwierig- keiten der Deutung von Schöpfungen der Geschichte überhaupt dar. Besäßen wir eine systematisch durchgeführte Hermeneutik, deren Schaffung eine der wich- tigsten Aufgaben aller philosophischen Theorie und Grundlegung der Geschichte ist, dann hätten wir diejenigen methodischen Hilfsmittel an der Hand, um eine Auffassung und Illustration der Ideenlehre Piatons zu erreichen, die aller Ein- seitigkeit fernstehen. Die Frage der Plato-Interpretation ist, wenn man sie in ihrem tiefsten philo- sophischen Grund und Gehalt erfaßt, keine Spezialfrage, auch kein Gegenstand einer nur philologischen Auseinandersetzung. An ihr läßt sich der immanente Kampf eines der größten Denker aller Zeiten um den Begriff und Sinn der Idee, d. h. um den Begriff und Sinn des Geistes und des Philosophierens überhaupt verdeutlichen. Deshalb wäre es nicht unangebracht, für die Erörterung dieser Frage, ferner für die Darstellung der verschiedenen, gegeneinander streitenden Ansichten und für die eigene Stellungnahme ein besonderes Kapitel zu verwenden, statt diese Dinge nur als Anhang zur Inhaltsangabe des , Gastmahls' zu bringen. 2 — Wenn Kant — in der Vorrede zur 2. Auflage der Kr. d. rein. Vern. — von dem „bisher noch nicht erloschenen Geist der Gründlichkeit in Deutschland" spricht, so kann man in dem Werke Praechters die bewunderungswürdige Fort- setzung und damit Aufrechterhaltung dieses Geistes erklicken. Es stellt ohne Zweifel einen Höhepunkt in der wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart dar. Berlin. Arthur Lieber t. Wichmann, Ottomar, Dr., Privatdozent an der Universität Halle, Piaton und Kant, eine vergleichende Studie. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1920. 202 Seiten. In W.s Buche liegt eine für den Kant- wie den Piatonforscher gleich inter- essante Behandlung des Themas Piaton und Kant vor, die von der Marburger Einstellung abweicht und sich ihr in vielen Stücken ausdrücklich entgegenstellt. Jede Kritik der Marburger Piatondeutung pflegt auf die Züge des Piatonismus hinzuweisen, die bei der kritizistischen Auffassung völlig ausfallen. Sie innerhalb der platonischen Gedankenwelt zu sehen ist nicht schwer. W. faßt aber seine Aufgabe anders; er will die neukantische Deutung mit ihren eigenen Waffen treffen und eine viel weitergehende Uebereinstimmung zwischen Kant und Piaton feststellen; er will also implicite die Marburger Kantausdeutung als ebenso unzu- reichend für Kant wie für Piaton erweisen. Dieses Verfahren hat den Vorteil, daß die Diskussion in der philosophischen Sphäre bleibt, von der aus die Mar- burger Deutung allein getroffen werden könnte. Die Kantauffassung, die W. sich zurechtgelegt hat, legt größeren Wert auf die praktische Vernunft und die Probleme der Urteilskraft; die Kantische Natur- philosophie ergibt überraschende Uebereinstimmungen mit Piaton (vgl. das V. Kapitel W.s); W. argumentiert zwar im wesentlichen mit den drei Kritiken, er findet aber (S. 196 Anm.: „hier nennt auch Kant" [Piaton Druckfehler] „die Materie den Raum") „wörtlichere verblüffendere" Anklänge im Opus postumum, in dem er die seiner Meinung nach wesentlicheren metaphysischen Tendenzen am reinsten ausgesprochen findet. W. zieht die Parallelen mit einer ausgebreiteten Belesenheit in Kants und Piatons Schriften; den letzteren sucht er in gründlicher eingehender Interpretation einen neuen Sinn abzugewinnen. Die Gesamtauffassung Piatons, zu der er gelangt, ist ein eigentümlicher Agnostizismus. Wenn nach Dilthey alle Metaphysik von dem Skeptizismus als ihrem Schatten begleitet wird, Besprechungen (Wichmann — Apelt). 495 so ist W.s Auffassung der Schatten zu der ehrlich metaphysischen Deutung Wila- mowitz', mit der W. sich eingehend auseinandersetzt. Der Zielpunkt der pla- tonischen Philosophie ist nach W. (S. 52) „unbedingtes, voraussetzungsloses Wissen". W. legt aber den höchsten Nachdruck auf die geforderte Rechenschaft die er in „begrifflichem" Sinne versteht. Dieses Ziel ist nach W. nicht in dem Prinzip der allgemeinen Gesetzlichkeit erreicht (Marburger), auch nicht uner- reichbar (Wilamowitz) sondern noch nicht erreicht, aber erreichbar (S. 45). Indem W. durchgängig die skeptischen Bemerkungen, die Piaton dem Sokrates in den Mund legt, als maßgebend für Piatons eigene Stellungnahme an- sieht, interpretiert er aus den Werken der Reifezeit den Gedanken heraus, daß später einmal eine größere Annäherung an das Ziel begrifflicher Erfassung der Idee zu fordern ist. Da dies tatsächlich nie erfolgt, auch der im Sophistes und Parmenidos erfolgende „neue Anlauf, Gewißheit über Sein und Wert zu erlangen, (S. 144) mit einem unzweideutigen Fehlergebnis" schließt (S. 109), so ist nach W. die letzte Phase der Entwicklung ein resigniertes Zurückkehren zu der früheren Position etwa des Phaidon> ein Zurückweichen in die Ausgangsstellung nach ge- scheiterter Schlacht (S. 145). Im Timaios hat zwar „die Forderung , der Gewiß- heit ihre Schwungkraft verloren" (171), aber sie bleibt bestehen, und „der reli- giöse Glaube soll keinen Ersatz bieten für das Xoyov didovai". Hinsichtlich der als Wissenschaft zweiten Ranges aufgefaßten Naturerklärung setzt W. seine be- reits früher (Kantstud. Erg.-Heft 40) entwickelten Gedanken fort und vertieft sie durch interessante Parallelen zur Kritik der Urteilskraft. Der Wert des Buches liegt in der Fülle neuer Probleme, die es stellt. Durch W.s Darstellung wird die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Idee, die Notwendigkeit genauerer Abgrenzung des Psychologischen und Logischen in der platonischen Intuition (cf. S. 51 Anm. 1) in ihrer ganzen Schwierigkeit fühlbar. Wenn W. (S. 139) erklärt, daß jeder Begriff, sobald man ihn „rein" auffaßt, zur Idee und folglich begrifflich nicht erreichbar wird, so sieht man deutlich, daß in der scheinbaren Resignation Piatons logische Motive auftauchen, die zu einer weiteren Fassung des „Begriffes" drängen. Hätte W. um den Sinn und das Wesen des platonischen Logos mit derselben Genauigkeit sich bemüht wie um den Sinn des „Seins" (S. 113 — 115) — solche Bedeutungsanalysen helfen weiter und sie allein führen zu einem Verständnis Piatons — so wäre der Sinn seiner Darstellung noch klarer herausgekommen. So aber nähert sich W. gelegentlich der Auffassung der Idee als einer Aufgabe, ohne doch die Konsequenzen, die sich daraus für ihre Bedeutung und für den Seinsbegriff ergeben, zu ziehen. Merkwürdig ist, daß W. manche sehr ernste Probleme ganz peripherisch be- handelt, wie die Methexis, die Gemeinschaft der Ideen. Freilich stehen bei W. die obersten Ideen, das Gute, das Sein so sehr im Vordergrunde, daß alle die Fragen zurücktreten, die erst mit einer Vielheit der Ideen brennend werden. Aber die Tatsache, daß eine solche Auffassung sich durchführen läßt, verdient Beachtung. Ueberhaupt ist alles, was W. behauptet, in einer eingehenden wirk- lichen Kenntnis Piatons begründet, er versucht, zu interpretieren. Darum ist auch jeder Anstoß, den man nimmt, ein Fingerzeig auf Tatsachen, die der Er- klärung bedürfen. Darin sehe ich die Bedeutung des Buches. Breslau. Julius Stenzel. Apelt, Otto, Piatons Briefe übersetzt und erläutert. Der Philos. Biblio- thek Band 173. Leipzig 1918. Verlag von Felix Meiner. 154 S. 8°. 4,40 Mk. Die Uebersetzung der Briefe Piatons ist schon aus dem Grunde verdienstlich, weil von den drei bisherigen Uebersetzungen (Schlosser 1795, Müller - Steinhart 1859, Wiegand 1859) die zweite nicht einzeln, die erste und dritte überhaupt nicht mehr zugänglich ist. Die Einleitung gibt über die Geschichte der Brief- literatur im Altertum und über die Echtheitsfrage der Piatonbriefe ausführliche Auskunft. Apelt tritt für die unbedingte Echtheit der Sammlung ein und zwar mit jenen guten, allgemeinen Erwägungen, die alle, die lernen wollen, in den letzten Jahren genötigt haben umzulernen. Spezielle neue Argumente bringen weder die Einleitung noch die reichen, 34 Seiten langen Anmerkungen, aber es 496 Besprechungen (Apelt — Rolfes). sind genug Stellen bezeichnet, an denen der, der auf positive Echtheitsbeweise hinauswill, ansetzen kann. Und dieser bedarf es in der Tat! Es ist nicht richtig, daß der Beweiszwang, wie Apelt meint, nur auf der Seite derer ist, die die Un- echtheit vertreten. Wer sich in so verdächtiger literarischer Gesellschaft befindet, wie Briefe es sind, muß sich legitimieren können. Aber das können gewisse Teile der Sammlung auch. Ich glaube, am schlagendsten ist Ep. VII, 342 f.: Name, Begriff als Wort, empirisches Abbild, wissenschaftliche Erkenntnis, Idee, so führt Piaton aus, sind die fünf Punkte, die für jedes Objekt unterschieden werden müssen. Das ist in leicht verständlicher Form und doch in ganz original durch- gedachter Fassung die Lehre seiner konstruktiven Dialoge, daß die sinnlichen Objekte genau die Mitte halten zwischen Nichtsein und Sein, und daß es von jenen zu diesen eine Reihe von Zwischengliedern gibt. Das kann nur Piaton ge- schrieben haben, denn im Altertum hat niemand diese seine Lehre recht ver- standen. — Die Uebersetzung ist von der gleichen musterhaften Klarheit des Aus- drucks und Gedankens und von derselben Zuverlässigkeit in der Uebertragung wie alle übrigen Bände des Werkes, das nunmehr in sechzehn Bänden vorliegt. Berlin-Friedenau. Ernst Hoffmann. Aristoteles, Kategorien (Des Organon erster Teil). Neu über- setzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. theol. Eugeu Rolfes. Der philosophischen Bibliothek Bd. 8. Leipzig 1920. Ver- lag von F. Meiner. 8°. 86 Seiten. Preis broschiert 10 Mk. Aristoteles, Perihermenias oder Lehre vom Satz. (Des Organon zweiter Teil.) Neu übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. theol. Eugen Rolfes. Der philosophischen Bibliothek Band 9. Leipzig 1920. Verlag von F. Meiner. 8°. 42 S. Brosch. 6,25 Mk. Mit diesen Uebersetzungen der beiden ersten Teile des aristotelischen Or- ganon kommt Rolfes sicher einem verbreiteten Bedürfnis entgegen : Werden doch hierdurch philosophische Werke vermittelt, die für die Beurteilung der ganzen mittelalterlichen Philosophie von allererster Bedeutung sind. In diesem Sinne ist es auch wertvoll, daß den Kategorien eine Uebersetzung von Porphyrius Ein- leitung in die Kategorien vorangeht, in der die für das Mittelalter so ent- scheidende Formulierung des Universalienproblems sich findet. Die gewiß nicht einfache Aufgabe, Aristoteles sinngetreu in ein lesbares Deutsch zu übertragen, hat Rolfes auch hier wieder mit Gründlichkeit und Geschick zu lösen gesucht, wenn auch einzelne Schwierigkeiten bleiben. Eine solche findet sich z. B. in Kap. 7 der Kategorien: Im Griechischen wird das Verhältnis zweier korrelativer Begriffe wie „Flügel" und „Geflügeltes" (zum Flügel gehört ein Geflügeltes und zum Geflügelten ein Flügel) einfach durch den Genitiv voll ausgedrückt, während im Deutschen der Genetiv einen solchen Sinn nicht anzeigt. Wenn nun Rolfes als veranschaulichendes Beispiel solchen korrelativen Verhältnisses übersetzt: „So ist z. B. der Flügel Flügel des Geflügelten", so ist im Deutschen der Sinn des korre- lativen Verhältnisses keineswegs zum Ausdruck gebracht. Man könnte im Deutschen an dieser Stelle ebenso „Flügel des Vogels" sagen, obwohl doch nach Aristoteles zwischen „Flügel" und „Vogel" ein solch korrelatives Verhältnis nicht besteht. Es zeigt dies Beispiel, mit welchen Schwierigkeiten die Aristotelesübersetzung zu kämpfen hat, da im Deutschen ein sprachlicher Ausdruck für das korrelative Ver- hältnis fehlt. Vielleicht: „So ist z. B. der Flügel Flügel (als Korrelat) zum Ge- flügelten." Diese Schwierigkeit wiederholt sich in noch stärkerem Maße in Kap. 8 auf S. 56. — In der Uebersetzung des Perihermenias ist auf S. 11 der Ausdruck „jedes von beidem, was" mindestens sehr mißverständlich, das griechische d7ioTEQovovv bedeutet „jedesmal das von beidem, was". Auf S. 15 ist Aristoteles' Wendung: „niemals zu gleicher Zeit noch in Bezug auf dasselbe wahr sein" zu stark zusammengezogen in „niemals von demselben Subjekte wahr sein". Auf S. 22 hat uvccyncciov einen falschen Akzent. Eins freilich darf hier nicht übergangen werden: daß Rolfes in der 16. An- merkung in den Kategorien (S. 81) eine merkwürdige Auffassung vom „Kantschen Idealismus" vertritt. Darin, daß Aristoteles das Dasein des Sensiblen unabhängig Besprechungen (Rolfes — "Wittmann). 497 und vor der Wahrnehmung behauptet, sieht Rolfes eine im Voraus erfolgende Verurteilung des Kantschen Idealismus. Demgegenüber muß die ziemlich bekannte Tatsache festgestellt werden, daß 1) Kant dem Raum und der Zeit empi- rische Realität zuspricht, 2) daß er, selbst soweit er Raum und Zeit als Form behandelt, dennoch diesem Formalen stets das „Materielle der Emp- findungen" gegenüberstellt. Während man also nach Rolfes annehmen müßte, Kant habe den Realgehalt in der Empfindung geleugnet, setzt der Kantische Formalismus gerade in die Empfindung den Realgehalt. Aehnliche, das Wesen der Kantischen Philosophie vollständig verkennende Aeußerungen finden sich übrigens auch in den Anmerkungen Rolfes' zur Metaphysik. (Anm. 9 z. Buch X: „Kant, der . . . bezüglich der sensiblen Welt unsicher zwischen Realis- mus und Idealismus hin- und herschwankt", Anm. 28 zum IV. Buch wird schlechthin vom „Kantschen Subjektivismus" gesprochen".) Halle. Ottomar Wichmann. Wittmann, Michael, Prof. d. Philosophie in Eichstätt, Die Ethik des Aristoteles in ihrer systematischen Einheit und in ihrer geschichtlichen Stel- lung untersucht. Regensburg 1920 März. 8°. XX u. 355 S. Die vorliegende Untersuchung kommt einem dringlichen Bedürfnis entgegen. So groß die Zahl der monographischen Arbeiten über Teile der aristotelischen Ethik ist, so sehr vermißte man bisher eine eingehende Erforschung der aristote- lischen Ethik als eines Ganzen und ihr allseitig begründetes Hineinstellen in die historischen Zusammenhänge, aus denen sie erwachsen ist (V— XIV). W. unternimmt es nun, den inneren Aufbau der ethischen Gedanken- welt des Aristoteles klar zur Anschauung zu bringen und dabei Abhängigkeit wie Originalität der Gedankenführung, ihre geschichtlich bedingte Besonderung wie den in ihr steckenden allgemein menschlichen Kern herauszuschälen : Ausgehend von einer durchsichtigen Kennzeichnung der Eigenart antiker Problem- stellung auf ethischem Gebiete, insbesondere von der Hervorhebung ihres pragmatischen („praktischen") Charakters weist der Verf. auf den Gedanken des letzten Zieles als den Kristallisationskern der aristotelischen Bemühungen auf ethischem Gebiete hin. Die „Glückseligkeit", die als dieses letzte Ziel be- stimmt wird, hat bei Aristoteles nicht einen eudämonistischen, sondern einen aus- gesprochen teleologischen, näherhin ethischen Charakter, der seinen Richtpunkt nicht in dem „höchsten Gut" der platonischen Metaphysik, sondern in dem immanent bestimmten Lebenszweck findet, wenigstens sofern der ari- stotelische Gedankengang von rein ethischen Gesichtspunkten geleitet wird. Die Tugendlehre ist somit der wichtigste Bestandteil der Ethik als Glückselig- keitslehre, und zwar wird, wenigstens implizite, die sittliche Tugend als spe- zieller Grund der Glückseligkeit angesehen (S. 1 — 42). So versteht es sich von selbst, daß der Darstellung der aristotelischen Tugendlehre der größte Raum zugewiesen wird (S. 43—240): Das Originelle bei Aristoteles erblickt W. in der Bestimmung, daß die Tugend die vernunft- gemäße Haltung und Verfassung der Gesamtpersönlichkeit ist. Be- sonders instruktiv ist die Umgrenzung der Funktion des „ ög&bg Adyog" im Unter- schied zur n(pQ6vri6igu sowie die überzeugende Herausstellung der für das Verständnis des aristotelischen Systems wichtigen Mehrdeutigkeit der „(pgdvrioig", die bei A. nicht nur sittliches Denken, sondern sittliche Gesinnung bedeute (S. 55—97). Die Zergliederung der Begriffe des „«tovffiov" und der „itQocctQsoig" führt uns in die vielumstrittene aristotelische Freiheitslehre ein (S. 97 — 143, auf S. 116 Z. 12 v. u. muß es offenbar „unfreiwillig" heißen!). W., der diesem Problem eine besondere Monographie zu widmen beabsichtigt, stellt sich ganz entschieden auf den Standpunkt, daß A. sich bewußt gegen den sokratischen Determinismus gewandt hat und „den Ruhm in Anspruch nehmen" kann, „zum ersten Mal den Versuch zu einer Definition und Theorie der Willensfreiheit unternommen zu haben". Bekanntlich hat R. Löning in seinem Buch „Die Zurechnungslehre des A." (1903) den entgegengesetzten Standpunkt eingenommen. Das Kapitel über „die Tugend in ihrer Beziehung zum Gefühlsleben" (S. 143—173) bietet dem Verf. Kantatudien. XXVI. 32 498 Besprechungen (Wittmann — Ehrle). Gelegenheit, darzutun, wie A. bestrebt ist, den einseitigen sokratischen Intellek- tualismus zu überwinden, ohne damit einer hedonistischen Auffassung zuzuneigen. „Der aristotelische Tugendbegriff ist intellektualistisch und ästhetisch zugleich" (S. 178), und er ist mehr als das, weil beide Momente sich dem obersten Ziele, der höchsten Vollkommenheit der menschlichen Gesamtnatur, unterordnen (vgl. S. 181 f.). Die Darstellung der „besonderen Formen der Tugend" nach A. (S. 183 bis 245), aus der besonders die klärenden Ausführungen über den Gerechtigkeits- begriff (S. 208 ff.) hervorgehoben sein mögen, zeigen uns den Stagiriten als Ver- treter einer im Grunde optimistischen Lebensstimmung, die aber gezügelt und veredelt wird durch die Hervorhebung des Pflichtgedankens und durch den hellenischen Sinn für Maß und Ordnung. Ihre Probe hat die aristotelische, wie jede Ethik in der Stellungnahme zum Lustbegriff zu bestehen. A. hat sich darüber an verschiedenen Stellen und an- scheinend nicht in übereinstimmender Weise ausgesprochen. Der Verf. sucht kritisch die einzelnen Abschnitte zu zergliedern (S. 246 — 307) und legt dar, daß A. seiner grundlegenden Einschätzung der Lust nie untreu geworden ist. Die scheinbaren Unstimmigkeiten erklären sich aus der verschiedenen Einstellung, die dem jeweiligen Gedankenzusammenhang entspricht. In einer Schlussbetrachtung (S. 308—322) sucht W. insbesondere die schließliche Einmündung der aristotelischen Ethik in intellektualistische Bahnen (vgl. 315 f.) mit der bisherigen rein ethisch orientierten Gedankenrichtung aus- zugleichen, was allerdings nach seinem eigenen Eingeständnis nicht vollkommen gelingt. Ob in der Tat der aristotelischen Ethik uneingeschränkt der „Charakter der systematischen Geschlossenheit" zugesprochen werden darf, muß danach wohl dahingestellt bleiben. Daß es W. gelungen ist, den Willen zum System auch in den ethischen Schriften des A. als richtunggebend zu erweisen, ist zuzu- geben. Möge deshalb das klar und gründlich verfaßte Werk, dessen Ziel es ist, unzweideutig auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Aristoteles auch für die moderne, im wesentlichen an Kant orientierte Ethik hinzuweisen, die Be- achtung finden, die es vollauf verdient! Braunsberg, Ostpr. B. W. Switalski. Ehrle, Franz S. J., Grundsätzliches zur Charakteristik der neueren und neuesten Scholastik. (Ergänzungshefte zu den Stimmen der Zeit. Erste Reihe: Kulturfragen. 6. Heft.) gr. 8°. 32 S. Freiburg i. Brsg. (Herder) 1918. Preis 1 Mk. Die Scholastik ist ein historischer Begriff. Hervorgegangen aus einer Ver- einigung der aristotelischen Philosophie mit dem besonderen Lehrgehalt des Christentums, gipfelt sie historisch in dem Werke des Thomas von Aquin. Die historische Entwicklung wird kurz skizziert, ohne über eine ganz allgemeine Charakterisierung hinauszugehen. Wesentlich ist dem Verfasser die neuere und neueste Scholastik. Die neuere Scholastik beginnt nach ihm mit dem 16. Jahr- hundert. Die im Gefolge der Reformation auftretende Reform im Katholizismus bringt theoretisch ein Zurückgehen auf die Scholastik; ihre Erneuerung trägt deutliche Spuren des Humanismus an sich. Gekennzeichnet ist sie durch die Tätigkeit des Dominikanerordens und des neuerstandenen Jesuitenordens, der von keinerlei Tradition belastet mit einer gewissen Vorurteilslosigkeit an die Probleme heranging. Die Erneuerung der Scholastik, die als neueste Scholastik gelten kann, fällt in das ausgehende 19. Jahrhundert, zeitlich etwa zusammen mit der Ent- stehung des Neukantianismus; sie steht im Zeichen des Rückgangs auf Thomas von Aquin; doch verlangt sie eine durchaus kritische Sichtung des vorhandenen Materials und versucht eine Berücksichtigung der gesamten gegenwärtigen Philo- sophie, vor allem wohl des erkenntnistheoretischen Realismus, wie denn ein Ver- treter des Thomismus, Grabmann, Külpes Realismus in seinem Verhältnis zur Scholastik monographisch behandelt hat. Hinweise auf die Literatur ergänzen die Besprechungen (Ehrle— Wundt). 499 Ausführungen und machen sie zu einer brauchbaren Orientierung für weitere Kreise, als welche die kleine Schrift auch gedacht ist. Heidelberg. Friedrich Kreis. Wundt, Max, Professor an der Universität Jena, P lotin, Studien zur Geschichte des Neuplatonismus. Erstes Heft. Verlag Alfred Kröner 1919. Wundts Schrift ist skizzenhafter Art, behandelt Plotins Schrifttum, insbe- sondere dessen allgemeinen Charakter und die Unterscheidung dreier Zeitabschnitte, weiter Plotins Verhältnis zu Gallien und endlich Plotins Evangelium. Die Schrift ist außerordentlich anregend, kann aber, wo keine genaue Kenntnis Plotins vor- liegt, zu Mißverständnissen führen. Ich möchte aus diesem Grunde meine ab- weichende Ansicht, die auf eingehender Durchforschung des Materials beruht und deren genaue Begründung ich an anderer Stelle gebe1), hervorheben. Plotin ist der systematischste Denker des Altertums und frühen Mittelalters. Diesen Satz möchte ich der Behauptung Wundts entgegensetzen, daß alle Ver- suche, ein System des Plotin herauszuarbeiten, dem eigentümlichen Charakter dieser Schriften unangemessen seien. Bewiesen wird mein Satz dadurch, daß 1) allen Abhandlungen Plotins ein und dieselbe, sich allmählich ausbildende und dann wieder zurückbildende Reihe von wenigen Grundbegriffen zugrundeliegt, daß 2) die einzelnen Disziplinen wie Aesthetik, Ethik, Kategorienlehre in besonderen Untersuchungen behandelt werden, daß 3) sogar eine eigene Methode der Ab- leitung der Begriffe entsteht und daß sich endlich das System tatsächlich auf- weisen läßt. Das Neue Plotins (Wundt S. 2) liegt darin, daß er das alexandri- nische Weltschema, welches Gott und Materie durch eine Reihe von Zwischen- stufen verbindet, im Abstiege die Welt erzeugt, im Aufstieg den Menschen erlöst, zur Grundlage eines Systemes macht, es dadurch innerlich umgestaltet und eine Reihe neuer Begriffe in ihm ausbildet. Er ist der philosophische Höhepunkt in einer von Philo ausgehenden, über tausendjährigen Entwicklung, der größte Denker des frühen Mittelalters, wenn wir dieses mit der Wende der Zeitrechnung be- ginnen. Wenn man das System — wohl gemerkt, das sich entwickelnde, lebendige, in keinem Augenblick starre System — leugnet, so begibt man sich damit auch einer genaueren Einsicht in die plotinische Entwicklung. Denn die von W. als das einzig Mögliche hingestellte Einzelanalyse der Schriften ist Voraussetzung, aber nicht das Ziel; gerade die von Hegel schon gerügte, häufige Wiederholung der (scheinbar) gleichen Gedanken erfordert eine zusammenschauende Betrachtung. Wenn man aber die einzelnen Schriften analysiert, so darf man dabei nicht ohne weiteres das Resultat Jaegers, daß die aristotelischen Schriften zur Verlesung in der Schule bestimmte Logoi sind, auf sie übertragen (S. 3). Denn eine ein- gehende Untersuchung ergibt, daß sich im plotinischen Werk auch Unterredungen der Schule , ja selbst von Schülern verfaßte Schriften finden ; es braucht sich keineswegs bei allen um Vorlesungen zu handeln, und wenn es solche sind, so bleibt die Frage, ob von ihm oder seinen Schülern aufgezeichnet, bestehen. — Die Unterscheidung dreier Zeitabschnitte ist unzweifelhaft richtig, sie ist schon von Porphyr empfunden, wenn es auch nicht angeht, den Schnitt zwischen der zweiten und dritten Periode so zu legen, wie er und W. es tun. Daß die von W. zugrundegelegte Chronologie nicht stimmt, ersieht man aus der Bemerkung, daß „die 10 (genauer 9) Jahre, die Zeit von 253—262, das 50.— 59. Lebensjahr des Plotin bedeuten", und weiter daraus, daß die Jahre 262—68 als 6 Jahre gezählt werden. Die ganze Darstellung der Entwicklung erscheint aber dadurch in fal- schem Bild, daß die porphyrische Reihenfolge als die historische zugrunde gelegt wird, was sie nicht ist, wie sich beweisen läßt. Auch die Charakteristik der einzelnen Perioden trifft m. E. nicht ganz zu. „Aufs Ganze gesehen", heißt es S. 28, „ist die erste Periode platonisch gerichtet, die zweite aristotelisch, die 1) Plotin, Forschungen über die plotinische Frage, Plotins Entwicklung und sein System. Gedruckt mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Wien. Leipzig, Meiner. 1921. 32* 500 Besprechungen (Wundt). dritte stoisch". Die erste geht sowohl yon Plato wie von den Mysterien aus, führt aber in dem Begriff des Einen und in dem Willen, die anderen Grund- begriffe aus ihm abzuleiten, über Plato hinaus. Die zweite ist so wenig aristote- lisch, daß sie sich mit Aristoteles vielmehr auf das schärfste auseinandersetzt und nur einzelne seiner Begriffe in völlig umgebildeter Form aufnimmt; sie steht dem alexandrinischen Weltschema und damit Philo und der Gnosis unend- lich viel näher, indem sie von beiden angezogen und abgestoßen wird. Die dritt endlich setzt sich wohl mit stoischen Problemen auseinander, aber ebenso mit dem Parsismus, der Astrologie und dem Christentum. Wenn im einzelnen ai die Unterscheidung des unteren und oberen Weges des Aufstieges großer Wei gelegt wird, so scheint mir das nicht ihrer tatsächlichen Bedeutung zu entsprechei 13 enthält so wenig Plotin eigentümliche Gedanken, daß es sich fast ganz i stoische und platonische Bestandteile zerlegen läßt und man beim letzten Kapite füglich an seiner Echtheit zweifeln kann ; man darf es daher wohl kaum als Prc gramm der plotinischen Schule bezeichnen (S. 12). Daß V 1 älter ist als I (S. 12) ist ausgeschlossen, da I 3 den Begriff des Einen noch nicht kennt, dei in V 1 im Mittelpunkt steht. Ferner erscheint mir unbegründet, was S. 15 vor einem Lehrplan in den ersten Schriften und von der zufälligen Entstehung dei späteren gesagt wird. Am eingehendsten werden die Schriften der dritten Epoche besprochen, und diese ist daher am besten charakterisiert. Das Verhältnis Plotins zu Gallien zur Diskussion gestellt zu haben, ist ei Hauptverdienst der Schrift. Aber daß der Denker in Platonopolis für den Kaisei habe Soldaten heranziehen wollen, klingt unglaubwürdig, denn kriegerisch ist seine Philosophie, die sich nach ekstatischer Vereinigung mit der Gottheit sehnt, nicht Von der politischen Tugend wird mit Verachtung gesprochen. Auch daß nach einer Spiegelung von Zeitereignissen in Plotins Schrifttum gesucht wird, ist neu und anregend. In V 5, 3 kann eine Reminiszenz an Galliens Jubiläumsfestzug vorliegen, aber die Ausdeutung von I 5, 10 (S. 42) ist nicht überzeugend. Daß der Kaiser Plotin zum Schreiben veranlaßt habe, erscheint mir unwahrscheinlich (S. 43), daß sein Ende auf den Zustand der Schule ein- gewirkt hat, dagegen sehr wohl möglich. Mit der Auffassung W.s von dem sogenannten Evangelium Plotins werde ich mich an anderer Stelle auseinandersetzen und möchte hier nur noch auf Einzelheiten aufmerksam machen. — Die schwer verständlichen Ausdrücke des Schlusses der vita des Porphyrius nstpulcacc, v%o\kvr\\ici%u c) Liebert = 3992,50 ) Porto-Ausgaben: a) Vaihinger = 1020 Nummern = 268,20 ) b) Frischeisen-Köhler = 240 „ == 151,70 [ c) Liebert = 18779 „ = 3683,10 ] Fernsprecher: Anlage (Hinterlegung von 1000 Mk. für den Apparat) und Gebühren Entschädigung für den stell v. Geschäftsführer Prof. Liebert Entschädigung für den Assistenten Gesamtausgaben Mk 11434445 Kant-Gesellschaft. Neuangemeldete Mitglieder für 1921. Ergänzungsliste 2: Juni— Dezember 1921. I. Jahresmitglieder. A. stud. phil. Ilse Abraham, Berlin W 50, Achenbachstr. 3. cand. phil. Adolf Ackermann, Gießen, Westanlage 58. Wilhelm Ahrens, Zschortau b. Leipzig, Pfarrhaus. Dr. Paul Altenberg, Berlin-Schöneberg, Hauptstr. 48. Dr. An d er h üb, Cöln- Lindenthal, Dürenerstr. 236. Dr. Georg Anderson, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. 59. Hannah Arendt, Königsberg i. Pr., Busoldstr. 6. Justizrat Georg Aronsohn, Berlin- Wilmersdorf, Kaiserallee 26. Ministerialrat Professor Dr. Apelt, Dresden-N., Hospitalstr. 10b. KarlAuf'mkolk, Hagen i. Westf., Potthofstr. 40. B. Pfarrvikar Ludwig Badstübner, Dresden-Löbtau, Walbritzstr. 16. L. Ballhorn, Halle a. d. Saale, Kirchnerstr. 21. cand. med. Hans Bargou, Tübingen, Keplerstr. 9, bei Vatters. Paul Barth, Leipzig-Schönefeld, Scheumannstr. lc. Btud. jur. Ernst Barthel, Halle a. d. Saale, Zapfenstr. 21. Taubstummenlehrer W. J. Bechinger, Meersburg a. Bodensee. 5J8 Kant-Gesellschaft. cand. phil. Heinrich Becker, Berlin-Steglitz, Belfortstr. 13a. Dr. Theodor Becker, München, Elisabethstr. 29. stud. med. Cl. Beckmann, Gießen a. d. Lahn, Hoffmannstr. 3. Richard Benjamin, Rheydt i. Rhlnd., Kaiserstr. 60. Studienassesor Ferdinand Bergenthal, Hamm i. Westf., Nassauerstr. 10. Dorothea Bicke, Hannover, Alte Döhrenerstr. 85. Seminar-Prorektor Ludwig Blatter, Ottweiler, Saargebiet, Friedrichstr. 5. Apotheker Friedrich Blochberger, Leipzig, Südstr. 16. Dr. Kurt Blumenfeld, Berlin-Wilmersdorf, Rüdesheimerplatz 7. Dr. Karl Bock, Königsberg i. Pr., Moltkestr. 5. E. Böckmann, Cöln-Lindenthal, Theresienstr. 18. stud. phil. Felix Böhme, Leipzig- Dölitz, Bornaischestr. 176. Rektor Emil Böiger, Göteborg, Schweden, Oere Djupedalegatan 9. Referendar Walter Böse, Berlin-Lichterfelde, Luisenstr. 18. Carla Böttcher, Berlin-Charlottenburg, Berlinerstr. 93. William Boettcher, Berlin N 4, Borsigstr. 5. stud. math. Hermann Brandt, Tübingen, Bursagasse 2. Dr. Friedrich Braun, i. Fa. Braunsche Hof buchdruckerei, Karlsruhe i. Baden, Karlfriedrichstr. 14. Studienrat Dr. Brink, Hannover- Waldheim, Ottostr. 3. Rechtsanwalt Hans Brückner, Löbau i. Sa. Gerard Slotemaker de Bruine, Utrecht, Holland, Dondersstraat 11. Fr. Burgdorf, Magdeburg, Gustav Adolfstr. 24. C. Redakteur Josef Cavallier, Budapest, Ungarn, I Lovas-ut. 8. Dr. Chemnitz, Visselhövede, Provinz Hannover. stud. phil. Chi-kui Chung, Berlin-Charlottenburg, Leibnizstr. 82, bei Frau Spieß. Dr. jur. A. Claus, Sondershausen, Thüringen, Elisabethstr. 9. Bettina Cohn p. A. Kirstein, Berlin W, Bendlerstr. 17. D. stud. theol. Carl Damour, Göttingen, Rosdorferweg 19a. Bibliothekar Leonhard Dal, Stockholm, Adv. Nobelbibliothek. Studienrat Dammann, Dessau, Joachim Ernststr. 18. Dr. Dänzer-Vanotti, Karlsruhe i. B., Vincentiusstr. 4. Professor Walter Dierenbach, Freiburg i. Br., Belfortstr. 26. Reallehrer Hermann Dietrich, Meersburg a. Bodensee, Taubstummenanstalt. Lehrer Hans Di Um er, Hannover, Strohmeyerstr. 2. stud. phil. Alfons Diwo, Heidelberg, Ladenburgerstr. 60. Prokurist Christian Dohle, Cöln-Klettenberg, Nassestr. 26. Dr. Joseph Drexler, Shanghai, China, Weihaiwei Road 95. A. Driessen, Rotterdam, Holland, Gelderschestraat 4a. Frau Dryander, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. IIa. E. stud. phil. Herrn. Chr. Eberle, Darmstadt, Heidelbergerstr. 129. Reallehrer Wilhelm Eck, Meersburg a. Bodensee. Dr. Walter Eckstein, Wien IV, Kandlglasse 6. Professor Dr. Rudolf Ehrmann, Berlin W 15, Kurfürstendamm 18—49. Dr. Hugo Eichert, Ludwigsburg i. Wttmbg. Kaiserstr. 7. stud. phil. Fritz Ephraim, Heidelberg, Landfriedstr. 14 bei Singhoff. Frl. Dr. M. E r 1 e r , Leipzig, Ranstädter Steinweg 40 III. C. C. van Essen, Utrecht, Holland, Catharynesingel 93 bis Professor Dr. Karl Essl, Aussig, Tschechoslo vakei, Mozartstr. IIa. cand. phil. J. C. B. Eykmann, Amsterdam, Holland, J. W. Brouwerstraat 40. Kant-Gesellschaft. 519 F. Lehrer Jakoh Faber, Offenbach, Rheinland. Studienassessor Walter Fabian, Breslau V, Rehdigerstr. 28. Dr. Robert Faesi, Zollikon, Schweiz. stud. theol. F au sei, Tübingen, Klosterberg 8. Prof. D. Dr. Joseph Feldmann, Paderborn, Phil, theol. Akademie. Kaplan F erber, Püttlingen a. d. Saar. Dr. Wilhelm Flitner, Jena, Forstweg 23. cand. phil. Alfred Franken feld, Göttingen, Lotzestr. 41. Professor Dr. Paul Frankl, Halle a. d. Saale, Neuwerk 19. Privatdozent Dr. Walther Freymann, Dorpat, Estland, Petersburgerstr. 36. G. Gerson Gervai,' Eichwalde bei Berlin. Dr. H. Giltay, den Haag, Holland, 45 van Imhoffstraat. Helmuth von Gizycki, Berlin-Charlottenburg, Mommsenstr. 71. Dr. Ludwig Goldschmidt, Cassel, IJohenzollernstr. 10. Dr. jur. Kurt Graeven, Berlin-Friedenau, Bismarckstr. 11. Dr. Marie Grosche, Hannover, Emilienstr. 4. stud. jur. Ernst Grumach, Königsberg i. Pr., Vorder-Roßgarten 47. Professor Grund el, Karlsruhe, Westendstr. 9. Professor Dr. Alfred Günther, Heidelberg, Bergstr. 13. Rektor John Gustavson, Klippan, Schweden. Dr. Otto v. Gyssling, General d. Art., München, Barerstr. 24. H. P. J. de Haan, Utrecht, Holland, Parkstraat 45. Studienassessorin Else Habering, Königsberg i. Pr., Herbartstr. 8. Dipl.-Ing. Walter Hänig, Dresden-A., Feldgasse 16. Lehrerin Johanna Hartmann, Stuttgart-Untertürkheim, Urbanstr. 78. Studienrat Rudolf Hartmann, Grimma, Sachsen, Schröderstr. 3. Kapellmeister Karl Hauptmann, Graz, Oesterreich, Attemsgasse 8. Studienassessor Dr. Hans Havemann, Hannover, Stephansplatz 6. Walther Hecker, Leipzig-R., Oststr. 521. Felix Heinemann, Luzern, Schweiz, Haldenstr. 53. Gertrud Helbing, Aschersleben, Lange Reihe 15. stud. phil. Margarete Henze, Göttingen, Schildweg 23. stud. math. Lehrer Willy Hermecke, Magdeburg, Duvigneaustr. 16. Landgerichtsdirektor Dr. Hertz, Frankfurt a. Main, Lichtensteinstr. 2. Professor E. Heyn. Hannover, Bödeckerstr. 15. Dr. Konstantin Hilpert, Berlin-Wilmersdorf, Brabanterstr. 22. Studienrat Margarete Hippke, Königsberg i. Pr., Hermann-Allee 2. Frau Tilly Hoffmann, Jena, Fuchsturmweg 18. cand. theol. Friedrich Hofmann, Tübingen, Neuestr. 4. Referendar Dr. Rudolf Hoffnung, Berlin W 62, Lützowplatz 4 bei Landau. stud. math. Helmut Hole, Tübingen, Deutsches Institut für ärztliche Mission. Dr. Ernst Honold, Villingen i. Baden, Marktplatz. i, j. stud. phil. Gerhard Jacob, Leipzig, Bismarckstr. 2. stud. Hans Jacob, Witzenhausen a. d. Werra, Bezirk Cassel, Mündenerstr. 402. Frau E. Jansen, Meersburg a. Bodensee. Referendar Otto Joseph, Berlin W 15, Kurfürstendamm 37. Geheimer Finanzrat Dr. Jost, Berlin W 15, Düsseldorferstr. 47. stud. theol. Carl Jung, Tübingen, Münzgasse 12. K. stud. rer. pol. Ernst Kah, Freiburg i. Br., Scheffelstr. 59. Fritz Karsch, Marburg a. d. Lahn, Wcißenburgstr. 32. 520 Kant-Gesellschaft. Botho Kehr, Landwirt, Pabstorf, Braunschweig. Studienrat P. Kittel, Zittau, Dornspachstr. 2. P. Klantke, Shanghai, China, Medizin- u. Ingenieurschule Weihaiwei Road 9'> Wilhelm Klees, Hamburg 15, i. Firma Wilhelm Klees & Co. Privatdozent Dr. Richard Koch, Frankfurt a. Main, Savignystr. 8. Dr. K. Kof, Jena, Oberer Philosophenweg 2. Albert Köhler, Prokurist, München, Ismaningerstr. 56. cand. theol. W. Koehn, Tornow bei Hohenfinow, Marl:. cand. phil. Hans Kohn, Prag, Tschecho-Slowakei, Rudolfava 15. Lehrer Hans Köhler, Berlin N. 31, Ruppinerstr. 231. Albert Köllges, Dohr, Post Mülfort, Dohrerstr. 320. Hans Költzsch, Leipzig, Arndtstr. 68. Elisabeth Koste r, Magdeburg, W, Arndtstr. 11. Dr. phil. Alexander Koyre, Bergzabern, Pfalz, Eisbrünnerweg bei Dr. Conrad. Lehrerin Hanna Kramer, Wegeleben, üstharz, Zuckerfabrik. cand. rer. pol. Heinz Krapoth, Mülheim-Ruhr, Broich, Rheinl., Wilhelminenstr. 31. Wilhelm Kratz, Münster i. Westf., Melchersstr. 41. cand. ing. Willy Kriz, Zellerfeld i. Harz, Bergstr. 163. Dr. Hans Krüger, Hannover, Ubbenstr. 19. stud. phil. Wilhelm Krüger, Marburg a. d. Lahn, Hofstadt 18. Gymnasiallehrer Werner Kürsteiner, Bern, Schweiz, Wabernstr. 22. Hans Ulrich Kuss, Sondershausen, Thür., Possenweg 2b. Pfarrer H. Kuttter, Beggingen, Schweiz bei Schaffhausen. Lehrer Lampersdörfer, Cadolzburg, bei Fürth. Referendar Fritz Landsberger, Berlin-Schöneberg, Salzburgerstr. 16. Studienrat Fritz Laue, Friedrichshagen b. Berlin, Scharneweberstr. 101. Dipl.-Ing. Friedrich Lechner, Wien III, Apostelgasse 12. Ernst Levy, Cassel, Kölnischestr. 86. cand. phil. Hans Lichtenstein, Heidelberg, Schillerstr. 31 bei Schirmer. Geh. Reg.-Rat F. List, Berlin W. 63, Landgrafenstr. 4. Lic. theol. Olof Ljngren, Gotheburg, Schweden, Olivedalsgadan 19. Dr. Arthur Loewenherz, Mariampol, Litauen, Hebräisches Gymnasium. stud. phil. Kurt Loewenstein, Hamburg 30, Eppendorferweg 150. Julius Loewenstein, Breslau 13, Augustastr. 63. Studienrat Reinhard Lorenz, Borna bei Leipzig, Seminar. Oberstudiendirektor Professor Dr. Wilhelm Lorey, Leipzig, Fockestr. 7. Pfarrer G. Ludwig, Dießbach bei Büren, Schweiz. M. Studienrat Dr. H. Marre, Gladbeck i. Westf., Babnhofstr. 4. cand. phil. Fritz Marti, Bern, Schweiz, Brunnadernstr. 42. Professor Dr. Theodor Marx, Heidelberg, Schröderstr. 47. Staatsanwalt Dr. May, Darmstadt. Professor Dr. Meltzer, Hannover, Meterstr. 42. Prof. Dr. Rudolf Menzel, Aussig, Böhmen, Dr. Weitsstr. 4. Dr. phil. Margarete Merleker, Berlin W 57, An der Apostelkirche 1. stud. phil. Fritz Metz, Cassel, Martinsplatz. Amtsgerichtsrat Dr. Theodor Metz, Heppenheim a. d. Bergstraße. stud. phil. M i s g r y 1 1 , Neckarsteinach bei Heidelberg. Vermessungsdirektor M. Moldenhajier, Benneckenstein, Harz. Studienassessor Robert Monje", Heppenheim a. d. Bergstraße, Liebigstr. 6. stud. ing. H. Mönkemeyer, Hannover, Am Grasweg 7. Oberlandesgerichtsrat Müller, Dresden- A., Wartburgstr. 2. Privatdozent Dr. Aloys Müller, Buschdorf b. Bonn. Rechtsanwalt Ernst Müller, Hannover, Ferdinand Walbrechtstr. 18. Studienassessor Georg Müller, Cassel, Grüner Weg 33. Kant-Gesellschaft. 521 cand. jur. Wilhelm Müller, Greifswald i. Pommern, Fischstr. 19. Pfarrer K. Müller von Hagen, Barmen, Mühlenweg 12. Graf Münster, stud. jur., Leipzig, Talstr. 31. Lehrer Rudolf Murtfeld, Hannover-Buchholz, Weidetorstr. 44. Professor Dr. W. Nausester, Templin, Uckermark, Prenzlauerchaussee 30. Geh. Studienrat Direktor Dr. F. Neubauer, Frankfurt a. M., Hansa- Allee 27. cand. jur. Franz Neumann, Frankfurt a. M., Westendstr. 103. Karl zur Nie den, Berlin-Reinickendorf-Ost, Raschdorffstr. 1. Pater M. Niehues, Professor der Philosophie, Düsseldorf, Herzogstr. 17. cand. phil. M. A. Nolda, Rostock, Moltkestr. 20. Dr. Willy Nußbaum, Berlin W., Grunewaldstr. 55. 0. Reallehrer Karl Oechsle, Meersburg, Bodensee, Taubstummenanstalt, stud. med. Hanna Oppenheim, Frankfurt a. M. P. Dr. Alessandro Passerin d'Entreves, Turin, Italien, Corso Vittorio Ema- nuele 5. Studienassessor Walter Peter, Zittau i. S., Schillerstr. 16. Lehrerin Marie Peters, Hannover, Callinstr. 6. cand. phil. Edgar Pfankuch, Berlin-Steglitz, Schildhornstr. 16. Taubstummlehrer Friedrich Pfefferle, Meersburg, Bodensee. Frau Dr. M. Po hie, Frankfurt a. M., Schwarzwaldstr. 82. Fräulein Professor Dr. CarolaProskauer, Karlsruhe i. B., Weinbrennerstr. 38. ß. Professor Dr. A. F. Raif, Karlsruhe i. Baden, Karlstr. 89. Studienrat Franz Rauschen, Paderborn, Bahnhofstr. 3. Dr. L. Reiche, Schwerin a. d. Warthe. Realschuldirektor Dr. Ludwig Roesel, Leipzig, Georgiring 5. Studienreferendar Erich Rogier, Breslau 10, Moltkestr. 8. Justizrat Dr. Römisch, Dresden-Strehlen, Residenzstr. 36 b. Anne Rosenbusch, Heidelberg, Grabengasse 18. Dr. med. Alfred Rosenthal, Frankfurt a. M., Holbeinplatz 26. Frau Dr. Rosenthal, Frankfurt a. M., Sophienstr. 22. Erich Rüping, Bochum, Hernerstr. 253. Studienreferendar Heinrich Rüping, Bochum, Hernerstr. 253. S. Prof. Dr. H. S a i 1 e r , Freiburg i. Br., Zasiusstr. 32. Dr. phil. I. E. Salomaa, Järvenpää, Finnland. br. William M. Salt er, Silver Lake, New-Hampshire, U.S.A. G. W. Sayffaerth, Cöln-Lindenthal, Gleuelerstr. 96. cand. phil. Günter Schab, Halle a. Saale, Jacobstr. 60. Dr. Alfred Seidel, Heidelberg, Untere Neckarstr. 68. Georg Seidler, Braunschweig, Leonhardstr. 2. Professor Dr. Julius Seyfried, Karlsruhe i. Baden, Friedenstr. 17. Studienrat Dr. Bruno Siburg, Düsseldorf, Speldorferstr. 2. Waldemar Sobottke, Königsberg i. Pr., Schindekopstr.. 26 bei Franz Strü- wecker. Sanitätsrat Dr. Ludwig Spanier, Hannover. Dr. J. van der Spek, den Dolder, Holland, Doldersche Weg 60. Otto Splitter i. Firma: Brüggemann y Cie., Popotla D. F. in Mexiko. 522 Kant-Gesellschaft. Sch. «aiul. phil. Franz Schabram, Braunsberg i. Ostpr., Collegienstr. 2. l>r. 1!. Schlesinger, Hannover, Emilienstr. 4. Regierungspräsident Schleusener, Potsdam. Walter Schlitzberger, Berlin W 50, Regensburgerstr. 32. Professor Dr. Schmied-Kowarzik, Dorpat, Estland, Teichstr. 19. Karl Theodor Schmidt, Frankfurt a. M., Darmstädterlandstr. 197. stud. theol. Victor Schmidt, Utrecht, Holland, Hugo de Grootstr. 42. Gerichtsreferendar Dr. Wilhelm Schmidt, Dortmund, Westfalendamm 4. Oberingenieur S c h o 1 z , Cöln-Lindenthal, Landgrafenstr. 68. stud. phil. Walter Scholz, Berlin N. 113, Carmen Sylvastr. 22 1V. stud. phil. Karl Schönewolf, Cassel, Obere Königstr. 30. Oberlehrer Oskar Schröder, Dresden-Laubegast, Bismarckstr. 10. Dr. Wilhelm Schröder, Hannover, Wedekindstr. 5. Lehrer Fritz Schulze, Hannover, Birkenstr. 8. L. J. Schutte, Hilversum, Holland, Stationsstraat 13. Studienrat Dr. R. Schwarz, Hannover, Ubbenstr. 9. St. Apotheker Alfred Stahl, Völpke, Kreis Neuhaidersleben. Hauptmann a.D. Steigertahl, Groß-Salza bei Magdeburg, Burghof 1. Lilly Stettier, Frankfurt a. M. , Weserstr. 1. Studienrat Dr. Bruno Strauß, Berlin NW. 87, Wullenweberstr. 8. A. Strohbusch, Damme, Westhavelland. Frl. Carmen Stubenrauch, Berlin- Wilmersdorf, Rüdesheimerplatz 3. T. Theodor Tagger, Ischl, Oesterreich, Brennerstr. 3. Fritz Teichmüller, Nordhausen a. Harz, Eichendorffstr. 2. Landgerichtsdirektor Thiel, Dresden-A, Ludwig Richsterstr. 8. stud. phil. Karl Thieme, Basel, Schweiz, Socinstr. 2. Seminar-Prorektor Lebrecht Thomas, Waldau i. Ostpr. (r. Tippe, Hannover, Steinmetzstr. 21a. Studienrat von Thünen, Hannover, Callinstr. 25. Dr. Hilde Treschen, Leipzig, Kronprinzstr. 701. Dr. Dimitry Tschizewski, Heidelberg, Moltkestr. 10. u. Dr. ing. Henry Ulrich, Mexico D. F. 3a de Revillagigedo. Frau Professor Agnes Unden, Upsala, Schweden. Georg Urdang, Berlin NW, Lessingstr. 37. cand. theol. Heinz Urig, München, Kaiserstr. 71. V. stud. theol. C. M. Veenhuysen, Utrecht, Holland, Willem Barentzstraat 83. w. Wagner, Halle a. d. Saale, Gr. Brauhausstr. 12. Lektor Lic. theol. Gustaf Walli, Göteborg, Schweden, Plantagegatan 11. Reallehrer Leo Wannenmacher, Meersburg, Bodensee. Studienrat Dr. Reinhard Wegener, Magdeburg, Kl. Münzstr. 6. Dr. Ernst Weinwurm, Wien III, Löwengasse 2. cand. phil. Felix Wen gh off er, Königsberg i. Pr., Steindamm 27—29, Pen- sionat Klein. Frl. Adele Wesche, Hamburg, Bramfelderstr. 84. Kant-Gesellschaft. 523 Attache Hans Winter, Bern, Schweiz, Oesterreichische Gesandtschaft, Sul- genauweg. Frau G. Wittkower, Berlin NW, Hansaufer 8. Frau E. Witzel, Tübingen, Poststr. 4. Realgymnasialdirektor Professor Dr. Wolf, Hannover-Linden, Falkenstr. 11. J. R. Wolfens berger, Utrecht, Holland, Oorspronkspark 5. Studienassessor Hellmut Wohlenberg, Kloster Wennigsen am Deister. Lehrer Wulf, Theessen, Bez. Magdeburg. z. Günther Ziegler, Halle a. d. Saale, Zwingerstr. 13. Pfarrer Zuckschwerdt, Groß-Salze, Bezirk Calde, Saale, Kirchstr. 15. Institute. Amsterdam: Vereinigung für Philosophie ; Schriftführer Dr. Albert S t e e n- bergen, Amsterdam, Holland, Prinsengracht 810. Hannover, Leibniz- Akademie ; Volkstümliche Hochschulkurse, Hannover, Goethe- straße 2 a. Herrnhut i. Schles. : Theologisches Seminar, Direktor Professor Dr. Theophil Steinmann. II. Dauermitglieder ab Januar 1921. A. stud. theol. B. J. A r i s , Groningen, Holland, Gedempte Boterdiep 7 a. B. Ingenieur G. Baeumlin, Luzern, Schweiz, Hertensteinstr. 52. cand. phil. et theol. Em. Behrens, Rögle, Schweden. Privatdozent Dr. I. Benrubi, Genf, Schweiz, Avenue Luzerna 11. Dr. G. A. van den Bergh van Eisingha, Amersfoort, Holland. Dr. Ludwig Binswanger, Kreuzungen, Schweiz, Kuranstalt Bellevue. Prof. Dr. G. Bohnenblust, Genf, Schweiz, Avenue des Vollandes 2. Frithiof Brandt, Stengaarden, Dänemark. Prof. Dr. N. Braunshausen, Luxemburg, Avenue Victor Hugo 31. Dr. J. R. Buisman, Utrecht, Holland, Mulderstraat 5. D. cand. theol. J o h. D i p p e 1 , Groningen, Holland, Zuidersingelstr. 27. E. Hugo Eggeling, Leipzig-Reudnitz, Johannesallee 4. Dr. B. K. Engel, Berlin-Zehlendorf, Potsdamerstr. 47 — 48. Pfarrer Max Gerber, Langenthai, Kanton Bern, Schweiz. Dr. Louis Glatt, Zürich, Schweiz, City Hotel. Dr. Th. Goedewaagen, Blaricum, Holland, Kerklaan 03. Dr. Gerhard Güttier, Reichenstein i. Schi. H. Max Hamlet, Hamburg, Schlüterstr. 52. Prof, Dr. J. Hausheer, Zürich, Schweiz, Bergheimstr. 10. Dr. Hans H e g g , Bern, Schweiz, Kirchenfcldstr. 78. r. Max Isaac, Hamburg, Mittelweg 107. Prof. Dr. K. Ito, Charlottenburg, Berlinerstr. 103. 524 Kant-Gesellschaft. Prof. Dr. Malte Jacobsson, Göteborg, Schweden, Aschebergsgantan 36. Prof. Dr. Karl Jesinghaus, Parana, Argentinien. K. Legationsrat a. D. W. v. Krause, Schloß Bendeleben bei Sondershausen. Prof. Dr. Victor Kuhr, Kopenhagen, Dänemark, Gyldenlovesgatan 10. Privatdozent Dr. Reinhold Kynast, Breslau, Arletiusstr. 7. L. Alfred Lisser, Hamburg, Neuer Wall 10. M. cand. phil. F. Marescot, Haag, Holland, Javastraat 69. Rechtsanwalt Hans Marquardt, Berlin NW., Lessingstr. 35. Pfarrer Dr. Georg Merkel, Nürnberg, Pfarrgasse 5. Justus Meyer, Zandfoort, Holland, Zandfoortsche Laan 30. Dr. Job. Müller, Danzig, Lastadie 2. Ing. W. A. Th. Müller-Neuhaus, Berlin NW., Kronprinzen Ufer 23. P. Prof. Dr. Adolf Phalen, üpsala, Schweden, Salag 29a. cand. phil. J. Poortmann, Groningen, Holland, Helperbrink 12. R. Prof. Dr. A. Rademacher, Bonn, Argelanderstr. 1. Heinrich Reuber, Bernitt, Mecklbg. S. Privatdozent Dr. Martin Simmen, Luzern, Schweiz, Loewenplatz 11. Schuldirektor A. Sjögren, Smedjebacken, Schweden. Prof. Dr. Norman Kemp Smith, Edinburg. Schottland, Universität. Seh. Prof. Dr. Paul Schölten, Amsterdam, Holland, Waldeck Pyrmontlaan 17. St. Dr. Melchior Stechow, Berlin-Dahlem, Goßlerstr. 14. Dr. Arthur Stein, Burgdorf bei Bern, Schweiz, Pestalozzistr. 51. Friedr. Freiherr v. Stromer-Reichenbach, Konstanz, Baden, Kauzleistr. 4. T. Fabrikdirektor Dr. Georg Teply, Zürich-Seebach, Schweiz. stud. theol. L. H. W. Theunissen, Utrecht, Holland, Ouade Gracht 189 bis. Dr. med. A. Tiedemann, Celle, Mühlenstr. 23. V. Dr. H. W. van der Vaart Smit, s'Graveland, Holland. Dr. Carl Vering, Hamburg, Holzdamm S. Regierungs- u. Baurat Karl Verlohr, Fulda, Heinrichstr. 16. Dr. D. Th. V ollen weid er, Jegensdorf, Kanton Bern, Schweiz. w. A. C. Wageningen, Hilversum, Holland, Middenweg 16. Kristian Wester by, Kopenhagen, Thorwaldsenvey 12. z. Prof. Dr. Paul Ziert mann, Berlin-Steglitz, Breitestr. 32. Absolutes 137, 149, Abso- lutismus 13, 501 Abstraktion 190, 194, 3 19 f., 326, 437 Affektion des Ich n. Kant 169 f., 339 Agnostizismus 157, 494 Akt des Willens 47, Akti- vität 60 ff., 68, 177 Allgemeines 485, A.es und Einzelnes 195, A.heit44, 341, 345, A.gültigkeit 48, 123, 177, 341, 387, 404, 418 Als-Ob 213 Analogien der Erfahrung 316, 337 ff. Analyse 185, Analytik, transzendentale 145, 330, 339 f. Anschauung 83, 113, 115, 126, 144, 154, 206 f., em- pirischelOO,intellektuelle 126, reine 100, 108 f., Formen der A. 104 f. 160, 316 ff., 319 ff. Antinomien 77, 80, 127, 142, 331, 410, 501, Antinomik 85 Antizipation 434 ff. Apodiktizität98ff., 111, 327 Apperzeption 316, 331 ff., 392 Apprehension 341 ff. Apriori 98 ff., 111, 145 f., 154, 160, 167, 175, 180, 186, 191, 1981,209,294, 312ff., 421, 423, A.smus 489, formaler 299, mate- rialer 300 Ästhetik 19 f., 56, 180, 355, 358, 372, 403 ff., 489, ex- perimentelle 405, tran- szendentale 105, 144, 146, 198, 212, 319 ff. Atome 63 f., 94, 201, Atomistik 64 Register. 1. Sachregister. Aufgabe 36, 38, 61 f., 495, unendliche 186, A.n der Ästhetik 403 ff. Aufklärung 1 ff., 142, 145, 423 Autonomie 6, 12 f., 56, 59, 190, 194, 300, 305, 307, 489 Axiome, geometrische 99, 101, 198 f. Bedeutung 434 f. Begriff 83, 108, 113, 126, 136, 139, 181 f., 185,188, 206,210,213,495, B. des Lebens 127, B. des Raums 321,B.d.Zeit326ff.,B.u. Leben 1 16 ff., B.sbildung 190 Beschreibungsmittel u. Be- schreibungsobjekt 454 ff. Bewegung 106 f., 198, 455 ff., 483 ff. Bewußtsein 83 f., 88, 124, 168, 177, 179, 182, 197, 331, 391, 398 f., 501, metaphysisches 122, sitt- liches 149, B. überhaupt 177, B.sinhalte 400 Bezugssystem 93, 480 Bildung 35, 65, 86 Binomismus 209 Biologie 47, 116 f., 186,191 f., 201 f., 315 Chemie 117, 132, 190, 192 Christentum 3 f., 82, 215, 228, 500, 505 Dämonisches 80, 88, 375, 379, 381 Deduktion 102, metaphysi- sche 330, transzendentale 143 f., 146, 148, 167 ff., 212, 294, 330, 333 Denken 144, 208 ff., 213, 227, 501, atomistisches 63, pädagogisches 17 ff., 44, produktives 200 f., D. u. Sein 86, 90, Denkge- setze 188 f. Dialektik 74, 78, 85 ff., 90, 138, 196, 351, 452, tran- szendentale 84, 145, 493 Ding an sich 143 f., 157, 171, 195, 197, 200, 338 f. Dogmatismus 135, 142, 144, 316, 339, 344 Dynamik 68, 94, D. des see- lischen Erlebens 395 Eidologie 185 Eigengesetz 502 f. Einbildungskraft, produk- tive 316, 333 ff., 339, 358 Einheit 53, 56, 58, 146, 193, 451, systematische 420, E. der Apperzeption 316, 330 ff., 392, E. desBewußt- sein 182, 398 f., E. der Erkenntnis 186, E. des Endlichen 70, E. d.Gegen- sätze 61, E. des Geistes 60, E. der Mannigfaltig- keit 20, E. der Natur 102 f., E. des Selbstbe- wußtseins 347, E. von Denken und Sein 90, E. von Form und Gehalt 75, E. von Sein u. Sollen 63. Einteilung d. Wissenschaf- ten 193 f., 487 Einzelnes u.Allgemeinesl95 Einzelwissenschaften 129, 133, E. und Philosophie 194 f., 417 ff., 487 Elektrizitätslehre 94, Elek- trodynamik 93, Elektro- nen 94 Empfindung 98, 169, 171, 177, 209, 497 Empirismus 94 ff., 142, 144, 147, 316, 320, Empirio- kritizismus 315 Register. . E.prinzip 92 Entwicklung 148, 175 f., 203, 215, 312, 424 f. Erfahrung 58, 98, 102,132, 142 f., 144, 146,171,180, 184 f., 206 f., 316, 322, 330, 333 ff., 421, E.sur- teile 191, 345 Erkennen 77, 143 f., 207, E. u. Leben 85, Erkennt- nis 23, 63, 79, 111, 142, 186, 188f., 197, 200, 207f., 3 16 f., 338, 340, 488 f., 502, Erkenntniskritik 96, 1 09, 488, Erkenntnislehre 209, 487, Erkenntnis- problem 195 f., 451, Er- kenntnistheorie 121, 169, 174 ff., 243, 488 Erleben 112 ff., 395, Erleb- nis 37 f., 57, 112 ff. Erscheinung 144, 169, 333, 336, 338 ff. • Erziehung 3, 6, 18 ff., 35 ff., 65 f., soziale 52 Ethik 12, 27, 145, 149, 186, 190, 197, 208, 213, 355, 489, 502 f, angewandte 23, aristotelische 497 f., kritische 283 ff. Evidenz 101, 180f., 189, 336 Evolution 176, E.stheorie 218 f. Exaktheit 31, 417 Existenz 142, 199 f., 501 Fiktion 362, 468, 470 f., 481 Finitismus 63, 70 Form 32 f., 68, 71,105, 127, 154, 163, F. u. Gehalt 75, F. u. Inhalt 320 ff., F. u. Materie 182 f., 194, 305ff, F.U.Stoff 20 f., 34, 104, Formalismus 12, 86, ethi- scher F.alismus 289 ff. Freiheit 6, 32, 65f.,71,217, 292, 298ff., 317, 330 f., 356 ff., 360 ff., F.U.Not- wendigkeit 351 ff., Frei- willigkeit 60 ff. Ganzes 28, 31, 46, 49, 83 Gegebenes 134, 181, 187, 209, 217, Gegebenheits- lehre 217 Gegensatz 61, 64, 70, Gegen- sätzlichkeit 66 Gegenstand 143, 178, 183, 202,299, 358, G. der Pä- dagogik 20, G. der Psy- chologie 390 ff., G. der Wissenschaft 38 Geist 56, 59, 88, 127, 156 f., 448, objektiver 162, 424, G.esleben 125, 130, 227, G.estypen 76 ff., G.es Wis- senschaften 38, 50 f., 193, 397, 487 Geltung 183, 184 Gemeinschaft 6, 57, 66 ff., 70 ff., 177, 401, soziale 149 Genie 56, 404, G. u. Tragik 351 ff. Geometrie 99, 104 f., 108, 190 f., 198, 206, 323 ff., 334 Gerechtigkeit 65 f. Geschichte 121, 177, 191, 218, 397, 426, 453, 489 f., 492, G. der Philosophie 121, 139 ff., 416 ff, G.sphilosophie 186, 489, G.sschreibung 57 Geschmack 404, 410 f. Gesellschaft 162 f., 489 Gesetz 31, 54f., 56, 102 f., 105, 198, 208, 300 ff., 334, 338, 340, 387, 458, aprio- risches 347, empirisches 99, ethisches 293, indi- viduelles 55, G.lichkeit 56, 61 f., 64, 102, 182, 403, 495, G.mäßigkeit 55, 63, 102, 174, 198, 41 (Gesinnung 62, 300 f., 497, 502 f. Gignomenoiogie 194, 209 Gott 158 f., 163, 172, 218, G.esbeweise 4, 215, G.es- lehre 171 Gravitationsgesetz 93, 104, 477 Grund, zureichender 189, Grundsätze 338, 348, Grundwissenschaft d. Pä- dagogik 32, 35 ff. Gültigkeit 184, 501 f. Gute 495, 506 Handeln 20, 24, 31, 37, 44, 51, 126, 217, ethisches 291 ff., praktisches 56 Heterogonie der Zwecke 177 Historie 122, Historismus 123 f., 418 Hypothese 99, 347, 349, 465, 468, 470 f., 481, 484 Ich 127, 154, 156, L( 177, 179, 183 Ideal 59, 219, individuali- stisches 65, I. der Ge- rechtigkeit 65 Idealismus 52 ff., 51», 135, 156 f., 193,200,209, 221, 426 ff, 496, abso- luter 155, 157, äternisti- scher 158, dogmatischer 171, kritischer 105, 154, 157, 196 ff., 199, logischer 97, 101, 103, objektiver 153, 181, rationeller 153, 158, subjektiver 154, 157, transzendentalerl42,154, Idealität von Raum und Zeit 103, 154 Idee 38, 45, 62, 74 f., 82 ff., 90, 127, 154, 159 f., 162, 197,219, 358 f., 425,495, praktische 163, transzen- dentale 67, 1. der Freiheit 362 f., 387,1. der Sittlich- keit 150, 1.beiHume 184f., I.nlehre83, 154,160,493 Identität 178, 189, 211 Immanenz 114 f. Immaterialismusl53, Imma- terielles 175 Imperativ, kategorischer 293 ff. Individualismus 53 ff., 59 ff., 186, 216, 490, Individua- lität 43, 446, Individuität 60,61, Individuum 6, 54ff., 163, 174, 401, 489 f. Inertialfiktion 480 f., Iner- tialsystem 93 f., 480 Inhalt 115, 1.u.Form 320 ff. Invarianz 466 f., 469 ff., 477 Intuition 18, 113, 124, 130/ 436, 438, I.ismus 181 f. Ironie, romantische 359, tra- gische 386 Irrationales 81, 83, Irra- tionalismus 84, Irratio- nalität 18, 83 Kant-Gesellschaft 219, 230, 260 ff., 508 ff. Kategorien 122, 142f., 145f., 168,178, 183, 185 f., 189, 197, 3 16 ff., 330, 333 ff., 338 f., aristotelische 496, K.lehre 121, 128, 192 Kausalerklärung 458, Kau- salproblem 141 f., 184 ff., Kausalität 142, 149, 174, Register. 527 184 f., 21G, 316, 337 ff., 392 ff., 396 f., psychische 393 f. Kirche 6 ff, 13, 70 Koinzidenz der Weltpunkte 101 Konstanz 477, K.gesetz 463, 469 Kontinuität 60, 127, 390 Koordinatensystem 482 Körper, physikalische 91 ff., 105, 455 ff. Kritik, der historischen Ver- nunft 128, Kritizismus 96 ff., 134 ff., 142, 145 f., 149, 193, 224, 316, 330, 339 Kultur 50, 133, 420 f., 424, 448 f., 505, K.bewußtsein 421,448f.,K.gemeinschaft 400, K.wirklichkeit 19, 23, 39 Kunst 18 ff., 34, 56, 131 f., 219, 358 ff, 403 ff., 420, 449, K.psychologie 408, 414 f., K.wissenschaft 406 f., 414 f. Leben 30, 32, 55, 74 f. ,78 f., 112 ff., 156, psychisches 156, 398 ff., L. desGeistes 81, L.U.Begriff 116, L. u. Idee 84 f., L. u. Philo- sophie 1 12ff, L.sanschau- ung 227, 487, L.sbegriff 62, 112 ff., L.sganzes42, 50, L.sganzheit 43, L.s- philosophie 112 ff., 218, L.stotalität 55 Logik 121, 139, 171, 174ff., 231, 241 ff., formale 138, 188, 330, 493, normative 208, transzendentale 138, 145 f., L. der Philosophie 122, 136, L.U.Ethik 300, Logismus 144, 194, Logi- zismus 194, 209, Logos 495 Lorentz-Kontraktion 91 ff. Marburger Schule 190, 197, 423, 427, 429f., 447, 494f. Material 29 f., M.ismus 78, 237, Materie 55, 104 f., 137, 194, 205 ff., M. in Ethik 289 ff., M.u.Form 182 f. Mathematik 123, 178, 185, 193 f., 206 f., 217, 313, 317, 323, 338, 340, 346, 392 f., 453, 486, 493 Maxime 6, 12, 291 ff. Mechanik 94, 457, 472, Me- chanismus 83 Menschu.Welt 227, Mensch- heit 12 Metaphysik 107, 121 ff., 134 f., 144ff.? 167, 173, 175, 177, 179, 196, 207, 217 f., 237, 243,303,311, 331, 337 ff., 423, 487 ff., 494, 497, 505, M. d. Le- bens 112 Methode, dialektische 138, empirische 180, psycho- logische 318, 348ff., 394ff., transzendentale 180, 318, 348 f., M.d. Wissenschaft 207 f., Methodik des pä- dagogischenDenkens 17ff Mittel u. Zweck 25, 27, 293 Mittelalter 53, 366 Moral 311, 384, M.ität 308, 311 Mystik 80 ff., 126, 133, 373, Nationalökonomie 116 f. Natur 24 f., 49, 84, 102 f., 131, 133, 178, 194, 204, 218 f., 333 f., 338, 352, 426, 457 ff., 481, N.ge- schehen 392 f., N.gesetz 101 f., 106,343,457,478, 481ff.,N.philosophie207, 218, 243, 455 ff., N. Wis- senschaft 24, 31, 47, 96, 101 f., 117, 167,186,190, 193, 197, 214, 233, 313, 317,338,340, 346, 426 f, 487, N.wissenschaft und Psychologie 392 ff. Negativismus 79, 359 Neukantianismus 96, 113, 135, 186,215,255, 312 f. Nihilismus 78 f. Normen 41, 117, 208, ästhe- tische 407 f. Notwendigkeit 327, 336,347, 368 ff., logische u. psy- chologische 345, N. und Freiheit 351 ff. Objekt 37, 46 ff., 75 f., 161, 194, 202, 227, pädago- gisches 21 f., 0. der Er- ziehung 30 f., 0. u. Sub- jekt 321, 501, O.ivismus 181, 501, O.ivität 47, 50, 363, 398, 401, 410 Ontogenese 203, Ontologie 218 Ordnungslehre 175, 177 Organismus 60, 63, 83, 176f ., 186, 202 f., 314 Pädagogik 17 ff., 224 f. Panentheismus 116 f., Pan- logismus 133, 154, Pan- psychismus 154 Personalismus 154, Persön- lichkeit 46, 49, 83, 160, 356, 360 ff., 367, 371, 375 ff., religiöse 216 f, Persönlichkeitsideal 67 Pflicht 149 f., 291 f., P.gebot 502 f. Phänomen 160, P.alismus 154, 209, P.alität 197, 328 f. Phänomenologie, Diltheys 122, Hegels 88, 137, Hus- serls 124 f., 181, 418, Kants 107, 198, 307 Philosophie 57, 116, 121, 129 f., 133, alte u. mittel- alterliche 490 ff„ ange- wandte 23, kritische 96, 131, prophetische 74, 87, 90, wissenschaftliche 113, P. als Wissenschaft 417 f., Begriff der P. 492, P. u. Einzelwissenschaft. 194f., P. u. Leben 112 ff., P.u. Schule230ff.,P.geschichte 140 ff., 416 ff., 490 ff. Phylogenie 177, 203 Physik 91 ff., 96 ff., 117, 132, 165, 167, 172, 190 ff., 205ff., 217, 455 ff. Piatonismus 316, 494 Poetik 407 ff. Politik 2, 14, P.u.Idealis- mus 52 ff. Positivismus 81, 97,99,121f„ 193, 315, 426. Postulate 215, des Denkens 54, der praktischen Ver- nunft 180 Praxis 19, 36, 44 f, 58 f., P. der Erziehung 20, 29 ff., P. u. Theorie 9, 217 Primat der praktischen Ver- nunft 427, der Gemein- schaft 59, des .Individu- ums .Vis; Register. principium identitatis in- discernibilium 107 Prinzipien 106, 338, aprio- rische 100, 145, ethische 293 ff., konstitutive 99, praktische 302, transzen- dentale 62, P.d. Atomistik 64, P. des Konkreten 64 Propädeutik,philosophische 230 ff. Psychisches 90, 390 ff., Psy- chologie 87, 108 f., 139, 172, 177f., 180, 183, 186f., 190, 241 ff, 335, 426, an- gewandte 23, beschrei- bende395, empirische231, erklärende 44, 48, 394, naturwissenschaftliche 123, verstehende 89, Psy- chologie d. Weltanschau- ungen 74 ff., 446, P. als Wissenschaft 390 ff, Transzendentalpsycholo- gie 180, 315 ff, Psycho- logie u.Logik 193 f., 199, 209 Psychologismus 57, 113,144, 193 f., 197,405, 418, kri- tischer 312 ff. Rationalismus 3, 10, 62, 79, 144, 146 f., 158,316,358,' 373 Raum 100 f., 103 ff, 154, 171,175, 185, 198 f., 201, 204 ff., 316, 319 ff., 497 Realismus 179, 193, 200, 498, kritischer 488, tran- szendentaler 196 ff., Rea- lität 53, 78, 101, 105, 116, 157, 199 f., 426 f., 468 Recht 163, 215 f., R.slehre 290f.,R.s Wissenschaft 190 Relativismus 103, 452, 501, rechtsphilosophischer2 15 Relativität 102, 106 f., 194, R.stheorie 91 ff, 96 ff., 174 f., 198f.,204ff.,454ff. Religion 3, 10 f., 13, 131 ff, 161, 216, 228, 311, 420, 505 Revolution 2, 6, 57 Schema 202, 340, 346 Scholastik 131, 141, 147 f., 381, 498 Schönheit 359, 403, 506 Schule u. Philosophie 230 ff. Seele 79, 83, 178, 218, 392ff., 8. u. Welt 123 Sein 39, 43, 45, 63, 123, 126, 137, 155, 215 f., 420, 437, 495 f. Selbstbewußtsein 93, 154, 156, 159, 347, Selbst- setzung des Ich 171 Sensualismus 97, 99, 316 Sinnesqualitäten 21, Sinn- lichkeit 144, 161, 298, 334 ff. Sittengesetz 63, Sittenlehre 171, 217, 289 ff., Sittlich- keit 149, 161, 217, 302, 384, 420, 502 f. Skeptizismus 78, 197, 237, 344, 494, 505 Skeptizismus 78, 197, 237, 344, 494, 505 Solipsismus , methodischer 177, 179 Sollen 39, 43 f., 45, 63, 317, 331, S.u. Sein 215 f., S.s- bestimmung 43 f. Sozialidealismus 52 ff., 59 Sozialismus 53, 67, 186,216, 490 Soziologie 44, 186, 489 Spinozismus 4, 412 Spiritualismus 154,156, 186 Spontaneität 146,148, 330ff 335 f., 347 Sprache 188, 210, 448 f., 503 Staat 5 f., 59 f., 66 ff., 72, 158, 163,203, S.sanschau- ung 7, S.sform 5 Stoff 103 f., S. u. Form 20 ff., 34 Subjekt 47 ff., 53, 60, 62, 75 f., 169, 181, 191, 197, 292, 298, 303, 331, 340, 410,. ideales 61, psycho- logisches 55, 61, 70, tran- szendentales 55, 61, 70, S.u. Objekt 194, 196, 227. 321, 501, S.ivismus 196, 200, 215, 227, 485, S.ivi- tät 320, 410 Sukzession 341, 344, 346 Synthesis 99, 144, 168, 185, 331, 334 f. System 118, 122, 129, 136 f., 186, 194, 419, 436, 439, 445, 451, 453, natürliches 18, physikalisches 92 f. Technik 24, 27, 34, 191 Teleologie 218, 428 Theologie 4, 10, 191, 215 Theorie 36, 58 f., 68, 91 f., 102, 123, T. der Dialektik 87, der Erziehung 22 f., 29 ff, des Handelns 20, T. u. Erfahrung 132, T. u. Praxis 9, 217 Thomismus 488 Totalität 49, 79, 123, 185 f. Tragik und Genie 351 ff, Tragödie 354, 363, 375, 386 Transzendental 54, 62 f., 71, 181, 327, T.idealis- mus 53, T Ideologie 218, T.ismus 312 ff., T.philo- sophie 100, 103, 172, T.- psychologie 180, 315 Tugend 63, 289 ff, 497 f., T.lehre 289 ff, 497 f. Typen 80, 122, T. der Welt- anschauung 417, Geistes- typen 76 f., Typenlehre 122, ästhetische 415 Umwelt 33, 201 f. Unbedingtheit 83, 356 f., 360 ff., 376, 387 Unendliches 53, 62 ff, Un- endlichkeit 53, absolute 60, intensive 53, poten- tielle 60 Ursache 93, U. u. Wirkung 25, 174, 185, 337, 344, 393 f Urteil 145, 171, 181, 183f., 188, 191, 199,210,330f, 489, analytisches 191, synthetisches 103, 313, U.skraft 56, 180 Vernunft 7, 54, 145, 159, 305, historische 128, lei- dende 182, praktische 180, 217, 293 f., 427, reine 146, 213,294, 3 16,. tätige 182, theoretische 427, V er- kenntnis 146, V.gesetz 54, V.kritik 125, 145 Verstand 83, 144, 334 f., 347, 358, V.esbegriffe 143 Verstehen 49, 54, 74, 391 ff., 434 f., rationales 85 Vorstellung 155 f., 209, 314 Tatsachen 20, 36, 39, 434, Wahrheit 428, 438, 442, T.forschung 25 Register. 529 W. und Falschheit 181, W. u. "Wirklichkeit 213. Wahrnehmung 98, 3 14, W.s- urteile 191, 345 f. Welt 77, 123, 129, 227, in- telligible u. sinnliche 148, W.anschauung 74 ff., 122 ff., 133, 194, 207, 234 f., 242 ff, 417, 487, W.anschauungslehre 121, 194 Wert25f., 76ff.,88f., 117ff, 129. 186, 194, 313, 359, 428, W. u. Sein 123, W.- auslese 432, W.ung76f., 88 f. Wesensschau 124 f. Widerspruch (Satz d. W.s) 185, 189 Wille 47, 65, 70 f., 149, 180, 295 ff., 398, W.nsfreiheit 217,317,490,497, 504 f., Wirklichkeit 20ff., 28, 46, 48, 53 ff., 103, 107, 129, 149, 155 ff., 159, 161, 179, 190, 194,213,428, W.u. Wert 186, W.ssphäre 28 Wirkung u. Ursache 25, 174, 185, 337, 344, 393 f., W.s- zusammenhang 28 Wissen 20, 22, 137,178,213 Wissenschaft 26, 29, 48, 87, 102, 116, 122, 124, 129, 132f.,137,194,207,390ff., 487, 504, exakte 98, 217, normative 208, W. und Philosophie 417, W.en, angewandte 23 f., 27 f., 32, 35, 38 f., 44, 51, Eintei- lung der W.en 193 f., W.- lichkeit der Pädagogik 17 ff., W.serlebnis 504, W.slehre 126, 172, 194 Zeit 100, 103 ff., 154, 160, 171, 175, 178, 185, 198f., 201, 204 ff., 316, 325 ff, 335, 346 f., 458, 469, 497 Zweck 289 ff., 399, sittlicher 149, Z. w. Mittel 25ff., Z mäßigkeit 177, Z.zu- sammenhang 400 f. 2. Personenregister. Abulard 366 Abegg, J. Fr. 2 Adickes, E. 165 ff. Adler, Fr. 471 Amelang 14 f. Angersbach 483 Aristoteles 182, 184, 188,204,254,437, 441, 493, 496 ff. Augustin 218 Avenarius 315 Bacon 147 Bauch, B. 7 Becher, E. 139, 177, 486 Behrend, F. 230 Berg 486 Bergson 112, 114, 121,176,187,204, 326, 330, 333, 390, 489 Berkeley 139, 147f., 154, 157 Beyerhaus, G. 8 Biberg 154, 163 Biester 4, 11 boethius 163 du Bois-Reymond 249 Bolzano 208 Bonus, A. 63 Born, M. 110, 455, 466,471,476,481 Boström, Jac. 151 ff. Bottlinger 486 Kantstudien XXVI. Boutroux 194 Braun, 0. 251 Brentano,F. 180,199, 208, 480, 483 ff. Brück, E. v. 8 Brucker 423 Buchenau, A. 255 Budde, G. 249, 255 Buddha 88 Büsching 9 Cartesius s. Descar- tes Cassirer,E.56,96ff, 169 Cohen, Herrn. 2, 96, 180,187,193,312f., 429 ff, 435 Cohn, Jon. 405 Cornelius, H. 184 Coulomb 93 Creuz 5 Crusius 142 Darwin 177, 254 Descartes 70, 105, 137, 147f., 177,182 Dessoir, M. 249, 332, 406 Diels, H. 491 Dilthey, W. 10, 75-, 85,112,1 14, 121ff, 128, 370, 392, 394ff.,403ff.,426, 445, 494 Dingler 455, 486 Dittes 225 Driesch, H. 187, 218 Duns Scotus 381 Eberhard 5, 12 Eckermann 357, 379, 381 Edfeldt, H. 152, 159 Einstein 91 ff., 96 ff., 198f.,204ff.,454ff. Eisler, R. 249 Engels 489 Erdmann,B.9,139ff., 183 Erdmann, Joh. Ed. 426, 492 Ettner 11 Eucken 125 ff, 130, 226 ff., 250, 255 Euklid 99, 103, 112, 191, 206 Falckenberg, R. 220 ff. Fechner 250, 403 f. Fichte 112, 126, 161, 163, 170, 195 ff., 222, 250, 259, 356, 366, 435, 449 Fiedler 406 Fischer, Chr. G. 10 Fischer, K. 4, 6 f., 13, 312, 333 f, 428 Förster, F. W. 254 Frank, G. 3, 8, 471 Freitag, 0. 230, 253 Freundlich 455, 459, 474, 481 Friedrichd.Gr.3,12, 14 f. Fricke 455, 486 Fries 315 Frischeisen - Köhler 17, 251, 486 Fromm, C. 4 Gagelmann, Fr. 251 Galilei 99, 137, 147, 328,338,464,467, 472 Gauß 474, 482 Gehrcke 445, 469, 476, 486 Geijer, E. G. 163 Geißler 455, 486 Gerhardt 182 Gille 249 Glaser 455, 486 Goethe 80 f., 112, 215, 219, 353, 355ff.,360ff, 370, 375 ff, 382, 384 f., 388f., 407, 434,436 Grabmann 488 Groos, K. 405 Grabbe 154, 162 Hartmann 486 Hartmann, Ed. von 196 f., 352, 405 Hay, Jos. 4 84 530 Register- Hebbel 352 f., 363, 385, 405 He-;el81f.,86ft.,90, 135, 137 f., 154, 161 f., 195 f., 233, 356, 363, 395, 405, 411, 423 ff., 429, 435,437,447,452, 489, 492, 499 Heine 361, 365, 367, 380 Helmholtz 427 Henry, V. 206 f. Heraklit 449 Herbart 155, »183, 224 f., 233 Herder 112, 254, 259, 489 Hobbes 137, 147 Hoffmann, E. T. A. 207, 212 Hoffmann, P. 251 Höfler, A. 257 f. Holst 455, 486 Home 404, 408 Homer 375,382,384f. Hönigswald 18, 99, 434, 442 Humboldt, W. v. 5, 43, 222 Hume 141 f., 148, 184 f., 259, 337, 339 f, 344 Husserl 85, 123 ff., 180, 193 f., 205, 208, 418, 480 Huyghens 106 Jacobi, F. H. 4, 370 Jäger, W. AV. 437, 499 Jakob 455, 486 James 326, 336, 488 Jaspers, K. 74 ff., 446 Jellinek, G. 6, 12 Jerusalem 318 Jesus 80 f., 363, 373 Jhering, R. v. 216 Jodl 320, 326 Joel 489 Johannsen 203 Isencrahe 455, 474, 486 Kant lff, 56, 61, 63, 74, 80, 81 ff., 86,1 90,96, 98ff.,103f., ! 106, 108 f., 112,! 122, 139, 141 ff., 144 ff., 149, 154, 157, 160, 163, 165 ff., 180, 185, 187,189,193,195f., 198 ff., 201, 203, 209, 2 12 ff., 217 ff, 221,233,246,250, 254 f, 259, 289 ff., 312ff.,351, 353ff., 362, 404, 408 f., 421 ff., 426 ff., 435, 437,447,454,489, 493ff.,496ff.,506f. Kancorowicz 215 Kastil 180 Keijser, G. J. 152 Kierkegaard 81 ff. Kinkel 249 Küugberg, Gustaf 152 f. Knutzen, M. 9, 141 König, E. 249 Kopernikus 145, 254, 338, 484 Kopff 481, 483 Kottier 486 Kraus, 0. 480 Krause 165 Kries 486 Kroh, 0. 410 Külpe, 0. 194, 405, 488 Kullmann, H. 506 Kynast 181, 446 Laas 314,f. Lambeck 246, 251 Lampreclit 236 Lange, F. A. 315, 350 Lange, L. 92, 94 Lask, E. 85, 182 Laßwitz, K. 257 Laue 458, 464, 469, 471 Lecher, E. 328 Lehmann,R. 225,251 Leibniz 90, 106 f., 137, 141 f., 144, 148,154, 159, 182, 218, 225, 403, 449 Lenard 455, 469,486' Lessing 3, 4, 142, 378, 404, 411 Liebert, A. 186, 195, 219 Liebmann, 0. 249, 315 [405 Lipps, Th. 193, 375, Lipsius 486 Ljunghoff, J. 161 Locke 4, 147, 493 Löning, R. 497 Lorentz, H.A. 91 ff., 455, 457 ff., 463 ff., 481, 486 Lorentz, P. 251 Lotze, H. 218, 249, 250, 254, 493 Loewe, 0. 218 Luther 361, 363, 367 Lyell 215 Lysander 381 Mach 97, 106 f., 194, 315, 328, 342, 345 Mahnke, D. 151 Maier, H. 187 Malebranche 148 Marty 180 Marx2,216,365,489 Mauthner, F. 4 Maxwell 258 Meinong 180, 242, 251 Meißner 474 Mendel 203 Mendelssohn 5, 12 Menzer, P. 2 ff., 12, 249 Messer, A. 249 Meumann, E. 405 Meusel 10 Meyer, J.B. 315, 318 Michelson 456, 458, 470 Mie 455, 486 Mill, J. St. 208 Minkowski 91, 469 Mommsen370, 386 f. Moog, W. 193, 251 Moritz, K. Ph. 112 Müller, Aloys 483 f. Münch, W. 180 Napoleon 363, 370, 379 Natorp 52 ff., 59, 62 ff., 135, 180, 183 f., 193, 228, 312 f., 429, 431, 437, 493 [251 Neubauer, Fr. 246, Newton 93, 96, 103f., 106, 109, 142, 147, 198, 455, 457 ff, 472 ff., 478, 482 f., 485 f. Nietzsche SO f., 88, 112, 114,120,259, 356 f., 360, 365, 377 Parmenides 437 Pascal 82, 148 Pauisen,Fr.237,251. 343 f. Petzold 485 Piaton 65, 102, 187, 153, 157, 163, 204. 222,249,255,258f., 356,362,366,381, 384. 389, 425, 430 f., 436 f., 441, 447, 451, 493 ff., 503 Plotiu 82, 137, 499 f. Poincar(3,H.109,lll Porphyrius496.499f. Radbruch 215 Rausch, A. 245 f., 251, 254 Rehmke 177, 193 f., 248, 255 Reichenbach, H. 110 f. Reichenbächer 486 Reicke, R. 165 Reinhold, K. L. 5 Rickert,H.74,112ff., 177, 187, 190 f., 194,313,425,427. 490 Rieffert 139 Riehl, A. 99, 194, 254, 317, 448 Riemann 101, 104 Ripke-Kühne 486 Roloff 225 Rousseau 3, 4, 12, 259 Rydberg, V. 151 Schaxel, Jul. 191 Scheler, M. 43, 114, 125,325,349,353, 355 Schelling76,84, 134, 143, 162, 165, 196, 405 Schiller 259, 353 ff., 360 ff., 405, 407, 414 Schlegel, F. 112,356 Schleiermacher 250, 435 Register 531 Bchlick,M. 101, 108f. Schlosser 495 Schmid, Bast. 249, 251 Schmidkunz 182,250, 255 Schneider, Ilse 104f., 107 Schopenhauer 88, 180,250,366,371f., 405 Schulte-Tigges 247 Schulz, Joh. H. 10f., Uff. Seiler, G. F. 14 Sellien,E. 104,108f., 486 Selz, 0. 410 Shakespeare 353, 360 f., 363, 369, 371, 378, 382 f., 386 ff., 412 f. Siegel, C. 251 Sigwart 249, 349 Simmel, G. 43, 85, 112,114,127,130, 314, 436; Solger 260, 405 Spencer 137, 216 Spengler, 0. 85, 380, 505 Spinoza 4, 11, 142f., 148, 258 Spitzer 406 Spranger,Ed.43,230 Stammler 215 f. Starck, J. A. 10 f., Uff. ' Stern, W.' 34 Stöhr, A. 320 f., 324, 335 f. Storm 373 ff. Strindberg 357 Stumpf, K. 200, 480 Thomas von Aquino 225 Trau, H. 151 Trendelenburg 224 Troeltsch, E. 7, 45, 128, 135 Tschackert 10 Türck, Herrn. 363 ff. Utitz 406 Vaihinger 238, 248, 251, 316, 321 ff., 325, 327 Vannerus, Allen 151, 155, 163 Vischer 376 ff., 387, 405 Volkelt 177, 375, 386 Vorländer, K. 2, 10, 12, 289, 322 Weinstein, 455, 486 Weißenfels, 0. 251 Weißfeld, M. 2 Wiechert 455, 486 Wien 455, 486 Wilamowitz 430 f., 495 [254 Willmann, 0. 224 ff., Windelband 177, 313, 315 f., 428 f. Wirsen, C. D. af 151 Wolf, Kanzler v. 10 Wolff, Chr. Ulf., 144,159,233,309, 423 Wölfflin 411, 413 Wundt, W. 193 f, 226,234,249,251, 255, 326, 393, 489 Zedlitz,Frhr.v.lOf., 15 f. Zeller, Ed. 195, 407, 426, 492 Ziegler, L. 352 f., 365, 368 f. Ziehen, Th. 194 Ziertmann 251 Zimmermann, C. 251 3. Besprochene Kantische Schriften. (In zeitlicher Folge). Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1749) 104. Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen 1765/6 249. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis 143. Brief an M. Herz (1772) 143. Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage 1781), 3, 4, 84, 103, 105, 141, 142 ff., 148, 154, 196 f., 198, 202, 212 f., 217, 259, 289, 306, 316, 319 ff., 493. Rezension von Schulz' Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (1783) 10. Prolegomena (1783) 139, 141, 143, 199, 212," 337, 340, 348, 506. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) 4. Was ist Aufklärung? (1784) lff. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) 289 ff., 356 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) 106, 169, 198. Kritik der reinen Vernunft (2. Annage 1787) 142 f., 313 f., 319 ff., 329, 334, 336, 338 f., 340 ff, 348, 430, 494. Kritik der praktischen Vernunft (1786) 3, 9, 54, 217, 289 ff., 317, 494. Kritik der Urteilskraft (1790) 3, 56, 143, 180, 404, 410 f., 494, 506. Ueber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein usw. (1793) !). Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Tone in der Philosophie (1796) 493. Metaphysik der Sitten (1797) 289 ff. Opus postumum 165 ff. Reflexionen 3, 141. 532 Register, 4. Verzeichnis der Verfasser besprochener Neuerscheinungen. Alverdes, F. 501 Apel, M. 212 Apelt, 0. 495 f. Benjamin, W. 219 Berg, E. 174 Birnbaum, K. 212 Bloch. W. 174 f. Driesch, H. 177 ff. Ehrle, Fr. 498 f. Feldkeller, P. 213 Fischer, L. 213 f. Fischer, W. 180 Geyser, J. 180 ff. Grau, K. J. 183 f. Hasse, H. 184 f. Höffding, H. 185 f. Hofmann, P. 501 ff. Jerusalem, W. 488 ff. Koppelmann, W. 187 ff. Lewin, K. 191 f. Lippa, L. v. 215 Ludowici, A. 503 Meurer, W. 504 Mezger, E. 215 f. Moog, W. 193 f., 194 f. Phale'n, A. 195 f. Praechter, K. 489 ff. ■ Bausch, A. 490 Rauschenb erger, W. 196 ff. Rolfes, E. 496 f. Schlemmer, H. 2 16 f. Schneider, Herrn. 217 f. Schneider, Ilse 198 f. Stapel, W. 199 Thalheimer, A. 199 f. Überweg, Fr. 489 ff. Uexküll, G. 201 ff. Vaart, Smit, van der 218 f. Wenzel, Joh. 505 Wertheim er, M. 200 f. Weyl, H. 205 ff. Whitehead, A. N. 204 f. Wichmann, 0. 494 f. Wiesner, Joh. 504 f. Wittmann, M. 497 f. Wundt, M. 499 f. Wundt, W. 207 f., 487 f. Ziehen, Th. 208 ff. 5. Verzeichnis der Mitarbeiter. Alverdes, Friedr. 501 Anderson, Georg 289—311 Apelt, Max 212 Behrend, Felix 251—260 Benjamin, Walter 219 Beyerhaus, Gisbert 1—6 Birnbaum, Karl 212—213 Blumenfeld, Walter 191 — 192, 200—201 Buchenau, Arthur 183—184 Bühler, Charlotte 403—405 Cohn, Jonas 74—90 Driesch, Hans 201—204, 204—205 Endriß, K. F. 193—194. 194—195 Falkenfeld, Hellmut 199 Feldkeller, Paul 213 Fischer, Ludwig 213—214 Flaskämper, P. 175—177 Frebold, Georg 226—230 Freitag, Otto 230—251 Friedemann, Constanze 312 —350 Frischeisen - Köhler , Max 110—138 Geyer, R. 151—164 Hartmann, Alma v. 196— 198 Heinemann, Fritz 499—500 Herrigel, H. 52—73 . Hoffmann, Ernst 495—496 Hofmann, Paul 501—503 Koppelmann, W. 208—211 Kraus, Emil 180 Kraus, Oskar 454—486 Kreis, Friedrich 498—499 Kröner, Fr. 195—196 Kulimann 506 Kynast, R. 182—183 Laue, M. v. 91—95 Leser, Herrn. 220—224 Liebert, Artur 207—208, 487—488, 489—494 Lippa, Lazar v. 215 Litt, Th. 17—51 Ludowici, August 503 Meurer, Waldemar 504 Mezger, Edmund 215—216 Paleikat 490 Rauschenberger, W. 174 Reimer, W. 180—182 Schlemmer, Hans 216—217 Schlick, Moritz 96—111, 174—175, 205—207 Schneider, Herrn. 165—173, 217—218 Stenzel, Jul. 416—453, 494 —495 Sternberg, K. 185—187 187—191 Switalski, B. W. 224—226, 497—498 Tumarkin, Anna 390—402 Vaart, Smit, van der, H. W. 218 219 Wentscher, Else 139—150 Wenzel, Job. 505 Wichmann, Ottomar 351 — 389, 496—497 Wiesner, Joh. 504—505 Winternitz, Jos. 177-179, 184—185, 198—199, 199 —200, 488-491 KANT-STUDIEN PHILOSOPHISCHE ZEITSCHRIFT UNTER MITWIRKUNG VON E. ADICKES J. E. CREIGHTON R. EUCKEN P. MENZER A. RIEHL MIT UNTERSTÜTZUNG DER „KANT- GESELLSCHAFT' HERAUSGEGEBEN VON Prof. Dr. HANS VAIHINGER Prof. Dr. MAX FRISCHEISEN-KÖHLER IN HALLE IN HALLE UND Prof. Dr. ARTHUR LIEBERT IN BERLIN SIEBENUNDZWANZIGSTER BAND BERLIN VERLAG VON REUTHER & REICHARD 1922 Alle Rechte vorbehalten INHALT. Seite Kritischer und spekulativer Idealismus. Von Georg Lasson l Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Von Aloys Müller 59 Der Darwinismus und die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. Von EmilUngerer 86 Die philosophischen Grundlagen in Spenglers „Unter- gang des Abendlandes". Von Kurt Sternberg . 101 Kant und Fichte als Rousseau -Interpreten. Von Georg Gurwitsch 138 Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. Von Siegfried Marck . 165 Zur „Antinomie im Problem der Gültigkeit". Von E.v.Aster 179 Die Logik des historischen Entwicklungsbegriffes. Von Ernst Troeltsch 265 Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. Von Karl Joel 298 Die Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. Von Erich Adickes 328 Zur Analysis des Relativitätsbegriffes. Von Heinrich Scholz . 369 Mythus und Kultur. Von Arthur Liebert .... 399 Die Ueberwindung des Religionsbegriffs in der Re- ligionsphilosophie. Von Paul Till ich . . . .446 Zur „Als Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. Von Emil Utitz 470 Realismus und Positivismus. Von Ernst von Aster 496 Besprechungen : /. Geschichtsphilosophie. Hegel, O. W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Lasson). Von Franz Rosenzweig 188 Adler, Max, Marx als Denker. Derselbe, Engels als Denker. Von Hermann Broch . . . 184 Seite Brandenburg, Erich, Die materialistische Geschichtsauffassung. Von J osef Winternitz 186 Barth, Paul, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. Von Arthur Liebert 187 Hurwicz, Elias, Die Seelen der Völker. Von Ludwig Marcuse . 187 Jaensch, E. R., Die Friedensfrage im Zusammenhang mit Bildungs- und Kulturproblemen der Gegenwart. Von A. Vierkandt . . 189 Lessing, Th., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Derselbe, Die verfluchte Kultur. Von FriedrichSeifert . . . . 190 Möller -Freienfels, Richard, Philosophie der Individualität. Von Julius Schultz 191 Schul ze-Soelde, Walther, Geschichte als Wissenschaft. Von Kurt Sternberg 194 Schuck, Karl, Spenglers Geschichtsphilosophie. Von Emil Kraus . 195 //. Religionsphilosophie. Bruhn, Wilhelm, Der Vernunftcharakter der Religion. Von Heinrich Scholz 196 Scholz, Heinrich, Der Unsterblichkeitsgedanke als philosophisches Problem. Von Richard Müller-Freienfels 198 Enckendorff , Marie Luise, Über das Religiöse. Von Alfred Vier- kandt 199 Steffes, J. P., Eduard von Hartmanns Religionsphilosophie des Unbe- wußten. Von August Messer 201 ///. Rechtsphilosophie und Staatsphilosophie. Fichte, Joh. Gottl., Rechtslehre (Hans Schulz). Von Siegfried Berger 202 Dokumente der Menschlichkeit, Bd. 1—10. Von WillyMoog. . 203 Bendix, Ludwig, Die Neuordnung des Strafverfahrens. Von P. Tillich 203 Brinkmann, Carl, Versuch einer Gesellschaftswissenschaft. Von Alfred Baeumler 205 Brodmann, E., Recht und Gewalt. Von AlfredPagel 207 Holldack, F., Grenzen der Erkenntnis ausländischen Rechts. Von Albert Pagel 208 Israel, Walter, Zur wissenschaftlichen Fortbildung des Sozialismus. Von Kurt Sternberg 211 Fränkel, Richard, Der Sinn des Rechts. Von AlbertPagel. . . 212 Kaufmann, Erich, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Von Albert Pagel 212 Kelsen, Hans, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechtes. Von Adolf Merkl 215 Koppelmann, W., Einführung in die Politik. Von Margarete Calinich 218 Latte, Kurt, Heiliges Recht. Von O. Wich mann 219 Siegel, Carl, Piaton und Sokrates. Von O. Wich mann 219 Metzger, Wilhelm, Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus. Von Alfred Vierkandt 220 Seite Stammler, Rudolf, Sozialismus und Christentum. Von Karl Vor- länder 223 Unger, Erich, Politik und Metaphysik. Von Adolf Caspary. . . 224 Wichmann, Ottomar, Philosophie und Politik. Von Maximilian Abich 225 Wilbrandt, Robert, Oekonomie. Von AdolfLöwe . . . .. . 225 Selbstanzeigen : Schopenhauer-Gesellschaft, Zehntes Jahrbuch 1921 229 Baeumler, Alfred, Hegels Aesthetik 229 Feld kell er, Paul, Graf Keyserlings Erkenntnis weg zum Übersinnlichen 229 Guastella, Cosmo, Le ragioni del fenomenismo 230 Marquardt Hans, Der Mechanismus der Seele 231 Messer, A., Erläuterungen zu Nietzsches Zarathustra 232 Pos, H. J., Zur Logik der Sprachwissenschaft 232 Reininger, Robert, Friedrich Nietzsches Kampf um den Sinn des Lebens 233 Richter, Gustav, Kritik der Relativitätstheorie Einsteins 234 Stern berg, Kurt, Die politischen Theorien 234 Ungerer, Emil, Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die Logik der Biologie 234 Neue deutsche Schopenhauer-Gesellschaft, Gründungsbuch ... 235 Heinemann, Fritz, Plotin 235 Lehmann, Gerhard, Über die Setzung „Individualitätskonstante" und ihre erkenntnistheoretisch-metaphysische Verwertung 236 Mitteilungen: Professor Bolland f in Leyden am 11. Februar 1922. Von G. A. van den Bergh van Eysinga 237 Julius Schultz zum sechzigsten Geburtstag. Von R. Müller- Freienfels 233 Kants Ethik und der preußische Staat. Von Arthur Liebe rt. 239 I. Preisausschreiben der Johannes Rehmke-Gesellschaft .... 240 Kant- Gesellschaft: Landesgruppe Holland 242 Ortsgruppe Karlsruhe 243 Ortsgruppe Königsberg 245 Ortsgruppe Heidelberg 246 Ortsgruppe Baden-Baden 246 Ortsgruppe Konstanz 247 Ortsgruppe Meersburg 247 Kantstudien Band VIII-XIV, XVI und XVII gesucht! 247 An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft 248 Neuangemeldete Mitglieder für 1922: Liste I 255 Bericht über die Generalversammlung in Halle am 7. und 8. Juni 1922 518 XVIII. Jahresbericht 1921 : Einnahmen und Ausgaben 521 Siebente (Jubiläums-) Preisaufgabe: Urteile der Preisrichter .... 524 Seite Akademie für Philosophie in Erlangen 528 Ortsgruppe Tübingen 529 Ortsgruppe München 530 Ortsgruppe Heidelberg 530 Ortsgruppe Erlangen-Nürnberg-Fürth 531 Preisänderung (Annalen der Philosophie) 531 Zehntes Preisausschreiben .- Personalismus und Idealismus 532 An die Mitglieder der Kant - Gesellschaft : Betrifft Nachzahlung zum Jahresbeitrag 1922 535 Neue Jahresmitglieder: Ergänzungsliste II: Juni-September 1922 ... 536 Register: 1. Sachregister 542 2. Personenregister 544 3. Besprochene Kantische Schriften 547 4. Verzeichnis der Verfasser besprochener Neuerscheinungen . . 547 5. Verzeichnis der Mitarbeiter 548 Kritischer und spekulativer Idealismus, Von Dr. phil. (h. c.) Georg Lasson. Für den gegenwärtigen Stand der philosophischen Arbeit in Deutschland ist nichts so bezeichnend wie das immer stärker her- vortretende Verlangen nach irgend einer Art von metaphysischer Systematik. Eine gleichsam unwiderstehliche Gewalt, die tiefer als das intellektuelle Räsonnement in das innere Leben des Men- schen eingreift, treibt den Geist der Zeit auf die Suche nach über- empirischer Wirklichkeit. Was auf dem Gebiete der gebildeten und der ungebildeten Vorstelluug die seltsamsten Phantastereien erzeugt und die rückständigsten Wahngebilde neubelebt, das bringt sich innerhab der methodischen Wissenschaft des Gedankens in dem Bewußtsein zum Ausdruck, daß der heute durchweg befolgten philosophischen Methode bei all ihrem formalen Scharfsinn oder gerade wegen ihres bloß scharfsinnigen Formalismus ein Mangel anhafte, den es zu beseitigen gelte. Nun wäre es durchaus ver- hängnisvoll, wenn diese Beseitigung von einem andern Standpunkt aus versucht werden sollte als von dem letzten, den die Philo- sophie in ihrer bisherigen Ausbildung glücklich erreicht hat; der Hinweis auf die Blüte zuchtlosen Aberglaubens in der Gesellschaft unserer Tage muß zur dringenden Warnung dienen, daß sich das Denken, weil ihm an der gegenwärtigen Gestalt der philosophischen Wissenschaft etwas fehlt, nicht auf längst überwundene Vor- stellungen zurückziehe. Andererseits ist jener Rückfall in den Aberglauben ja gerade dadurch zu erklären, daß ein ursprüng- liches Bedürfnis des Gemütes, dem die Zeitbildung keine legitime Nahrung zu bieten vermocht hat, sich mit Ungestüm eigenmächtige Befriedigung sucht, und man darf sicher voraussetzen, daß sobald die ernsthafte Wissenschaft in Vernunft und Freiheit ihren eigenen Mangel zu ergänzen, ihre durch lange Gewöhnung an das Weiter- arbeiten in bestimmter Richtung erworbene Einseitigkeit zu über- Kantstadion. XXVII. 1 2 Georg Lasson, winden verstehen wird, jener Schaum der Willkürlichkeit und Abenteuerlichkeit aas dem gärenden Moste des Gemütslebens aus- geschieden werden und nur der Drang nacli einem Leben im Lichte der Wahrheit übrig bleiben wird. Damit ist der Wissenschaft eine große Aufgabe gestellt, die aber nicht von außen ihr diktiert, sondern durch die Notwendigkeit ihres eigenen Fortschreitens in ihr selbst hervorgerufen wird und von da aus auf das Gesamt- bewußtsein der Zeit einwirkt. Denn freilich ist die Wissenschaft kein vereinzeltes Faktum, das von dem großen Strome des wirk- lichen Lebens abgesperrt bleiben könnte; aus der Quelle der Er- kenntnis, die sie sprudeln läßt, empfängt dieser Strom die wich- tigsten Zuflüsse, und wenn ihre Quelle einmal spärlich oder trübe rinnt, so leidet darunter das Gedeihen der Menschheit überhaupt. Jahrzehntelang galt es bei den Philosophen als ausgemacht, daß es mit der Metaphysik ein für allemal zu Ende sei; wer in ihr noch ein berechtigtes Moment des wissenschaftlichen Denkens sah, galt für eine Art Fossil aus gänzlich begrabener Vergangen- heit. Jetzt regt sich überall das Empfinden, daß die Wissenschaft ohne Metaphysik unvollständig sei und in ihr die Synthese finden müsse, auf die sich heute der Geist wieder richtet, nachdem er lange sich an der Analyse hat genügen lassen. Die Katastrophe des Weltkrieges hat einem Zeitalter den Untergang gebracht, das durch die Hingebung des Geistes an die Außenwelt charakterisiert war. Mit dem platten Materialismus und Mechanismns hat es be- gonnen; er war die nächste Auskunft, wo sich das Bewußtsein von dem sogenannten Realen beherrschen ließ und sich in ihm zerstreute. Unmöglich aber konnte der Gedanke, der von Natur die Freiheit in sich trägt, auf dieser Stufe stehen bleiben; schon die Evolutionstheorie, die eben deshalb mit allgemeiner Begeiste- rung aufgenommen wurde, brachte in die bloße Geistlosigkeit einen Schimmer höherer Vernünftigkeit hinein, obwohl man sie ängstlich vor jedem Anklang an Teleologie und Jdeenentwicklung zu schützen suchte. Den Retter vor dem Versinken in den Naturalismus fand das Denken dann in Kant; für die damalige Situation war es das Angemessene, daß er von der Seite aufgefaßt wurde, nach der er einesteils die Möglichkeit der Naturwissenschaft und andernteils die Unmöglichkeit einer rein verstandesmäßigen Erkenntnis des Transzendenten zu beweisen unternommen hat. Ein kritischer Positivismus und Agnostizismus wurde ausgebildet, der dann durch das Geltenlassen von Gemütswerten noch einer Welt der sub- Kritischer und spekulativer Idealismus. 3 jektiven Ideale neben der Welt der exakten Erkenntnis Raum gab; die Philosophie des „Als ob" ist der letzte konsequente Aus- gang dieser Entwicklung. Indes ließ die Zwiespältigkeit dieses Standpunktes ein Beruhen bei dieser Auffassung der Kantischen Lehre nicht zu. Der Neukantianismus geht über die Scheidung von Objektivität und Subjektivität zurück zu der Kantischen Grundanschauung, die zwischen beiden eine unlösliche Korrelation feststellt und zwar so, daß überhaupt nur durch die Erkenntnis und in der Erkenntnis etwas objektiv ist. Hierdurch verringert sich der Abstand zwischen der Erkenntnis der empirischen Be- wußtseinsinhalte und den Werten idealer Natur. Diese erscheinen als zu einer Objektivität der Kultur gehörig, die selbstverständlich nur durch die Vernunfttätigkeit möglich, ja nichts anderes als Vernunfttätigkeit selbst ist, jene haben keinerlei von der Er- kenntnis verschiedenes Sein, sondern sind nichts als Geltungs- urteile. Das einzige Objektive, das so der Philosophie übrig bleibt, ist die Vernunfttätigkeit, das Erkennen selbst, und die einzige Aufgabe der- Philosophie ist die Selbstbestimmung dieses Erkennens, für das es keinen anderen Inhalt gibt als seine eigene Tätigkeit. So entsteht ein äußerst folgerichtiger Logismus, die Anschauung eines in sich geschlossenen Ganzen intellektueller Tätigkeit, die indes nach dem transzendentalen Prinzip des Kritizismus darauf beschränkt bleibt, die Erfahrungsmöglichkeiten zu bestimmen oder einem ursprünglich Bestimmungslosen zur erkenntnismäßigen Form zu verhelfen. Man würde sehr unrecht tun, wenn man nicht an- erkennen wollte, daß in diesem Neukantianismus tatsächlich eine Weiterbildung des kritischen Idealismus über seine geschichtlich erste Erscheinungsform in Kant selber vorliegt. Vielleicht darf man sogar sagen, daß hierüber hinaus es ein Weitergehen in der- selben Richtung nicht mehr gibt. Die Aufgabe wäre fesselnd genug zu zeigen, wie diese extreme Zuspitzung des Transzendentalismus mit der Gestalt der Bildung zusammenpaßt, die dem jetzt zu Ende gegangenen Zeitalter sein Gepräge gegeben hat. Uns liegt eine andere Aufgabe ob. Nicht bloß* von außen verstärkt sich der Widerspruch gegen diesen abstrakten Logismus; von ihm selbst aus bereitet sich eine Umkehr zur Versöhnung mit dem Leben der Wirklichkeit vor, von dem er sich tatsächlich allzuweit ent- fernt hatte. Ist es doch ungefähr der Standpunkt, wie ihn Herder und Jacobi irrtümlicherweise Kant selber zugeschrieben haben, der Standpunkt einer Isolierung der Philosophie, der von der l* 4 Georg Lasson, ganzen Welt nichts übrig läßt als abstrakte Beziehungen von Denkakten, ohne doch diese Denkakte anders begreiflich machen zu können als durch die Voraussetzung eines nicht weiter zu be- stimmenden Anlasses für eben diese Denkakte. Aber grade dieser vollständige Ausbau der Theorie trägt das Mittel zur Heilung ihres Schadens in sich selbst. Es läßt sich der Schritt gar nicht umgehen, durch den der Wert zu einem Moment der vernünftigen Wirklichkeit, die Geltung zur Wahrheit im konkreten System des Wissens wird. Die Art, wie Artur Liebert durch die Untersuchung der Voraussetzungen der kritischen Philosophie den Weg zu einer neuen kritischen Metaphysik zu bahnen unternimmt, ist ein klarer Beweis dafür, daß im Neukantianismus eine Neu- orientierung sich vollzieht. In gewissem Sinne wiederholt sich damit die Bewegung, die vor nunmehr fünf Vierteljahrhunderten stattgefunden hat, der Fortschritt vom kritischen zum spekulativen Idealismus, der Weg von Kant zu Hegel; und es ist gewiß kein Zufall, daß, nachdem der Name Hegels weit länger als ein Menschenalter hindurch in der deutschen Philosophie kaum noch genannt wurde, man heut überall der Bezugnahme auf ihn begegnet. Immerhin darf der große Unterschied zwischen der philosophischen Situation der Gegenwart und der Blütezeit des deutschen Idealismus nicht übersehen werden. Damals hat, mit Kant angefangen, der durch- aus ein Führer zu neuen Zielen war, eine Reihe bahnbrechender Genien dem Geiste der Zeit das Losungswort gegeben und ihn damit gleichsam über sich selbst emporgehoben. Damals sind, wenn auch durch Schranken des zeitgeschichtlichen Horizontes in der Durchführung vielfach gehemmt, die bleibenden Grundgedanken und beherrschenden Begriffe des Idealismus der reinen Vernunft und der Autonomie des selbstbewußten Geistes herausgearbeitet und formuliert worden. Damals machte der denkende Geist in wenigen Jahren eine Entwickelung durch, die ein Programm für Jahrhunderte in sich, birgt. Heute muß die Philosophie mühsam darum kämpfen, die ihr gebührende Stellung im Geistesleben der Zeit wiederzugewinnen, die sie während des verflossenen Zeitalters an die sogenannten exakten Wissenschaften verloren hatte, und noch ist kein Denker von dem Kaliber aufgetaucht, daß er das Bewußtsein seiner Zeit auf die Hohe der inneren Freiheit und Klarheit emporreißen könnte, von der es lange herabgeglitten ist. Heute gilt es, die von jenen großen Lehrern uns überkommenen Kritischer und spekulativer Idealismus. 5 Prinzipien sorgfältig auffassen, prüfen, durch- und weiterbilden und geduldig warten, ob und wann etwa die denkende Vernunft in ihrer Selbstbetrachtung noch hinter diese Prinzipien wird zurück- gehen und eine noch tiefere Grundlegung ihrer eigenen Organisation wird finden können. Heute sieht sich das Denken auf den Weg einer langsamen, durch die Vergangenheit bestimmten Weiterarbeit an den Aufgaben gewiesen, die frühere schöpferische Zeiten ihm gestellt haben, und muß sich bescheiden in den Fluß einer Entwickelung einreihen, der das Stichwort schon vor etlichen Menschenaltern gegeben worden ist. Dafür ist dann freilich auch vom wissen- schaftlichen Gesichtspunkte ein wichtiger Vorteil auf Seiten der heutigen philosophischen Arbeit zu buchen. Wir stehen zeitlich jenen Anfängen der neuen philosophischen Betrachtungsweise jetzt fern genug, um sie unbefangen nach ihrer geschichtlichen Bedingt- heit sowohl wie nach ihrem bleibenden Wahrheitsgehalt beurteilen zu können. Wenn den Chorführern der deutschen idealistischen Philosophie in den ersten Generationen ihrer Schüler fast durch- weg nur Epigonen entstanden, die von ihren Meistern die Formel entlehnten, um sie bestenfalls in geistreichem Räsonnement auf den mannigfachsten Stoff anzuwenden, so liegt darin der beste Beweis, um wie viel die ursprünglichen G-edankenschöpfungen jener Großen über die Schranken ihrer Zeit hinwegragten. Nachdem sich inzwischen die Zeiten zweimal gänzlich gewandelt haben, nachdem die erste, unmittelbare Gestalt jener idealistischen Philo- sophie von dem lebendigen G-eiste verlassen worden ist und als ein Denkmal der Vergangenheit dasteht, dem unser Nachdenken erst wieder Leben einflößen muß, sind wir auch eigentlich erst in den Stand gesetzt, uns mit freiem Verständnis an diese Philo- sophie heranzumachen, in sie einzugehen, ihre letzten Motive und den ihren geschichtlichen Ablauf beherrschenden Begriff zu er- fassen. Wenn also jetzt der Weg vom kritischen zum spekulativen Idealismus wieder sollte zurückgelegt werden, so wäre das eine Wiederholung gleichsam in zweiter Potenz, eine Wiederholung mit dem Bewußtsein, daß, und mit der Einsicht, warum und wieweit es eine Wiederholung ist und sein muß. Die Aufgabe, diese beiden Standpunkte zu vergleichen, läßt sich demnach nicht dadurch erschöpfend lösen, daß man nur den Hergang ihres ersten geschichtlichen Auftretens betrachtet und an der Form Kritik übt, in der sie damals gegeneinander sich er- hoben und abgegrenzt haben. Es kommt darauf an, den prin- 6 Georg Lasson, zipiellen Unterschied ans Licht zu heben, der sie gleichzeitig trennt und eint und der, aller geschichtlichen Abwandlangen ungeachtet, unverändert derselbe bleibt. Daß dafür der Rückgang auf die gleichsam klassische Zeit ihrer Ausbildung unerläßlich ist, versteht sich von selbst; ohnehin aber kann man heute sich zu jener Ver- gangenheit gar nicht anders hinwenden als ausgerüstet mit dem Begriffs vorrate, in dem man durch die gegenwärtigen philosophi- schen Methoden heimisch gemacht worden ist. Der hier sich zeigenden doppelten Gefahr, in die früheren Theoreme moderne Beziehungen hineinzuinterpretieren oder das heutige Denken an die Schemata vergangener Gedankenrichtungen zu binden, entgeht nur der, dem es gelingt, sich denkend über die zeitlichen Bedingt- heiten sowohl von damals wie von jetzt zu erheben und die Seele, den lebendigen Begriff zu erfassen, der sich in den verwandten Denkweisen verschiedener Zeiten verschiedenartig verkörpert. Naturgemäß wird auch da noch sich ein Unterschied, wenn nicht in dem endlichen Ergebnisse selbst, aber doch in dem Ausgangs- punkte, von dem man sich ihm nähert, und in dem Wege be- merklich machen, auf dem man es erreicht, je nachdem man nämlich selber gewöhnt gewesen ist, in den Gedankenreihen des einen oder des andern Standpunktes sich zu bewegen. In dieser Hin- sicht hat es heute der Denker, der aus dem Lager des kritischen Idealismus stammt, leichter, Gehör zu finden, als wer von je an die Gesichtspunkte des spekulativen Idealismus sich zu eigen ge- macht hat. Jenem werden zur Zeit die meisten Hörer und Leser mit willigem Vertrauen entgegenkommen, weil sie mit ihm den gleichen Gedankenansatz haben, während ihnen die Anschauungs- weise, die der spekulative Idealist bei dem besten Willen, auf die Denkart der andern Seite einzugehen, doch niemals ganz verleugnen kann, von vornherein befremdlich und sogar abstoßend erscheinen wird. Bedenkt man vollends, daß, sobald auf die tiefsten Funda- mente, auf die entscheidenden Differenzen zwischen beiden Stand- punkten zurückgegangen wird, Gegensätze hervortreten, die nicht von heut und gestern stammen, sondern die Probleme des philoso- phischen Denkens von jeher gewesen sind, so tritt dem Versuch einer Verständigung noch eine weitere Schwierigkeit in den Weg. Es scheint nämlich, daß über diese letzten Unterschiede nichts Neues mehr gesagt werden könne ; sie sind längst nach allen Seiten erörtert worden, und von beiden Standpunkten aus hat man ihren Sinn, ihr Verhältnis zu einander, ihre geschichtlichen und gedank- Kritischer und spekulativer Idealismus. 7 liehen Verbindungen und Entgegensetzungen in aller Sorgfalt aus- einandergelegt. Das gilt ebenso von der Darstellung des Weges von Kant zu Hegel, wie von der prinzipiellen Darstellung der Transzendentalphilosopbie und des absoluten Idealismus. So lautet denn, wenn aus dem einen Lager wieder einmal eine solche Dar- stellung hervorgeht, die Antwort aus dem andern, daß sie keine neuen Gesichtspunkte bringe, und die Replik darauf beschwert sich, daß die Gegenseite immer wieder ihre längst widerlegten Argumente vortrage. Mit diesem gegenseitigen Vorwurf aber, daß der andere beständig zurück nur komme auf sein erstes Wort, wenn man Vernunft gesprochen stundenlang, ist natürlich nichts ausgelichtet. Der Weg zur Verständigung zwischen beiden Lagern kann nur in dem einen Umstände gefunden werden, daß nicht von der Gegenseite her, sondern durch immanenten Fortschritt inner- halb der eigenen Denkweise der Anstoß gegeben wird, den eigenen Standpunkt zu revidieren und sich dadurch dem andern zu nähern. Da gegenwärtig im Lager des kritischen Idealismus ein solcher Revisionsprozeß vor sich geht, so wird dem Vertreter des speku- lativen Idealismus um so mehr die Bescheidenheit geziemen, nicht durch rechthaberisches Auftrumpfen diese Bewegung zu stören, sondern sich auf den Versuch zu beschränken, wie er Mißverständ- nisse, die eine Annäherung erschweren, aus dem Wege räumen und den Ausgleich der Gegensätze durch ihre möglichst klare Formulierung von seiner AufTassungsweise aus fördern könne. Die folgenden Betrachtungen möchten in diesem Sinne ver- standen werden. Sie sind veranlaßt worden durch das Er- scheinen des dritten Bandes von Ernst Cassirers ausgezeich- netem Werke über die Geschichte des Erkenntnisproblems 1). Eine Besprechung des Buches, die seinem reichen Inhalte auch nur an- nähernd gerecht werden wollte, würde einen Umfang annehmen müssen, der sie selbst zu einem Buch aufschwellen würde. Mit einer bloßen Lobpreisung der Sorgfalt und Klarheit, des liebevollen Eingehens und nachfühlenden Verständnisses, womit der Verfasser die bunte Reihe der von ihm betrachteten Systematiker dem heutigen Denken nahebringt, würde ihm nicht gedient sein. Den besten Beweis für den Wert seines Buches wird die Tatsache 1) Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen- schaft unserer Zeit. 3. Bd. Die nachkantischen Systeme. Berlin 1920, Bruno Cassirer. 8 Georg Lasson, liefern, daß es Gelegenheit zu fruchtbarer Diskussion bietet; un( wenn wir zum Thema dieser Diskussion die Frage nach dem Vei hältnis zwischen kritischem und spekulativem Idealismus wählei so glauben wir damit das Problem aufgegriffen zu haben, das ebensowohl in dem Mittelpunkte des Cassirerschen Buches wie der wissenschaftlichen Bemühungen seines Verfassers überhaupt steht. Denn für ihn vor allem ist das Bestreben bezeichnend, unter grundsätzlichem Verharren auf dem Standpunkt der kritischen Philosophie den Ertrag der Geisteskultur festzuhalten und weiter auszubauen, den wir den großen Vertretern des spekulativen Idealismus verdanken. Es wäre zu viel gesagt, wollte man seine Denkweise nach bekanntem Muster so bezeichnen: mit dem Kopf ein Kantianer, mit dem Herzen ein Fichteaner, wenn nicht gar ein Hegelianer; aber daß sein Herz Goethe gehört, und daß in Goethe nicht bloß Leibniz mit Spinoza, sondern auch Kant mit Schelling und Hegel in ganz wunderbarer Integration verschmolzen erscheinen, das wird man wohl behaupten und von daher das Interesse Cassirers für den spekulativen Idealismus herleiten dürfen. Da er in seinem Buche die historische Darstellung mit prinzipieller Auseinandersetzung regelmäßig verbindet und sogar am Schlüsse seiner Schilderung des Hegeischen Systems einen besondern Abschnitt bringt, der von „dem kritischen und dem absoluten Idealismus" handelt, so ermöglicht das Eingehen auf dies Buch die Erörterung des Themas in seiner ganzen Bedeutung. Jedoch wird die Rücksicht auf den Kaum uns dazu nötigen, aus der Fülle der einzelnen Punkte, die der Erörterung wert wären, nur einige herauszugreifen, die uns besonders dazu geeignet scheinen, Kopf und Herz in Rücksicht auf den spekulativen Idealismus zu versöhnen. Es handelt sich für uns um zwei Formen des Idealismus, d. h. um zwei eng verwandte Denkweisen, deren Verschiedenheit eben darum so scharf hervortritt, weil sie sich so außerordentlich nahe stehen. Das Gemeinsame der beiden aber ist diejenige Stellung des wissenschaftlichen Denkens, die der tatsächlichen Stellung des Menschen in seiner Welt am genauesten entspricht. Der Mensch ist, weil er denkendes Wesen ist, an sich oder von Natur Idealist, auch wenn er es selbst nicht weiß. Es gibt für ihn ohne die Ver- mittelung seines Innern keinerlei Wirklichkeit; daß er sich von dem allen unterscheidet, dessen er sich bewußt ist, auch von sich selber, und dieses alles immer in Beziehung auf sich sieht und Kritischer und spekulativer Idealismus. 9 empfindet, macht ideell beständig die ganze Welt von ihm ab- hängig, wie stark er auch reell von ihr abzuhängen scheint. Infolgedessen ist insbesondere das theoretische Verhalten des Menschen als solches idealistisch, und alle Philosophie, sie mag eine Richtung haben, welche sie wolle, ist deshalb, weil sie das scheinbar selbständige Objekt mit dem Verstände sich unterwirft und denkend erfaßt, Idealismus schlechthin. Auch der philo- sophische Materialismus kommt davon nicht los, Idealismus zu sein; er gibt eine gedankliche Konstruktion der Wirklichkeit, und wenn er meint, die Wirklichkeit nur aufzunehmen, wie sie an sich ist, so fügt er ihr eben doch bereits durch dies Aufnehmen eine Beziehung zu dem denkenden Subjekt hinzu und übersetzt sie aus einer Sphäre des bloßen Daseins in die Sphäre des Gedacht- werdens. Dem Denken konnte, sobald es anfing, sich auf sich zu besinnen, dies Verhältnis nicht lange verborgen bleiben; innerhalb der Philosophie hat sich von früh an als diejenige, die schließlich den entscheidenden Antrieb zu der Fortbildung auch aller andern neben ihr bestehenden Richtungen in sich trägt, der philosophische Idealismus entwickelt. Ganz im allgemeinen ist er als die An- schauung zu bezeichnen, die als das Wirkliche, das Wahre, das Geltende, das Wertbetonte — man mag die verschiedenen Aus- drücke zunächst freigeben — dasjenige erkennt, was der sinnlichen Wahrnehmung, der Erfahrung einer Außenwelt unzugänglich ist, Bestimmungen des menschlichen Inneren, Inhalte des Denkens, der Tätigkeit des Subjekts, die als bleibende Formen, erhaltende Gründe, leitende Zwecke an dem Wechsel der raumzeitlichen Er- scheinung nicht teilnehmen. Es ist das unsterbliche Verdienst der Antike, diese Inhalte in ihrer nächsten einfachen Bestimmtheit ans Licht gestellt und formuliert zu haben; sie hat den objektiven Idealismus geschaffen, dessen Hauptproblem die Frage bildet : was tist das Wahre ? Es liegt aber auf der Hand, daß davon die andere Frage nicht zu trennen ist: welches ist der Weg zu dem Wahren? Wenn Plato in eingehenden Untersuchungen die Wahrnehmung, die Vorstellung, die richtige Meinung nicht als wissenschaftlich zureichende Mittel zur Wahrheitserkenntnis gelten läßt und das begriffliche Denken als den einzigen Weg zum wahren Wissen er- weist, so treibt er bereits Erkenntniskritik; diese also ist nicht das Privileg des kritischen Idealismus. Wenn Plato ferner von den Philosophen erklärt, daß sie sich im Sterben üben und aus der Welt der Erscheinungen abscheiden, um das Wahre zu erfassen, 10 Georg Lasson, so vertritt er bereits einen Standpunkt, der das Erkennen transzen- dental bestimmt als von Bedingungen ausgehend, die in ihm selber liegen und alle Erfahrung erst möglich machen ; auch der transzen- dentale Gesichtspunkt ist nicht erst im kritischen Idealismus auf- getaucht. Und wenn dann Aristoteles den Gegenstand der äußeren Erfahrung analysiert und als die beiden Momente, die ihn kon- stituieren, die Materie und die Form bezeichnet, die die Idee dieser Materie ist, so hat er damit die Erfahrung schon als das geistige Setzen einer Beziehung zwischen zwei für sich allein nirgend ge- gebenen oder möglichen Faktoren bestimmt. Es ist demnach zu sagen, daß in dem objektiven Idealismus der kritische bereits als ein noch nicht zur Selbständigkeit herausgebildetes Moment vor- handen ist. Erst im Gefolge der Reformation tritt eine grundlegende Weiterbildung des Idealismus dadurch ein, daß sich das denkende Ich als das Prinzip der Selbstgewißheit und den Zentralpunkt des gesamten Bewußtseinsinhaltes erfaßt. Das Cartesische cogito, ergo sum erweckt zuerst einen Ontologismus , der die antike Meta- physik in eine Weltanschauung des aufgeklärten und vernünftigen Bewußtseins übersetzt, und wird dann zur Grundlage eines sub- jektiven Idealismus, dem nichts als die Tatsache des Bewußt- seins selbst gewiß ist. Die Welt ist die Welt unserer Wahr- nehmungen; außerhalb unserer Wahrnehmungen von einer ma- teriellen Welt zu reden hat keinen Sinn: die „Dinge" existieren nur im wahrnehmenden Geiste. Mit diesem subjektiven Idealismus könnte der absolute zusammenzufallen scheinen, wenn nicht der Ausgangspunkt, die Wahrnehmung, selbst nicht das reine, durch sich selbst bestimmte, sondern vielmehr das zufällige, natürlich bestimmte Subjekt voraussetzte; man kann ja um deswillen Ber- keley auch unter die Sensualisten rechnen. Die Analyse der Er- fahrung führt nun aber zu der Erkenntnis, daß die Welt unserer Wahrnehmungen gar nicht durch die einzelnen Wahrnehmungen ihre Gestalt erhält, sondern durch die Formen, in denen der denkende Geist diese Wahrnehmungen miteinander verknüpft. Hier ist der Wendepunkt des philosophischen Denkens der neuen Zeit erreicht. Denn von dieser Erkenntnis aus fällt einerseits jede Möglichkeit hin, eine Realität der Außenwelt gesondert von der Aktivität des Bewußtseins festzuhalten, und eröffnet sich andererseits der Weg, Außenwelt und Innenwelt, Natur und Frei- heit in den vernünftigen Zusammenhang einer einheitlichen geistigen Kritischer und spekulativer Idealismus. 11 Produktion hineinzustellen. ' Den Nachweis des ersten Satzes hat Hume geliefert: die Kategorien gehören unserm Verstände, nicht den Dingen an; also ist die Welt, wie wir sie uns vorstellen, eine durch unsere Verstandesformen erzeugte fable convenue. Man kann in den Dingen, deren Eindrücke auf uns die Wahrnehmungen hervorrufen, keine Kausalität nachweisen, denn die Kausalität ist unsere Vorstellungsart; deshalb ist es gänzlich ungewiß, ob die Welt unserer Wahrnehmungen irgend etwas mit der Welt der Dinge gemein hat. Bei dieser Schlußfolgerung widerfährt freilich Hume das Mißgeschick, daß er die Kausalität, deren objektive Gültigkeit er bestreitet, gerade an der entscheidenden Stelle selbst muß gelten lassen; er müßte ganz wie Berkely im subjektiven Idealismus stehen bleiben, wenn er nicht die Perzeptionen und Sensationen als verursacht durgh äußere Einwirkungen auffaßte. So ruht sein Empirismus auf einem offenkundigen Selbstwider- spruch; es wird hier unausweichlich klar, daß eine Zweiteilung in eine Welt der Dinge und in eine Welt des Bewußtseins in dem Augenblick unmöglich geworden ist, wo die kategoriale Form jeder Erkenntnis, auch der empirischen außer Zweifel steht. Die Philosophie ist damit auf dem Punkte angekommen, sich ihres eigentlichen Charakters bewußt zu werden; haben wir oben bemerkt, daß sie ihrem Wesen nach Idealismus sei, so wird nun dies ihr Wesen auch zu ihrer Tat. Hierin liegt die epoche- machende Bedeutung der Kantischen Philosophie ; Kant erhebt die Idee der Philosophie zur lebendigen Substanz seines Systems und macht mit der Erkenntnis ernst, daß das vernünftige Subjekt, das denkende Ich der Schöpfer der Wirklichkeit, daß bereits die Welt der äußeren Erfahrung eine Welt des G-eistes und daß die Freiheit die fundamentale Bestimmung der Vernunft ist. Das ist, könnte man sagen, absoluter Idealismus; wenn zwischen diesem und dem Kritizismus dennoch eine scharfe Trennungslinie gezogen wird, so liegt der Grund dafür jedenfalls nicht in einer ver- schiedenen Stellung dieser beiden Richtungen zu den Metboden des vorkritischen Denkens. Es ist einfach ein sachlicher Irrtum, wenn man dem absoluten Idealismus vorwerfen möchte, er sei in den Dogmatismus der ontologischen Metaphysik zurückgefallen. Daß während seiner Ausbildung sein Prinzip nicht gleich in allen Beziehungen rein durchgeführt worden ist, besagt so wenig gegen das Prinzip, wie die mannigfachen Residuen von Psychologismus und Empirismus bei Kant etwas gegen dessen kopernikanische Tat 12 Georg Lasson, besagen. Der absolute Idealismus ist mit dem kritischen völlig eins, soweit es den Unterschied von den übrigen philosophischen Standpunkten gilt, die dem Leben des Geistes irgend eine ding- liche, geistfremde Wirklichkeit vorausschicken und es davon ab- hängig sein lassen. Er ist selbst mit Bewußtsein kritisch und bemängelt an dem Kritizismus nur, daß dieser nicht zum Bewußt- sein davon kommt, daß an sich auch er bereits absoluter Idealis- mus ist. Was also die beiden Standpunkte trennt, ist eine imma- nente Verschiedenheit, eine Unähnlichkeit von Geschwistern. Es handelt sich allein um die Beantwortung der Frage: wie weit kann die Vernunft durch ibr Denken in der Erkenntnis ihrer selbst kommen? Während hier der kritische Idealismus eine nie ganz aufzuhebende Schranke statuiert und die Vernunft an eine ihr unentbehrliche und von ihr nicht überwindbare Gegebenheit, ein mit ihr zugleich gesetztes Irrationales und eine ihr natur- notwendig anhaftende Mehrheit von Anlagen und Vermögen bindet, will der absolute Idealismus den Gedanken der Spontaneität der Vernunft bis zu Ende denken und behauptet das Recht einer Ver- nunftphilosophie, für die alle scheinbare Gegebenheit und alles scheinbar Irrationale als freie Setzung des Geistes erkannt wird, der sich selbst und alles andere produziert. Die Kritik der Ver- nunft, die dieser absolute Idealismus übt, bleibt also nicht bei dem Feststellen von Schranken stehen, sondern wendet sich auch kritisch diesem Feststellen zu und findet den Grund dafür in der Selbsttätigkeit des Geistes, der, indem er sich selber Schranken zieht, über diese Schranken bereits hinaus und ihr eigner Schöpfer ist. Weil das Denken so das Ganze aller Erkenntnisse und Be- wußtseinsinhalte in einem aus seiner eigenen Vernünftigkeit und Freiheit erzeugten vernünftigen Zusammenhange schaut, der durch sich selbst klar und in dem sich die Vernunft selbst durchsichtig ist, trägt diese Form des philosophischen Idealismus den Namen des spekulativen Idealismus. Dieser behauptet von sich, daß er die rechtmäßige Durchführung des von Kant aufgedeckten Prinzips darstelle, daß also der Weg vom kritischen zum speku- lativen Idealismus der notwendige Weg des vernünftigen Denkens sei. Der Kritizismus hinwiederum gibt heute, im Bückblick auf die geschichtliche Entwickelung, ohne weiteres zu, daß dieser Weg freilich einmal gemacht werden mußte und auch in seiner Weise die Philosophie mannigfach gefördert hat, sieht aber doch in ihm ein Abenteuer des Gedankens, eine Hybris der menschlichen Ver- Kritischer und spekulativer Idealismus. 13 nunft, die deshalb seinerzeit mit kläglichem Zusammenbruch ge- straft worden und zu stets erneutem Scheitern auf ewig verdammt sei. Lange schien dies Urteil das endgültige zu sein; die Gegen- wart zeigt, daß eine Nachprüfung unerläßlich ist. Sehen wir zu, welches Material Cassirer dafür beibringt. Wir greifen zunächst eine Reihe von Bemerkungen heraus, in denen Cassirer sehr nachdrücklich den ursprünglichen Kantianismus als noch unfertig charakterisiert. Ganz im Sinne echter geschicht- licher Auffassung sagt er (S. 2): „Der Zerfall des kritischen Systems in seine einzelnen verschiedenartigen Elemente bedeutet zugleich die Vorbedingung und den Anfang eines neuen Verständnisses seines begrifflichen Aufbaus" und bezeichnet als die Gruppe von Be- griffen, in denen das Problem des kritischen Systems sich aus- drückt und die deshalb der weiteren Bearbeitung durch die nach- kantischen Systeme anheimfallen mußten, die Begriffe des Dinges an sich, der synthetischen Einheit, des Gegensatzes von Form und Materie und des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem innerhalb der Erkenntnis. In diesen Begriffen und Problemen liege ein intellektuelles Bezugsystem vor, auf das alle charak- teristischen und entscheidenden Einzelbestimmungen in den Lehren der maßgebenden Denker von Reinhold bis Hegel hinweisen (S. 3). Wenn sich wohl zu diesen Begriffen und Problemen noch manche nicht minder fundamentale würden hinzufügen lassen, die durch die kantische Lehre noch nicht zur Klarheit gebracht worden waren, so darf man Cassirer ohne weiteres beistimmen, daß die von ihm genannten in der Tat den kritischen Punkt innerhalb des Kritizismus betreffen; sie können in dem einen Problem eines ur- sprünglichen und durchgängigen Dualismus zusammengefaßt werden. Ereilich erhebt sich dann auch sofort die Frage, worauf eigentlich Kants Absicht gegangen sei, auf die Überwindung dieses Dualis- mus, den er aus der zeitgenössischen Philosophie übernommen hatte, durch seine Einordnung unter die Einheit des autonomen denkenden Subjekts, oder auf die Neubegründung des Dualismus, den er der dogmatischen Metaphysik entgegenstellte, durch das Festhalten an dem Phänomen der sinnlichen Erfahrung. Dass er zur Abwehr des Dogmatismus sich immer wieder dem fruchtbaren Bathos der Erfahrung zugeneigt hat, ist gewiß unbestritten. Aber ebenso- wenig läßt sich verkennen, daß er über die ursprüngliche Ent- gegensetzung der in der Erfahrung vorgefundenen Elemente hinaus einer Synthese zugestrebt hat, die mehr bedeutete als die bloß 14 Georg Lasson, formal logische Korrelation dieser Elemente im Denkprozeß. Er ist zu dieser Synthese durch eine Erweiterung des Erfahrungs- begriffs gelangt, den er aus der Sphäre der sinnlichen auf die der sittlichen Erfahrung ausdehnte, und man sollte endlich aufhören das wegzuleugnen, was er selbst offen erklärt hat, daß ihm die kritische Analyse der Bedingungen einer möglichen sinnlichen Erfahrung ausdrücklich dazu hat dienen sollen, die Unbedingtheit der praktischen Vernunft, die Selbstgewißheit des moralischen Willens festzustellen und eine Wirklichkeit der inneren Erfahrung zu erweisen, in die sich die Welt der äußeren Erfahrung einzu- gliedern hat. Die praktische Freiheit wird durch Erfahrung als eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens erkannt (Kr. d. r. V. 2. Aufl., S. 81); dem bestirnten Himmel über mir tritt das moralische Gesetz in mir als Erfahrungstatsache zur Seite. Diese Tatsache aber ermöglicht nun vermittelst des Be- griffs der Autonomie die konkrete Synthese von Phänomenen und Noumenen. Die Tendenz Kants auf den einheitlichen Aufbau der Er- kenntnis aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit bezeichnet Cassirer als den Kern der Vernunftkritik. Rückhaltlos gib£ er zu, daß die ersten Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft den Sachverhalt, den Kant aufzudecken beabsichtigt, „noch nirgends in voller Klar- heit hervortreten lassen" (S. 7). Auch die Darstellung in den Prolegomena gibt er einfach preis (S. 9). Er betont, daß sich in Kants Stil „der Kampf zwischen der neuen logischen Begriffsansicht und der empirischen Dingansicht, fortsetzt und darin seinen deut- lichsten Ausdruck erhält" (S. 5). Den Ausdruck „Anlagen" für die Voraussetzungen der Form aller Erkenntnis, den Ausdruck „Affektion durch die Dinge an sich" für die Voraussetzungen zu materialer Begriffsbestimmung nennt er Symbole für das Problem des Kritizismus, nicht Lösungen. Er meint, daß auf dem Boden der transzendentalen Ästhetik „das Ding einstweilen nur als ein unbegriffener Rest erscheinen muß, der für das Wissen zurück- bleibt". Das Gemüt und die Dinge an sich treten hier als abso- lute, für sich bestehende Potenzen auf; „die originale und tiefere Frage, wie sich die Welt der Erfahrung als ein einheitliches Ganzes des Sinnes und der Erkenntnis konstituiert", bleibt noch verdeckt (S. 7). Erst mit der transzendentalen Logik tritt der kantische Gedanke klar zutage ; indem die Bestimmung der Gegen- ständlichkeit schlechthin kategorialen Charakter erhält, „scheint es s Kritischer und spekulativer Idealismus. 15 jetzt freilich, als habe die Vernunftkritik hier in dem Ziel, zu dem sie jetzt gelangt, ihren eigenen Anfang zunichte gemacht" (S. 8). Das heißt, es ist in der Tat aus dem Dualismus von Sein und Denken ein monistischer Idealismus der logischen Beziehungssysteme von Gedanken- bestimmungen geworden; was ihn von dem Gipfelpunkte des absoluten Idealismus , dem „Sicbselbsterkennen im absoluten Anderssein" noch trennt, ist nur der Umstand, daß die Beziehung in der Form der Eeflexion ursprünglich entgegengesetzter Mo- mente aufgefaßt und also das Denken mit einer von ihm nicht auflösbaren Gregebenheit belastet wird. Daß der Kantianismus zu solcher idealistischen Einheitslebre hintreibt, erläutert Cassirer ferner sehr interessant an der kri- tischen Auffassung des aposteriorischen Urteils. Er weist nach, daß, da die Kategorien die notwendige Bedingung aller möglichen Wahrnehmungen sind, die empirische Tatsache selbst in dem, was gerade ihren eigentümlichen Sachcharakter ausmacht, durch nichts anderes konstituiert wird als durch jenes reine Geltungsmoment, das im Gedanken der apriorischen Synthesis festgehalten ist (S. 10). Aus dem besondern Dialekte der Schule in die geläufigeren Aus- drücke des überlieferten philosophischen Sprachgebrauches über- setzt, besagen diese Worte, daß die vollständige Form der Er- kenntnis nicht im Urteil, sondern im Schlüsse zu finden ist und daß jedem besondern Erfahrungsurteil immer bereits ein Vernunft- schluß zugrunde liegt, der überhaupt eine Erkenntnis erst möglich macht. Es zeigt sich hier der einheitliche Erkenntnisgrund, der Boden einer synthetischen Vernunfttätigkeit, die, wie Cassirer sagt, zwischen den gegensätzlichen Bedeutungsmomenten, dem Not- wendigen und dem Zufälligen, dem Allgemeinen und dem Einzelnen, dem Gesetze und der Tatsache, die wesentliche Verknüpfung be- wirkt, ohne die Gegensätze, die isoliert nicht bestehen können, aufzulösen (S. 10). So entsteht für die kritische Betrachtung der Grundgegensätze „stets die Doppelaufgabe: eine unlösliche Korre- lation zwischen Bestimmungen zu schaffen, ohne sie ihrem Begriffe nach in einander aufgehen zu lassen" (S. 11). Merkwürdigerweise hat Cassirer nicht gesehen, daß er hiermit das Wesen der viel- berufenen dialektischen Methode genau beschrieben hat. Die kritische Methode ist tatsächlich ihrem Wesen nach dialektische Methode; was sie von deren reiner Ausbildung und bewußter Übung noch trennt, ist nur der Umstand, daß sie 16 Georg Lasson, vorstellungsmäßig die reinen Gedankenbestimmungen selbst wieder in der Weise einander repellierender Einzeldinge auffaßt und den Sinn der Identität des Unterschiedenen oder den Begriff der über- greifenden geistigen Einheit nicht erreicht. Ihre Dialektik bleibt deshalb in Reflexionsbestimmungen stecken und kommt nicht zu einer lebendigen Systematik des Allgemeinen und Besonderen. Diesen Mangel bat Cassirer treffend hervorgehoben. Der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, durch den die Kritik der reinen Vernunft das Verhältnis des Allgemeinen und des Be- sonderen neu zu bestimmen versucht, mag zwar, wie er sagt, ein Nebeneinanderwirken von Sinnlichkeit und Verstand allenfalls ver- ständlich machen, ist aber nicht imstande, die innere wesentliche Heterogenität zwischen beiden zu versöhnen, sondern verschärft sie vielmehr (S. 11). Die hier gestellte Aufgabe, der Gedanke, auf den die Lehre vom Schematismus hinzielt, hat die entscheidende Ergänzung und Erfüllung erst in der Kritik der Urteilskraft ge- funden. Sie fragt, wie Cassirer meint, nach dem Grund und dem transzendentalen Rechte der Besonderung der Verstandesgesetze selbst (S. 12) ; das bedeutet nichts anderes, als daß sie an die Auf- gabe herantritt, die den Begriff der Vernunftkritik erst vollendet, nämlich den kritischen Standpunkt selbst zu kritisieren und aus der Analyse der Erfahrung zu dem System des Erfabrbaren vor- zudringen. Die Angemessenheit der Natur für unsern Verstand setzt als Bedingung für alle empirische Forschung den Grundsatz einer bis ins einzelnste durchgehenden Zweckmäßigkeit, eines ver- nünftigen, gesetzlichen Zusammenhanges der ganzen Erfahrnngs- welt voraus, in dem sich das auf einer Stufe als zufällig Er- scheinende auf einer höheren Stufe als vernünftig bestimmt, sich als Bestandteil eines Systems verständlich machen läßt. Hier ist eine Einheit der Idee erreicht, und dieser Fortschritt ist zustande- gekommen, als „Kant das konkrete Prinzip der Einzelforschung selbst auszusprechen suchte und andererseits im Problem der or- ganischen Zweckformen einen neuen und sicheren Begriff der Natur gewann" (S. 14 f.). Die Erfahrung wird jetzt nicht mehr lediglich als mathematische Naturwissenschaft aufgefaßt, und mit dem Ge- danken eines „intellectus archetypus, eines göttlichen Verstandes, der als schöpferisches, zwecktätiges Prinzip den Weltzusammen- hang in seinen verschiedenen Ordnungen einheitlich gestaltet, lebt nicht nur der Leibnizische Begriff der Harmonie wieder auf, sondern öffnet sich aufs neue eine Erkenntnis weise, die, als solche nicht Kritischer und spekulativer Idealismus. 17 vom Einzelnen zum Ganzen, sondern von der Idee des G-anzen zum Einzelnen fortschreitet". „Das Zweckprinzip bleibt bei Kant selbst nicht auf den Gedanken der formalen Zweckmäßigkeit be- schränkt, sondern es erweitert sich zu der Idee eines absoluten Endzwecks, in welchem die beiden Gebiete der Natur und der Freiheit ihren letzten Zusammenhang finden sollen. Hier hat daher die immanente Entwickelung der kritischen Methodik selbst zu einem Punkte geführt, an dem sie über sich selbst gleichsam hinauswächst" (S. 15). Wir haben uns hier ganz auf die Wieder- gabe der Cassirerschen Äußerungen beschränkt, um es recht deutlich zu machen, wie an diesem Punkte Cassirer selbst im Kantianismus den absoluten Idealismus aufdeckt. Ein Hinweis auf die Methoden- lehre in der Kritik der reinen Vernunft und auf den ganzen Tenor der Kritik der praktischen Vernunft würde außerdem klarstellen, daß die in der Kritik* der Urteilskraft entfaltete Anschauung nicht ein späteres Accidens zu Kants ursprünglicher Philosophie, sondern von jeher das Ziel gewesen ist, dem sein gesamtes kritisches Be- streben gegolten hat. Die Bemerkung Arthur Lieberts, daß die kritische Methode Kants dazu bestimmt gewesen sei, der Leib- nizischen Metaphysik die methodische Begründung zu liefern, dürfte demnach wohl das Richtige treffen. Für den kritischen Idealismus in der Form, die er durch Kant erhalten hat, wird durch die Cassirersche Darstellung unser Satz erhärtet, daß er seinem Wesen nach absoluter Idealismus ist ; was ihn von dem absoluten Idealismus seiner Nachlolger trennt, ist nur der Umstand, daß er in dem idealen Zusammenhange von Denken und Sein wohl das eine Moment festhält, wonach dieser Zusammenhang eine notwendige und vernünftige Forderung des menschlichen Denkens ist, das andere aber bei Seite läßt, wonach die Möglichkeit einer solchen Forderung in nichts anderem be- gründet sein kann als in der Bestimmung, die sich der denkende Geist selber gibt. Daß also der Geist allein als der Grund zu fassen ist, der Sein und Denken als seine eigenen Momente pro- duziert und in dem Sein und Denken deshalb identisch sind, diesen Schluß weigert sich der Kritizismus zu ziehen. Gefühlsmäßig ist es die Scheu vor einem Eückfall in den Dogmatismus, was ihn hindert, diesen Begriff der obersten Einheit, zu dem er sich ge- führt sieht, ernsthaft auch zum obersten Prinzip der systematischen Erkenntnis zu machen; er läßt ihn als einen „Grenzbegriff", als eine Idee stehen, auf die der Verstand wohl hinauskommt, bei der er Kantatudion. XXVII. 2 18 Georg Lasso n, aber schon außer sich und bei der es ihm darum nicht geheuer ist. Verstandesmäßig ist es die abstrakte Fassung des Gegensatzes von Erfahrungsinhalt und Transzendenz, weswegen der Kritizismus, obwohl er selber fortwährend den Nachweis der Abhängigkeit der Erfahrung von überempirischen Bestimmungen führt, die Bestim- mung des absoluten Geistes vermeidet und hier tatsächlich sich die Schranke des „Als ob" zieht. Wenn Cassirer mit Recht sagt, daß es nicht das Interesse der Transzendenz gewesen sei, wodurch das Denken über diese Stellungnahme vorwärts getrieben wurde, so muß man zufügen, daß gerade umgekehrt der Kritizismus dies Interesse der Transzendenz gewahrt, sie als ein isoliertes und un- zugängliches Abstraktum festgehalten hat, wogegen der spekula- tive Idealismus ihr diesen Schein der Selbständigkeit abzustreifen und sie als ein Moment in der Totalität der geistigen Wirklich- keit immanent zu fassen, die gesamte Diesseitigkeit mit ihr zu versöhnen unternommen hat. Was ihn dazu trieb, war in der Tat nicht das Interesse eines ontologischen oder gar außerphilosophi- schen, religiösen Dogmatismus, sondern um mit Cassirer zu sprechen, „das Interesse an der systematischen Gestaltung der Erfahrung selbst, das eine Erweiterung der Befugnisse des Denkens, eine tiefere Gestaltung des Verhältnisses des Allgemeinen und Beson- dern fordert" (S. 16). Deshalb rühmt Cassirer den nachkantischen Lehren als eines ihrer wesentlichen geschichtlichen Verdienste nach, daß sie den Problemkreis Kants und der kritischen Philo- sophie erweitert haben, und meint: „Auch wenn man die neuen Antworten, die hier gegeben werden, als ungenügend und als vor- eilige dogmatische Entscheidungen ansieht, so wird man sich doch den neuen und wichtigen Fragen, die hier geprägt worden sind, nicht auf die Dauer entziehen können" (S. VII). Wir können für unsern Zweck die Betrachtungen übergehen, die Cassirer den Kantianern Reinhold, Beck und Maimon und den Antikantianern Jacobi und Aenesidem gewidmet hat. An den fruchtbaren Kern der Kantischen Lehre rührt von ihnen am nächsten Maimon heran, der dem Neukantianismus besonders darum interessant sein muß, weil er zur Aufstellung der kriti- schen Position sich der Analogien aus der Mathematik bedient hat. Gerade deshalb aber ist es nicht zu verwundern, daß er trotz der kongenialen Erfassung des kantischen Erkenntnisproblems und trotz der Neigung, es im Sinne der Kritik der Urteilskraft zu lösen (S. 94 ff.), doch bei der Idee einer Wissenschaft ankommt, Kritischer und spekulativer Idealismus. 19 die von dem Wirklichen immer getrennt bleibt (S. 102 f.), und bei der Idee einer Wahrheit, die nicht beansprucht, systematisch, notwendig und allgemeingültig zu sein (S. 125). Denn das Eigen- tümliche der Mathematik besteht gerade darin, daß die Einheit, die in ihr maßgebend ist, die Einheit der Funktion, eine Beziehung zwischen zwei einander an sich fremden Elementen bedeutet, denen sie als ein von außen auferlegtes Gesetz übergeordnet ist, und daß der Infinitesimalbegriff, mit dem die Spannung zwischen Diskon- tinuität und Kontinuität überwunden werden soll, nur zu einer unendlichen Annäherung führt, die mit unendlichem Getrennt- bleiben gleichbedeutend ist. So beweist schon der Gebrauch der mathematischen Analogien die im gründe skeptische Stellung Mai- mons zum Erkenntnisproblem ; Cassirer findet ihre tiefere Begrün- dung darin, daß Maimon einseitig nur die Kritik der reinen Ver- nunft berücksichtigt habe und „von der systematischen Weiter- führung und Fortbildung, die der Grundgedanke in Kants Ethik und Ästhetik erfährt, so gut wie unberührt" geblieben sei (S. 121). Das ist nun bei den drei großen Vertretern des spekulativen Idealismus, bei Fichte, Schelling und Hegel vollkommen anders. Ganz richtig erklärt Cassirer, daß Fi cht es Philosophie auf Kants Freiheitslehre beruhe, „deren Geltung sie schon mit der ersten Frage, die sie sich stellt, voraussetzt" (S. 131). In dem Grund- akte dieser Freiheit, dem Sichselbstsetzen des vernünftigen Ich ist alles Wissen verankert; alle Inhalte des Bewußtseins, alle Ob- jekte der Natur sind jenem Selbstbewußtsein gegenüber sekundär. Darum aber hat die Reflexion hier verspielt, die zwischen der Ma- terie der Erfahrung und den reinen Form Verhältnissen , die sie durchdringen sollen, hin und her pendelt, ohne „die Kluft zwischen den allgemeinen Formgesetzen und der besonderen Bestimmtheit, in der sie sich uns in den Gegenständen der Erfahrung darstellen", jemals schließen zu können (S. 130 u. 134). Das peccatum originale dieser Reflexion wird freilich hier von Cassirer nicht aufgedeckt, aber in dem von Fichte zuerst rein erfaßten Begriff des ver- nünftigen Selbstbewußtseins ist es überwunden : die Reflexion reflektiert nicht auf sich selbst und wird nicht gewahr, daß sie bei all ihren Operationen schlechterdings innerhalb des Kreises ihrer eigenen Begriffe bleibt, daß es sich um lauter Probleme des begrifflichen Denkens handelt, die gar nichts mit einer jenseits' des Denkens liegenden Gegebenheit zu tun haben können, sondern in dem logischen Verhalten der Selbsttätigkeit des Ich liegen; 2* 20 Georg Lasson, das Allgemeine sowohl wie das Einzelne, die Vielheit und die Einheit, ja die Materie selbst und die Gegebenheit — es sind alles Gedankenbestimmungen, Begriffe, und erst wenn das Denken sie als solche sich zum Bewußtsein gebracht und nach all ihren Be- ziehungen und Zusammenhängen durchgedacht hat, ist es befugt, etwas darüber auszusagen, was sie etwa außerdem, daß sie seine Begriffe sind, sonst noch sein könnten. Damit stellt sich in dem Ich, das sich selbst setzt und seines gesamten Bewußtseinsinhaltes als seiner eigenen Bestimmungen bewußt ist, die „vollendete Un- endlichkeit" dar, die dem Skeptizismus als ein Widerspruch er- scheint (S. 131), die aber die einzige wahre Unendlichkeit ist; denn eine unvollendete Unendlichkeit ist eben Endlichkeit, besten- falls eine aus und über sich selbst hinausweisende oder -strebende Endlichkeit. Das Wesen der Reflexion liegt gerade darin, daß sie an diese „falsche" Unendlichkeit gebunden ist, deren Sphäre die Welt der Erscheinungen und des Entgegensetzens von Materie und Form bildet. Es ist ganz selbstverständlich, daß sich das Denken, so lange es innerhalb dieser Sphäre sich hält, immer auf die unvollendete Unendlichkeit gewiesen sieht ; in dem Augenblick, wo es hinter diese Gegebenheiten auf ihren und seinen einheit- lichen Grund zurückgeht, auf den Begriff des autonomen Ich, hat es die wahre, in sich geschlossene Unendlichkeit gefunden. Naturgemäß fehlt noch viel daran, daß Fichte im einzelnen diesem von ihm ergriffenen Prinzip gerecht werde. Cassirer rechnet es ihm zu besonderem Lobe an, daß ihm „die Identität nicht so- wohl der gegebene Ausgangspunkt als vielmehr der geforderte Endpunkt der Gesamtbewegung" ist (S. 136). Dies Lob ist in dem Sinne berechtigt, daß die Identität nicht als eine „leere formale Einerleiheit" gefaßt werden darf (S. 137); dem widerspricht ja ihr Begriff selbst, da zur Identität notwendig die Verschiedenheit ge- hört. Aber es darf doch nicht übersehen werden, daß auch die Bestimmung der Identität als einer erst herzustellenden solange abstrakt und einseitig bleibt, solange man damit die Wirklichkeit der Identität verneinen will. Die Aufgabe, die Identität herzu- stellen, führt die Frage nach ihrer Möglichkeit mit sich; die Auf- gabe selbt würde nicht möglich sein, wenn die Identität nicht dem Begriffe nach, als leitender Gedanke oder als Zweck etwa vor- handen und gegeben wäre. Oder man muß sagen: die „geforderte" Identität ist bereits auch Identität; das Ich könnte an ihre Her- stellung nicht einmal denken, wenn es sie nicht als seine Bestim- Kritischer und spekulativer Idealismus. 21 mung in sich trüge. Das Sollen setzt „Notwendigkeit für die freie Vernunft" voraus ; man mag es ins Endlose formierend denken, so liegt ihm doch die einfache Wirklichkeit des daseienden Ver- nunftzweckes und also eine ursprüngliche Identität zugrunde. Für Fichte dagegen wird es verhängnisvoll, daß er den ersten Fortschritt von dem Ich, das sich selbst setzt, zu der Mannig- faltigkeit seiner Bestimmungen nicht rein aus dem Begriffe des Ich heraus vollziehen kann; die Art, wie er Ich und Nichtich im Ich einander gegenüberstellt, geschieht wieder in der Form der Reflexion, und die vorstellungsmäßige Aushilfe der Redeweise von einer „Teilbarkeit" des Ich und des Nichtich ist davon die not- wendige Folge. Man darf die Absicht Fichtes, zur inneren Ein- heit der Vernunftanschauung zu gelangen, und seine steten Ver- sicherungen, daß er diese Einheit meine und ausspreche, nicht mit der Ausführung dieser Absicht verwechseln, die ihm nie völlig ge- lungen ist. Er findet von dem Ich als dem absoluten Subjekte zu dem endlichen Ich so wenig die methodisch tragbare Brücke wie von der sinnlichen Welt zur intelligibeln. Sein großer Gedanke, daß im Anfange die Tat ist, setzt sich nicht zu der Totalität eines allumfassenden geistigen Organismus um, weil ihm die Reflexions- bestimmungen des Handelns, das Sollen und seine Materie, als ur- sprüngliche Gegensätze dazwischen kommen. Das methodische Ergebnis ist deshalb bei ihm, daß die Freiheit nicht ist, weil sie immer nur sein soll, und damit steht er gegen sich selbst und seine tiefste Intuition in einem Widerspruch, dessen Qual er selbst deutlich empfunden und den zu überwinden er immer neue Formen des Ausdruckes seiner Meinung gesucht hat. Dessen ungeachtet ist es bewundernswert, mit welcher Treff- sicherheit er eine Anzahl von Grundlinien gezogen hat, die für den spekulativen Idealismus von entscheidender Bedeutung sind. Man kann aus Cassirers Darstellung erkennen, in wie vielen Punkten Hegel einfach die Erkenntnisse Fichte's hat übernehmen dürfen. „Ohne Selbstbewußtsein ist überhaupt kein Bewußtsein" (S. 137); dem Formalismus der kritischen Untersuchungen gegen- über, die, weil sie sich auf die Möglichkeit des Erfahrungswissens beschränken und nur die Beziehung zwischen Bewußtsein und Gegenstand betrachten, den Einheits- und Beharrungspunkt des Ich bis zu dem Maße aus den Augen verlieren können, daß ihnen das Ich zu einem bloßen Schnittpunkte von Beziehungsrichtungen wird, hebt der spekulative Idealismus die Tatsache hervor, daß 22 Georg Lasson, die sinnliche Erfahrung nur einen einzelnen Bestandteil der Be- wußtheit ausmacht, dem die geistige Selbstbestimmung übergeordnet ist. Er macht deshalb das autonome Subjekt zum Ausgangspunkt und sieht in dem Bewußtsein eine Bestimmung des Selbstbewußt- seins, darin zweifellos dem Kantischen Gedanken sich anschließend, der „das Bewußtsein meiner selbst als die ursprüngliche Apper- ception" das „transzendentale Bewußtsein" nennt, auf das alles empirische Bewußtsein sich notwendig bezieht, und der hinzufügt, daß „die bloße Vorstellung Ich" das transzendentale Bewußtsein sei (Kr. d. r. V. 1. Aufl., S. 117). — Daß das Wissen System, nicht Aggregat sein müsse (S. 137), daß die Wissenschaftslehre das zum Wissen von sich selbst, zur Herrschaft über sich selbst gekommene Wissen sei (S. 138), sind Sätze, die fast in denselben Worten von Hegel wiederholt worden sind. Auch die merkwürdige Wen- dung, daß schließlich man die Wissenschaftslehre gar nicht hat, sondern daß man sie ist und zu ihr geworden sein muß (S. 139), die Fichte später in der Form wiederholt, daß das Wissen in sich und durch sich ein absolutes Ende finde, in dem es wissend zu seinem absoluten Ursprung komme, dem Nichtwissen alles Beson- deren (S. 176), kehrt bei Hegel in der Ausführung wieder, daß das absolute Wissen zur Unmittelbarkeit wird. „Jedes besondere Wissen, jedes Wissen von Etwas verwirklicht", wie Cassirer den Fichte'schen Gedanken wiedergibt, „den universellen Wissens- charakter, so daß er sich an und in ihm vollständig erfassen läßt (S. 141) u ; mit dieser Begründung alles einzelnen Denkens in dem allgemeinen Begriffe der Vernunft, von dem jeder besondere Be- griff ein Moment ist, hat Fichte den Standpunkt der bloßen Re- flexion überwunden, den er z. B. in dem Satze dargestellt hat: „Begreifen heißt ein Denken an ein anderes anknüpfen, das erstere vermittelst des letzteren denken. Wo eine solche Vermittelung möglich ist, da ist nicht Freiheit, sondern Mechanismus" (S. 135). Daraus erklärt sich auch, daß bei ihm ein außerordentlicher Fort- schritt in der bewußten Handhabung der dialektischen Methode zu bemerken ist. — Den Zusammenhang der Grundgestaltungen des Bewußtseins, wie Empfindung, Anschauung, Einbildungskraft, Urteil sieht Fichte, wie Cassirer richtig ausführt, darin, daß sie als die Phasen eines Fortschrittes von Gebundenheit zur Freiheit auftreten. Cassirer sagt dazu: „Die echte und wahrhafte Ge- schichte des Geistes ist . . . die Aufweisung des notwendigen Stufen- ganges, der von dem ersten tatsächlichen Zustande der Gebunden- Kritischer und spekulativer Idealismus. 23 heit des Ich bis zum höchsten Wissen von seiner wesentlichen Freiheit führt" (S. 156). Wer aber könnte verkennen, daß hier das Thema der Hegeischen Phänomenologie in voller Klarheit an- gegeben ist? Fügen wir hier noch das Wort bei: „Das Wissen kann sich nicht erzeugen, ohne sich schon zu haben, und es kann sich nicht für sich und als Wissen haben, ohne sich zu erzeugen" und Cassirers Anmerkung: „Die Wissenschaftslehre erklärt somit in einem Schlage und aus einem Prinzip sich selbst und ihren Gegen- stand; das absolute Wissen ist selbst die Selbstvollziehung und Selbsterkenntnis des absoluten Wissens als solchen" (S. 185), so scheint es in der Tat, als habe man bei Fichte schon sämtliche Ingredienzien des spekulativen Idealismus bei einander. Das ist auch in gewissem Sinne richtig, nämlich der Intention Fichte's nach. Systematisch hat er hinter dieser Intention zurück- bleiben müssen, weil ihm, wie oben schon gesagt wurde, die dua- listische Reflexion doch immer noch in die Quere kommt. Doch muß man sich hüten, diese Unzulänglichkeit dem spekulativen Idealismus als solchem zur Last zu legen, der in der Fichte'schen Philosophie seinen ersten Flug unternommen hat. Auch Cassirer hat in seiner abschließenden Kritik des Fichte'schen Systems sich nicht an dessen Besonderheiten gehalten, sondern hat seinen Wider- spruch gegen dasselbe geradezu auf seinen spekulativen Charakter im allgemeinen gegründet. Es tritt in diesem Widerspruch der prinzipielle Gegensatz des kritischen und des spekulativen Idealis- mus rein ans Licht. Sehen wir, ob er so unüberwindlich ist, wie ihn Cassirer empfindet. Was er der Fichte'schen Philosophie vorwirft, ist der Ge- brauch, den sie von dem Begriff des Absoluten macht. Die Metaphysik Fichte's steht und fällt, wie er sagt, „mit dem Ge- danken des schlechthin einheitlichen und eben deshalb schlechthin bestimmungslosen Absoluten" (S. 206). Hier wäre zur Erläuterung gleich beizufügen, daß natürlich das Absolute nur insoweit be- stimmungslos heißen darf, als es keinerlei Bestimmung von außen unterliegt; die Inhaltsbestimmung, die Fichte dem Absoluten gibt, ist nach Cassirer die, daß es in einem Tun und Leben bestehe (S. 208) : also ist es ein stetes Sichselbstbestimmen, ein „ruhiges Sein und Bestehen", das zugleich „actus purus", ein reines Sich- selbstsetzen und -erfassen ist (S. 187). Mindestens der Absicht nach hat Fichte also das Absolute bereits als den absoluten Geist begriffen, so wie er für den spekulativen Idealismus die zentrale 24 Georg Lasson, Idee bildet. Wenn es aber bei Fichte noch schwierig scheint, den Weg von der absoluten Einheit zur Vielheit zu finden, so ist damit nicht gesagt, daß dies überhaupt ein ungangbarer oder ver- botener Weg sei. Darauf aber kommt nun Cassirers Widerspruch hinaus ; was er an Fichte tadelt, ist nicht eine besondere Schwäche in seinem Verfahren, sondern das Verfahren überhaupt, aus dem Begriff einer obersten Einheit die mannigfachen Bestimmungen dieser Einheit zu deduzieren. „Nicht wie von der Erscheinung des Vielen zum Gedanken und zur Idee des Einen, sondern wie von dem an und für sich seienden Einen zum Vielen zu gelangen ist, lautet nunmehr die eigentliche spekulative Grundfrage" (S. 206). Daß diese Frage überhaupt gestellt wird, darin sieht Cassirer die entscheidende Peripetie des kantischen Idealismus und den Punkt, [weswegen die nachkantische Spekulation überhaupt zu verurteilen sei. n Man könnte demgegenüber zunächst sich auf die Neigung be- rufen, die Cassirer für das mathematische Verfahren hat, und könnte fragen, ob für die philosophische Methode nicht erlaubt sein dürfe, was bei jeder Rechnung geboten scheint, nämlich daß man die Probe macht und den Weg, den man in der einen Rich- tung zurückgelegt hat, nun auch in der andern geht. Gesetzt, es gäbe in dem Erkennen einen Weg, auf dem man ausschließlich von dem Bedingten und Mannigfaltigen zu dem Unbedingten und Einen aufsteigen könnte, so wäre geradezu die einzige Möglichkeit, ihn als richtig zu erweisen, die, daß man ihn auch rückwärts mache und vom Unbedingten und Einen bei dem Bedingten und Mannigfaltigen anlange. Vielleicht könnte man sich dafür auch auf Kant selbst berufen, der als das, was die Vernunft in dem ganzen Umfang der Verstandeserkenntnisse zustande zu bringen sucht, ausdrücklich den Zusammenhang der Erkenntnis aus einem Prinzip bezeichnet und darunter ein „Ganzes der Erkenntnis" ver- steht, „welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorher- geht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen". Wenn er aber in diesem Zusammenhange von den „Vernunftbegriffen" redet, die „nicht aus der Natur geschöpft werden", und bemerkt: „vielmehr befragen wir die Natur nach [d. h. nach dem Maßstabe von] diesen Ideen und halten unsere Erkenntnis für mangelhaft, so lange sie denselben nicht adäquat ist" (Kr. d. r. V., 2. Aufl., S. 673), so leuchtet vielmehr ein, daß er ein ausschließlich induktives Er- Kritischer und spekulativer Idealismus. 25 kennen gar nicht gelten läßt, sondern überall im Denken zugleich die Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen wie die vom Be- sonderen zum Allgemeinen erkennt. Dann aber ist vollends eine Darstellung des Erkenntnisprozesses, die das Besondere zum alleinigen Ausgangspunkte nimmt und das Allgemeine rein als das Endergebnis des Prozesses aufweisen will, einseitig und falsch und fordert die Ergänzung durch die entgegengesetzte Methode, die vom Allgemeinen ausgeht und aus ihm zum Besondern hin- führt. Erst in der Vereinigung beider Darstellungsformen kann die Wissenschaft dem von ihr selbst festgestellten Tatbestande gerecht werden, daß niemals das Besondere ohne das Allgemeine, das Unbedingte ohne das Bedingte denkbar und erkennbar ist." Der Forderung der philosophischen Systematik wird deshalb die Me- thode am vollkommensten entsprechen, die bei jeder Einzelerkenntnis ebenso wie bei dem Begriff des Wissens überhaupt diese lebendige Bewegung, dieses Hin und Her vom Vielen zum Einen, vom Apo- steriorischen zum Apriorischen unda umgekehrt wiederzuspiegeln versteht. Und man wird es als höchst unerheblich ansehen dürfen, welches von beiden Momenten dabei zuerst herangenommen wird, da notwendig jedes von beiden ebenso als Ausgangs- wie als End- punkt der Betrachtung wird dargestellt werden müssen. Daß Kant selbst eine solche Methode vorgeschwebt und er ein vollkommen einheitliches System der philosophischen Erkenntnis zum Ziele gehabt hat, ist offenbar. Er sagt zwar, daß die Philosophie zwei Gegenstände habe, Natur und Freiheit, aber er erklärt zugleich, daß sie das Natur- und das Sittengesetz „anfangs in zwei beson- deren, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System" ent- halte (ebd. S. 868). Dies einzige System auszuführen ist ihm nicht vergönnt gewesen; der Gedanke daran scheint ihn bis in seine spätesten Jahre verfolgt zu haben. Dieser Gedanke aber setzt jedenfalls einen „Vernunftbegriff" voraus, der, nicht aus der Erfahrung geschöpft, die Einheit beider Sphären konstituiert und den Maßstab bildet, nach dem beide zusammen befragt werden müssen zum Zwecke der Prüfung, ob wir von ihnen eine adäquate Erkenntnis haben. Damit wäre jenes Eine und Unbedingte gesetzt, das nicht als Negation des Vielen und Bedingten dieses zurück- stößt , sondern es als seine Momente und konkrete Selbstbe- stimmungen in sich schließt. Wohingegen der bloß historische Umstand, daß Kant durch sein Festhalten an der ursprünglichen Scheidung von Natur und Freiheit daran gehindert worden ist, 26 Georg Lassoü, auf der Grundlage jener höchsten Einheit ein System der abso- luten Idee zu entwickeln, den Geist seiner Lehre ganz unberührt läßt. Wir haben hier, wo rein prinzipiell das Recht des spekulativen Begriffs des Absoluten erörtert werden soll, uns genauer auf Kantische Sätze einlassen müssen, weil Cassirer die Debatte ein- fach durch Berufung auf Kant entscheiden will. Daß er an diesem Kernpunkte der Diskussion sich auf ein Zitat aus Kant zurück- zieht , ist ein interessanter Beweis dafür , wie fest der Neu- kantianismus, trotz aller Umbildungs versuche der kritischen Sätze im einzelnen, sich an die Autorität Kants klammert. Aber gerade hier reicht das avtbg scpa nicht zu; denn es erhebt sich sofort die Frage nach der richtigen Interpretation Kants, und unsere obigen Hinweise dürften wohl genügen, um auch eine von der Cassirer'- schen wesentlich abweichende Auffassung der Kantischen Gedanken möglich erscheinen zu lassen. Cassirer führt Äußerungen Kants an, die unserem Zitat über Vernunfteinheit und Vernunftbegriffe unmittelbar vorhergehen und erklären, daß niemals durch die transzendentalen Ideen Begriffe gewisser Gegenstände gegeben werden. Er rühmt die meisterhafte Prägnanz und Klarheit, mit der hier der Kritiker der reinen Vernunft die Illusion aufdeckt, als ob „die Linien, in denen der Verstand seine Begriffe von Ob- jekten, nach Reihen von Bedingungen verknüpft, zu einem ge- wissen einheitlichen Ziele richtet, von einem Gegenstande selbst ausschössen, der außer dem Felde empirisch möglicher Erkenntnis läge" (S. 208). Die Illusion, gegen die sich Kant wendet, ist, wie der Wortlaut seiner Sätze klar ergibt, die Meinung, es könne in der Sphäre der gegenständlichen Reflexion, die bedingte und der empirischen Erkenntnis gegebene Gegenstände vor sich hat, zu einem unbedingten Gegenstande fortgeschritten werden. Diese Meinung wird kein spekulativer Idealist vertreten ; keiner wird die barbarische Vorstellung hegen, das Absolute, Gott, sei „ein gewisser Gegenstand". Nun aber hat Kant selbst deutlich genug erwiesen, daß die Sphäre der gegenständlichen Reflexion es über- haupt nur mit Erscheinungen zu tun habe und diese ganze Ver- standeserkenntnis in einem Systeme der Vernunft wurzele, dessen Prinzip die Autonomie des Ich, des vernünftigen, denkenden und wollenden Selbstbewußtseins ist. Es wäre in der Tat eine folgen- schwere Illusion, wollte man diese höhere, über die empirische Erkenntnis hinübergreifende Sphäre gerade da vergessen, wo die Kritischer und spekulativer Idealismus. 27 sich kritisierende Erkenntnis unausweichlich auf sie hingeführt wird, und wollte man behaupten, weil die Reflexion im unendlichen Progreß vom Einzelnen zum Einzelnen niemals das konkret All- gemeine erreiche, sei dieses überhaupt unerreichbar. Kant hat jedenfalls diese Illusion nicht geteilt ; er hat dem empirischen, endlichen Erkennen mit voller Klarheit das logische Erkennen aus der Vernunfteinheit entgegen gestellt. Daß diese Entgegenstellung selbst noch eine Folge des Gebundenseins an die endliche Reflexion ist, daß man Verstand und Vernunft so ab- strakt, wie Kant es tut, nicht scheiden kann, und daß wegen dieser abstrakten Scheidung die Vernunft bei Kant zuerst in einen unhaltbaren Gegensatz gegen die Wirklichkeit zu geraten scheint, den er erst hintennach durch den Begriff der Zweck- mäßigkeit der in der Natur immanenten Vernunft überwindet, das wollen wir nur erwähnen, um nicht in den Verdacht zu kommen, als wüßten wir es nicht; das Eingehen darauf würde uns vom Thema zu weit abführen. Nur darauf muß hingewiesen werden, daß sich Kant, indem er an das System der Erfahrung geht, ehe er das System der Logik entwickelt hat, von Anfang an in eine Schwierigkeit verstrickt hat, die nicht einmal so sehr ihm selbst wie seinen Schülern verhängnisvoll geworden ist. Wäh- rend er sich der kategorialen Natur des Denkens vollkommen be- wußt ist, hält er sich bei seiner Analyse der Erkenntnis an diejenige Form der Denktätigkeit, die durch den Gegensatz von Bewußtsein und Gegenstand schon bestimmt ist, und findet von der Vorstellung einer aus beiden gemischten Erfahrung nur mühsam und unvoll- kommen den Weg zu der gedanklichen Grundlage aller möglichen Erfahrung. Das tritt gerade an der Art hervor, in der er an der von Cassirer zitierten Stelle die Idee des Absoluten behandelt. Er hat gezeigt, wie der Verstand von der Verknüpfung bedingter Gegenstände zu der Idee eines Unbedingten fortgetrieben wird, das entsprechend der Schlußform, mit der, und der Reihe der „Be- griffe von Objekten", an denen er zu ihm aufsteigt, eine bestimmte Gestalt annimmt und je nachdem als Seelenidee, Weltidee, Gottes- idee bestimmt wird. Dann aber erklärt er abschließend es für eine Illusion, jene Idee des Absoluten für mehr als einen focus imaginarius zu halten und sie als einen Gegenstand zu betrachten. Nun ist das Merkwürdige, daß er selbst weit davon entfernt ist, Seele, Welt und Gott bloß als focos imaginarios gelten zu lassen ; nur der Weg, auf dem er den Verstand zu diesen Ideen gelangen 28 Georg Lasson, läßt, erscheint ihm unfähig, zu einer inhaltsvolleren Bestimmung dieser „Grenzbegriffe" zu führen, womit er vollkommen recht hat. Mit diesem Wege nämlich stimmt es in keinem Punkte. Das Ab- solute ist ebensowenig ein Gegenstand wie ein Grenzbegriff, der, wie Cassirer sagt, erst „entsteht, indem wir den Gebrauch des Verstandes und einzelner seiner Kategorien von jeder Bedingtheit und Schranke, die ihm innerhalb eines bestimmten Gebietes der Erfahrung anhaften, befreien und ihn ins Unbedingte erweitern" (S. 207). "Wenn das mehr sein soll als eine psychologische Be- schreibung, dann ist es der sonderbarste circulus vitiosus. Er setzt voraus, daß „wir" — gemeint ist doch das vernünftig denkende Subjekt — den Begriff des Bedingten gefaßt haben sollen ohne den Begriff des Unbedingten und daß dann in uns der Begriff des Unbedingten entstehen soll, in dem wir den des Be- dingten „ins Unbedingte" erweitern. Wie könnten wir aber von einer Bedingtheit und Schranke, die unserm Verstandesgebrauch und seinen Kategorien anhaften, etwas wissen, wie könnten wir das bestimmte Gebiet der Erfahrung als die Sphäre der Bedingt- heit und Endlichkeit ansehen, wenn wir nicht den Begriff des Un- bedingten mit dem des Endlichen zugleich besäßen? Es ist nichts als eine Täuschung der empirischen Reflexion, wenn man sich vor- stellt, durch Betrachtung bedingter Gegenstände gelange man zu der Idee des Unbedingten; man kann keinen Gegenstand und keine Verstandesbestimmung als bedingt bezeichnen, wenn man nicht den Begriff der Bedingtheit ebenso wie der Unbedingtheit darauf anwendet. Das Unbedingte und das Bedingte, das Absolute und das Relative sind Kategorien genau so gut wie die wenigen, die Kant auf seine Kategorientafel gesetzt und von denen er ge- meint hat, daß sie alle ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis ausmachten. Der zufällige Ausgangspunkt, den er für ihre Auf- stellung genommen hat, ist ihm zum Hindernis für ein in sich ge- gründetes umfassendes logisches System geworden. Sobald aber das Denken den Boden eines solchen Systems gewonnen hat, in dem die innere Zusammengehörigkeit des Einen und des Vielen, des Endlichen und des Unendlichen, der Wirklichkeit und der Vernunft, des Aposteriori und des Apriori aus dem Zentralbegriffe der Freiheit des sich selbst bestimmenden Geistes sich ergibt, ist der Vorwurf Cassirers ohne jede Kraft, daß die Spekulation allen sicheren Boden verliere, wenn sie, um das Absolute desto sicherer zu ergreifen, den Zusammenhang und die Relation des Absoluten Kritischer und spekulativer Idealismus. 29 mit der Wissens- und Willenswelt abbreche (S. 209). Wie könnte denn um alles in der Welt die Spekulation so närrisch sein, das zu versuchen? Wenn bei Fichte sich Äußerungen finden sollten, die man dahin deuten müßte, dann wäre damit nur bewiesen, daß er in einseitiger Übertreibung seines Prinzips sich von seinen eigenen Grundlagen irrtümlich entfernt habe. Aber den speku- lativen Idealismus als solchen, der seinen Namen gerade von dem Zusammenschauen des Mannigfaltigen und Entgegengesetzten hat, kann man mit einer solchen Anklage keineswegs belasten. Gewiß läßt sich die „Notwendigkeit für das Eine, sich in das Viele zu zerspalten, die Notwendigkeit für Gott, zur Welt zu werden, aus seinem eigenen Grund nicht mehr begreiflich machen" (S. 210), wenn das Eine ein Ding, Gott ein alles Relative von sich aus- schließendes höchstes Wesen ist. Aber wenn doch die kritische Philosophie, die Tätigkeit der denkenden Vernunft, die sich selbst kritisch durchdenkt, als den Ertrag der Prüfung des gesamten von der Vernunft vorgefundenen Bewußtseinsinhaltes, als das Re- sultat, auf das notwendig das Denken, das sich selber denkt, geführt wird, den Begriff des sich selbst setzenden Ich, des Geistes gewinnt, der actus purus und schöpferisches Subjekt ist, dann hat dieses Eine in sich seinen eigenen Grund, aus dem sich die Notwendig- keit, die zugleich die höchste Freiheit ist, die Notwendigkeit seiner steten Systole zur Einheit und Diastole zum Universum sehr wohl begreift. Sagt man, das Denken steige von der Welt der Mannig- faltigkeit zu diesem Begriff auf, so kann man ebensogut sagen, er steige im Denken zu dieser Welt hernieder; indem die Ver- nunft das höchste Prinzip als die Freiheit und die Versöhnung (Identität, Liebe) bestimmt, faßt sie es nicht als einen Grenz- begriff, was ohnehin wider den Begriff des Absoluten streitet, — denn woran sollte das Absolute seine Grenze haben? — sondern als die Totalität, aus der die Deduktion zu dem Vielen herab genau denselben Weg geht wie die Induktion zu dem Einen hinauf. Oder vielmehr, es sind überhaupt gar nicht zwei Wege, sondern es ist das Sich entfalten des Begriffes, ein stetes Ineinander des geistigen Lebens, das mit dem Besondern das Allgemeine und mit dem Allgemeinen das Besondere setzt, ein Urteilen, das gleichzeitig aus dem Schlüsse der Vernunft hervorgeht und wieder in dem Vernunftschlusse mündet. Diese Anschauung der Totalität ist es, was Schellings Denkweise beherrscht. Cassirer weist sehr treffend nach, wie 30 Georg Lasson, genau sich der Standpunkt Schellings an den von Kant und Fichte anschließt. „Die logische Grundlegung des Kritizismus erscheint als ein Moment der Vorbereitung für das kritische System der Teleologie, für die Analyse des Zweckgedankens und der Probleme des Organismus" (S. 226). Der Inhalt der Kritik der Urteilskraft wird in der Anschauung beibehalten, daß die Natur ein Analogon der Freiheit darstellt; aber über das „antithetische Verhältnis" von Natur und Geist ist das Schellingsche Denken hinausgegangen, da „die Natur selbst nichts anderes als eine Stufe in der Ent- wicklung und Selbstrealisierung des Geistes bedeuten soll" (S. 225). Nun haben wir oben schon gesehen, wie bei Kant selbst die Ten- denz auf die Aufhebung jenes antithetischen Verhältnisses ge- richtet ist. Und auf den Punkt, von dem aus die Vereinigung der beiden Systeme von Gesetz und Freiheit allein möglich ist, der, bei Kant deutlich sichtbar, von Fichte als Prinzip seiner Lehre ausgesprochen worden ist, stellt sich mit Bewußtsein auch Schelling, wenn er den treibenden Gedanken der ganzen nach- kantischen Fortbildung des Idealismus in den Worten aufdeckt: „Wenn man sich an die Idee der Autonomie gehalten hätte, die Kant selbst als Prinzip seiner praktischen Philosophie aufgestellt hat, so hätte man leicht gefunden, daß diese Idee in seinem System der Punkt ist, durch welchen theoretische und praktische Philo- sophie zusammenhängen und daß in ihr eigentlich schon die ur- sprüngliche Synthesis theoretischer und praktischer Philosophie ausgedrückt ist". So bestätigt sich für Schelling die Fichtesche Anschauung, daß, was wir Objekt nennen, nur das Produkt und der .Reflex eines ursprünglichen Tuns ist (S. 219), und daß zu- gleich die Handlung, in der das Ich sich selbst aus absoluter Kau- salität setzt und weiß, der Quell und die einzige, unmittelbar gewisse Rechtfertigung für den Gedanken des Unbedingten ist (S. 220). Die Frage, wie der Gedanke zu der Wirklichkeit komme, ist müssig; denn es gibt keine andere Wirklichkeit als die, die er in sich selbst hat und ist (S. 239). Mit diesem Gedanken, den Schelling seinem System des transzendentalen Idealismus zugrunde- legt, hat er das Prinzip des spekulativen Idealismus, der ja not- wendig Identitätsphilosophie ist, so rein ausgesprochen, wie es auch Hegel nur je gekonnt hat. Was nun Schellings eigentümliche Leistung für die Identitäts- philosophie betrifft, so brauchen wir für unsern Zweck nicht ge- nauer darauf einzugehen, weil zu allem, was daran haltbar ist, Kritischer und spekulativer Idealismus. 31 Hegel erst die vollendende wissenschaftliche Durcharbeitung hinzu- gefügt hat. Damit wird die fast unheimliche Genialität Schellings, in der eine beinahe grenzenlose B-ezeptivität mit der Grabe ver- bunden war, alles Aufgenommene in das lebendige G-anze der großen ihn beseelenden Anschauung einzufügen, in keiner Weise herabgesetzt. Man kann sogar eine logische Notwendigkeit darin finden, daß, wenn das Denken die Identität als den Sinn der Wirklichkeit erfassen sollte, ihm diese Identität erst als inner- liche Anschauung gewiß werden mußte, ehe es diese Anschauung in kritisch Schritt vor Schritt sichernder Methode zum freien Begriff ausgestaltete. Daß die Geisteskultur seiner Zeit der Schellingschen Anschauung außerordentlich viel verdankt und daß sie fruchtbare Anregungen auch für die Folgezeit in sich ent- halten hat, steht für den unparteiischen Betrachter außer Frage. Wie sehr auch seine Naturphilosophie sich „in ein willkürliches und phantastisches Analogiespiel verlieren" mag (S. 238), so er- kennt doch Cassirer an, daß Schelling durch seine Kritik an den hypothetischen „Grundstoffen" der zeitgenössischen Physik und Chemie in der Tat auch den empirischen Fortschritt dieser Wissen- schaften gefördert und durch die zentrale Stellung, die er dem elektrischen Phänomen gegeben, dem elektrodynamischen Begriff der Materie vorgearbeitet habe (S. 237). Freilich das Wichtigere ist doch, daß er auf dem Felde der Philosophie selbst den Natur- begrifF vertieft hat. Die Natur, von der er handelt, ist nicht die Natur der mathematischen Naturwissenschaft, die Abstraktion eines für sich bestehenden mechanischen Zusammenhanges, der ab- gesondert vom Geiste, ja sogar baar des Lebens vorgestellt wird. Der ganze Ingrimm, mit dem Fichte der Natur gegenübersteht, schreibt sich ja davon her, daß er sie von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet. Für Schelling dagegen ist die Natur das Uni- versum, das in jedem seiner Bestandteile Leben und der Schau- platz und das Werkzeug des Geistes ist, die" lebendige Natur, da Gott den Menschen schuf hinein. Die Natur hört so auf, ein isolierter Bestandteil der Wirklichkeit zu sein, und wird zu einem durchgängigen Momente der Wirklichkeit, zu dem Ansich, das ebenso dem Geiste selbst zukommt — muß man doch auch von der Natur des Geistes sprechen — wie den Bestimmtheiten, in denen er sich und die er in sich vorfindet. Die Einheit aber von Natur und Geist stellt sich als ein Prozeß, eine stete Entwickelung aus dem Ansich zum Leben des Selbstbewußtseins und der Freiheit 32 Georg Lasson, dar. Daß Schelling diesen Prozeß nicht methodisch zu entwickeln vermocht hat, daß ihm Natur und Geist zwei Pole geblieben sind, die sich nur in einem Indifferenten, in einem Absoluten einigen, bei dem gerade dem Denken der Begriff ausgeht, daß er deshalb den Weg von dem Absoluten zu der Erscheinungswelt nicht mehr findet und in einen platonisierenden Dualismus zurückfällt, um schließlich ebenso das Absolute wie die Erscheinungswelt als irra- tionale Wesenheiten anzusehen und so die Philosophie zur Ro- mantik hinüberzuführen, der das Unvernünftige für das höchste Prinzip und für die eigentliche Wahrheit gilt, das hat in der Tat seinen Grund in dem Umstände, den Cassirer richtig hervorhebt, daß er „die Vermittelung des Begriffs verschmäht" hat (S. 283). Eben deswegen aber wäre es falsch zu sagen, die Identitäts- philosophie oder der spekulative Idealismus vermöge die prokla- mierte Vernunft einheit nicht herzustellen, wenn eben nur das Un- vermögen Schellings nachgewiesen ist, sich der Methode zu be- dienen, auf der doch der Idealismus als solcher beruht, der Me- thode der begrifflichen Entwickelung. Wenn deshalb Cassirer apodiktisch erklärt, daß sich die Kluft zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt im reinen konstruktiven Denken selbst und kraft des- selben nicht schließen lasse, und fortfährt: „der Panlogismus hat hier sein Ende erreicht, die absolute Vernunft trifft auf ein schlechthin Irrationales, daß sie weder ablehnen, noch aus sich verstehen und begründen kann" (S. 271), so begeht er eine zu schnelle Verallgemeinerung. Nicht die absolute Vernunft, sondern das Schellingsche Nachdenken ist; auf jenes Irrationale getroffen, und es bleibt durchaus die Frage bestehen, ob eine dem Prinzip des Panlogismus getreuere Methode nicht auch diese Kluft zu schließen vermögen würde. Hegel hat seiner Methode diese Leistung zugetraut; er hat sich nicht mit der bloßen Versicherung ihrer Fähigkeit dazu be- gnügt, sondern hat in unendlicher Mühe sowohl die Welt der reinen Begriffe wie die Welt des konkreten Daseins aus und nach dem Prinzip dieser seiner Methode zu einem System des Begriffes, zu einem Wissen des Geistes von sich selbst — zum Sichselbst- erkennen im absoluten Anderssein — zu entwickeln gesucht. Zur Beurteilung seines Werkes muß man deshalb zwei Fragen sorg- fältig auseinanderhalten, erstens die, ob sein Prinzip vor dem Forum des methodischen Denkens bestehen kann, und zweitens die, wieweit er imstande gewesen ist, dies Prinzip an dem kon- Kritischer und spekulativer Idealismus. 33 kreten Stoffe rein und mit vollkommenem Gelingen durchzuführen. Es liegt auf der Hand, daß, selbst wenn man die erste Frage be- jaht, man bei der zweiten Frage mit Notwendigkeit zu den stärksten Vorbehalten sich wird gedrängt sehen müssen. Denn die Aufgabe, den unendlichen Stoff der Erscheinung nach allen ihren Besonderheiten wissenschaftlich zu begreifen, ist nicht nur niemals von einem einzelnen Denker, sondern auch von dem philosophischen Denken der gesamten Menschheit nicht eher zu lösen, als bis etwa der ewige Wechsel der Erscheinung zum Stillstande würde ge- kommen, also dem Erkennen nichts mehr würde übrig geblieben sein. Gesetzt also, der Vorwurf, mit dem Cassirer seine Dar- stellung Hegels schließt, bestände zurecht, daß nämlich Hegel „in der Geistesphilosophie das Ideelle an das Faktische, in der Natur- philosophie das Faktische an das Ideelle verloren habe" (S. 377), so würde damit zunächst nur gesagt sein, daß er in der' Ausführung seines Prinzips hinter der Konzeption zurückgeblieben sei, die ihn geleitet hat; inwiefern das die Schuld der Konzeption und des Prinzips und nicht vielmehr einfach der allem Menschlichen an- haftenden Unvollkommenheit sei, darüber wäre noch gar nichts ausgemacht. Das Prinzip nun, in dem das Hegeische Denken wurzelt und von dem seine Methode unzweideutig bestimmt wird, hat er nicht erst in der Auseinandersetzung mit seinen philosophischen Zeit- genossen und in dem Bestreben gefunden, die bei ihnen entdeckten Unklarheiten oder Unzulänglichkeiten zu verbessern ; es hat längst sein Bewußtsein gestaltet, ehe er es sich selbst zum wissenschaft- lichen Begriff entwickelt hat, und es hat ihm vom Beginn seines philosophischen Nachdenkens an selbst über die nächst verwandten Denker seiner Zeit eine Überlegenheit gegeben, deren er sich auch als bescheiden Lernender immer bewußt gewesen ist. Es ist für Cassirers Darstellung schade, daß sie den Begriff, von dem Hegels Denken ebenso getragen wird, wie es ihn offenbart, nicht zum Ausgangspunkte nimmt, ja, ihn durchweg zurücktreten läßt, den Begriff des absoluten Geistes. "Was Cassirer am nächsten interessiert, ist eben der Vergleich Hegels mit Kant; darum be- ginnt er die Betrachtung Hegels mit einem Abschnitt über den Begriff der Synthesis bei Kant und Hegel, und es ist verständlich, daß er von diesem Gesichtspunkte aus wohl bis zu dem Hegeischen Begriffe des Ich, der Persönlichkeit, des Subjektes gelangt, das in sich als Einzelnes die Einheit des Allgemeinen und des Besonderen Kantstudion XXVII. 3 34 Georg Lasson, darstellt und dadurch die Objektivität konstituiert. Damit ist zweifellos Hegels Meinung richtig wiedergegeben; aber die Syn- thesis, die seinem Geiste die ursprüngliche und grundlegende ist, wird dadurch noch nicht erreicht : sie tritt erst in den Sätzen ans Licht, das Wahre sei nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen; oder die Substanz sei wesentlich Subjekt, die Bestimmung des Absoluten als Geist sei der erhabenste Begriff und der der neueren Zeit und ihrer Religion angehöre, und die Wirk- lichkeit des Begriffs des Absoluten, das Subjekt ist, sei die Selbst- bewegung. Mit diesem Prinzip ist die Methode der Philosophie zugleich gegeben, die das Wahre nicht bloß als ein System, sondern als ein sich aus sich selbst durch die Selbstbewegung seiner Glieder entfaltendes System betrachtet und also der subjektiven Zutaten sich enthält, um den Begriff sich selbst von einer seiner Bestim- mungen zur 'andern forttreiben zu sehen, bis er wieder, durch die Freiheit seines eigenen Selbstbewußtseins oder durch das Bewußt- sein seiner Gültigkeit bereichert, in seinen Anfang zurückkehrt. Sehr mit Recht bemerkt Cassirer , daß in der kantischen Philosophie die Richtung auf eine solche Gestalt der Metaphysik bestanden hat, deren „Ziel in dem vollständigen Begriff von der Organisation des Geistes selbst" lag (S.v285). Er erkennt dem- gemäß auch an, daß die dialektische Methode in streng kontinuier- licher Entwicklung aus den für die gesamte nachkantische Philo- sophie gemeinsamen Prämissen hergeleitet sei (S. 305). So erscheint in gleichem Maße das Prinzip wie die Methode Hegels als der Ab- schluß und die Vollendung des in der kantischen Lehre zum ersten Ausdrucke gekommenen Idealismus des vernünftigen Selbstbewußt- seins, und eben wegen dieser Grundlage seiner Philosophie, die schlechthin auf der transzendentalen Anschauung beruht, das Ab- solute in die Subjektivität verlegt und den Satz ausspricht, daß der Geist höher ist als die Natur, steht er gegen die gesamte vorkantische Philosophie auf einem Boden mit Kant. Nur möchten wir bezweifeln, ob man mit Cassirer der vorkantischen Metaphysik in Bausch und Bogen, statt bloß den kleinen Geistern des nach- leibnizischen Dogmatismus, den Vorwurf machen könne, sie habe, um ihre Aufgabe zu erfüllen, ein „Wissen von den absoluten Dingen" sein müssen, die „als schlechthin äußere in einem transzendenten Bezirk jenseits des Geistes bestehen" ; der ontologische Gedanke, der nichts als seinsnotwendig anerkennt, als was denknotwendig ist, trennt offenbar das Sein keineswegs äußerlich von dem Geiste, Kritischer und spekulativer Idealismus. 35 sondern spricht nur in unbefangener Weise den Begriff eben der Identität von Denken und Sein aus, den erst die von dem Gesichts- punkte des Kritizismus ausgehende Philosophie sich in methodischer Vermittelung zum beherrschenden Leitsatz machen konnte. Daß nichts diesen Begriff in dem Bewußtsein der Menschheit so wirksam belebt hat wie die Gottesidee der Offenbarungsreligion, erhellt von selbst; sie ist deshalb auch der Boden gewesen für die be- wußte Ausprägung des Ontologismus. Zugleich hat auf diesem Boden der religiösen Kultur auch der Begriff des absoluten Greis t es früher als in der Philosophie seine Ausgestaltung erfahren. Von der religiösen Grundlage seines persönlichen Bewußtseins her ist auch Hegel die Anschauung des absoluten Geistes aufgegangen; Cassirer hat ganz richtig empfunden, daß die Religion für Hegel das Moment der Wirklichkeit ist, aus dem er seinen Begriff des Absoluten gewinnt. Aber es ist nicht so, daß sich ihm die drei Kantischen Absoluta, „wie sie im Geiste der Erkenntnis, in dem der Sittlichkeit und in dem der Kunst festgestellt sind", etwa hinterher erst in das eine Absolutum der Religion zusammenfassen (S. 290), sondern dieses steht als beherrschendes Prinzip und leitender G-edanke ihm bereits in Form der Intuition fest, wenn er daran geht, die Erscheinungen der geschichtlichen Geistes- kultur zu untersuchen, denen ja seine frühesten Studien gegolten haben. Daß Cassirer auf diese zentrale Stellung der Religion in der Hegeischen Gedankenwelt aufmerksam macht, ist um so verdienst- licher, als bei der Neubelebung des Interesses für Hegel, die wir zur Zeit beobachten können, bisher das Hauptgewicht meist auf Hegels Stellung zum Staat und zur Geschichte gelegt wird. Ihm selbst war die religiöse Idee selbst in der Staats- und Geschichts- auffassung das Bestimmende: der Staat beruht auf Religion, die Geschichte ist Theodizee. Das ist Hegels Auffassung immer ge- wesen und geblieben; man wird sagen dürfen, daß er sich damit von der letzten Absicht Kants keineswegs entfernt hat. Denn was Cassirer meint, daß im Unterschiede von Kant das Problem der Synthesis und der synthetischen Einheit durch Hegel von dem Boden der reinen Erkenntnis auf denjenigen des konkreten geistigen Lebens in der Totalität seiner Äusserungen versetzt wird (S. 291), das trifft doch nur zu, wenn man von der ganzen Arbeit Kants ausschließlich seine Kritik aller möglichen sinnlichen Erfahrung betrachtet. Cassirer hat aber selbst als den wahrhaften Abschluß 3* 36 Georg Lasson, des Objektivitätsproblems der kritischen Philosophie die Synthese bezeichnet, die Kant in der Kritik der Urteilskraft erreicht, den Standpunkt, auf dem die Idee der Natur selbst unter dem Gesichts- punkte der Freiheit, die Idee der Freiheit selbst unter dem Ge- sichtspunkte der Natur erscheint (S. 288). In seiner Religionslehre wie in seinen Betrachtungen über die Probleme der Weltgeschichte hat Kant, der systematisch diesen Standpunkt an dem gesamten Erfahrungsstoff zu bewähren nicht mehr vermocht hat, die frucht- barsten Ansätze zu solcher Arbeit geliefert, die es über jeden Zweifel erheben, daß er nicht gemeint war, die Synthesis in dem luftleeren Räume der abstrakten Erkenntnistheorie eingesperrt zu halten, sondern sie als konkrete Erscheinung in der "Wirklichkeit aufzuweisen beabsichtigt hat. Gerade in ihren Gedanken hin- sichtlich dieser so zu sagen angewandten Synthesis befinden sich Kant und Hegel vielfach in vollkommener Übereinstimmung. Was Hegels Größe ausmacht, das ist das erstaunliche Gleich- gewicht zwischen der Gabe der Intuition und der Sorgfalt des methodischen Denkens, zwischen dem Interesse an dem Leben und an der Wirklichkeit und dem rastlosen Bohren der Abstraktion nach dem geistigen Quell alles Daseins. Dieses Gleichgewicht drückt sich gleichsam symbolisch darin aus, daß er in seinen zwei grundlegenden Werken, in der Phänomenologie und in der später zur Enzyklopädie ergänzten Logik, sein System von zwei ganz verschiedenen Ausgangspunkten aufbaut* Daß etwa die Phäno- menologie als ein propädeutisches Werk gedacht gewesen wäre, ist ein noch immer viel verbreiteter Irrtum. Sie ist nur für Leser geschrieben, die bereits in dem Gedankenkreise der Identitäts- philosophie heimisch und in der Dialektik des Begriffs geübt sind. Auch daß sie ein früheres Stadium seiner Philosophie darstelle als seine Logik, trifft nicht zu. Durch die vor sechs Jahren er- folgte Drucklegung seines ersten Systems ist es nun urkundlich bezeugt, daß die Phänomenologie bereits die Hegeische Logik in ihrer Eigenart voraussetzt. Cassirer hat auf jene Logik von 1802 leider nicht Bezug genommen ; sie ist gerade für den Neukantianer besonders interessant, da sie den ersten Teil, dem Hegel später die Überschrift „das Sein" gibt, mit dem Titel „die einfache Be- ziehung" bezeichnet und den beiden andern, nachher „das Wesen" und „der Begriff" benannten Teilen die Namen „das Verhältnis" und „Proportion'4 gibt. Wie weit auch dieser erste Entwurf seiner Logik an genauer Durchbildung hinter dem späteren Werke zurück- Kritischer und spekulativer Idealismus. 37 bleiben mag, nicht bloß die Methode ist dort bereits vollkommen klar und bewußt ausgearbeitet, auch alle leitenden Gesichtspunkte finden sich schon vor. Vergleicht man die Phänomenologie mit jener ersten Logik Hegels, so wird der Titel, den er anfangs für die Phänomenologie gewählt und erst nacb Abfassung seiner be- rühmten Vorrede durch ihren jetzigen ersetzt hat, erst ganz ver- ständlich; er hatte sie die „Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins" genannt und hat also, während er in der Logik die reinen Gedankenbestimmungen entwickelt, die jeder Erfahrung zugrunde liegen, hier zeigen wollen, wie sich diese Bestimmungen in der Erfahrung selbst verwirklichen. Dem kantischen Kritizismus haftet der ursprüngliche Mangel an, daß er mit der Frage der Erkenntnistheorie nach den Bedingungen, unter denen Erfahrung überhaupt möglich ist, gleich von vorn herein die zwei zunächst disparaten Elemente des abstrakten Denkens und des empirischen Bewußtseins zusammenwirft und deshalb gerade bewirkt, daß sie sich beständig fliehen und nie zur vollen Einheit gelangen. Hegel ist über diesen Mangel dadurch hinweggekommen, daß er das logische Fundament des Bewußtseins für sich entwickelt, die Natur der reinen Wesenheiten darstellt, die über den Unterschied von Subjektivität und Objektivität hinübergreifend, als die reinen Ge- danken das Leben des Geistes und die gesamte Welt der Wirk- lichkeit konstituieren. Auf diesem Fundamente hat er das System der Subjekt-Objektivität errichtet und hat darum auch über die bloße Kritik der Erfahrung hinaus die Erfahrung selbst nach ihrer wirklichen Erscheinung und nach ihrer geistigen Wahrheit darstellen können als das Zusichselbstkommen des Geistes in dem Bewußtsein des Subjekts. Diese Aufgabe hat er sich in der Phäno- menologie gestellt; er will zeigen, wie dem Bewußtsein des Subjekts der Geist innewohnt und in der Entwickelung, die es als denkendes und wollendes Selbstbewußtsein durchmacht, sich zur Erscheinung der geistigen Welt vollendet. Hegels Ausgangspunkt ist hier die ursprüngliche Synthese, mit der auch die kritische Philosophie be- ginnt, das Subjekt der sinnlichen Erfahrung. Den Ausgangspunkt der Logik könnte man dem gegenüber als die einfache These be- zeichnen, die nur erst abstrakte Wahrheit hat, die reinen Gedanken- bestimmungen, durch deren Selbstbewegung die Welt der Gegen- sätze und das Reich der Versöhnung oder der Geist in seiner Totalität sich entfaltet. Das Hegeische Denken hat so vor dem Kritizismus folgenden Vorsprung. Dieser geht einseitig von der 38 Georg Lasson, Synthese, d. h. im gründe von der Antithese aus, für die er stets die Synthese sucht, ohne sich darüber klar zu werden, daß ohne eine vorausliegende These selbst eine Antithesis nicht möglich wäre; denn Gegensätze sind sich eben immer in irgend einem Etwas entgegengesetzt. Hegel dagegen geht auf dies Etwas, auf den Grund zurück, der die Gegensätze möglich macht, nämlich auf den seine eigenen Bestimmungen setzenden und entfaltenden Geist. Natürlich wird es hier auch klar, daß Thesis und Synthesis iden- tisch sind, daß diese nur die konkrete Verwirklichung jener ist, so daß Anfang und Ende der Entwickelung so zusammenfallen wie der gewollte und der erreichte Zweck. Ebenso klar ist es deshalb, daß dem Kritizismus auch jener einfache Grund, die an- fängliche These nicht fehlt; er hat sie in derjenigen Synthesis, die er als wirklich und ursprünglich anschaut, in dem vernünftigen Selbstbewußtsein, dem autonomen Ich, und gelangt sogar von da aus neuerdings bis zu einem Logismus, der dem Hegeischen außer- ordentlich ähnlich scheint. Aber er will es nicht wahr haben, daß er damit zu dem Einheitsprinzip vorgedrungen ist, das den Gegensatz produziert, zu der These, die sich durch die Antithesis zur Synthesis vollendet, sondern er haftet fest an der Antithese und sieht zwar die Bewegung ihrer Vermittelung, aber nicht den unbewegten Beweger, den Geist in der bleibenden Organisation seines vernünftigen Wesens, wie er „vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist". Dabei aber beschäftigt er sich unablässig mit diesem ersten Prinzip ; denn die reinen Ge- dankenbestimmungen sind der feste und unveränderliche Maßstab seiner kritischen Denktätigkeit, übrigens ein Beweis dafür, daß der Begriff der Substanz durch den der Funktion nicht „ersetzt", d. h. beseitigt, sondern vielmehr bestimmt wird. Und so ergibt es sich hier aufs neue, daß der kritische Idealismus an sich abso- luter Idealismus ist, nur ohne selbst sich dessen bewußt zu sein. Damit sind wir dann noch einmal daraufgewiesen, prinzipiell den Vergleich zwischen kritischem und absolutem Idealismus zu ziehen, wie es Cassirer am Schlüsse seiner sehr eingehenden Wiedergabe der Gedankenentwickelung in Hegels Phänomenologie und Logik unternommen hat. Cassirer meint, das System Hegels habe „den geschichtlichen Beweis für. die Unlösbarkeit der Pro- bleme" geliefert, „mit denen schon Hegels Ausgangspunkt und Fragestellung die Philosophie belastet" (S. 366). Dieser Satz klingt an sich einigermaßen überraschend; denn man müßte aus Kritischer und spekulativer Idealismus. 39 ihm schließen, daß es gewisse Ausgangspunkte und Fragestellungen gebe, deren sich die Philosophie zu entschlagen habe, weil sie auf unlösbare Probleme führen. Es könnte dann immerhin als ein ge- schichtliches Verdienst gelten, wenn ein Denker einmal solche Probleme aufgeworfen hat ; aber nachdem er an ihrer Lösung ge- scheitert ist, scheint es der Philosophie gebühren zu sollen, daß sie von ihnen als von rebus iudicatis sich lernhalte und sie auf sich beruhen lasse. Das ist nun freilich eine Auffassung, die sich mit dem Begriffe der Philosophie ebensowenig reimt wie mit deren tatsächlichem Verhalten. Das philosophische Denken läßt sich keine Grenzpfähle stecken, und wenn es sie sich selbst steckt, so hat es damit schon die Grenze überwunden ; denn es kann sie nicht ziehen, ohne diesseits und jenseits von ihr Bescheid zu wissen. Und deshalb legt die Philosophie niemals ein Problem als unlösbar beiseite; entweder sie führt den methodischen Beweis, daß es an sich unlösbar sei, und dann hat es aufgehört, ein Pro- blem zu sein, und seine Lösung ist gelungen in dem Nachweise, daß nur der Schein eines Problems vorgelegen habe; oder aber das Problem wird dauernd als ein solches empfunden, und dann genügt kein geschichtlicher Hinweis auf einen mißglückten Ver- such, es zu lösen, sondern der denkende Geist macht sich immer aufs neue daran, die Wahrheit zu begreifen, die ihm in Form des Problems entgegentritt. Cassirer hat selbst den Nachweis geführt, wie mit innerer Notwendigkeit aus dem Standpunkte des Kriti- zismus die Fragestellungen der nachkantischen Philosophie sich ergeben haben. Es' sind also sachlich notwendige Fragestellungen, und man kann sie nicht deshalb abweisen, weil sie die Philosophie mit Problemen belasten, die man für unlösbar erklärt, und noch weniger, weil man meint, daß Hegel seinerzeit sie nicht be- friedigend beantwortet habe. Nun ist weiter die Frage, wieweit überhaupt die Vorwürfe berechtigt sind, die der Arbeit Hegels im einzelnen gemacht werden. Daß er die Sache nicht für alle Zeiten endgiltig ins Reine ge- bracht hat, versteht sich von selbst; ob aber die Mängel seiner Darstellung so grob sind und seiner Methode selbst so kraß ent- gegenstehen, wie man häufig annimmt, ist doch sehr zweifelhaft. Es ist vieles von dem, was ihm zum Vorwurf gemacht wird, reines Mißverständnis. Schon Schelling hat, wie Cassirer erwähnt (S. 281), gegen Hegels Logik den seitdem immer wieder erhobenen Ein- spruch geltend gemacht, daß, wenn man mit dem reinen abstrakten 40 Georg Lasson, Begriff des Seins anfange, man zu inhaltlicheren Bestimmungen nur durch Erschleichung und Supponierung eines Seienden gelangt, eines letzten Subjektes des dialektischen Prozesses, das sich in ihm und durch ihn entfaltet. Cassirer selbst faßt die Dialektik bei Hegel so, daß für sie das Absolute nicht mehr den unmittel- baren Anfang der Philosophie, sondern ihr Ende, nicht mehr ihre Voraussetzung, sondern ihr Resultat bedeute (S. 303). Aber in seiner Kritik der Hegeischen Logik erklärt er selbst, daß dieses Resultat schon in jeder Phase des Prozesses, in jedem neuen Über- gänge als das eigentlich bestimmende und vorwärtstreibende Prin- zip wirke (S. 367). So wird es wohl ein Irrtum sein, wenn man Hegels Methode dahin auslegt, er fange mit dem absolut Leeren, dem Sein an, das mit dem Nichts identisch ist, und lasse dieses sich durch Selbstbewegung bis zum Begriffe der Totalität erweitern, einem schlappen Beutel gleich, den man aufbläst, bis er platzt. Cassirer meint: „nach der Grundvoraussetzung Hegels soll jedes einmal gesetzte Moment sich selbst negieren und durch diesen Widerspruch das Denken zu einem andern und höhern hinaus- treiben" (S. 366). Abgesehen davon, daß die Art der Entgegensetzung der einzelnen sich gegenseitig fordernden Gedankenbestimmungen in den verschiedenen Sphären des Logischen nicht die gleiche und also die bloße Negation bei weitem nicht für den dialektischen Prozeß im ganzen charakteristisch ist, so spricht doch Cassirer selbst von dem „gesetzten Moment". Ja, wovon ist es denn Mo- ment, und wodurch wird es denn gesetzt? Es ist doch offenbar, daß die Totalität und zwar die Totalität als Geist bereits voraus- gegeben ist, wenn man von gesetzten Momenten redet. In der Tat ist für alles Philosophieren Hegels die ursprüngliche Identität, die keinen mittelbaren Beweis zuläßt (S. 302), die unbedingte Grund- lage; das cogito, ergo sum, ist der Punkt des unmittelbaren Wissens, von dem es keinen Regreß zu einem ihm vorausliegenden Prinzip geben kann, und alles Beweisen in der Philosophie bedeutet nur das Aufzeigen des notwendigen systematischen Zusammenhanges, den dies Prinzip fordert und herstellt. Es gibt darum für Hegel auch keinen eigentlichen Anfang in der Philosophie; sie ist ein in sich geschlossener Kreis, mit dessen Betrachtung das denkende Subjekt an jedem beliebigen Punkte müßte anfangen können und sich nur nach Zweckmäßigkeitsgründen für diesen oder jenen An- fang entscheiden wird. Auch der Anfang mit der Logik ist der Anfang mit einem Momente des Granzen und insofern ebenso zu- Kritischer und spekulativer Idealismus. 41 fällig, wie wenn in der Phänomenologie mit dem natürlichen Be- wußtsein angefangen wird. Nur weil das Logische das übergrei- fende Moment, sowohl eine besondere, als auch die allgemeine Weise der absoluten Idee ist (S. 363), erscheint Hegel der Anfang mit der Logik besonders zweckmäßig. Aber immer handelt es sich hier um die Dar stellungs form, und dieser liegt die Idee selbst voraus. Kein Teil der Philosophie und kein einzelner Begriff der Logik kann für sich allein gedacht oder entwickelt werden; das Ganze liegt ihm zugrunde, trägt und bestimmt ihn. Das philo- sophische Denken ist Nachdenken; es saugt sich das Wahre, das Konkrete nicht aus den Pfoten der Abstraktion und klaubt nicht aus dem Begriffe des leeren Seins und des reinen Nichts die Fülle der göttlichen Gesichte heraus, sondern es hat den ganzen Reich- tum des lebendigen Bewußtseins und der wissenschaftlichen Er- kenntnisse vor sich, es trägt die Anschauung der geistigen Totalität und das Bewußtsein seiner schöpferischen Freiheit in sich, und es gestaltet sich auf grund dieser seiner vernünftigen Bestimmtheit seine Welt zum begriffenen System, sich selbst zum absoluten Wissen, zum focus realis des absoluten Geistes. Die Art, wie Hegel Sein, Nichts und Werden dialektisch an- ander, ganz deutlich nicht auseinander, entwickelt, gilt gewöhnlich als das eigentliche Merkmal seiner Philosophie überhaupt. Wie man Kant auf die transzendentale Ästhetik festbindet, so sieht man in dem ersten Kapitel der Hegeischen Logik den ganzen Hegel und schlägt vor Verwunderung über den Einfall, das leere Sein zum Fundament des Universums zu machen, die Hände über dem Kopf zusammen. Cassirer hat selbstverständlich mit diesem Verhalten nichts gemein. Er weiß, daß Hegel seine Logik nicht bloß damit anfängt, zu sagen, das leere Sein sei mit dem Nichts iden- tisch, sondern daß diesem besonderen Satze der allgemeine voraus- liegt, das Sein und das Denken sei identisch. So ist für Hegel das Sein Gedanke, das Nichts Gedanke, das Werden Gedanke, und er bringt nicht drei disparate Dinge gewaltsam zueinander, sondern er zeigt auf, wie diese drei Gedankenbestimmungen durch das innere Leben des sie produzierenden Begriffes miteinander in Zu- sammenhang stehen. Ganz richtig sagt deshalb Cassirer: „daß Sein und Nichts identisch sind, kann gar nicht anders als vom Werden her deutlich gemacht werden" (S. 366). Natürlich, das „Umschlagen" der einen Gedankenbestimmung in die andere ließe sich nicht aufzeigen, wenn sie nicht sämtlich dem Denken in ihrer 42 Georg Lasson, besonderen Bestimmtheit bereits bekannt wären. Daß aber nnn, wie Cassirer meint, dieser Gesichtspunkt dem Prinzip der dialek- tischen Methode nicht entspräche (S. 367), trifft keineswegs zu. Anch für die dialektische Methode ist das philosophische Denken kein Konstruieren ins Blaue hinein, und der Gedanke des Systems steht ihr fest, wenn sie die Beziehung seiner Glieder sich entfalten läßt. Ohnehin besteht diese Beziehung durchaus nicht bloß in dem „Umschlagen" eines Begriffes in den andern, wie es bei jenen ersten abstraktesten Begriffen der Fall ist; sie nimmt im Fort- gange zu konkreteren Bestimmungen die Form einer immer tieferen Zusammengehörigkeit an, bis die ideale Einheit der Momente des gedanklichen Organismus erreicht ist. Das ist natürlich ohne die vorausgehende Anschauung dieses Organismus gar nicht möglich. Darum ist es nur eine Seite der Hegeischen Methode, die Cassirer mit dem Satz ausdrückt: „Das Absolute soll wesentlich Resultat sein, also erst am Ende des Gesamtprozesses heraustreten" (S. 367). Hegel selbst zeigt beständig auf, daß ebenso das Absolute das erste Prinzip und daß der gesamte Verlauf der Entwicklung nichts als das Hervortreten der im Absoluten enthaltenen und darin sich entfaltenden Bestimmungen sei; und es geht wirklich nicht an, dieses Moment der Betrachtung als eine Preisgabe seines dialek- tischen Prinzips aufzufassen. Vielmehr ist „das Prinzip des Fort- schritts, das ihn durch die gesamte Reihe der untergeordneten Momente bis zur höchsten Idee hinaufführt" (S. 366), eben nur die eine Seite in seiner Darstellung der logischen Idee, und das Prinzip der Totalität, die sich die Bestimmungen der einzelnen Momente gibt, ist die andere, mindestens ebenso wichtige Seite. Das „Nachein- ander der Momente" ist in der Logik natürlich eine vollkommen zeitlose Aufeinanderfolge, und insofern wird man sagen können, daß sich das Absolute in einem ewigen Nun nach der Fülle seiner Bestimmungen durchsichtig ist, während das denkende Subjekt im diskursiven Denken nicht alles zu gleicher Zeit präsent haben kann. Aber das bedeutet nicht, daß die begriffliche Entwickelung nichts als der „Fortgang einer bloß subjektiven Reflexion" sei. Hegel behauptet ja nicht, daß die Selbstbewegung des Begriffs, zu deren Darstellung der Denker natürlich Zeit braucht, eine zeit- liche Bewegung sei; er will „die reinen Gedanken, den sein Wesen denkenden Geist" darstellen, von denen er sagt: „ihre Selbstbe- wegung ist ihr geistiges Leben". Dieses geistige Leben ist zeitlos und „wesentlich itzt". Das subjektive Denken aber, das dieser Kritischer und spekulativer Idealismus. 43 Selbstbewegung nachdenkt, stellt den objektiven Gang der Sache dar, indem es sich dazu erzieht, die wesentlichen Zusammenhänge jener Gedankenbestimmungen aufzufassen, wonach die eine mit innerer Notwendigkeit zu der andern führt, sich in ihr aufhebt und wiederfindet usf. Den Gegensatz dazu bildet dann die sub- jektive Reflexion, die aus irgendwelchem partikularen Interesse ein paar beliebige Einzelbestimmungen aufrafft und in dem Raisonne- ment, das sich an sie hält, über einseitige Abstraktionen nicht hinauskommt. Sorgfältiger als Hegel kann man sich nicht be- mühen, diesen Fehler zu vermeiden: was an seiner Darstellung des objektiven Ganges der Sache notwendig subjektiv, Angelegen- heit des Zuschauers bleibt, ist nur das zeitliche Aufzählen; die gedankliche Sukzession der Momente sucht er rein aus deren eigenem Charakter zu entwickeln. Ereilich versteht er unter dieser Sukzession nicht einen in einer Richtung geradlinig verlaufenden Fortschritt, sondern eher das Hin- und Her wandeln der „Mütter" : „Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ew'ge Unterhal- tung". Es bleibt immer merkwürdig, daß man ihm seine eignen Worte nicht glauben will. Er beschreibt selbst das Wahre mit den Worten : es sei ein bacchantischer Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und zugleich die einfache und durchsichtige Ruhe. Und dennoch meint Cassirer, daß bei Hegel schließlich die Be- wegung auf die Seite des Subjekts und die Ruhe auf die Seite des Gegenstandes falle und Denken und Sein in offenbarem Dualis- mus auseinandertreten (S. 368). Die Erklärung dafür, wie Cassirer auf diesen Vorwurf ge- kommen ist, den eigentlich jeder Satz bei Hegel widerlegt, ist darin zu finden, daß er die immanenten Geltungsunterschiede über- sieht, die zwischen den verschiedenen Gebieten des denkenden Be- wußtseins bestehen. Was für die Sphäre der zeitlosen Beziehungen der reinen Begriffe gilt, die über die Trennung von Objektivität und Subjektivität erhoben sind, das hat nicht ohne weiteres die gleiche Geltung für die Sphären, in denen sich der Gegensatz zwischen Bewußtsein und Gegenstand auswirkt. Als allgemeines Moment ist das Logische selbstverständlich auch in diesen Sphären wirksam und gegenwärtig; aber als besonderes Moment steht es gleichzeitig ihnen beiden in eigenartiger Bestimmtheit gegenüber. Der Gedanke konstruiert von dem Logischen über die Natur zum Geiste einen dialektischen Fortschritt; aber dieser Fortschritt ist ein andrer als der in der Realität, einfach weil das Logische ja nicht 44 Georg Lasson, am Anfange, nicht vor der Realität steht, sondern sie als ihr ein- einheitlicher Bestimmungsgrund von Anfang bis zu Ende durchdringt. Während so jene drei Sphären in ihrer Einheit eine in sich befrie- digte und — wenn man die Zeitvorstellung einmal dabei will gelten lassen — in jedem Augenblick vollendete Totalität bilden, den „seligen Gott", zeigt jede von ihnen in ihrer dialektischen Ver- schiedenheit sich als eine besondere Bestimmtheit des Ganzen mit einer ihr eigenen Bewegung. Unter diesem Gesichtspunkt er- ledigt sich auch der immer wieder gegen Hegel erhobene Vorwurf wegen des Überganges von der logischen Idee zur Natur: die Idee entläßt sich frei in ihr Gegenteil. Das darf man ebensowenig für die Sprache des Mythos halten, wie wenn Fichte sagt: das Ich setzt das Nichtich, oder Schiller : es ist der Geist, der sich den Körper baut. Hegel redet hier von logischen Beziehungen der Begriffe, nicht von Dingen der Wahrnehmung. Wenn man von dem Logischen als der ersten Sphäre des Systems beginnt, dann erscheint die Natur als seine Entäußerung, der Geist als seine Verwirklichung. Setzt man die Natur als die erste Sphäre, so enthüllt sich in ihr das Logische als ihr Einheitsprinzip, die Seele dieses organischen Ganzen, und der Geist als ihr Ziel und beherrschender Zweck. Geht man von dem Geiste aus, so erfaßt sich dieser in dem Logischen nach seinem an sich seienden Wesen und in der Natur als in dem von ihm gesetzten Mittel seiner uni- versalen Selbstdarstellung nach seinem unterschiedenen Fürsichsein. Keiner dieser drei Aspekte des Systems ist für sich* allein das ganze System; jeder hat einen Schein von Abstraktion an sich, den erst ihre spekulative Zusammenfassung beseitigt. Darum aber kann man auch nicht, wie es Cassirer tut, einfach den letzten Ab- schnitt der Enzyklopädie, die Geschichte der Philosophie, als das Ende der Bewegung bezeichnen, die in der Logik anfängt (S. 368). Als zeitlos dialektischer Prozeß ist die Bewegung vom Begriff des bloßen Seins bis zum Begriff des sich selbst begreifenden Wissens wohl anzusehen; wenn aber auf den Fortschritt im subjektiven Geiste reflektiert wird, wie es Cassirer hier tut, dann handelt es sich um eine in der besonderen Sphäre der geistigen Kultur verlaufende Bewegung, und die beginnt mit dem Begriffe des natürlichen Be- wußtseins, um bis zum absoluten Wissen fortzuschreiten. So kann man auch nicht folgern, daß für Hegel das Absolute die Gestalt eines einzelnen geschichtlichen Zustandes, nämlich seiner geschicht- lichen Gegenwart habe annehmen müssen. Es ist richtig, daß Hegel Kritischer und spekulativer Idealismus. 45 „die jetzige Zeit auf dem Standpunkt angelangt sieht, wo das endliche Selbstbewußtsein mit dem absoluten sich in begrifflicher Erkenntnis eins setzt". Er bietet seinen Schülern die Befriedigung, daß in seiner Philosophie, die ja „ihre Zeit, in Gedanken gefaßt" sein will, der Kampf zwischen den Abstraktionen der Unendlich- keit und der Endlichkeit aufhört, der noch in der dualistischen Reflexion seiner unmittelbaren Vorgänger zur schärfsten Ausprä- gung gekommen ist. Aber wenn er meint, daß „für jetzt" die Reihe der geistigen Gestaltungen geschlossen sei, bemerkt er doch gleichzeitig, daß eine neue Epoche in der Welt eingesetzt habe. So kann man ihm nicht schuld geben, daß er die Weltentwicklung mit dem Erscheinen seines Systems aufhören lasse, um so weniger, als sich bei ihm zahlreiche Äußerungen finden, die auf weiteren Fortschritt und auf später zu vollbringende Lösungen von „Knoten" hinweisen, an denen der Weltgeist in der Gegenwart steht. Jeden- falls berechtigt der Umstand, daß er den Gesamtertrag der bis- herigen Geistesgeschichte als die bisher vom Weltgeist erreichte höchste Stufe der Entwickelung ansieht, nicht zu dem Vorwurf, er habe „ein Einzelnes und Zufälliges zum Absoluten erhoben" (S. 369); eher würde zutreffen, daß er in jedem klassischen philo- sophischen System, weil es das zum Begriff gestaltete Selbstbe- wußtsein einer ganzen Zeit und damit ein ewig gültiges Moment der Totalität ist, die Weltentwickelung zur Ruhe kommen sieht. So erklärt denn freilich Hegel nicht dies oder jenes jeweilig er- reichte und bestimmte Wirkliche (S. 369), sondern alles Wirkliche schlechthin für vernünftig; darin eine „Gefahr" zu sehen, ist nur dann möglich, wenn man das Faktische und das Ideelle als zwei getrennte und nie wirklich zu vereinbarende Dinge betrachtet. Aber daß diese Betrachtung richtig sei, müßte erst bewiesen werden. Den deutlichsten Beweis dafür, daß Hegels Methode in der Ausführung notwendig scheitern muß, glaubt Cassirer in der Hegeischen Naturphilosophie erbracht zu sehen. Nun ist aber das Merkwürdige, daß Hegel, wo er über den Erscheinungskomplex redet, den die mathematische Naturwissenschaft mit dem Namen Natur bezeichnet, äußerst vernünftige, dieser Wissenschaft durch- aus verständnisvoll gerecht werdende Ansichten vorträgt. Cassirer weist selbst auf Hegels Ausführungen in der Logik über eine „Mathematik der Natur" hin und erkennt an, daß für Hegels Auf- fassung der Prinzipienlehre der mathematisch - physikalischen Er- kenntnis dort „wichtige und fruchtbare Bestimmungen" gegeben 46 Georg Lasson, seien (S. 342). Aber freilich erschöpft sich für Hegel der Natur- begriff nicht in der Hypothese Natur, wie sie von der mathe- matischen Physik ihren Berechnungen zugrunde gelegt wird. Und daraus wird man ihm wieder keinen Vorwurf machen dürfen ; gibt doch Cassirer selbst zu, daß bereits bei Kant sich „der Wirklich- keitsbegriff der mathematischen Naturwissenschaft als eine freilich notwendige und in ihrer Geltung unantastbare Abstraktion" er- weise (S. 288), womit dann schon ausgesprochen ist, daß über den Umfang ihrer Greltung nur die Philosophie entscheiden kann. Denn deren Aufgabe ist es ja gerade, die Abstraktionen, von denen die verschiedenen Einzelwissenschaften ausgehen müssen, weil sie eben Einzelwissenschaften sind, in dem konkreten System des sich wissenden Geistes aufzuheben. Auch ist es nicht weiter zu ver- wundern, daß für Hegel gerade der Begriff, von dem die mathe- matische Physik grundsätzlich abstrahiert, im Vordergrunde seiner Naturanschauung steht, nämlich der Begriff des Lebens. Ein großes Lebendiges ist ihm die Natur; darin steht er mit Goethe und Schelling völlig auf dem gleichen Boden ; aber ernstlicher als beide faßt er die Aufgabe an, die geistige Organisation dieses Lebens methodisch aufzuzeigen. Nun ist es gewiß sehr leicht, über Einzel- heiten der Hegeischen Naturdeutung zu spotten, und es ist ohne weiteres zuzugeben, daß er nicht bloß durch die außerordentliche Mangelhaftigkeit des empirischen Stoffes, den ihm die damalige Naturforschung lieferte, sondern auch durch ein übertriebenes Be- mühen, die zufälligen Einzelheiten der Erscheinung in bestimmte begriffliche Gestalt zu fassen, auf Irrwege geführt worden ist. Damit aber ist noch durchaus nicht gesagt, weder daß die Anlage seiner Naturphilosophie im ganzen verfehlt, noch daß ihre Durch- führung in den Hauptpunkten ein Mißgriff sei. Man muß sich nur gegenwärtig halten, was Hegels Absicht war. Er befand sich der Schellingschen Naturphilosophie gegenüber, mit deren Grund- gedanken, in der Natur eine vernünftige Organisation, ein zum Geiste hindrängendes und aus dem Geiste geborenes Leben zu be- greifen, er gänzlich übereinstimmte. Dagegen warf er ihr vor, daß sie anstelle des Begriffs ein unlebendiges Schema setze und statt die Gestaltungen der Natur in ihrer Eigenart zu erkennen, sie durch die Subsumtion unter eine Anzahl von B-eflexionsbe- stimmungen wie Polarität, Magnetismus, Elektrizität, Sensibilität usf. gerade ihres individuellen Gepräges beraube. Deshalb war es sein Bestreben, den Sinn und die Grliederung der verschiedenen Kritischer und spekulativer Idealismus. 47 Gestaltungen der Natur in ihrer Unterschiedenheit zu erfassen. Der Vorstellung ist solches Verfahren im Einzelnen durchaus ge- läufig; Löwe und Bär, Palme und Eiche unterscheiden wir, um ganz triviale Beispiele zu geben, ohne weiteres nach rein ideellen Gesichtspunkten, und wenn wir uns genauer beobachten, so be- merken wir auch, daß wir sehr viel weniger hochstehende Gattungen im Naturleben durch ganz klare geistige Bestimmungen von ein- ander sondern und miteinander verbinden. Dies vorstellungsmäßige Verhalten wird von Hegel zum methodischen Verfahren erhoben und dadurch vor dem Denken gerechtfertigt, daß alle Sphären des natürlichen Daseins in ihrer individuellen Bestimmtheit als Glieder eines großen geistigen Zusammenhanges aufgewiesen werden, aus dem dieselbe Vernunft herausleuchtet, die sich in den reinen Ge- dankenbestimmungen der Logik wie in den geschichtlichen Schöp- fungen des selbstbewußten Geistes entfaltet. Die Wirklichkeit, das Wahre sieht Hegel nirgends in der Abstraktion; ihm ist es stets um das Individuelle zu tun, in dem sich das Faktische und das Ideelle unlösbar in eins verschmolzen zeigen. Das Einzelne ist ihm das Allgemeine, und das Sinnliche ist ihm das Geistige. Was ist denn auch an dem, was man faktisch nennt, das Faktische, wenn nicht die Bestimmtheit, die ihm im Unterschiede von allem anderen als seine ideelle Eigenart zukommt? Wenn Hegel die Natur unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, so kann man ihm nicht vorwerfen, daß er das Faktische an das Ideelle verloren habe. — Die Verwandtschaft übrigens seiner Naturauffassung mit der Goetheschen, die sich beide Männer mehrfach freudig bezeugt haben, wird dadurch nicht verneint, daß Goethe einmal im Jahre 1812 an einem aus dem Zusammenhange gerissenen Zitat aus der Vorrede zur Phänomenologie (nicht, wie Cassirer meint, aus der Logik), das er auf dem Titelblatte eitles Buches von Troxler als Motto fand, starken Anstoß genommen hat (S. 375) ; ein aufklärender Brief von Seebeck hat ihn schnell beruhigt, und er hat erklärt: „Hegel ist bei mir entsühnt" (vgl. Kuno Fischer, Hegel, 2. Aufl. S. 1207). Ohne weiteres zuzugeben ist, daß die Hegeische Naturphilo- sophie eine Disziplin ist, an die der Kritizismus kaum gedacht hat; in ihr erneuert sich die Betrachtungsweise Jakob Boehmes, die dem rationalistischen Drange zur Mechanisierung und Ent- gotterung der Natur immer ärgerlich sein wird. Deshalb ist es wohl zu begreifen, daß nichts an Hegels System so kräftig per- 48 Georg Lasson, horresziert wird wie seine Naturphilosophie, obwohl sie nichts anderes unternimmt, als daß sie den kritischen Gedanken, den Sinnbezug der Gegebenheiten verständlich zu machen, auf das Gebiet des Naturlebens anwendet. Merkwürdiger dagegen ist es, daß sich der Kritizismus auch gegen die Geschichtsphilosophie Hegels ablehnend verhält; denn hier findet sich nicht nur bereits bei Kant selbst die prinzipielle Wegbereitung, sondern auch, was Cassirer selbst über diese Disziplin sagt, steht in voller Überein- stimmung mit den Gesichtspunkten, von denen Hegel sich leiten läßt. Cassirer stellt der Geschichtsphilosophie die Aufgabe, „Prin- zipien und Richtlinien des geistigen Lebens aufzustellen, das im übrigen seinem eigenen unendlichen Fortgang überlassen bleibt" (S. 369); worin hier ein Gegensatz gegen die Hegeische Auffassung der geschichtlichen Wirklichkeit liegen soll, ist nicht zu erkennen. Denn es kann doch nicht gemeint sein, daß die Prinzipien und Richtlinien anders woher gewonnen werden könnten als aus dem sorgfältigen Eingehen auf die Tatsachen jener Wirklichkeit. Der faktische Verlauf und der wirkliche Inhalt des geistigen Lebens muß genau beobachtet werden, wenn man seine Prinzipien er- mitteln, Ausgangspunkt und Ziel der Bewegung muß denkend fest- gestellt werden, wenn man ihre Richtlinien angeben soll. Der Gedanke muß also aus der Einzelheit den allgemeinen Sinn er- faßt, er muß die Idee oder den Gesamtgehalt des ganzen Verlaufes „vorweggenommen" haben, wenn er überhaupt ihn vernünftig be- urteilen will. So hat es schon Kant gehalten bei seinem Versuch zum philosophischen Verständnis der Weltgeschichte; so hält es jeder Transzendentalphilosoph, wenn er über Themen der geschicht- lichen Geisteskultur handelt, und anders hat es auch Hegel nicht gemacht. Alle wollen sie die „konstitutive Regel" finden, die das Ganze beherrscht und bildet (S. 373); natürlich ist damit auch gesagt, das Ganze sei, bereits vor seinem Ablauf oder unbeschadet seines unendlichen Verlaufes in der Zeit, dem Denken schon vor- ausgegeben, und das Einzelne müsse, um als dem Ganzen zuge- hörig gelten zu können, als Verkörperung der konstitutiven Regel, als eine Gestaltung des dem Ganzen innewohnenden Begriffes sich wirklich erweisen lassen. Ebenso sind der kritische und der absolute Idealismus darin ganz einig, daß sie den Inhalt des praktischen, religiösen, ästhetischen Bewußtseins nicht durch einen andern „er- setzen" wollen; es ist nichts als ein glattes Mißverständnis, das von Cassirer leider wiederholt wird, daß bei Hegel die Kunst und Kritischer uod spekulativer Idealismus. 49 die Religion „nur in dem Sinne begründet würden, daß sie zugleich erledigt werden und ihre autonome und selbständige Geltung ver- lieren, um dem eignen Systemzweck untergeordnet und eingefügt zu werden" (S. 372). Man kann die Tendenz der Hegeischen Philo- sophie gar nicht besser charakterisieren als mit dem, was Cassirer als die Methode der kritischen Philosophie bezeichnet: „die Einheit der Vernunft in ihren verschiedenen Grundrichtungen im Aufbau und in der Gestaltung der wissenschaftlichen, der künstlerischen, der sittlichen und der religiösen "Welt als solche zu erweisen" (S. 373); das ist genau der Sinn des Hegelianismus. Das beherr- schende und umfassende Prinzip, das Cassirer unter dem Namen des „eignen Systemzwecks" bei Hegel ablehnt, das erkennt er hier unter dem Namen „Einheit der Vernunft" ausdrücklich an. Die Aufgabe nun, diese Einheit zu erweisen, ist offenbar nicht anders lösbar, als wenn gezeigt wird, daß und warum in der Vernunft jene verschiedenen Grundrichtungen begründet sind und wie sie tatsächlich zur lebendigen Einheit des sich als freie Totalität er- fassenden Geistes zusammengehen. Daß diese Totalität, die Einheit der Vernunft, über jedes ihrer Momente übergreift und dabei, in der Form des absoluten Wissens, selbst als abschließendes oder bekrönendes Moment erscheint, ist die eine Seite der Sache; daß Hegel sie, der systematischen Art seines Denkens gemäß, der andern Seite gegenüber, wonach jedes der Momente selbst auch die Totalität und eine Form der absoluten Wahrheit ist, nicht vernachlässigt hat, dürfte man ihm kaum zum Tadel rechnen. Ganz im Gegensatze zu solchem Tadel, der den Vorwurf der Ver- einerleiung und Negation der Besonderheit enthält, wird Hegel gleichzeitig deswegen getadelt, daß er die Mannigfaltigkeit der Kulturformen und des Kulturbesitzes „bis in die letzten Einzel- heiten" aus der Vernunft habe ableiten wollen (S. 373); davon ist in Hegels Werken nichts zu finden, da vielmehr Hegel das Beiher- spielende und Nebensächliche sehr klar in seinem Unterschiede von dem Wesentlichen und Bedeutenden erfassen lehrt. Es blieb anderen, die durchaus nicht auf Hegels Bahnen wandeln, vorbe- halten, die Allongeperücken oder die doppelte Buchführung aus dem Begriff der jeweiligen Kultureinheit, der sie angehören, zu deduzieren. Doch müssen wir das bei Cassirer unberührt geblie- bene Problem des Zufalls, der vom Begriffe zwar umgrenzten, aber in sich freigelassenen Sphäre des Akzidentellen , hier beiseite lassen, um nicht ins Uferlose zu geraten. Hegel denkt nicht daran, Kantstudien. XXVII. 4 60 Georg Lasson, das Zufällige, das man gern das rein Faktische nennt, zu leugnen; aber er will es an den ihm gebührenden Platz im System der Vernunft stellen und es also begreifen. Dies System in seiner inneren Lebendigkeit wiederzuspiegeln , ist die Arbeit der dia- lektischen Methode, die deshalb die Einheit genau so stark betont wie die Verschiedenheit. Daß Hegel den methodischen Gegensatz zwischen der Form und der Materie der Erkenntnis, zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Empirischen und Ra- tionalen, dem Vernünftigen und Wirklichen beseitigt habe (S. 377), trifft so wenig zu, daß vielmehr das Gregenteil richtig ist: keiner hat mit der gleichen Sorgfalt wie er diese Begriffe in ihrer eigen- tümlichen Bestimmtheit herauszuarbeiten gewußt. Freilich aber hat er auch gewußt, daß sie in der Einheit der Vernunft, in dem Wahren und dem Wirklichen niemals getrennt vorkommen. Wenn er sie alle als Momente aufweist, die in abstrakter Isolierung ge- nommen, nicht nur sich selbst widerlegen, sondern ihr korrelates Moment als in ihnen selbst enthalten erkennen lassen, wenn er also die Identität des Verschiedenen zeigt , so erklärt er damit die „Trennungen des Verstandes" wohl für überwunden, aber nicht im mindesten für „nichtig" (S. 377) ; gibt es doch, wie man immer wiederholen zu müssen scheint, keine Identität, wo nicht Ver- schiedene sind. Der Widerspruch des Kritizismus gegen Hegel und damit gegen den absoluten Idealismus kommt immer auf den- selben Punkt hinaus, daß Hegel Ernst damit gemacht hat, die Einheit der Vernunft, den Begriff des autonomen Subjekts, wie sie von Kant zum methodischen Prinzip erhoben worden sind, als zu- reichenden Grund für das System des gesamten Bewußtseinsinhaltes zu erweisen. Daß er grundsätzlich, nicht etwa in Einzelheiten, mit diesem Unternehmen gescheitert sei, läßt sich, wie wir gesehen haben, an dem Bestände seiner Lehren nicht nachweisen; was man gegen sie einwendet, ist schließlich vielmehr die prinzipielle, prä- judizierende Behauptung, dem menschlichen Denken sei eine der- artige systematische Erkenntnis versagt. Die Frage bleibt zu erwägen, ob diese Behauptung stichhaltig sei. Wir sind damit zu dem letzten Punkte gekommen, den wir noch zu erörtern haben. Es handelt sich darum, diejenigen Sätze zu prüfen, die der Kritizismus als sein besonderes Erkenntnisgut dem spekulativen Idealismus gegenüber festhält und durch die er sich ihm überlegen fühlt. Es wird zu untersuchen sein, wie weit diese Sätze tatsächlich den spekulativen Idealismus widerlegen, Kritischer und spekulativer Idealismus. 51 oder wie weit etwa sie selbst durch Entwicklung der in ihnen enthaltenen Bestimmungen auf ihn als ihre eigene Konsequenz hinführen, d. h. wie weit der kritische Idealismus nicht kritisch, genug ist. Am bestimmtesten finden wir den Standpunkt des Kritizismus bei Cassirer in folgenden Worten ausgesprochen: „Die Erfahrung und das System der synthetischen Grundsätze, auf dem sie ihrer Möglichkeit nach beruht, kann nicht mehr von etwas anderem, Höheren abgeleitet und aus ihm, als einer Vernunft höherer Art, gerechtfertigt werden" (S. 371). Es wird hier also dem Denken ein höchstes Gegebenes, ein letztes Absolutes gezeigt, über das ihm kein Rückgang zu einem übergeordneten Prinzip mehr offen- steht. Nun stocken wir aber sogleich, da wir nicht ein, sondern zwei sehr verschiedene absolute Daten genannt sehen, erstens die Erfahrung und zweitens das System der synthetischen Grundsätze, auf dem sie beruht; und da man doch kaum zwei Absolute zu gleicher Zeit wird behaupten wollen, so bleibt zu fragen, woran nun das Denken als an das höchste Prinzip sich zu halten habe, an dieses System oder an jene Erfahrung. Sollte darauf geant- wortet werden, die beiden ließen sich eben nicht von einander trennen, man müsse sie in ihrer notwendigen Beziehung, in ihrer inneren Einheit auffassen, dann ist schon erwiesen, daß tatsächlich das Höchste weder die Erfahrung noch das System von Grund- sätzen, sondern vielmehr die Notwendigkeit sei, mit der sie auf- einander bezogen, die Einheit, in der sie enthalten sind. Diese Notwendigkeit und Einheit wäre dann aber gerade jene Vernunft höherer Art, von der doch, wie Cassirer meint, der Kritizismus nichts darf wissen wollen. Damit wäre dann auch die Unzuläng- lichkeit des Erkenntniszieles erwiesen, das ihm Cassirer zuschreibt, wenn er sagt, die einzige Notwendigkeit, die hier gesucht wird, sei die. Notwendigkeit in der Erfahrung, nicht die Notwendigkeit der Erfahrung selbst. Denn wenn doch nach den Bedingungen der möglichen Erfahrung gefragt werden soll, so heißt das: was muß notwendig vorhanden sein, damit Erfahrung möglich sei? Und bei dieser Frage handelt es sich offenbar um die denknot- wendige Deduktion der Erfahrung als solcher aus den durch den denkenden Geist geforderten Voraussetzungen ; die abstrakte Unter- scheidung zwischen „möglich" und „notwendig", wie sie hier der Kritizist macht, hat ihre Geltung nur innerhalb der Vorstellungs- sphäre von sinnlichen Gegenständen und erweist sich, wo es sich 52 Georg Lasson, um die wissenschaftliche Erörterung der Begriffe handelt, der inneren Dialektik der geistigen Wirklichkeit gegenüber unzu- reichend. In dem System der Gedankenbestimmungen, durch die dem Geiste die Erkenntnis möglich wird, muß der Erfahrung ihr notwendiger Platz nachgewiesen werden, es sei denn, daß man der reinen Vernunft die Autonomie, die Kant ihr vindiziert hat, wieder entziehen will. Es zeigt sich hier wieder, welch ein Hindernis für die konsequente Durchbildung der kritischen Philo- sophie darin liegt, daß Kant am Anfang seiner Kritik der reinen Vernunft sich nicht auf seinen eignen, sondern auf den Stand- punkt gestellt hat, den er aufzulösen beabsichtigte. Die Annahme, als ob es keine andere als sinnliche Erfahrung gebe und alle Er- kenntnis durch diese Erfahrung begrenzt sei, hat er durch den Hinweis auf die Erfahrung der Freiheit des Ich und auf die Er- kenntnis der reinen Vernunft von sich selber und von ihrer Be- griffswelt klar widerlegt; wenn er mit großer Hartnäckigkeit die Naturerkenntnis auf das durch die Bedingungen der äußeren Er- fahrung im Felde der bloßen Erscheinung festgehaltene Wissen beschränkt, so tut er das, um den Weg zur Erkenntnis der Ver- nunfteinheit und des Systems der geistigen Zwecke von jeder em- pirischen Bindung freizuhalten. Es ist ganz gegen die philosophische Intention Kants, wenn man mit Berufung auf ihn die Erkenntnis ausschließlich in der Sphäre der sinnlichen Erfahrung sucht. Statt des Grund- und Ecksteins, auf dem sich die Philosophie der Neu- zeit aufbaut, des Satzes: ich denke, mithin so bin ich, stellt man den Satz auf: ich erfahre, mithin so bin ich. Aber man beachtet nicht, daß damit nur gesagt wird : ich denke mich als Erfahrungen machend; denn die Erfahrung ist ein im Denken erfaßtes und vor dem Denken zu rechtfertigendes Phänomen. Sagt man dagegen, daß die Erfahrung nicht mehr von etwas Höherem abgeleitet werden könne, so erklärt man sie für das Absolute, dem Denken als Gesetz Aufgelegte und von ihm gehorsam Anzuerkennende. „Da liegt der Fels, man muß ihn liegen lassen; zuschanden haben wir uns schon gedacht u. Das aber ist dogmatischer Empirismus, nicht kritischer Idealismus. Die sinnliche Erfahrung kann sowenig Ausgangspunkt und Richtschnur für das Denken sein, daß im Gegenteil sie als solche nur durch das Denken zur Geltung kommen kann. Ob etwas, wovon versichert wird, es sei eine Erfahrung, wirklich eine Erfah- rung ist, kann immer nur die Philosophie entscheiden. Vorgestellt Kritischer und spekulativer Idealismus. 53 werden kann es immer als eine Erfahrung; aber darnm ist es als solche noch nicht erwiesen. Deshalb kann auch nur die Philosophie den Begriff der Erfahrung, seinen Geltungsbereich und sein Ver- hältnis zu den andern Momenten der Erkenntnis entwickeln; oder vielmehr dieser Begriff wird selbst vor dem philosophischen Denken sich als ein Moment erweisen, das isoliert gar nicht bestehen kann, sondern im organischen Zusammenhange des begreifenden Wissens selbst eine Durchgangsstufe bedeutet. Cassirer meint, die kantische Kritik habe keine Antwort auf die Frage, „wie die Momente, aus denen die Erkenntnis als Ganzes besteht, in ihrer Verschmelzung den primitiven Inhalt der Erfahrung aus sich hervorgebracht haben". Denn das einzige Datum, auf das sich das Begreifen und "Wissen stützt, sei eben die notwendige Bezogenheit dieser Mo- mente (S. 7). Aber daß sie notwendig bezogen sind, schließt ihre notwendige Unterscheidung in sich ein; sie sind sich also für den Gedanken ebenso „ursprünglich fremd" wie untrennbar „zusammen- gehörig", und gerade hier tut sich das Problem für die Philosophie auf, das der Kritizismus dadurch nicht beseitigt, daß er einfach die Dualität von Stoff und Form der Erkenntnis als die Bedingung des Erfahrungswissens proklamiert. Cassirer gibt freilich zu, daß auch Kants kritische Theorie „in der transzendentalen Einheit der Apperzeption einen höchsten Einheitsbegriff besitze, auf den sich alle Elemente der Erkenntnis, die Formen der Sinnlichkeit wie die Kategorien des reinen Verstandes gleichmäßig beziehen" (S. 371), meint aber, daß von diesem, wie Kant sagt, höchsten Punkte, an den sich die Transzendentalphilosophie anknüpfen läßt, niemals die Vielheit der Formen deduktiv hergeleitet werde. Wie- weit Kant das begrifflich und methodisch für ungangbar gehalten, wieweit nur er es nicht mehr auszuführen vermocht hat, darüber brauchen wir hier nicht zu reden; im Vorigen ist ja die Sprache schon darauf gekommen. Wenn aber Cassirer in einer Weise, die als Modifikation der alten Anlagentheorie erscheint, eine oberste Einheitsfunktion der Vernunft mit der Begründung ablehnt, daß sich „die Einheit der Apperzeption als ein Ineinander verschiedener Erkenntnisfunktionen darstellt, von denen keine die erste und keine die letzte ist, weil sie sich alle korrelativ durchdringen" (S. 371), so wäre daran zu erinnern, daß er gerade nur die eine Funktion übersehen hat, die er und alles philosophische Denken beständig übt, die Funktion nämlich, mit der jenes gegenseitige Sichdurch- dringen der verschiedenen Erkenntnisfunktionen erkannt wird. Diese 54 Georg Lasson, wird man doch wohl als die umfassende und alle übrigen be- stimmende ansehen müssen. So wenig also die Erfahrung selbst für den absoluten Aus- gangspunkt der Philosophie wird gelten können, so wenig auch das System der synthetischen Grundsätze, auf denen sie ihrer Mög- lichkeit nach beruht ; denn über beiden muß notwendig eine sie be- gründende höhere Einheit gedacht werden. Zwar meint Cassirer: „die Einheit der wissenschaftlichen Erfahrung ist das Ganze, das aus seinen Teilen nicht aufgebaut zu werden braucht", das „zu- nächst nur als faktische Einheit, als das Faktum der Wissenschaft gegeben" sei, und spricht von ihm als „dieser reinen Mannigfaltig- keit der Grundformen der Erkenntnis, die nur als einfache Tat- sächlichkeit aufgewiesen werden kann" (S. 370). Aber es scheint doch zweifelhaft, ob diese Vorstellungen vor der nüchternen Be- trachtung der Wirklichkeit, geschweige vor dem kritischen Be- griffe bestehen können. Das Faktum der Wissenschaft ist weder als ein Ganzes, noch als ein Einheitliches gegeben, sondern als eine schier unübersehbare Menge der disparatesten Wissenschaften. Ihre Verschiedenheit ist so groß, daß man für die zunächst rein empirisch aufgenommenen Gattungen der Wissenschaft sogar ver- schiedene Logiken konstruiert, die Logik der Naturwissenschaft von der Logik der Historie unterscheidet, wobei dann drittens noch eine Logik der sich selbst erkennenden Vernunft übrig bleibt. Daß also eine Mannigfaltigkeit der Grundformen der Erkenntnis tatsächlich aufgewiesen werden kann, würde danach zutreffen ; mit welchem Rechte sie als „reine" Mannigfaltigkeit zu bezeichnen wäre und woher sie als ein Ganzes zu gelten hätte, bleibt aber völlig dunkel, solange man nur auf das Faktum der Wissenschaft reflektiert. Die einzige Einheit, die sich da feststellen läßt, ist das Prinzip einer Beziehung zwischen Bewußtsein und Gegenstand; aber dies Prinzip kann man nicht das Ganze der Wissenschaft oder der Erkenntnis oder der Erfahrung nennen. Die Synthese, die der Wirklichkeit wie dem Gedanken den Charakter der To- talität, der konkreten Einheit gibt, kann niemals in einem bloßen Prinzip, einem abstrakten Gesetz, einer formalen Beziehung, son- dern nur in dem schöpferischen Subjekte gefunden werden, das sich selbst und sein Anderes zugleich setzt, trennt und eint; der Kritizismus mag sich dagegen sträuben, aber er kann es nicht widerlegen, daß von seinen Prämissen aus der Fortschritt not- wendig zu dem absoluten Idealismus führt. Kritischer und spekulativer Idealismus. 55 Fragt man sich, weshalb der Kritizismus sich gegen diese Konsequenz sträubt, so bleibt die einzige Erklärung dafür die, daß sich das Denken von der in ihm selbst empirisch vorgefundenen Trennung zwischen Bewußtsein und Gegenstand nicht losmacht. Es findet zwar in sich auch die Identität und kann es nicht leugnen, daß der Gredanke selbst die Einheit von Sein und Denken ist; aber es kann sich zu dem Wagnis nicht entschließen, seiner eigenen Freiheit und Souveränität sich zu bedienen und sich von jeder andern Bestimmtheit freizuhalten, als die es sich selbst gibt. Und dabei ist doch dieses . Wagnis in jedem kritischen Akte der reinen Vernunft schon enthalten. Weil aber das Denken auf die ihm vertraute Dualität nicht verzichten will, so gelangt es auch, wo es die Einheitsfunktion bestimmen möchte, immer nur bis zu Be- stimmungen, die den unversöhnten Dualismus noch in sich tragen wie Beziehung, Gesetz, Prinzip, Bedingung, Regel, Grundsatz, wo ganz deutlich eine Polarität zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen festgehalten wird, die beide zu unwirklichen Abstrak- tionen macht. Insbesondere ist es die Meinung, daß die Vernunft, weil sie der Inbegriff des Allgemeingiltigen und Notwendigen ist, im Aufstellen von Gesetzen und im Aufzeigen gesetzlicher Zu- sammenhänge sich erschöpfe. Selbst die Hegeische Auffassung meint Cassirer so ausdrücken zu können, daß ihm das Objekt als der Ausdruck und die Zusammenfassung von Gesetzen gelte, die das Wesen des Geistes selbst und seiner Funktionen ausmache (S. 288). Aber man müßte das Wort „Gesetz" schon in so er- weitertem Sinne brauchen, daß von seiner eigentümlichen Bedeu- tung nichts mehr übrig bleibt, wenn man die Vernunft und Wirk- lichkeit, wie der absolute Idealismus sie versteht, als ein gesetz- mäßiges Kompositum annehmen wollte. Der Dichter darf, wenn er auf die geprägte Form hinweist, die lebend sich entwickelt, von dem „Gesetze" sprechen, „wonach du angetreten". Der methodische Denker wird hinzufügen, daß dies Gesetz vielmehr als die Idee bezeichnet werden müsse, die das innere Leben des Individuums aus- macht, während unter dem Ausdrucke Gesetz ein gegen das Indi- viduelle gleichgiltiges Allgemeines verstanden werden muß. Des- halb \ erschwindet die Vorstellung des Gesetzes, die für die mathe- matische Physik in der Tat alles bedeutet, bereits bei der An- schauung des Organismus, und macht dem immanenten Zwecke, der Seele, dem Begriffe der Einheit von Form und Inhalt Platz. Goethe hat diese höhere Notwendigkeit, der es übrigens sehr gleich- 56 G-eorgLasson, giltig sein kann, ob man sie logisch oder metaphysisch nennt, rein erfaßt, wenn er sagt : „was ist das Allgemeine? — der einzelne Fall." Und erst wenn die Vernunft als das Vermögen erkannt ist, die Notwendigkeit des Begriffs, die Lebendigkeit der Idee, nicht aber nur die Notwendigkeit der gesetzlichen Beziehung und das Schema der regulativen Prinzipien zu entwickeln, ist der Standpunkt der reinen, von jeder Fremdherrschaft befreiten Vernunft erreicht. Daß der Kritizismus gerade in seinen modernen Gestaltungen diesem Ziele sich fortschreitend nähert, wer wollte das verkennen? Immerhin zieht er sich noch immer selbst die Schranke mit seiner Hypothese eines ursprünglich der Vernunft entgegenstehenden und ihr bei aller Annäherung doch zuletzt immer fremdbleibenden Mo- mentes, einer „Materie der Erkenntnis" oder eines „Materials, das die Erkenntnis vor sich hat" (S. 365), von dem er zwar zugibt, daß es „sich durch die Formen der Erkenntnis als begreiflich er- weist", aber zugleich behauptet, daß es „wenn es in diesen Formen faßbar ist, doch niemals vollständig aus ihnen abgeleitet werden kann" (S. 365). Diese Behauptung wird man getrost als reinen Dogmatismus bezeichnen können, dessen Härte nur dadurch ge- mildert wird, daß der ganze Gegensatz von Materie und Formen der Erkenntnis rein fiktiv ist, weil die Materie selbst in jedem Falle bereits ein Begriff, d. h. eine Form der Erkenntnis ist. Wie oft hat man sich gegen die Ungerechtigkeit des Vorwurfs erregt ver- wahrt, den Hegel der Erkenntnistheorie macht, daß sie die Er- kenntnis als ein Operieren mit Instrumenten ansehe, mit deren Hilfe das Denken sich des gegen sie ursprünglich indifferenten Gegenstandes bemächtigen wolle. Und wird dieser Vorwurf nicht durch solche abstrakte Unterscheidung zwischen einer Materie der Erkenntnis und den Formen, die sie wohl begreiflich, aber niemals vollständig in ihrer Notwendigkeit erkennbar machen können, di- rekt bestätigt? Gewiß, der Kritizismus hütet sich heute, von dem Ding an sich, oder gar von den Dingen an sich zu sprechen, und hat das hypothetische Etwas, das er außer dem Geiste, von dem offenbar alle „Formen" der Sinnlichkeit herstammen, noch behaupten zu müssen glaubt, auf den Begriff der Unbestimmtheit selbst re- duziert. Aber eben diesen Begriff will er der bestimmenden Macht des Begriffs entzogen und als ein Unnahbares und Absolutes fest- gehalten wissen; es ist von selbst klar, daß von dieser Grundvor- aussetzung aus er jedes System der Identität von vornherein als durch den unaufhebbaren Dualismus zwischen Form und Materie Kritischer und spekulativer Idealismus. 57 zur Unfruchtbarkeit verurteilt ansehen muß. Aber der Fehler liegt in dieser Grundvoraussetzung; denn vielmehr wird das Unter- nehmen, mit allem Scharfsinn des vernünftigen Denkens die Ra- tionalität des Daseins eines schlechthin Irrationalen erweisen, also im selben Atemzuge behaupten zu wollen, das Irrationale sei rational und es sei doch nichts als schlechthin irrational, immer unfruchtbar bleiben müssen. Solch ein metaphysisches Irrationales paßt in den konsequent durchgeführten kritischen Idealismus nicht hinein. i Gewiß, der Kritizismus stellt das Irrationale nur als den un- bestimmten Anfang an die unterste Stelle des geistigen Lebens und^ kommt dem absoluten Idealismus ganz nahe in der Vorstellung einer Idealisierung des Realen, die mit der Realisierung des Idealen identisch ist. Aber indem er dem Realen eine Basis gibt, die das Geistige, Ideale schlechthin ausschließt, hält er nicht bloß dem naturalistischen Empirismus eine Hintertür offen, der sich auf dem Boden der Naturwissenschaft für unangreifbar hält und sich gegen die andern Wissenschaften souverän gebärdet, sondern er fordert auch förmlich dazu auf, im System des Idealismus das Irrationale zu stärkerer Geltung zu bringen. Denn schließlich liegt es in dem Wesen der Idee selbst, daß sie da, wo sie angefangen hat, auch wieder endet; und so stellt sich das Irrationale notgedrungen da wieder ein, wo der Kritizismus die Summe seiner Arbeit zieht und das Verhältnis der Bezugssysteme feststellt, die er entfaltet hat. Da ergibt sich denn, daß jenseits der an die sinnliche Erfahrung geknüpften Urteile sich Gebiete von geistigen Inhalten befinden, über deren Wirklichkeit und Wahrheit das methodische Denken nichts entscheiden kann ; sie bleiben gerade darum irrational, weil ihnen der Ansatz einer irrationalen Materie fehlt, an den der Kri- tizismus alle Erkenntnisfunktionen gebunden hält. Die Sphären also, in denen der Geist wesentlich bei sich selber und in seiner Freiheit ist, vor allem die Sphäre des Glaubens und der Religion, bleiben, auch wenn sie formell logisch sich systematisieren lassen, doch nach ihrem Grunde und Gehalte dem vernünftigen Denken unzugänglich und stehen als selbständige Sphären neben ihm. Dieser Standpunkt empfahl sich den Kindern des nun zu Ende gehenden Zeitalters, weil er ihnen erlaubte, sich gegen die höchsten Lebens- fragen indifferent zu stellen, jedem einzelnen zu überlassen, was er etwa von den überirdischen Realitäten denken mochte, und sich ein gutes Gewissen zu machen, wenn sie sich möglichst außer Be- 58 Georg Lasson, Kritischer und spekulativer Idealismus. rührung mit dem Gottesgedanken und dem Leben der Frömmigkeit hielten. Heute bietet er denen eine bequeme Handhabe, die positiv sich dem Irrationalen als dem Üb er vernünftigen zuwenden und unter Verachtung von Vernunft und Wissenschaft in die Bahnen Sweden- borgs und Cagliostros, in die Praxis der Yoga oder der exercitia spiritualia wieder einlenken. In philosophischer Methodik nimmt diese Bewegung die Form an, daß sie die Rückkehr hinter Kant zu Plato, die Abkehr vom Denken zum Erlebnis fordert. Das Gefühl der Unbefriedigtheit, das die Menschen aus der Freiheit der Gedanken in solche vorstellungsmäßige Unklarheit zurückfallen läßt, vermag der Kritizismus als solcher nicht zu bannen; denn er erhebt gerade die Unmöglichkeit der Befriedigung zum Prinzip. Aber in ihm selbst lebt der Drang des Gedankens, der nicht rück- wärts, sondern vorwärts weist. Der Weg, den er öffnet, führt nicht hinter Kant und den kritischen Idealismus zurück, sondern mit ihm und über ihn hinaus vorwärts zu dem absoluten Idealismus der reinen und darum ebenso kritischen wie spekulativen Vernunft. In ihm erschließt sich dem methodisch denkenden Geiste sein Ur- quell und seine Heimat, in ihm ist er zur Freiheit und zum Ge- nüsse seiner selbst gelangt, in ihm erfaßt er sich selbst als das begriffene und das begreifende Universum. Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Von Privatdozent Dr. Aloys Müller, Bonn. Das Problem, das die folgenden Ausführungen mit Rücksicht auf seine Gestaltung in den Wissenschaften anfassen wollen, ist das Problem des Verhältnisses von Gegenstand und Methode. Die Methode, mit deren Hilfe eine Wissenschaft den Nachweis der Geltung ihrer Erkenntnisse führt, ist ohne Zweifel typisch für diese und nur für diese Wissenschaft. Die Wissenschaft kann deshalb durch sie charakterisiert werden. Aber der Logiker möchte gern tiefer schauen und möchte wissen, worin die Verschiedenheit der Methoden ihren Grund hat. Sie kann nun auf l nichts anderem beruhen als auf der Verschiedenheit der Gegenstände. Eine Me- thode allein ist ein Unding, ein in die Luft zu bauendes Haus; sie ist immer nur mit Rücksicht auf einen Gegenstand. Der Gegenstand wählt sich gleichsam die Methode aus. Ob eine Me- thode angewandt werden kann, hängt von der Beschaffenheit des Gegenstandes ab. Die Methode ist vom Gegenstand bedingt. Man verdeckt dieses Verhältnis, wenn man sagt, das Ziel einer Wissenschaft bestimme die Methode. Als ob das Ziel etwas Willkürliches gegenüber dem Gegenstand sei, das man nach Belieben wechseln könne! Das Ziel ist selbst vom Gegenstand bestimmt. Einem Gegenstandsbereich gegenüber gibt es nur ein Ziel, das, wenn man überhaupt Wissenschaft will, vom Gegenstand gefordert und durch die Methode erreicht wird. Kann das Verhältnis von Gegenstand und Methode nun nicht anders sein, als wie wir es eben beschrieben haben, dann muß es logisch möglich sein, eine Umgrenzung der Wissenschaften vom materialen Standpunkt aus zu geben. Dann kann eine Wissen- schaft nicht ausschließlich vom formalen Gesichtspunkt aus ver- 60 Aloys Müller, standen werden, nicht einmal primär von ihm aus; das primäre Moment, das sie charakterisiert, ist vielmehr ihr Gegenstand, das sekundäre ist die Methode. Dann ist es auch unmöglich, daß zwei Wissenschaften denselben Gegenstand haben und sich nur formal unterscheiden. Unser Problem stellt uns deshalb vor zwei Aufgaben. Wir müssen erstens versuchen, die Wissenschaften von den Gegen- ständen her zu scheiden. Wir müssen zweitens zeigen, wie die typischen Methoden der Wissenschaften von ihren Gegen- ständen bedingt sind. Wenn unsere Untersuchungen also auch aus dem Gedankenkreise Rickerts herausgewachsen sind, so gehen sie doch zunächst insofern über ihn hinaus, als sie sich auf die Gesamtheit der Wissenschaften beziehen. Daß sie dann fernerhin Umprägungen nötig machen, ist dem weiter nicht verwunderlich, der weiß, daß auch die wissenschaftlichen Gedanken an sich nichts sind, sondern immer nur etwas inbezug auf die Wahrheit, der sie dienen. I. Die Strukturwissenschaften. Wir wollen unter Gegenstand alles verstehen, was Subjekt eines Urteils werden kann, und das auch nur, insofern es Subjekt eines Urteils ist. Allen Gegenständen, denen die Hauptarbeit der Wissenschaften gewidmet ist, legen wir Wirklichkeit bei und lassen sie sich durch die Form ihrer Wirklichkeit unterscheiden; von den nichtwirklichen Gegenständen sprechen wir weiter nicht. Dann zerfällt die Gesamtheit der (wirklichen) Gegenstände in drei Klassen: die sinnlichen, die übersinnlichen und die unsinnlichen Gegenstände. Als sinnliche Gegenstände bezeichnen wir alle Gegenstände der tatsächlichen oder möglichen Wahrnehmung und Erfahrung. Hierher gehört also zunächst das, das wir durch unsere Sinne und ihre Erweiterung, die Instrumente, wahrnehmen können. Ferner die psychischen Vorgänge, die ja auch Gegenstände der Erfahrung sind. Aber auch alles das müssen wir mitzählen, was zwar nur hypothetisch angenommen, aber als zu derselben Wirklichkeit dieser Gegenstände gehörig betrachtet wird, z. B. Atome, Elektronen, Erbmasse, das unbewußte Psychische. Alle sinnlichen Gegenstände besitzen die Wirklichkeitsform des zeitlichen realen Seins. Zu den übersinnlichen Gegenständen rechnen wir solche, zu deren Annahme man, von den sinnlichen Gegenständen ausgehend, durch Schlüsse kommen kann, die der Erfahrung zu ihrer Deutung Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft 61 unterlegt werden, die selbst aber prinzipiell niemals Gegenstände der Erfahrung sein können. Als Beispiele nenne ich das Ding an sich, die Seele, die absoluten Raumfaktoren. Die Wirklichkeitsform dieser Gegenstände bedürfte noch der genaueren Erforschung. Die unsinnlichen Gegenstände zerfallen in zwei scharf ge- schiedene Klassen, die lediglich durch* den Gegensatz zu den beiden bereits genannten Klassen zusammengehalten werden, die man aber vielleicht besser als zwei selbständige daneben setzte. Zu der ersten zählen wir Gegenstände wie die mathematischen (Zahl, Linie, Fläche, euklidischer Raum usw.). Auch die Relationen ge- hören dazu. Ihre Wirklichkeitsform ist das zeitlose ideale Sein. Den zweiten Bereich der unsinnlichen Gegenstände bilden die Werte, d. h. alle die Gegenstände, von denen man kein Sein, son- dern ein Gelten aussagen muß. Ihre Wirklichkeitsform ist also das zeitlose Gelten. Wir lassen es dahingestellt, ob unsere Einteilung der (wirk- lichen) Gegenstände vollständig ist. Man sieht also, wie sich die gesamte Gegenstandswelt in ein- zelne Bereiche auseinanderlegen läßt, die durch ihre Wirklichkeits- form fest umrissen sind. Dadurch lassen sich den Bereichen Wissenschaften zuordnen. Auf zwei Dinge ist dabei wohl zu achten. Es kann zunächst im Laufe der Geschichte aus praktischen Gründen vom Material her eine Unterteilung der Gegenstände eines Bereiches erfolgen, so daß eine Wissenschaft in mehrere Einzel- wissenschaften zerfällt, die sich aber zu einer großen Wissenschaft zusammenfügen. Ein bekanntes Beispiel bietet die Naturwissen- schaft. Es ist aber auch möglich, daß eine Wirklichkeitsform spezialisiert wird, so daß auf diese Weise mehrere Wissenschaften entstehen, die natürlich auch miteinander verwandt sind. So ist es z. B. mit der Mathematik und der Relationstheorie. Dann ver- hält sich die eine Wissenschaft zur anderen wie ein besonderer Fall zum allgemeinen ; der besondere Fall tritt ein, wenn die Gegen- stände des allgemeinen gewissen Bedingungen unterworfen sind. So hätten wir denn nun schon der Gegenstandstheorie als der Wissenschaft, die die Gegenstände im allgemeinen untersucht, ferner der Mathematik und der Relationstheorie ihre Plätze an- gewiesen. Der Naturwissenschaft teilen wir den Bereich der sinnlichen Gegenstände zu. Jetzt verstehen wir vom Gegenstand her, daß die Naturwissenschaft phänomenologisch arbeiten muß, daß sie 62 Aloys Müller, erkenntnistheoretisch neutral ist1). Sie fragt sich nicht, was das Physische und Psychische im Grunde seien, ob beides eins oder beides verschieden ist, in welchem Sinne eins oder in welchem Sinne verschieden. Würde sie so fragen, so würde sie in den Be- reich der übersinnlichen Gegenstände hinübergreifen, der einer anderen Wissenschaft zufällt. Jetzt verstehen wir ferner vom Gegenstand her, daß die Psychologie auch eine Naturwissen- schaft ist. Das Psychische besitzt dieselbe Wirklichkeitsform zeit- lichen realen Seins wie das Physische, und deshalb, weil das so ist, muß die Psychologie dieselben allgemeinen Methoden brauchen wie die sonstigen Naturwissenschaften. Der Philosophie fallen die Gebiete der übersinnlichen Gegen- stände und der absoluten Werte zu. Der Platz der Theologie richtet sich nach der logischen Bestimmung ihres Gegenstandes, die die verschiedensten Formen angenommen hat. Es ist ohne weiteres verständlich, daß sich in der Praxis auch Mischgebiete herausgebildet haben, die Gegenstände verschie- dener Bereiche zusammenfassen. Als solche Mischgebiete werden sich wohl in der Hauptsache die Gegenstände der Gesellschafts- wissenschaften, der Pädagogik u. a. auffassen lassen. Dabei ist aber erstens zu beachten, daß man das Wissenschaftliche des rein theoretischen Denkens von dem Praktischen der Normen sorg- fältig scheidet, und zweitens, daß das im folgenden Abschnitt zu besprechende Historische gleichfalls in solche Mischgebiete ein- gehen kann. Unsere Bemerkungen sollen alles eher sein als eine logische Charakteristik der einzelnen Wissenschaften; die ist heute bei zahlreichen Wissenschaften noch kaum versucht. Sie wollen nur deutlich machen, daß es eine Gruppe von Wissenschaften gibt, die ihren Gegenständen in derselben allgemeinen Weise gegenüber- stehen. Alle die Wissenschaften, die wir durch diese Ausein- anderlegung der Gegenstandswelt finden können, haben die Auf- gabe, die Beschaffenheit, die Struktur ihres Gegenstandes zu erforschen. Es ist gar keine andere Aufgabe für sie erfindlich, sie ist die einzig mögliche, und in ihr sind sie alle einig. Wenn sie nun aber wirklich Wissenschaften sein wollen, dürfen sie sich 1) Ueber den phänomenologischen Standpunkt der Naturwissenschaft vgl. mein demnächst bei Fr. Vieweg & Sohn (Braunschweig) erscheinendes Buch „Die philo- sophischen Probleme der Einsteinschen Relativitätstheorie", erster Abschnitt. Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft 63 nicht damit begnügen, soweit es ihnen möglich ist, mit photo- graphischer Trene Einzelheiten neben Einzelheiten zu setzen, sondern müssen versuchen, Allgemeines über ihre Gegenstände auszusagen. Darum nennen wir sie Strukturwissenschaften und bezeichnen ihre Methode als generalisierend. Später wird uns klar werden, wodurch die logische Struktur dieser Gegenstände die generalisierende Methode möglich macht und erfordert. IL Das Irrationale und die historischen Wissenschaften. Überblickt man dieses Wissenschaftssystem, so sieht man mit einiger Überraschung, daß die historischen Wissenschaften im weitesten Sinne und nur sie darin fehlen. Wie kommt das? Haben wir die Ganzheit des Gegenstands- gebietes noch nicht erschöpft? Wir haben es in der Tat nicht. Aber nicht in dem Sinne, als ob sich neben die genannten Be- reiche noch ein anderer lege, so wie auf einer Landkarte neben einigen Ländern andere liegen; auch nicht in dem Sinne, als ob man noch eine Ganzheit eines Gegenstandsbereichs als eigenen Gegenstand aufstellen könnte (wie wir das schon getan haben), so wie man Europa im allgemeinen neben seinen Ländern betrachten kann. Das alles ist prinzipiell erledigt. Sondern die Ganzheit unseres Gebietes wird überdeckt von einem anders gearteten Gegenstandsbereich, so wie wenn ich über eine politische Karte von Europa die geographische oder die tiergeographische oder die Karte der Religionsformen drucke. Wie ist dieses neue Gegenstandsgebiet logisch zu charakte- risieren? An welchen Punkten hängt es mit dem ersten zusammen? Wie erwächst es gleichsam aus dem ersten? Denn daß es irgend- wie damit zusammenhängen muß, ist uns klar; sonst wäre die Täuschung, als hätten wir bereits das ganze Gegenstandsgebiet restlos erfaßt, nicht so groß gewesen. Wenn wir unser bisher betrachtetes Gegenstandsgebiet einmal genau besehen, so erkennen wir, daß es mit dem Begriffe der Struktur logisch noch nicht vollständig allgemein charakterisiert ist. Denn die sinnlichen Gegenstände stehen in der Zeit, und deshalb müssen wir als zweiten Begriff den des Zustandes hin- zunehmen. Der sinnliche Gegenstandsbereich hat nicht nur eine Struktur, sondern auch Zustände. Zustand hat stets Bezug auf Zeit. Von Zustand können wir 64 Aloye Müller, nur da sprechen, wo es den einen und den anderen Zustand geben kann, wo die Zustände wechseln. Wir sagen nur dann, ein Be- reich habe einen Zustand, wenn es auch noch andere Zustände für ihn gibt. Ist das aber nicht der Fall, so ist alles, was der Zustandsbegriff besagt, ohne Rest im Strukturbegriff enthalten. Wir fragen nun weiter : Ist der Zustand des sinnlichen Gegen- standsbereiches in jedem Augenblick nur von seiner Struktur ab- hängig? Ist der Zustand in jedem Augenblick rational ver- ständlich oder gibt es auch Irrationales darin? Ist das Be- sondere ganz vom Allgemeinen aus abzuleiten? Wir überlegen uns zunächst einen Augenblick, daß der Zu- stand auch von der Struktur abhängig ist. Die Naturwissenschaft stellt zwar allgemeine Gesetze auf, die ein Teil der Struktur sind, aber nach diesen allgemeinen Gesetzen geht eben der zeit- liche Ablauf auch vor sich. Ja im größten Teil der sinnlichen Gegenstandswelt geht der Ablauf nur danach vor sich. «Seinen schärfsten Ausdruck hat das in der Minkowskiwelt der Relativitäts- theorie gefunden. Wäre indes der Zustand ganz von der Struktur abhängig, dann gäbe es außer den Struktur- wissenschaf ten keine weiteren Wissenschaften mehr. Er ist aber nicht ganz davon abhängig, es gibt Irrationales im Zustand, also solches, was von den Strukturwissenschaften nicht erfaßt werden kann. Worauf beruht dieses Irrationale? Es beruht erstens auf dem Charakter des sinnlichen Gegen- standsbereiches. Die sinnliche Welt ist unerschöpflich oder unüber- sehbar. Dadurch kennt zunächst die Naturwissenschaft nicht alle Gesetze und hat so niemals die Mittel in der Hand, um den Zu- stand zu bestimmen. Aber selbst wenn sie diese Mittel besäße, wäre es ihr dennoch unmöglich. Denn um die Zustände in der Vergangenheit oder Zukunft zu bestimmen, muß man nicht nur alle Gesetze wissen, sondern auch einen Zustand kennen. So genügt z. B. die Kenntnis des Newtons chen Gravitationsgesetzes allein nicht, um die Konstellationen in unserem Sonnensystem für beliebige Zeitpunkte zu bestimmen, seine absolute Gültigkeit, die Geschlossenheit des Sonnensystems und die klassische Mechanik vorausgesetzt ; sondern dazu muß man irgend einen Anfangszustand kennen, von dem aus man rechnet. Einen solchen Zustand der sinnlichen Welt zu bestimmen, ist aber wegen der Unübersehbar- keit dieser Welt unmöglich. . Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 65 Würden wir aber zweitens auch diese Unmöglichkeit weg- nehmen, so wäre der Zustand doch nicht ganz von der Struktur abhängig, und zwar deshalb nicht, weil der Zustand der sinnlichen Welt mitbestimmt ist von den anderen Gegenstandsbereichen. Muß ich das beweisen, was wir tag- täglich selbst erleben, wenn wir nur hinsehen wollen? Ich wähle ein grobes Beispiel. Nehmen wir an, nach längerem Suchen fände ein in sehr bescheidenen Verhältnissen lebender Mathematiker den Beweis für den großen Fermatschen Satz ; theoretisch gesprochen: wir nehmen an, ein Sinnzusammenhang, als dessen letztes Glied der Sinn des Fermatschen Satzes erscheint, knüpfe sich an gewisse psychische Vorgänge in einem menschlichen Kopfe. Was sind die Folgen ? Er wird seinen Beweis veröffentlichen und der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften einsenden. Er erhält die Wolfs- kehlstiftung, bekommt möglicherweise einen Ruf als Universitäts- professor und kann sich nun in anderen Lebensformen einrichten. Zahlreiche Artikel und Schriften erscheinen zu dem Ereignis. Setz- maschinen, Buchbinder, Post werden dadurch in Bewegung gesetzt. Das läßt sich noch eine Weile so ausspinnen. Uns soll es nur ein Bild davon geben, wie im Ablauf der psychischen Welt direkt der Bereich der Werte durch den Sinn des Urteils, indirekt durch diesen Sinn die sonstigen Gegenstandsbereiche mitwirken, wie dann durch Vermittlung des psychischen Bereiches alles das auf den Ablauf in der physischen Welt Einfluß hat. Wir verstehen dieses Bild erst ganz richtig, wenn wir noch darauf achten, daß wir im voraus nicht wissen und nicht wissen können, mit welchen Werten und zu welchem Zeitpunkte das Reich der Werte sich mit dem Reiche der psychischen Gegenstände berührt. Ich will nicht noch auf das viel umstrittene Freiheitsproblem eingehen. Wer eine Willensfreiheit annimmt, wird ein weiteres irrationales Moment im Zustand finden. Aber mir scheint, daß dieses Moment schon in dem zuletzt genannten Irrationalen logisch mit enthalten ist. Denn die Freiheit äußert sich primär im An- erkennungsakt eines geltenden Sinnes; ein Wollen ohne vorauf- gegangene Erkenntnis kann unter keinen Umständen frei genannt werden. Wir sehen also, daß der Zustand der sinnlichen Welt von der Naturwissenschaft nicht ganz erfaßt werden kann. Wir können deshalb, vom materialen Gesichtspunkte ausgehend, auf die Notwendigkeit einer Wissenschaft schließen, die hier Kantstodien. XXVH. 5 66 Aloys Müller, ergänzend eintritt. Das darf natürlich nicht so verstanden werden, als ob sie das Irrationale rational mache. Das ist prinzipiell un- möglich. Sie erfaßt den von der Struktur nicht ganz bestimmten Zustand auf die einzige noch mögliche "Weise, indem sie seinen Wechsel in der Zeit beschreibt. Nur auf diese Weise geht das Irrationale in die Wissenschaft ein. Versteht man demnach unter Irrationalem alles das, was die Strukturwissenschaften nicht erfassen können, so beruht die Möglichkeit der histori- schen Wissenschaften auf der Irrationalität des Zu- standes der Welt. Wäre diese Irrationalität nicht vorhanden, so gäbe es keine Geschichtswissenschaft. Wir wollen uns nun zunächst die beiden Arten des Irratio- nalen etwas genauer ansehen. Das erste Irrationale ist tatsäch- lich vorhanden und wird sicherlich niemals ganz verschwinden. Aber es schrumpft gleichsam immer mehr ein, soweit es uns über- haupt interessiert, weil wir die Struktur der sinnlichen Welt stets besser kennen lernen. Prinzipiell, wenn man also an den Ab- schluß der Wissenschaft denkt, ist dieses Irrationale für die Naturwissenschaft nicht vorhanden. Es ist ein relatives Irra- tionale 1). Das ist bei dem zweiten anders. Es besteht offensicht- lich auch prinzipiell für die Naturwissenschaft, es ist ein abso- lutes Irrationale. Der besondere, von der Naturwissenschaft nur teilweise zu be- stimmende Ablauf der Welt ist also ein Gegenstandsgebiet eigener Art, das sich dem uns schon bekannten Gegenstandsgebiet über- lagert. Es fällt mit dem Gebiete der sinnlichen Gegenstände über- all dort zusammen, wo der Ablauf prinzipiell wenigstens von der Naturwissenschaft erfaßt werden kann. An allen anderen Stellen hebt es sich gleichsam darüber empor. Die zusammenfallenden Stellen wollen wir Koinzidenzen nennen. 1) Die relative Irrationalität deckt sich hier, wo wir nur von der Natur- wissenschaft sprechen, mit der Rickertschen Irrationalität, die in der extensiven und intensiven Unübersehbarkeit liegt. Man kann den Begriff selbstverständlich auch auf andere Gegenstandsgebiete ausdehnen. Alles, was man gewöhnlich irra- tional nennt, ist nur relativ irrational. Nicht als ob wir das jemals ganz erkannten. Ein unerkannter Rest bleibt uns Menschen immer; insofern ist es unerkennbar. Aber wir erhalten immer neue Erkenntnisse darüber. Unsere Erkenntnis des relativen Irrationalen verhält sich zur vollen Erkenntnis wie die Asymptote zur Kurve ; sie nähert sich ihr, ohne sie jemals zu erreichen. Unsere Erkenntnis des absoluten Irrationalen verhält sich zur vollen Erkenntnis wie eine Parallele zur Achse; sie besitzt von ihr stets denselben Abstand. Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 67 Die Koinzidenzen scheiden als Gegenstand der historischen Wissenschaften aus. Es gibt unter ihnen manche, die wir tatsächlich historisch behandeln müssen, z. B. die Entwicklungsgeschichte der Organismen. Aber das ist nur ein prinzipiell wenigstens vorläufiges Müssen, ein vorläufiger Er- satz für die strukturwissenschaftliche Behandlung. Je weiter die Naturwissenschaft fortschreitet, desto mehr schwindet der historische Ersatz, desto mehr relativ Irrationales wird weg- geschafft. Es ist nicht prinzipiell unmöglich, daß die Entwicklungs- geschichte der Organismen einmal ganz strukturwissenschaftlich dargestellt wird, wenn wir auch sicher sind, daß hier das histo- rische Ersatzmittel niemals ausscheiden wird. Aber als Gregenstand der historischen Wissenschaften kann das relativ Irrationale nicht in Betracht kommen, weil es eben prinzipiell Gegenstand der Naturwissenschaft ist. Als Gregenstand der Geschichtswissenschaften bleibt also das absolute Irrationale übrig, d. h. der von den Werten mitbestimmte individuelle Ablauf des Geschehens. Die prinzipiell histo- rischen Wissenschaften müssen sich deshalb auf Menschheitsgeschichte beschränken; alles übrige ist nur vorläufig historisch. So verstehen wir vom Gegenstande her, wie nur die Geschichte von Menschlichem Geschichte ist. Welches ist der Gegenstandscharakter des Gegenstandes der historischen Wissenschaften? Er hat sicherlich das zeitliche Sein. Es ist aber gut, sich zu erinnern, daß zeitlich Seiendes und Histo- risches durchaus nicht identisch sind. Soweit der Ablauf in der Struktur miterfaßt ist oder werden kann, ist er nicht historisch. Daß und in welchem Sinne der Gegenstand heterogen ist, werden wir später hören. Was ihn von allen anderen Gegenständen unter- scheidet, ist die Irrationalität. Alle anderen Gegenstandsgebiete haben die Kategorie der Eationalität, d. h. der Erfaßbarkeit durch allgemeine Erkenntnis, nur das Gebiet der Geschichtswissenschaften nicht. # Ist nicht die Kausalität auch eine Kategorie des Gegenstands- bereiches der Geschichtswissenschaft? Sickert unterscheidet be- kanntlich gesetzmäßige Kausalität und individuelle Kausalität, die also nicht gesetzmäßig ist, und findet die letztere im historischen Geschehen. Nun ist hier die gesetzmäßige Kausalität ohne Zweifel auszuschließen. Trotzdem gibt es ein Wirken im Gegenstands- bereich der Geschichtswissenschaften, aber dieses Wirken ist nicht 5* 68 Aloys Müller, kausal. Daß nämlich die Werte in der sinnlichen Welt wirken und ihren Ablauf ändern, ist eine tagtäglich festzustellende Tat- sache. Aber sie können nicht als Grlieder einer Kausalreihe gedacht werden, weil sie dann als psychische Grlieder gefaßt werden müßten. Wie sie wirken, ist ein Geheimnis l). Hier ragt etwas Neues in die kausale Notwendigkeit herein, etwas, das von ihr nicht mit- gefaßt und von ihr aus nicht verstanden werden kann, und gerade dieses Eingreifen des Neuen konstituiert die Geschichte als Gegen- stand einer eigenen Wissenschaft. Damit glaube ich auch den Gedanken Neeffs2) gerecht geworden zu sein. Wenn er mit dem Worte „Originalität" den Neuheitscharakter am historischen Ge- schehen bezeichnen will, so hätte ich gleichfalls nichts einzuwenden. Nur bleiben wir mit dem Gegensatz „Kausalität— Originalität" innerhalb der Grenzen der empirischen Wissenschaften. Wenn wir einmal das Irrationale als begründendes Moment der Geschichte erkannt haben, kann das Originale ohne die Fessel jenes Gegen- satzes als Charakterbezeichnung dienen. Auf diese Weise läßt sich nun auch ganz klar machen, daß durch das Individuelle allein der Sinn der Geschichte noch nicht gegeben ist. Sonst müßte jeder Ablauf, auch der ganz in der Struktur erfaßte, historischer Gegen- stand sein ; denn jeder Gegenstand einer absolut-heterogenen Wirklichkeit ist ein Individuum. Nur das originale Individuelle kommt in Betracht, also das individuelle Geschehen, in dem durch das Wirken der Werte etwas Neues gegenüber dem reinen Kausal- geschehen steckt. Wir können deshalb kurz als Gegenstand der historischen Wissenschaften den original-individuellen Ablauf der Welt nennen. Historisches Geschehen ist danach jenes Geschehen, das im naturwissenschaftlichen Sinne als Exemplar einer Gattung nicht ganz verstanden werden kann. Wir vermögen nun auch die Frage von Troeltsch3) zu be- antworten: „Sind das wirklich nur zweierlei Betrachtungsweisen desselben Objektes oder sind das nicht doch Teilungen innerhalb der Objekte, die zum einen Teil dem ersten und zum anderen dem zweiten Efklärungsprinzip unterliegen?" Kickert4) hatte ja be- 1) Vergl. darüber meine Schrift „Wahrheit und Wirklichkeit", S. 56 ff., 1913. Damals hatte ich den Wertbegriff noch nicht in seiner vollen Reinheit erfaßt. 2) Fr. Neeff, Kausalität und Originalität, 1918. 3) E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, 2, 720, 1913. 4) H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 2, S. 224, 1913. Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 69 hauptet: Die empirische Wirklichkeit „wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle." Es ist aber in der Tat nicht ein Gegenstand, der von verschiedenen Gesichtspunkten aus geschaut wird. Schon für Rickert selber trifft das nicht genau zu; denn er muß die "Wirk- lichkeit als wertfrei ansehen, um den Gegenstand der Natur- wissenschaft zu erhalten, die wert behaftete Wirklichkeit ist ihm aber Gegenstand der Geschichtswissenschaft.' Wir können noch sorgfältiger scheiden. Gegenstand der Naturwissenschaft ist die sinnliche Wirklichkeit und demnach auch ihr zeitlicher Ablauf, soweit er rational ist. Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist der original-individuelle Ablauf. Wir wollen zum Schlüsse noch ein Bild bringen, das den Gegenstand des naturwissenschaftlichen und des historischen Ab- laufes zu veranschaulichen vermag. Unter einer Brücke fließt ein Fluß. Von der innern Wölbung des Brückenbogens aus gehen eine Anzahl von Eisengittern bis dicht über die Oberfläche des Wassers. Wo die Oberfläche ruhig ist, berührt das Wasser das Gitter nicht. Aber bald hier, bald dort wirft sie eine kleine Welle, und diese Welle trifft einen Stab des Gitters. Wenn auch nur eine einzige Welle ein einziges Mal einen Gitter stab berührt, so ist von diesem Augenblicke an der Zustand des Flusses hinter der Berührungsstelle anders, als er sein würde, wenn die Berührung nicht stattgefunden hätte. Für den makrokosmischen Beobachter freilich nicht, aber für den mikrokosmischen. Der Fluß ist der Ablauf des Geschehens. Die Gitterstäbe sind die Werte. Die Berührungen eines Stabes durch eine Welle bedeuten die Zeitpunkte, wo ein Wert an psychischen Ablauf geknüpft wird und damit als wirkendes, wenn auch nicht kausal wirkendes Glied in den Ablauf des Geschehens eintritt und ihn ändert. Für den makrokosmischen Beobachter des Ganzen der Naturwelt verschwindet das, für ihn gibt es keine Geschichte. Aber der mikrokosmische Beobachter sieht an den Punkten der Naturwelt, wo es erkennende Wesen gibt, Geschichte. So erscheint die Geschichte wie winzige Kräuse- lungen auf einem gewaltigen Strome, und doch ringt sich in ihr der Sinn der Welt erst zur Bewußtheit durch. 70 Aloys Müller, III. Heterogeneität und Homogeneität. Wir haben unsere erste Aufgabe, die Wissenschaften von den Gegenständen her zu bestimmen, gelöst, soweit es in den Grenzen dieser kleinen Skizze möglich ist. Unsere zweite Aufgabe ist, zu zeigen, wie die allgemeinen Methoden von den Gegenständen be- dingt sind. Zu dem Ende müssen wir vorher die Begriffe der Hetero- geneität und der Homogeneität genauer analysieren. Um eine kurze Terminologie für diesen und die folgenden Abschnitte zu gewinnen, knüpfen wir an einen Begriff der Logistik an. Nach der Logistik bestimmt jede Satzfunktion1) eine Klasse oder Menge, d. h. die Gesamtheit der Werte, die sie bestätigen. Wir wollen die Klasse auch Umfang nennen. Umfang ist also die Menge der Subjekte, die durch eine Satzfunktion bestimmt wird. Unter Inhalt verstehen wir nun die Menge aller Prädikate, die von dem durch eine Satzfunktion festgesetzten Umfang gelten. Auch jeder einzelne Gegenstand, d. h. ein solcher, der nicht durch Klassenbildung entstanden ist, bildet einen Umfang, zu dem ein Inhalt gehört. Alle Prädikate, die einen Inhalt bilden, nennen wir die Teile dieses Inhalts. Ein Prädikat kann also gleichzeitig Inhalt und Inhaltsteil sein. Inhaltsteile sind auseinander ableitbar, sie stehen in notwendiger Verknüpfung — oder nicht. Im ersten Falle heißen sie gleichartige oder unechte Teile, im zweiten un- gleichartige oder echte Teile. Temperatur und Größe eines Körpers sind unechte, Größe und spezifisches Gewicht sind echte Teile. Wir wollen nun zunächst an zwei Beispielen die Merkmale der Heterogeneität und der Homogeneität aufweisen. Als erstes Beispiel nehmen wir die sinnliche Wirklichkeit. Wenn wir sie heterogen nennen, so wollen wir damit zwei Momente hervorheben: erstens hat jeder ihrer Gegenstände einen unüber- sehbaren Inhalt, zweitens ist jeder ihrer Gegenstände ein Um- fang, zu dem ein anderer Inhalt gehört. Dieses letztere Merk- mal beruht auf dem ersteren. Wäre der Inhalt jedes Gegenstandes nicht unübersehbar, dann wäre die Wahrscheinlichkeit größer, daß es absolut gleiche Gegenstände gebe. Der Heterogeneität der sinn- lichen Wirklichkeit ist nun aber eine Homogeneität übergelagert. Wenn auch jeder Umfang einen anderen Inhalt besitzt, so haben diese Inhalte doch unechte Teile. Die Folge davon ist, daß man 1) Vergl. Couturat in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1, 150, 1912. Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 71 Gegenstände mit gemeinsamen Teilen findet, daß also doch auch eine gewisse Homogeneität in der sinnlichen Wirklichkeit herrscht. Man stellt z. B. fest, daß immer dann, wenn man die Temperatur eines beliebigen Körpers um denselben Betrag wachsen läßt, auch die Größe des Körpers um einen bestimmten Betrag wächst. Alle diese Körper (Gegenstände) haben als gemeinsames Prädikat ihres Inhaltes also diesen Zusammenhang zwischen Größe und Temperatur. An zweiter Stelle betrachten wir die Wirklichkeit der mathe- matischen Gegenstände. In ihr gibt es absolut gleiche Gegen- stände x), d. h. nicht jeder ihrer Gegenstände ist ein Umfang, zu dem ein anderer Inhalt gehört. Die mathematische Wirklichkeit kennt auch keine unübersehbaren Inhalte. Die Beschreibung, die die Mathematik von einem ihrer Gegenstände gibt, ist notwendig und hinreichend, um diesen Gegenstand mit allen seinen Besonder- heiten zu bestimmen. Daß in dieser Wirklichkeit Inhalte mit ge- meinsamen Teilen bestehen, braucht wohl nicht eigens hervorgehoben zu werden. Die beiden Merkmale der Übersehbarkeit (bzw. Unübersehbar keit) und der Andersartigkeit be- stimmen durch ihre verschiedenen Kombinationen die Typen der Heter ogeneität und der Homogenei- tät. Die Andersartigkeit hat rein formal zwei Grenzfälle : erstens den Fall, wo keine gemeinsamen Teile vorhanden sind, zweitens den Fall, wo alle Teile gemeinsam sind. Dazwischen liegen die möglichen anderen Fälle. Wir wollen nun nicht durch Kombination alle Typen ableiten, die rein formal möglich sind. Einige davon sind vom inhaltlichen Standpunkte aus in sich unmöglich. So der Fall, daß keine gemeinsamen Teile vorhanden sind ; denn wenigstens den einen Teil, daß sie Inhalte sind, haben alle Inhalte. Übrigens lassen sich auch die formal abgeleiteten Kombinationen nach an- deren Gesichtspunkten noch unterteilen. Als die wichtigsten Kombinationen sehen wir die folgenden vier an. Eine Wirklichkeit besitzt absolute Heterogeneität, wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem ein anderer 1) Vgl. dazu H. Rickert, Das Eine, die Einheit und die Eins, Logos, ,2, 26, 1911/12 und meine demnächst erscheinende Schrift „Der Gegenstand der Mathe- matik mit besonderer Beziehung auf die Relativitätstheorie". 72 Aloys Müller, und unübersehbarer Inhalt gehört, und die Inhalte gemeinsame Teile haben. Wie wir wissen, ist die sinnliche Wirklichkeit ein Beispiel für diesen Typus. Eine Wirklichkeit besitzt relative Heterogeneität, wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem ein anderer und übersehbarer Inhalt gehört und die Inhalte gemeinsame Teile haben. Die Wirklichkeit der Werte hat u. a. diese Heterogeneität. Eine Wirklichkeit besitzt absolute Homogeneität, wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem derselbe Inhalt gehört und dieser Inhalt ein Minimum ist. Ein Beispiel ist das nur homogene Medium1). Eine Wirklichkeit besitzt relative Homogeneität, wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem nicht immer ein anderer und immer ein übersehbarer Inhalt gehört, und die Inhalte gemeinsame Teile haben. Wir haben bereits die Wirk- lichkeit der mathematischen Gegenstände als zu diesem Typus gehörig erkannt. Schließlich bemerken wir noch, daß, wenn eine Wirklichkeit lediglich einen einzigen Gegenstand besitzt, dieser Gegenstand von der Heterogeneität nur das Merkmal der Ubersehbarkeit (bzw. Unübersehbarkeit), und die Homogeneität nur insofern haben kann, als man seine Inhaltsteile als Gegenstände ansieht. Wir wollen nun an den drei Beispielen der Geschichtswissen- schaft, der Naturwissenschaft und der Mathematik das Heraus- wachsen der besonderen Formen der allgemeinen Methoden aus dem Gegenstande studieren. Dabei verstehen wir unter all- gemeiner Methode die Art des Erkenntnisstrebens, die durch das Ziel einer Wissenschaft oder durch das Verhältnis der Erkennt- nisse zum Gegenstand charakterisiert ist. IV. Die allgemeine Methode der Geschichtswissenschaften. Gegenstand der Geschichtswissenschaften ist, wie wir wissen, jdas Original-Individuelle, d. h. der Ablauf des Geschehens, soweit er von Werten mitbestimmt ist. Daraus ergibt sich die Unmög- lichkeit einer Anwendung der generalisierenden Methode in der Geschichtswissenschaft. Das ist ja gerade das begriffliche Merkmal des Irrationalen, daß man es nicht generalisierend fassen kann. Es gibt also keine allgemeinen historischen Erkenntnisse über den 1) Siehe den vorhin zitierten Aufsatz Rickerts. Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 73 historischen Gegenstand. Da Gesetze anch allgemeine Erkennt- nisse darstellen, so gibt es auch keine historischen Ge- setze. Gewiß ergeben sich durch das gleichmäßige Verhalten der Menschen gewisse Regelmäßigkeiten, gewisse Typen von Erschei- nungen in der Geschichte. Das sind aber keine historischen Ge- setze, sondern massenpsychologische Regelmäßigkeiten. Je mehr es sich um Massenvorgänge handelt, desto deutlicher heben sich solche Typen heraus, desto mehr tritt die Wirkung des Irratio- nalen zurück und das rein naturwissenschaftlich zu erfassende Geschehen in den Vordergrund. Am reinsten offenbart sich das Original -Individuelle in den Persönlichkeiten, und um so voll- kommener, je höher die Persönlichkeit über das allgemein Mensch- liche hinauswächst. Die Geschichte ist ein wundersames Gewebe von Irrationalem und Rationalem, dessen Fäden ganz zu verfolgen menschlichen Augen für immer versagt bleibt. Aber begrifflich müssen diese Dinge auseinandergehalten werden; historisches Ge- schehen ist nur das original-individuelle Geschehen. Am häufigsten wird unter den typischen Erscheinungen der Geschichte der Organismentyp auftreten, d.h. das Aufblühen und Absterben eines Gebildes. Er ist ja der auffallendste Typ alles Lebendigen im naturwissenschaftlich zu erfassenden Geschehen und bestimmt dadurch auch bis zu einer gewissen Grenze den Ab- lauf des historischen Geschehens. Die ausschließliche Einstellung auf diesen Typ charakterisiert die Auffassung der Geschichtswissen- schaft von Spengler1). Er dehnt diesen Typ so weit aus, daß er erstens das Eintreten der "Werte in die Wirklichkeit, das Irratio- nale, und zweitens sogar die Geltung der Werte mitumfaßt, und das ist der Grund, warum wir ihm hier einige Worte widmen müssen. Beides ist falsch, und nur von diesen beiden Gesichts- punkten aus läßt sich aus seinen Gedanken das Richtige heraus- schälen. Das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit ist nun einmal irrational. Freilich schafft das naturwissenschaft- lich zu erfassende Geschehen Dispositionen und bildet dadurch mitunter Regelmäßigkeiten, aber nicht der Zeitpunkt des Ein- tretens, nicht der Umfang und Inhalt der Werte und darum auch nicht die Folgen lassen sich strukturgesetzlich ableiten. Spengler versucht dies auch gar nicht, sondern er überträgt einfach einen 1) 0. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. I. Bd. 11.— 14. Aufl. 1920. 74 Aloys Müller, in seinen Grenzen wohlgesicherten Typ anf alles Geschehen, und sieht nicht ein, daß diese Übertragung nur dann gerechtfertigt wäre, wenn er nachweisen könnte, daß auch das Irrationale ge- setzmäßig zu verstehen ist. Daher finden sich in seinem Buche neben richtigen Charakterisierungen völlig falsche. Man denke z. B. bei seiner Behauptung vom Niedergang der abendländischen Wissenschaft an die Physik, die wohl niemals in so tiefgreifenden, fruchtbaren und folgereichen Gedankenkreisen gestanden hat, wie sie heute die Relativitätstheorie und die Forschungen über das Innere der Atome bilden. Diese ganze Auffassung wird aber erst möglich durch die zweite Verallgemeinerung, in der Spengler den Organismentyp auch auf die Geltung der Werte ausdehnt. Er sieht den eigenartigen Gegenstandscharakter der Werte nicht. Für ihn gibt es keine allgemeingültige, absolute Wahrheit 1). Er ist extremer Relativist und nur dadurch wird es ihm möglich, die Werte formell in den Gegenstandsbereich des naturwissenschaftlich zu erfassenden Ablaufes einzustellen und seinen Typen zu unter- werfen. Hier muß man ansetzen, wenn man seine Theorie der Geschichtswissenschaft an ihrer tiefsten und zugleich wundesten Stelle angreifen will. Schwer wird die Überwindung nicht, wenn es auch sicher ist, daß das Feuerwerk der letzten Konsequenzen der Theorie noch lange blenden wird. Man könnte zeigen, wie der Satz „Es gibt keine ewigen Wahrheiten" sich selbst wider- spricht; er mag richtig oder unrichtig sein, immer folgt daraus, daß es doch solche Wahrheiten gibt. Man fragt sich voll Er- staunen, wie es Spengler möglich macht, einen Standpunkt über den Kulturen zu gewinnen. Seine Theorie ist ja auch ein Er- zeugnis abendländischer Wissenschaft. Wenn nun alle Wahrheit und Wissenschaft nur für einen bestimmten Kulturkreis gilt, dann auch offenbar die seinige. Glänzender hat noch nie jemand in der Wissenschaft seine eigenen Gedanken selber widerlegt, als Spengler es getan hat. Wir halten also an der negativen Erkenntnis fest, daß die Geschichtswissenschaft keine Gesetzeswissenschaft sein kann. Wie erfaßt nun die Geschichte ihren Gegenstand, wenn sie es nicht generalisierend tut? Auch an dem original-individuellen Ablauf läßt sich vieles generalisierend betrachten. Aber das muß sie der Strukturwissenschaft überlassen. Was den Gegenstand zu ihrem 1) a. a. 0. S. 34, S. 58, S. 65. Strukturwissenechaft und Kulturwissenschaft. 75 Gegenstand macht, ist nicht dieses Allgemeine, das der Gegen- stand sogar mit Gegenständen gemeinsam haben kann, die überhaupt nichts Historisches besitzen, sondern es ist das Besondere, das Individuelle, das, was ihn von den anderen unterscheidet, das, was wegen der Irrationalität eben gar nicht anders denn als Individuelles verstanden und erfaßt werden kann. Die Geschichtswissenschaft muß also, wenn sie ihren Gegenstand erfassen will, auch abstrahieren, nur nicht in dem Sinne der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft sieht vom Individuellen ab und behält das Allgemeine, die Ge- schichtswissenschaft sieht vom Allgemeinen ab und behält das Individuelle. Dort ist die generalisierende Abstraktion, hier die individualisierende Abstraktion die Methode. Aber wohlverstanden: nicht bei allem individuellen Geschehen macht die Geschichtswissenschaft das so, sondern nur bei dem original-individuellen. Die Wirklichkeit des Original-Individuellen besitzt absolute Heterogeneität. Die vollständige Darstellung dieser Wirklichkeit ist für die Geschichtswissenschaft deshalb unmöglich. Gibt es aber hier keine Scheidung in Wesentliches und Unwesentliches? Ohne Zweifel kann man sie machen. Wenn ich in diesem Augen- blicke vom Schreibtisch aufstehen und zufällig sehen würde, daß ein Buch meiner Bibliothek nicht an seinem richtigen Platze ist und dadurch späteres Suchen erschwert wird, so würde ich es richtig einstellen. Dieses Geschehen wäre ein historisches Ge- schehen, aber es wäre der Geschichtswissenschaft höchst gleich- gültig. Wie trennt nun die Geschichtswissenschaft das Wesent- liche vom Unwesentlichen? Hier hilft ihr im Grunde dasselbe Moment, das ihr Gegenstandsgebiet überhaupt herstellt, das Irra- tionale. Das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit stellt etwas Neues in die Naturwelt hinein, es schafft langsam Gebilde, die ohne es nicht da wären, es macht eben, daß das histo- rische Geschehen auch von Werten gelenkt wird. Es ist die Ursache, daß wir nicht nur Natur, sondern auch Kultur haben. Historisch wesentlich nennt die Geschichtswissenschaft nun das, was nicht für ein Individuum, sondern für mehr oder weniger große Gemeinsamkeiten von Menschen bedeutsam ist, mit anderen Worten, was Beziehung auf Kulturgüter hat. Die allgemeine Methode der Geschichtswissenschaft ist also zweifach. Das Irrationale zwingt sie zur individualisie- 76 Aloys Müller. renden Abstraktion, zum Abheben des Individuellen von dem strukturgesetzlich nicht ganz erfaßbaren Ablauf; die absolute Heterogeneität zwingt sie zur isolierenden Abstraktion, zum Scheiden des historisch Wesentlichen vom Unwesentlichen. Die individualisierende Methode der historischen Wissenschafton ist nicht das, genaue Gegenstück zu der generalisierenden der Strukturwissenschaften. Denn während die generalisierende Me- thode schon dort, wo es nötig ist, die Heterogeneität überwindet und das Wesentliche heraushebt, tut die individualisierende Methode das nicht, und zwar aus dem einfachen Grunde nicht, weil das Individuelle eben der Ausdruck der Heterogeneität ist. Sie muß deshalb eine Ergänzung durch eine andere Methode, die isolierende, bekommen, die das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt. Es ist also nicht der Begriff der Kultur, der das historische Geschehen charakterisiert und der die individualisierende Abstraktion nötig und möglich macht, sondern das alles schafft das Irrationale. Aber in der vom Irrationalen bestimmten historischen Wirklichkeit hilft der Kulturbegriff die absolute Heterogeneität überwinden, macht also die Geschichtswissenschaft als Wissenschaft möglich. Weil nun aber das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit die Kultur hervorbringt, beruht letzten Endes auch diese Mög- lichkeit auf dem Dasein des Irrationalen. So sind beide Methoden vom Gegenstand her bestimmt, und auch von diesem Standpunkte aus wird das logische Wesen der Geschichtswissenschaften richtig bezeichnet, wenn man sie Kulturwissenschaften nennt. Noch ein Wort über die besondere Form, die die individua- lisierende Methode annimmt. Weil die Geschichtswissenschaft es mit dem original-individuellen Ablauf des Geschehens zu tun hat, die Induktion aber das bleibende Homogene erfassen will, so kennt die Geschichtswissenschaft eine Induktion im eigentlichen Sinne nicht. Es gibt also empirische Wissenschaft ohne Induktion. Weil nun aber die Vergangenheit vom Historiker nur in winzigem Aus- maße unmittelbar erlebt ist, so kann die Geschichtswissenschaft zu ihr nur in den Zeugnissen der Vergangenheit in Beziehung treten: sie muß als individualisierende Wissenschaft Zeugnis- wissenschaft sein. Somit haben wir den Rickertschen Gegensatz „Naturwissen- schaft und Kulturwissenschaft" erweitert in den Gegensatz „Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft", und zwar in zwingender Folgerichtigkeit aus dem Versuche heraus, Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 77 die Wissenschaften vom Gegenstände her zu bestimmen. Mir scheint zunächst, daß Struktur ganz gut das ausdrückt, was hier im Gegensatz zur Kultur gemeint ist und was Natur im engeren Rahmen bezeichnet. Struktur bedeutet zunächst das Ungemachte, Selbstgewachsene, das natürlich Seiende im Gegensatz zum Ge- pflegten, Geschaffenen der Kultur. Man spricht kaum von der Struktur einer Statue, wohl aber von der Struktur des Marmors. Und wenn das Wort einmal von Kulturdingen gebraucht wird, da meint es in der Regel Strukturwissenschaftliches, das ja mit allen Kulturdingen verknüpft ist. Struktur bezeichnet zweitens das Ruhende, das zeitlos Seiende im Gegensatz zum zeitlich Ab- laufenden der Kulturerscheinungen. Das Begriffspaar Struktur — Kultur behält hier auch dieselbe Aufgabe wie das Rickertsche Paar. Der Begriff Kultur ist auch hier das, was die Geschichts- wissenschaft als Wissenschaft begründet, indem es die Hetero- geneität ihres Gegenstandsbereiches überwinden hilft. Natur ist bei Rickert mit Gesetz untrennbar verbunden: Wo Natur, da Gesetz. Weil nun das Gesetz als Erfassung des Homogenen die Heterogeneität des sinnlichen Gegenstandsbereiches überwindet und so die Naturwissenschaft als Wissenschaft möglich macht, ist die Gegenüberstellung Natur — Kultur gestattet. Damit weist aber dieser Gegensatz schon über sich selbst hinaus. Denn in allen Gegenstandsgebieten mit Ausnahme des historischen gibt es Ge- setze. Wo Struktur ist, da ist Gesetz, und, so können wir hin- zufügen, wo Gesetz ist, da ist Struktur. Der Gegensatz Struktur — Kultur hat demnach denselben logischen Typus wie der engere Rickertsche Gegensatz Natur — Kultur, und somit bietet sich der Strukturbegriff als eine selbstverständlich verblaßte, aber doch treffende Erweiterung des Naturbegriffes zum Gebrauche in der Wissenschaftstheorie an. V. Die allgemeine Methode der Naturwissenschaft. Wir haben schon angedeutet, daß die allgemeine Methode der Naturwissenschaft (die das ausdrückt, was den Methoden der Strukturwissenschaft gemeinsam ist) generalisierend ist und auf dem Dasein von Homogenem beruht. Die generalisierende Methode nimmt nun in der Naturwissenschaft die besondere Form der In- duktion an. Wir dürfen aber, um das richtig zu verstehen, eine wichtige Unterscheidung nicht aus den Augen lassen. Die Gene- ralisationen der Naturwissenschaft werden erreicht nicht nur 78 Aloys Müller, auf dem Wege der Induktion, sondern auch durch Deduktion, Vergleich, Analogie, Intuition usw. Aber gerechtfertigt werden sie ausschließlich durch die Induktion. Die auf irgend eine Weise gefundene Bestätigung in der Erfahrung ist der einzige legitime Weg, auf dem letzten Endes die Geltung der natur- wissenschaftlichen Generalisationen erwiesen wird. Wir zerlegen unsere Ableitung der Induktion aus dem Gegen- standscharakter der sinnlichen Wirklichkeit in zwei Teile. An erster Stelle zeigen wir, wie sich aus der Struktur dieser Wirk- lichkeit die sogenannte Inhalt- Umfang-Relation (I-U-R) ergibt, an zweiter Stelle, wie die I-TJ-R eine notwendige Bedingung der Induktion ist. Der Zusammenhang, den wir hier beschreiben, ist von Zilsel1) aufgewiesen worden. Wir ändern seine Darstellung ein wenig ab. Man kann mehrere oder alle Gegenstände derselben Art zu einer Klasse zusammenfassen und nennt sie dann Glieder der Klasse. Im ersten Falle sprechen wir von immanenter Klassen- bildung und interessieren uns im folgenden nur für sie. Jede Klasse kann wieder als ein Gegenstand mit einem Inhalt be- trachtet werden. Es ist nur von vornherein nicht klar, was wir unter dem Inhalt einer Klasse verstehen sollen. An und für sich kann man zweierlei damit meinen: entweder faßt man alle In- haltsteile der Glieder zusammen oder nur diejenigen, die den Gliedern gemeinsam sind. Das erstere ist aber wegen der Hete- rogeneität der sinnlichen Wirklichkeit ausgeschlossen. So bleibt das zweite allein übrig. Um seine Rechtmäßigkeit einzusehen, braucht man nur zu überlegen, daß die gemeinsamen Inhaltsteile der Glieder ja alle Teile sind, die die Klasse als ein Gegen- stand besitzt. Wir fragen uns nun, wie sich Inhalt und Umfang bei imma- nenter Klassenbildung zu einander verhalten. Wenn ich zu einem einzelnen Gegenstande Ii Ui einen zweiten I2 U2 hinzufüge, so entsteht eine Klasse (Ii Ui I2 U2) als neuer Gegenstand, dessen Umfang man mit Ui -f U2, dessen Inhalt man aber, weil er nur die gemeinsamen Teile faßt, mit L I2 be- zeichnen kann. Ist, wenn wir unser Augenmerk auf die Anzahl der Inhalts- teile richten, Ii I2 größer, gleich oder kleiner als Ii ? 1) E. Zilsel, Das Anwendungsproblem, 1916. Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 79 Es kann nicht größer sein. Denn wenn selbst I2 größer als Ii ist, so kann doch, weil Ii L ja die g e m e i n s a m e n Teile be- deutet, Ii I2 höchstens gleich Ii sein. Ii L kann aber auch nicht gleich Ii sein. Ein Merkmal der Heterogeneität ist ja die Andersartigkeit, die besagt, daß jeder Inhalt auch Teile hat, die andere Inhalte nicht haben. Ii hat also auch andere Teile als L. Da nun Ii I2 die gemeinsamen Teile bedeutet, kann es nicht gleich Ii sein, sondern muß kleiner sein als Ii. Fügen wir nun zu (Ii Ui I2 U2) einen weiteren Gegenstand L Us hinzu, so können wir diese Betrachtung mit dem gleichen Ergebnis wiederholen. Das Ergebnis hat also allgemeine Geltung. Gehen wir umgekehrt von der Klasse aus und lassen Glieder weg, so nimmt der Inhalt ab. Es ergibt sich also schließlich die I-U-B,: Mit wachsendem Umfang nimmt der Inhalt ab und um- gekehrt. Betrifft die Inhaltsabnahme nun alle Teile in der gleichen Weise? Sie tut das nicht. Denn da es in der sinnlichen Wirk- lichkeit auch unechte Teile gibt, die bei Gegenständen derselben Art zahlreiche gemeinsame Teile erzeugen, so werden offensicht- lich die echten Teile in erster Linie von der Inhaltsabnahme be- troffen. Was nun aber hier die der Heterogeneität überlagerte Homogeneität tut, das kann ich bei immanenter Klassenbildung mit Absicht bei echten Teilen tun, nämlich einen echten Teil so fest- halten, daß die Inhaltsabnäbme ihn nicht betrifft. Wenn ich z. B. eine elastische Kugel oft unter dem Winkel von 30° wider eine feste Wand stoßen lasse, dann habe ich unter den unendlich vielen Gegenständen „Stoß der elastischen Kugel wider die feste Wand" diejenigen wirklich erzeugt, die den echten Inhaltsteil „unter dem Winkel von 300tf besitzen. Anstatt zu sagen, daß man einen In- haltsteil festhalte, kann man also auch sagen, man wähle aus einer Klasse Individuen unter einem bestimmten Gesichtspunkte aus, und diesen Gesichtspunkt liefert eben der festgehaltene Inhaltsteil. Um nun zu sehen, wie die Induktion auf der I-U-ß beruht, nehmen wir das Beispiel von vorhin. Ich lasse eine elastische Kugel beliebig oft wider eine feste Wand stoßen und wähle dann unter all den Gegenständen dieser Klasse diejenigen mit dem echten Inhalts teil „unter dem Winkel von 30° u aus. Dann wird sich zeigen, daß bei den ausgewählten Gegenständen stets außer diesem Teil noch ein weiterer Teil konstant geblieben ist, nämlich 80 Aloys Müller, das „Abprallen unter dem Winkel von 300a. Es treten also kon- stante Verknüpfungen von Inhaltsteilen auf. Weil nun nach der I-U-R die echten Teile in erster Linie von der Inhaltsabnahme betroffen werden, so müssen wir schließen, daß der festgehaltene Teil gar kein echter Teil ist, sondern mit dem anderen notwendig verknüpft ist. Wir schließen demnach auf Grund der I-U-R von der Konstanz einer Verknüpfung auf die Notwendigkeit, und das ist der Typus jedes Induktionsschlusses. Wende ich die I-U-R noch öfter auf die genannte Gegenstandsklasse an, so ergibt das schließlich den allgemeinen Satz, daß das Abprallen stets unter demselben Winkel wie das Aufprallen geschieht.. Wir sehen, daß jede Induktion ein System von immanenten Klassen- bildungen mit festgehaltenen Inhaltsteilen enthält. Sicher ist also nach dieser Analyse, daß jede Induktion auf der I-U-R beruht ; es fragt sich nur, ob sie darauf beruhen muß, ob also die I-U-R eine notwendige Bedingung der Induktion ist. Wir wollen einmal annehmen, die I-U-R gelte nicht. Was würde die Folge sein? Dann müßten außer den notwendigen Verknüp- fungen noch andere auftreten, die zufällig sind, und es wäre uns unmöglich, die zufälligen von den notwendigen zu unterscheiden. Wenn ich, um bei dem genannten Beispiel zu bleiben, die Kugel unter dem Winkel von 30° mit verschiedenen Geschwindigkeiten vi, V2, vs . . . vn aufprallen ließe, so würde sich etwa ergeben, daß das Abprallen stets unter dem Winkel von 30° mit der gleichen Geschwindigkeit V3 erfolgt, so daß also dann der eine festgehaltene Inhalts teil „Stoß unter 30° u mit den beiden Inhaltsteileh „Abprall unter 30° a und „Abprall mit der Geschwindigkeit vs" verknüpft erschiene. Die Induktion wäre in diesem Falle ausgeschlossen. Daraus folgt, daß die Induktion die I-U-R notwendig voraussetzt. Da nun aber die I-U-R, wie wir sahen, nur bei der bestimmten Struktur der sinnlichen Wirklichkeit vorhanden ist, so ergibt sich, daß die Induktion bei dieser und nur bei dieser Struktur einer Wirklichkeit möglich ist, daß sie die Methode ist, die diese Struktur sich aus allen Methoden auswählt. Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich noch betonen, daß die I-U-R durchaus nicht die einzige Bedingung der In- duktion ist. Sie hilft die konstanten Verknüpfungen finden. Der Schluß von der Konstanz auf die Notwendigkeit aber muß eigens logisch gerechtfertigt werden. Das geht nun über die Grenze hinaus, die wir uns gezogen haben. Es genügt für unsere Aufgabe, Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 81 wenn wir erkannt haben, daß die I-U-R eine notwendige Be- dingung der Induktion ist. VI. Die allgemeine Methode der Mathematik. Auch die Mathematik generalisiert (aber ohne Abstraktion). Diese Behauptung mag auf den ersten Blick Verwunderung er- regen und Widerspruch wachrufen. Bei genauerem Zusehen er- weist sie sich aber als richtig. Die Mathematik generalisiert schon, wenn sie Buchstaben für Zahlen setzt. Sie faßt die Gleichungen der verschiedenen Kegelschnitte in der allgemeinen Kegelschnitts- gleichung zusammen. Sie begnügt sich nicht damit, beliebige Primzahlen rechnerisch zu erhalten, sondern sucht allgemeine Ge- setze der Verteilung der Primzahlen. Sie stellt allgemeine Sätze über die Wurzeln von Gleichungen auf. Sie versucht ganze Ge- biete einheitlich zu verstehen, z. B. vom Gruppenbegriff aus die euklidische Geometrie oder die Gleichungen in der Galoisschen Theorie. Kurz, sie forscht immer nach allgemeinen Standpunkten, die das Besondere einschließen und von wo aus es sich infolge- dessen erfassen läßt. Auch zu den mathematischen Generalisationen führen die verschiedensten Methoden, Induktion, Deduktion, Analogie, der Instinkt, den jeder echte Forscher hat. Aber die einzige Methode, durch die die mathematischen Generalisationen bewiesen werden, ist die Deduktion. Wir führen nun den Beweis dafür, daß die Generalisation vom Gegenstande der Mathematik gefordert wird, und zwar in der eigenartigen Form, in der sie hier auftritt, auf indirektem Wege. Wir werden erstens sehen, daß die Struktur des mathematischen Gegenstandsbereiches die Induktion ausschließt. Die Deduktion bleibt also als einziges legitimes Beweismittel übrig; die Deduktion führt aber zur Generalisation oder setzt sie voraus. Wir werden zweitens erkennen, wie der absolut sichere Charakter der mathe- matischen Deduktion gleichfalls auf jener Struktur beruht. Die Struktur des Wirklichkeitsbereiches der mathematischen Gegenstände ist so, daß in ihm die Andersartigkeit zum Teil, die Unübersehbarkeit ganz geschwunden ist. Nehmen wir zunächst den Fall, daß zwei absolut gleiche Gegenstände zu einer Klasse ver- einigt werden, so ist offenbar der ganze Inhalt jedes Gegenstandes der gemeinsame Inhalt. Er bleibt konstant, so viele von den ab- Kantstudien. XXVII. 6 g2 Aloys Müller, solut gleichen Gegenständen wir auch hinzunehmen. Hier gilt also jedenfalls die I-U-R nicht. Fassen wir nun zwei mathematische Gegenstände mit ver- schiedenem Inhalt zusammen, z. B. die Zahlen 5 und 7 oder zwei Ellipsen, so tritt im allgemeinen gleich mit diesem Schritte der Klassenbildung schon die Konstanz des Inhaltes ein; der In- halt ist jetzt, weil er nicht unübersehbar ist, bereits zusammen- geschrumpft auf das, was allen Gliedern der Klasse gemeinsam ist. Es kann natürlich durch Zufall vorkommen, daß die Konstanz noch nicht gleich beim ersten Schritt vorhanden ist, wenn ich z. B. zwei Ellipsen nehme, deren kleine Achsen gleich sind. Aber solche Zufälligkeiten müssen außer Betracht bleiben. Die I-U-R verlangt einen bei jeder Umfangszunahme abnehmenden Inhalt. Sie gilt also auch im vorliegenden Falle nicht. Das Nichtbestehen der I-U-R im mathematischen Gegenstands- gebiet läßt sich auch indirekt beweisen. Wir hörten im vorigen Abschnitt, daß, wenn die I-U-R nicht gilt, zufällige Konstanzen auftreten müssen und wir außerstande sind, zufällige von not- wendigen zu unterscheiden. Dieser Zustand liegt nun tatsächlich im mathematischen Gebiete vor. Daß z. B. der Ausdruck x2 -f- x + 41 eine Primzahl ist, ist eine für viele Fälle zufällig auftretende Verknüpfung; sie ist aber nicht notwendig, denn für x = 40 ist sie z. B. falsch. Ob ferner der Satz, daß jede gerade Zahl sich als die Summe zweier Primzahlen darstellen läßt, notwendig gilt oder nur zufällig für die bis jetzt untersuchten geraden Zahlen, wissen wir nicht. Wir sehen also, daß die I-U-R im Bereiche der mathematischen Gegenstände nicht besteht. Weil sie aber eine notwendige Bedingung der Induktion ist, kennt die Mathema- tik auch keine Induktion. Wir wollen nur einen Augen- blick darauf aufmerken, daß die Mathematik die I-U-R sozusagen in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn nämlich ihre Generalisationen Aussagen über Relationen zwischen homogen-quantitativen Gegen- ständen sind, so enthalten diese Aussagen nicht die gemein- samen Inhaltsteile der Gegenstände, sondern alle Inhaltsteile. Die Ellipsengleichung enthält alle Besonderheiten aller Ellipsen, die Kegelschnittsgleichung alle Besonderheiten aller Kegelschnitte, die Gleichung der Flächen zweiter Ordnung alle Besonderheiten aller Flächen zweiter Ordnung usw. Man könnte unseren Beweis dafür, daß die Deduktion von der Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 83 Struktur des mathematischen Gegenstandsbereiehes gefordert wird, deshalb noch nicht für geschlossen halten, weil doch die sog. voll- ständige Induktion in der Mathematik möglich sei. Hier muß man unterscheiden. Wenn man mit Windelband *) den Schluß vom universalen auf das generelle Urteil als vollständige Induktion bezeichnet, so ist, wie Windelband selbst bemerkt, kein Unterschied von der eigentlichen Induktion vorhanden. Jener Schluß ist aber in der Mathematik unmöglich. Denn in ihr ist jedes universale Urteil zugleich ein generelles, weil alle möglichen, d. h. wider- spruchsfreien Gegenstände des mathematischen Bereiches wirklich sind. In allen anderen Fällen ist die sog. vollständige Induktion überhaupt keine Induktion. Es erübrigt noch ein Wort über den absolut sicheren Cha- rakter der mathematischen Deduktion. Worauf er beruht, können wir auf indirekte Weise folgendermaßen finden. Wir suchen die Wissenschaften, die die gleiche Gewißheit wie die Mathematik er- geben und lesen dann die Übereinstimmungen zwischen ihren Gegenständen ab. Es gibt nun nur eine einzige Wissenschaft von derselben Gewißheit, die Relationstheorie; die mathematische Naturwissenschaft kommt nicht in Betracht, weil sie ihre Gewiß- heit ja nur von der Mathematik hat. Mathematik und Relations- theorie stimmen nun darin überein und unterscheiden sich dadurch von allen anderen Wissenschaften, daß sie sich mit homogenen Gegenständen beschäftigen. Auf der Homogeneität ihres Gegen- standsbereiches beruht also die Gewißheit der Mathematik2). VII. Allgemeine Resultate. Da es sich in den vorstehenden Ausführungen zum Teil um einen ersten Versuch handelt, in das Wesen gewisser Zusammen- hänge einzudringen, und ich die großen Linien nicht durch vieles Beiwerk überdecken mochte, habe ich möglichste Kürze angestrebt. Dadurch sind vielleicht mehr Probleme aufgegeben als gelöst worden. Trotzdem sind wir in der Lage, auch etwas Allgemeines über unser Hauptproblem des Verhältnisses von Gegenstand und Methode ab- zuheben. 1) Windelband in der Enzyklopädie der pliilos. Wissenschaften, 1, 40, 1912. 2) Eingehenderes über die Probleme dieses Abschnittes und vor allem über ihre gegenstandstheoretische Grundlage in meiner beim III. Abschnitt zitierten Schrift über den Gegenstand der Mathematik. 6* 84 Aloys Müller, Dieses Verhältnis stellt sich etwa so dar. Der allgemeine Charakter der Methode einer "Wissenschaft hängt davon ab, ob für sie die Gegenstände ihres Bereiches nnr heterogen oder auch homogen sind. Besitzt das Gegenstandsgebiet einer Wissenschaft auch Homogeneität, die nicht ausschließlich von der Gegenstands- theorie erfaßt wird, so ist die Generalisation möglich und nötig. Weil das in den Gegenstandsgebieten der Strukturwissenschaften der Fall ist, läßt sich ihre Methode allgemein als generalisierend (nicht immer durch Abstraktion) charakterisieren. Daß die histo- rischen Wissenschaften trotz der homogenen Bestandteile ihres Gegenstandsgebietes nicht generalisieren, liegt daran, daß diese homogenen Teile von der Naturwissenschaft und der Gegenstands- theorie schon erfaßt werden. Der besondere Charakter, den die generalisierende Methode einer Wissenschaft annimmt, ist durch das Maß bestimmt, in dem das Heterogene vom Homogenen durch- herrscht wird. Wir lassen die Frage offen, ob das Begriffspaar heterogen- homogen ausreicht, um auf allen Gegenstandsgebieten den Zu- sammenhang zwischen Gegenstand und Methode aufzuweisen. Noch zwei Bemerkungen zum Schluß. Zunächst läßt die Abhängigkeit der Methode vom Gegenstande der Persönlichkeit des Forschers einen großen Spiel- raum. Der Gegenstand eines Gebietes verlangt nur eine bestimmte allgemeine Methode der Rechtfertigung. Wie diese Methode im einzelnen Falle gehandhabt und ausgebaut wird, ist Sache des Forschers. Ein Vergleich kann das verdeutlichen: wenn jemand sich einen Anzug aussucht, so verlangt seine Gestalt einen zu ihr passenden Anzug; aber der Stoff, die Farbe, der Schnitt usw. können beliebig ausgewählt werden. Fast ganz Sache des For- schers ist die Axt und Weise, wie er die Wahrheiten seiner Wissen- schaften findet; dabei kommt es übrigens weniger auf die Me- thode, sondern mehr auf die Problemstellung an. Nachdem ich schon in den einleitenden Worten angedeutet habe, daß unsere Überlegungen zwar ihre Wurzel in Rickertschen Gedankenkreisen haben, aber nicht nur über sie hinauswachsen, sondern sie auch manchmal durchbrechen, möchte ich endlich, um Mißverständnisse bei solchen, die die Rickertschen Gedanken noch immer nicht verstehen können, auszuschließen, die hauptsächlichsten Gegensätze zu Rickert — und nur diese — noch kurz zusammen- stellen. Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 85 1) Nach Rickert können -zwei Wissenschaften denselben Gegen- stand haben und sich nur durch ihre Methode unterscheiden; das ist für ihn z. B. der Fall bei Naturwissenschaft und Geschichts- wissenschaft. Ich bin der Ansicht, daß jede Wissenschaft einen ihr und nur ihr eigentümlichen Gegenstand besitzt und daß von diesem Gegenstande her die allgemeine Methode der Wissenschaft und ihre besondere Form bestimmt sind. Nur von diesem Stand- punkt aus ist die Verschiedenheit der Methoden zu verstehen und zu begründen, wie ich praktisch an drei Beispielen gezeigt habe. Wir sehen also bei Rickert eine Überschätzung der Methode und eine Unters chätzung des Gegenstandes, die vermutlich mit seiner Erkenntnistheorie zusammenhängen. 2) Als Gegenstand der Geschichtswissenschaft haben wir aus dem Gegenstandssystem abgeleitet den original-individuellen Ab- lauf des sinnlichen Geschehens, während ßickert ihn in der sinn- lichen Wirklichkeit selbst erblickt. Für uns ergibt sich so ohne weiteres, daß nur Menschheitsgeschichte Geschichte ist, und manche der von Rickert sog. Mischformen unter den Wissenschaften, wie z. B. die Biologie, machen uns keine Schwierigkeit mehr. 3) Rickert stellt die generalisierende Abstraktion als Methode der Naturwissenschaft und die individualisierende Abstraktion als Methode der Geschichtswissenschaft in genaue Parallele. Aber dieser Parallelismus besteht nicht. Denn die individualisierende Methode leistet nicht alles das auf ihrem Gegenstandsgebiet, was die generalisierende auf dem ihren leistet, sondern nur einen Teil davon. Den anderen Teil — die Überwindung der Heterogeneität des Gebietes — übernimmt bei der Geschichtswissenschaft die isolierende Abstraktion. — Alle unsere Überlegungen bewegen sich außerhalb der erkennt- nistheoretischen Sphäre. Wie sie sich in das Transzendental- problem einfügen, mag eine spätere Arbeit zeigen. Nachschrift bei der Korrektur. Kurz vor der Kor- rektur erschien die 3. und 4. Auflage von Rickerts Buch „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", die dem Gegenstand sein Recht geben soll. Ich kenne sie bis jetzt nicht, hätte sie aber auch nicht mehr berücksichtigen können. Der Darwinismus und die logische Struktur des biologischen Artbegriffs1). Von Privatdozent Dr. Emil Unserer, Karlsruhe. Mit wieviel Recht man auch die Naturwissenschaft, die von der Erfahrung ausgeht und ihrer Bestimmung sich widmet, eine Tatsachenwissenschaft nennt, wie treffend man sie, die feste Formen des Geschehens und des Soseins sucht, als Gesetzes- wissenschaft kennzeichnet: wo wir irgend größere Abschnitte ihrer Geschichte im Zusammenhang überschauen, sehen wir ihre Fragestellung, ihr Arbeitsverfahren und ihre Ergebnisse bedingt durch große Theorien. Sie sind es, die ganzen Zeiträumen der "Wissensgeschichte ihr Gepräge geben. Als kühne Ideen weisen sie nach einem Ziele, zu dem sogleich eine Schar von Hypothesen nach mancherlei Plänen Wege zu zeigen versucht, auf denen erst die Forschung dann jene Gesetze findet, durch die sie Tatsachen bestimmt. So ist die Biologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts — fast bis in ihre letzten Auszweigungen — bedingt durch jenes Theorien- und Hypothesengebilde, das man als Darwinismus bezeichnet, und das in seinem wesentlichen Grundstock auch wirk- lich Charles Darwins Werk war. Wenn man von allem Beiwerk absieht, so enthält seine Lehre zwei Hauptbestandteile, die man unter Anhängern und Gegnern früh scharf geschieden hat: die 1) Literatur angaben über die sachliche Seite der behandelten Fragen, die den Text dieser kurzen Ausführungen zu stark belasten würden, finden sich in meiner als Heft 14 von J. Schaxels „Abhandlungen zur theoretischen Biologie" (1921) erscheinenden Arbeit „Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die Logik der Biologie", wo die hier dargestellten Probleme unter anderen Gesichtspunkten er- örtert werden. Dort wird auch der Erblichkeitsbegriff des Neodarwinismus und des Neolamarckismus berücksichtigt, sowie zu Stadlers Auffassung des Darwinismus in seiner Schrift über „Kants Teleologie" (1874) Stellung genommen. Emil TTngerer, Der Darwinismus u. d. log. Struktur d. biol. Artbegriffs. 87 Lehre von der Abstammung der Lebewesen, von ihrem ge- netischen Zusammenhang, die ihre vielgestaltige Mannigfaltigkeit auf ihre Geschichte zurückführt, ihre Herkunft von eintachsten Organismen auf den im biologischen System vorgezeichneten (in Vergangenheit oder Gegenwart verwirklichten) Zwischenstufen be- hauptet, — und die Lehre von der Entstehung dieser Ge- samtheit von Lebewesen durch ununterbrochene Variabi- lität unter Ausmerzung aller „nich tan gepaßten" Organismen im Kampf ums Dasein, die Lehre von der natürlichen Selektion. Beiden Teilen zugleich verdankt der Darwinismus seinen unerhörten Sieges- zug weit über die Grenzen der Biologie hinaus. Im Abstammungs- gedanken erhielt die uralte Entwicklungsidee neue Gestalt, der sich kein geschichtlich aufzufassendes Geschehen entziehen konnte. Durch die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl wurde der seltsam gesetzmäßige Bau der Organismen und das verwickelte Getriebe des organischen Geschehens — welch beide man in vor auf gehenden Zeitaltern der Biologie ohne Zielstrebigkeit, ohne Verwendung der Zweckidee meist nicht zu erklären gehofft hatte — zurückgeführt auf die sich von selbst ergebende Auslese zufälliger Treffer nach Wahrscheinlichkeitsregeln, und damit schien das Gebiet des Le- bens der Gesetzmäßigkeit einer rein mechanischen Kausalität unter- worfen zu werden, die man gerade als Ziel aller anorganischen Wissenschaften anzusehen gelernt hatte, und so eine überwälti- gende Einheit des Weltbildes gewährleistet zu sein. Geschicht- liches Denken auf Grund der Entwicklungsidee und mechanistische Weltauffassung mit allgemeinen Ge- setzen und Zufälligkeit alles Besonderen: diesen beiden methodischen Grundstimmungen fügte der Darwinismus- sich ein, und sie bereichernd und befestigend, als ihre Einheit im Gebiet der Biologie, erfocht er seine Siege. Der Abstammungsgedanke hat sich gegen anfänglichen Widerstand fast unbestritten durchgesetzt, trotzdem er im Ganzen nicht nur unbewiesen, sondern auch unbeweisbar, im Einzelnen günstigenfalls wahrscheinlich zu mächen ist. Die sogenannten „Be- weise" der Abstammungslehre haben im allgemeinen die Form, daß eine Menge von Tatsachen, die sonst einfach hinzunehmen sind, eine neue Bedeutung erlangen, als teilweise „erklärt" erscheinen, wenn man einen genetischen Zusammenhang zwischen verschieden- gearteten Lebewesen annimmt. So dienen vor allem die Tatsachen der mannigfach abgestuften systematischen Verwandtschaft, d. h. 88 Emil Ungerer, die verschiedenen Grade der Übereinstimmung der Lebewesen in stofflicher und organisatorischer Beziehung, in der Aufeinander- folge ihrer Formbildung und im Ablauf der Lebensvorgänge als ein Anzeichen der Wahrscheinlichkeit jener Umbildung, die all- mähliche Steigerung der Unterschiede in diesen Merkmalen syste- matischer Verwandtschaft mit der Vergrößerung der räumlichen und zeitlichen Entfernung der Lebewesen voneinander als ein an- deres. Eine Bestätigung der Abstammungslehre im Einzelnen müßte ferner durch die Nachprüfung ihrer notwendigen Voraus- setzung, nämlich durch den Nachweis der erblichen Umbildung einer Form von Lebewesen in eine andere erbracht werden, ob- wohl auf diesem Wege nur die unerläßliche Bedingung jener Lehre, nicht ihre Ausdehnung auf das Ganze der lebenden Natur nach- zuweisen ist. Sehr wesentlich ist freilich, daß auf beiden Wegen die Abstammungslehre auch nicht widerlegt werden kann. Das Fehlen vermuteter Verwandtschaftsbeziehungen zeigt höchstens, daß man sie an falscher Stelle gesucht hat und könnte bei weiter Ausdehnung etwa die Sonderhypothese des monophyletischen Stamm- baums zu Fall bringen; mißglückte Umbildungsexperimente sind nicht beweiskräftig, da die erforderlichen Bedingungen nicht her- gestellt sein können und außerdem der Erdgeschichte größere Zeit- räume zur Verfügung stehen als dem experimentierenden Menschen. Die nirgends widerlegte und nicht widerlegbare Annahme einer echten Fortpflanzungsverwandtschaft der Lebewesen, die viele, sonst schlechtweg hinzunehmende Tatsachen in einheitliche Be- leuchtung rückte und dem Bestreben entgegenkam, das Seiende als ein Gewordenes und Werdendes zu begreifen, mußte auch den entschiedensten Zweiflern mindestens als wahrscheinliche Hypo- these gelten. Ganz anders war von vornherein die Stellung der Selek- tionshypothese. Sie mußte experimentell unmittelbar nachge- prüft werden können und mußte überall durchführbar sein, sollte sie wirklich die „Erklärung" der Abstammung enthalten. Gegen sie richteten sich von Anfang an die stärksten Angriffe, und ob- gleich der Sachverhalt heute im Wesentlichen klargelegt scheint, wird auch in der Gegenwart noch heftig um sie gestritten. Ihre Gegner kommen — so verschiedenartig ihre Einwände im einzelnen sind — methodisch von zwei verschiedenen Seiten: die einen suchen aufzudecken, was alles die Selektion nicht leisten kann, wenn sie besteht; die anderen suchen zu zeigen, daß sie in der von Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 89 Darwin vorausgesetzten Weise in der Natur überhaupt nicht bestehe. Dabei wird diese Lehre von der natürlichen Zuchtwahl als ein bequem auswechselbares Glied innerhalb des „Darwinismus" behandelt, als eine unter einer Reihe möglicher Hypothesen zur kausalen Erklärung der „Abstammung". Diese verbreitete An- schauung bedarf einer erheblichen Vertiefung, die auf die Grund- begriffe der Darwinschen Lehre zurückgehen muß. Diese war viel mehr als ein bloßer Versuch, den längst von anderen ausge- sprochenen Gedanken eines genetischen Zusammenhangs der Lebe- wesen allgemein durchzusetzen und zu seiner Erklärung eine neue Hypothese (eben die Zuchtwahllehre) zu ersinnen. Sie stellte auch abgesehen von der Deutung der systematischen Verwandtschaft als eines Erzeugungszusammenhangs eine von Grund aus neue Auffassung der biologischen Systematik dar, die im vorangegan- genen Zeitalter der idealistischen Morphologie zu einer vermeintlich klassischen Durchbildung gereift war. Der große Naturforscher Darwin zeigte sich darin, daß er sich nicht damit begnügte, den morphologischen Verwandtschafts- begriff jener alten Systematik einfach in den genetischen zu über- setzen und so im „Stammbaum" die Grundlage des Systems zu er- blicken, wie das nachher der größte Teil seiner Anhänger tat, die in dieser neuen Beleuchtung auch die alten Erkenntnisse für neue hielten, sondern daß er den Gedanken der Abstammung bis in die letzten Folgerungen zu Ende dachte und dadurch zu Voraus- setzungen gelangte, deren Naturtatsächlichkeit er nun an einem ungeheuren Beobachtungsmaterial nachzuweisen suchte. In seinem Gedankengebäude ist die Zuchtwahllehre nicht einfach auswechsel- bar, denn sie ist eine Folgerung aus der Verknüpfung dieser letzten Voraussetzungen der Möglichkeit einer Abstammung, wie Darwin sie durch logische Zergliederung gefunden und durch tausendfältige Beobachtung bestätigt zu haben glaubte, mit der weiteren durch ebenso vielfache Beobachtung beglaubigten Tatsache des „Daseins- kampfes", d. h. des Untergangs aller Lebewesen, die ihren Lebens- bedingungen nicht gewachsen sind. Den von Darwin aufgestellten Voraussetzungen der Möglich- keit einer genetischen Verknüpfung von Lebewesen mit verschie- dener systematischer Stellung liegt eine Kritik der System- begriffe zugrunde, die durchaus nominalistisch gerichtet ist. Ganz im Geiste Berkeleys, Humes und der englischen Asso- 90 Emil Ungerer, ziationspsychologen werden Allgemeinbegriffe der Biologie wie Gattung (Genus), Art (Spezies), Rasse (Varietät) als bloße Namen für eine unabgrenzbare Gesamtheit von Individuen aufgefaßt. Das Gegebene sind die Individuen, alle mehr oder minder untereinander verschieden, verschieden auch als Nachkommen desselben Indivi- duums. Gesamtheiten von Individuen, die sich in nicht allzustark abweichenden Merkmalen unterscheiden, welche überdies bei ihren Nachkommen vorwiegend nicht festgehalten werden, heißen Varie- täten ; Varietäten mit strengerer „Erblichkeit" heißen Arten : beides also ineinander übergehende Klassenbegriffe (Abstraktionen erster Stufe). Ahnliche Arten werden unter einem Namen als Gattungen zusammengefaßt (Abstraktionen zweiter Stufe). Die Bemühungen um den Wesens begriff der biologischen Art oder Spezies, wie überhaupt der biologischen Klassifikationsstufen, die noch kurz zuvor auf englischem Boden zu der interessanten Aus- einandersetzung zwischen Whewell und John Stuart Mill geführt hatten, werden als sinnlos abgelehnt durch die Feststellung, daß es einen solchen Wesensbegriff gar nicht gebe: die Bezeichnung der Lebewesen nach Arten ist ihm bloße Konvention. Zwei Grundeigentümlichkeiten von ähnlicher Struktur haften dem Or- ganismus an und daher auch allen Klassen von Organismen: sie sind nach den verschiedensten Richtungen hin und innerhalb der beobachteten Grenzen in jedem denkbaren Quantum veränder- lich, und die der Änderung unterworfenen Merkmale sind in allen möglichen Graden vom völligen Fehlen bei den Nachkommen bis zur vollkommenen Übertragung auf alle Deszendenten erblich. Variabilität und Heredität, Veränderlichkeit und Erblichkeit sind stetige Eigenschaften: zwischen gegebenen Grenzen einer Ver- änderung (Variation) ist kein Grad der Ausprägung denkbar, der nicht auftreten könnte, und ebenso wird die Übertragung einer Veränderung auf die Nachkommen als keine diskret abgestufte gedacht, wie dies schon Darwins Wendung von der „strength of hereditary tendency" zeigt. Das ausnahmsweise Vorkommen plötzlicher erheblicher Abweichungen, von „Sprüngen", wird nicht geleugnet, aber es bleibt Ausnahme; von erheblicher Bedeutung für den Vorgang der Artbildung sind allein die kleinen , allseits stetigen Variationen, unter denen die den Außenbedingungen am besten gemäßen zur Fortpflanzung gelangen, während die übrigen im Daseinskampf zugrunde gehen. Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 91 Fassen wir das Ergebnis der Darwinschen Kritik der System- begriffe nochmals zusammen: Damit ein Abstammungszusammenhang zwischen der Gesamt- heit der verschiedenen Lebewesen möglich sei, darf es nicht erblich feste Arten geben, d. h. Lebewesen, die einen bestimmten Typus in ihrer Organisation wesenhaft ausprägen. Vielmehr unterscheiden sich die Nachkommen eines Organismus — oder zweier getrennt- geschlechtlicher Organismen — stets mehr oder minder unterein- ander und von den Erzeugern, und diese Veränderungen werden unter den Nachkommen aus den folgenden Generationen wiederum mehr oder minder stark festgehalten, wobei eine Eigenschaft bei der Wiederholung in der Nachkommenfolge immer „fester", d. h. in höherem Grade erblich wird. Die Abgrenzung von Varietäten oder Arten ist Sache bloßer Konvention : ihr Kriterium, genügend deutliche Unterscheidbarkeit und genügend lange Dauer der Erb- lichkeit, ist durch menschliche Willkür festgelegt. Die teleologische Zuordnung einiger der regellos nach allen Eichtungen gehenden Änderungen zu bestimmten Außenbedingungen, inbezug auf die sie mehr oder minder „angepaßt" erscheinen, hat eine Auslese nach bestimmter Richtung zur Folge, sodaß die so ausgezeichneten In- dividuen zur Fortpflanzung gelangen. Dadurch kommt eine „fort- schreitende" Entwicklung zu allmählich fest werdenden neuen „Arten" zustande. Allseitige und stetige Variabilität soll unter den zahllosen „ Nieten a die wenigen „Treffer" gewährleisten, die zu Stufen einer Höherentwicklung und Neubildung werden können. Die der Veränderlichkeit entzogenen, ein für allemal durch Ver- erbung festgehaltenen Merkmale erscheinen dann als diejenigen der obersten Systemkategorien, der Klassen, Ordnungen und etwa noch Familien; etwas schon, wenn auch noch selten variabel sind die der Gattung, stärker veränderlich die der Spezies, ganz im Flusse die der Rasse. Damit genügt Darwin eben den Bedingungen, die Kant — in der Kr. d. r. V., im „Anhang zur transzendentalen Dialektik" — als Grundvoraussetzungen derKlassifikation über- haupt festgestellt hat. Von den drei dort entwickelten Klassi- fikationsprinzipien fordert das der Einheit oder Homogenität „Gleich- artigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen" und spricht damit in einem den Stufenbau der Einteilung aller Lebewesen und innerhalb jeder Stufe die Gleichwertigkeit aller ihrer Einzigkeiten aus, d. h. den Gattungs- und den Klassencharakter der Systembe- 92 Emil Ungerer, griffe. Durch das Prinzip der Mannigfaltigkeit oder Spezifikation wird die völlige Gleichheit zwischen den Einzigkeiten jeder Klasse verneint zugunsten ihrer Mannigfaltigkeit: kein Klassenbegriff soll an sich der letzte sein, es soll keine infimae species, keine untersten Arten geben. Und als Ergänzung postuliert das Prinzip der Verwandtschaft oder Kontinuität — wie so häufig bei Kant als dritter Schritt aus der Vereinigung der beiden anderen her- vorgehend — einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stetiges Wachstum ihrer Verschiedenheiten : es soll „zwischen" zwei Arten immer noch andere geben bezw. geben können, die geringere Grade der Verschiedenheit von einer jener Arten zeigen, als diese untereinander. Mit dieser Behauptung der Unmöglichkeit unterster oder letzter Arten und mit der For- derung beliebig fortsetzbarer Einschaltung neuer Arten „zwischen" gegebene will Kant Voraussetzungen aller Systematik, aller Art- begrifflichkeit überhaupt — von Dingen und Vorgängen, von allem gesetzlich Verknüpf baren — aufzeigen, ohne besondere Bezie- hung zu den Lebewesen als Naturgegenständen, die nach seiner Überzeugung (wenigstens noch in der Kr. d. r. V.) ganz im Linn£- schen Sinne in der Natur als unveränderliche ohne Übergang voneinander getrennte Arten ein „quantum discretum" ausmachen sollen: denn ihm bleiben jene Forderungen Denkforderungen. Mag die Naturgegebenheit immerhin Unstetigkeit zeigen, — als Naturmögliches bedeutende, einem System einordenbare Begriffe müssen wir die Klassen ihrer Gegenstände jenen Stetigkeitsforde- rungen unterworfen denken, die keinen Klassenbegriff als untersten und keinen Artunterschied als letzten gelten läßt. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die Darwinsche Kon- struktion des Artbegriffs von der Kants Ansicht gegenüber neuen Voraussetzung ausging, jene beiden letzten Kantischen Forde- rungen für das Denken seien durch die Naturgegeben- heit restlos erfüllt. Die nach allen Seiten hin erfolgenden beliebig kleinen Variationen genügen dem Prinzip der Kontinuität, nach dem keine zwei naturgegebenen Arten als die einander an sich nächsten anzusehen sind ; die Annahme einer gradhaft abstuf- baren Erblichkeit läßt keine naturgegebene Art als „unterste" schlechthin erscheinen und erfüllt so die Forderung des Mannig- faltigkeitsprinzips. Den von Kant so tief erfaßten Gegensatz dieser beiden Prinzipien zum ersten der Homogenität, welches Einheit der Mannigfaltigkeit innerhalb jeder Stufe, echten Klassen- Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 93 Charakter der Gattungsbegriffe verlangt, ein Gegensatz, der für Kant nur durch einen unendlichen Prozeß der „Bestimmung" aus- gleichbar gedacht werden kann, weil in ihm die nur für einen intellectus archetypus vollendbare Idee des Systems zum Ausdruck kommt, diesen Gegensatz beseitigt Darwin dadurch, daß er das logische Recht solcher Artbegriffe leugnet, daß er sie als strenge Begriffe von angebbarem Inhalt und Geltungsbereich nicht aner- kennt, sondern als „Konventionen" betrachtet, als willkürliche Festsetzungen, wie sie alle „Einheiten" stetig abgestufter Mannig- faltigkeiten, alle Größenmaße der Längen, Flächen und Volumina, der Farben, Töne, Gewichte, Temperaturen usw. darstellen. Diese Leugnung der strengen Geltung des ersten Kantischen Prinzips zusammen mit der Anerkennung der beiden anderen für die naturgegebenen Organismen, diese Lehre von der Stetigkeit der Variation und Erblichkeit hält Darwin für die notwendigen begrifflichen Voraussetzungen des Gedankens einer Stammesent- wicklung. Daraus ergibt sich die grundsätzliche Frage- stellung sowohl der logischen Untersuchung wie der Tatsachenforschung gegenüber diesem „Darwinismus" i. e. S., die wesentlich tiefer angreift als die zahllosen scharf- sinnigen Möglichkeitserwägungen in den Erörterungen über die Bedeutung des „struggle for life" für die Artenentwicklung. „Sind wirklich stetige, in gradweiser Abstufung festgehaltene Änderungen der Lebewesen die notwendige Voraussetzung des Abstammungsgedankens?" — so lautet das logische Problem; dem sachlichen läßt sich die Form geben: „Was spricht bei den mit exakten Forschungsmethoden untersuchten Lebewesen für und gegen solche stetige Erblichkeit stetiger Variationen?" Stellen wir zunächst fest, was sich beim heutigen Stand der Untersuchungen über die zweite Frage sagen läßt. Zunächst besteht kein Zweifel über das Vorkommen ste- tiger Variationen. Genügend große Gesamtheiten ähnlicher Organismen einer Art, einer Rasse, auch von Nachkommen eines Organismus zeigen inbezug auf eine Reihe von Merkmalen Ände- rungen, die sich meist so um einen „Mittelwert" der Ausbildung des betreffenden Merkmals anordnen, daß kleine Abweichungen von ihm häufig sind, während größere nach dem Grade des Unterschieds immer seltener auftreten. Dies läßt sich am besten durch Varia- tionskurven veranschaulichen, die mehr oder weniger genau der Gauß'schen Wahrscheinlichkeitsfunktion entsprechen, sodaß die 94 Emil Ungerer, Zahlen der (in der Natur als diskrete gegebenen oder aus einer kontinuierlichen Menge ausgesonderten) Größenklassen von Ab- weichungen durch den Grenzwert der Koeffizienten der Entwick- lung des Binoms (a + b)n für sehr große n mit guter Annäherung ausgedrückt werden. Nun handelt es sich vor allem darum, ob der Grad der Abweichung vom Mittelwert auf die Nachkommen übertragen wird, ob er erblich ist. Dann nur ist die Voraus- setzung der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl erfüllt. Zunächst ergab die Selektion extremer Varianten aus beliebigen naturgege- benen Gesamtheiten von Lebewesen, etwa die Verwendung der schwersten Samen, die aus einem Bohnenfeld geerntet wurden, zur Aufzucht neuer Bohnen, wenn man sie durch mehrere Generationen immer wieder durchführte, 'wirklich eine Verschiebung des Mittel- werts des betreffenden Merkmals bei den jeweiligen Nachkommen, hier also eine Erhöhung des durchschnittlichen Samengewichts. Es ist das große Verdienst des dänischen Botanikers W. Johannsen, die vermeintliche Beweiskraft dieses Ergebnisses für Darwins Vor- aussetzung zerstört zu haben. Er zeigte, daß der Versuch ganz anders ausfällt, wenn man statt von einer Menge beliebiger Pflanzen unbekannter Herkunft (von einer „Population") ausgeht von einzelnen selbstbefruchtenden Pflanzen, die man vor Fremdbestäubung schützt und deren Nachkommen man in gleicher Weise behandelt. Die Selek- tion in solchen „reinen Linien" ergibt zwar gleichfalls jene eingipfligen Variationskurven, aber der Mittelwert liegt auch bei den Nachkommen der extremsten Varianten stets an derselben Stelle, wie bei denen der ursprünglichen Mittelwertsvariante. Die Selektion in reinen Linien bleibt daher ohne jeden Erfolg. Daß die hier fehlende Mittel- wertsverschiebung bei Selektion in Populationen auftritt, konnte Johannsen überzeugend auf das Vorhandensein erblich verschie- dener Rassen in jenen zufällig zusammengesetzten Mengen von Organismen zurückführen. Die Ergebnisse Johannsens über das Fehlen der Erblichkeit der Varianten bei Selektion in „reinen Linien" (bezw. in „Klonen", d. h. in der Generationenfolge vege- tativ sich vermehrender Organismen) wurden von ihm und anderen auch an einer Reihe anderer Pflanzen, an höheren Tieren wie an Protozoen und an Bakterien bestätigt. Da die Randvariationen benachbarter reiner Linien sich häufig überdecken (transgredierende Variation) , so können äußerlich durchaus gleiche Individuen erblich verschiedenen Sippen angehören. Von zwei äußerlich glei- chen „Varianten", die in derselben Weise von der „Norm" einer Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 95 Art abweichen, kann die erste diese Eigenschaft auf ihre Nach- kommen übertragen, die andere nicht. Es zeigen eben die Ab- kömmlinge aus reinen Linien in ihrer Gesamtheit ebenso das Bild einer Variationskurve wie die Bestandteile von Populationen, ob- gleich diese Kurve im letzten Falle häufig mehrgipflig oder sonst unregelmäßig erscheint. Aufklärung über die Bedeutung der nicht- erblichen Variation, die man als Modifikation oder Fluktuation bezeichnet, brachten die Experimente der Formphysiologie, vor allem die Forschungen des Botanikers Georg Klebs. Er zeigte, daß die Ausbildung der „ Merkmale" mit bestimmten Außenbedin- gungen in gesetzmäßiger Beziehung steht, und daß man beliebig gestaltete Variationskurven durch bestimmt geregelte Außenbe- dingungen (Feuchtigkeit, Luft, Wärme, Nährstoffe usw.) erzielen kann. In vielen Fällen ist diese Beziehung eine streng quantita- tive. Ebenso wichtig wie seine Versuchsergebnisse sind die Fol- gerungen, die er daraus für die Festlegung des Erblichkeits- und Artbegriffs gezogen hat. Nicht eine feste „Norm", wie sie etwa der „Mittelwert" von Variationskurven darstellt, ist Gegenstand der erblichen Übertragung, der gegenüber die „Modifikationen" als in geringerem Grade vererbte „Abweichungen" erscheinen, sondern erblich ist die Fähigkeit, auf bestimmte äußere Be- dingungen in bestimmter Weise, z. B. durch eine bestimmte Formbildung, zu reagieren. Erbgut eines Organismus sind alle seine Formbildungsmöglichkeiten (Potenzen), die in ganz bestimmter gesetzmäßiger Zuordnung zu quantitativ abgestuften Außenbedin- gungen stehen; einer Art gehören alle Organismen an, die das gleiche Verhältnis von Potenzen und Außenfaktoren zeigen, die in dieser fest definierbaren Weise Isoreagenten sind. Nicht eine Summe von „Merkmalen" (Formen, Farben usw.) machen darnach das Wesen der „Art" aus, sondern eine durch Versuche möglichst genau quantitativ festzulegende Funktion (im mathematischen Sinne) von Reaktionen des Organismus auf der einen Seite und von Vorgängen in seiner Umgebung, d. h. von Beziehungen des verhältnismäßig einfach zusammengesetzten „Mediums" auf der an- dern. Die Außenbedingungen stellen bei dieser Betrachtung im allgemeinen die unabhängigen, die Lebensreaktionen die abhängigen Variabein dar. Zu einer Art wie zum Erbgut eines Indivi- duums gehört also der ganze Umkreis der Variation, und In- dividuen gehören verschiedenen Arten an, wenn die Ausbildung 96 Emil Ungerer, ihrer „Merkmale" in verschiedener Beziehung zur Quan- tität der Außenbedingungen steht. Tritt uns hier die Erblichkeit als ein festes, gesetz- mäßiges Verhältnis der Formbildung zu ihren Bedingungen ent- gegen, so zeigten die überraschenden Ergebnisse eines anderen Zweigs der modernen Biologie, nämlich der Bastardforschung, daß auch aus der experimentellen Untersuchung der Kreuzung ver- schiedener Organismen keinerlei Anhaltspunkte für die Darwin- sche Voraussetzung einer größeren oder geringeren Erblichkeit von beliebiger Stärke sich ergab, sondern Regeln einer festen, sich gleichartig über viele Generationen erstreckenden Übertragung von „Erbeinheiten". Seit der Wiederentdeckung der schon 1865 von dem Brünner Abt Gregor Mendel nachgewiesenen Vererbungs- regeln im Jahre 1900 durch Correns, Tschermak und de Vries hat die gemeinsame Arbeit von Botanikern und Zoologen aller Kultur- länder eine Fülle von Gesetzmäßigkeiten zutage gefördert , deren einfachste Grundlinien feststehen, während die Aufhellung der verwickeiteren Verhältnisse noch im Gange ist. Auch hier ergab sich, daß nicht „Außenmerkmale", unmittelbar sichtbare Eigen- schaften als solche „vererbt" werden, sondern daß ihnen „Erbein- heiten" („Gene") zugrunde liegen, die meist unabhängig vonein- ander auf die Nachkommen übertragen werden (zuweilen auch ganz oder teilweise „gekoppelt" erscheinen), die mit den „Potenzen", den elementaren Reaktionsfähigkeiten der Formphysiologie und Variationsforschung identisch sind. Die Zahlenregeln der Vertei- lung dieser Erbeinheiten auf die aus der Kreuzung verschiedener Eltern hervorgehenden Nachkommen braucht uns hier so wenig zu beschäftigen wie die Aufstellung der „Erbformeln" der genauer erforschten Sippen oder die Beziehungen der Gene zu gewissen Kernbestandteilen der Keimzellen. Wesentlich dagegen ist die Tatsache, daß noch aus einem anderen Grunde als dem oben er- wähnten zwei gleichaussehende, ja sogar zwei gleich auf die Außen- bedingungen reagierende Individuen erbungleich, verschieden in ihren Potenzen sein können. Wegen der Tatsache der Domi- nanz, d. h. des Überwiegens der vom einen Elter überkommenen Erbeinheit gegenüber der abweichenden des anderen kann nämlich ein Bastard (ein „heterozygoter" Organismus) von der dominie- renden Eiterform und allen ihr gleichen erbreinen Individuen („homozygoten" Organismen) in ihren Eigenschaften nicht unterschieden werden. Erst aus der Beschaffenheit ihrer Nach- Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 97 kommen (soweit sie durch Selbstbefruchtung oder durch Kreu- zung mit Individuen von bekannter erblicher Struktur erzeugt werden) ist diese Verschiedenheit der Erbformel erkennbar. So muß denn der Versuch, von seiten der experimentellen Vererbungs- forschung her die „Art" als die Gesamtheit erbgleicher Individuen zu definieren, ausgehen von homozygoten, d.h. inbezug auf alle Gene erbreinen Individuen, setzt also die sorg- fältige Prüfung der untersuchten Sippen durch zahlreiche Kreu- zungen (und womöglich Selbstbefruchtungen) voraus, die durch eine Eeihe von Generationen hindurch unter genau einzuhaltenden Versuchsbedingungen fortgesetzt werden müssen. Soviel auf diesem Gebiete noch zu erforschen bleibt, so notwendig ferner auch die Ausdehnung der hier gewonnenen systematischen Begriffe auf He- terozygoten ist : von außerordentlicher Tragweite ist die Tatsache, daß man durch das Zusammenarbeiten verschiedener Forschungs- zweige der Biologie zu der Möglichkeit gelangt ist, unterste Arten erbgleicher Individuen zu definieren und die Zugehörigkeit von Organismen zu einer solchen Art experimentell festzustellen, ohne daß man etwa bei den Individuen selbst als der letzten Einheit angelangt wäre. „Unterste Arten", das heißt aber, Arten, die nur Klassen- und nicht auch Gattungscharakter haben, die nicht wieder „Arten von Arten" sind. Sehen wir zu, was aus diesen Ergebnissen der Naturforschung bezüglich der Darwinschen Begriffe und der Kantischen Forde- rungen folgt, und wie es angesichts dieser Folgerungen um die Voraussetzungen der Abstammungslehre steht. Die Natur tat sächlichkeit unterster Arten von strenger Erblich- keit, deren allseitige und stetige Variationen zum Gesetz der Art selbst gehören, sodaß sich die Nachkommen der untereinander ver- schiedensten Abweichungen unter gleichen Bedingungen gleich ver- halten, sind mit Darwins Auffassung vom Wesen der biologischen Art durchaus unvereinbar. Selektion der Varianten dieser ste- tigen Veränderlichkeit, der Modifikationen, kann keine Wirkung auf die Umbildung der Organismen haben, weil sie die Beschaffen- heit der Nachkommen nicht beeinflußt. Eine natürliche Zuchtwahl kann der Kampf ums Dasein nur ausüben durch Auslese der schon vorhandenen erblich verschiedenen Arten, die freilich hierdurch keine Änderung im Grad der Erblichkeit erfahren, nicht „fester" werden, weil Erblichkeit keine stetige Eigenschaft, sondern ein gesetzmäßiges Verhalten darstellt, das nicht nach beliebigen Stärke- Kantstudien. XXVII. 7 98 Emil Ungerer, graden abstuf bar ist. Ob auf die „untersten Arten", die wir Kants zweitem Prinzip zum Trotz annehmen müssen, sein drittes Prinzip der Kontinuität Anwendung findet, wie Johannsens Er- gebnisse mit seinen quantitativ verschiedenen „reinen Linien" mit übergreifender Veränderlichkeit es nahe legen könnten, d. h. ob es zwischen zwei benachbarten Elementararten noch beliebig viele Arten geben kann, ob die „Mittelwerte" benachbarter reiner Linien beliebig nahe liegen können, läßt sich heute noch nicht endgültig entscheiden. Es ist nicht auszuschließen, daß wir noch genötigt sein könnten, einen letzten Unterschied von bestimmbarer Größe zwischen den Reaktionsnormen benachbarter Elementararten anzunehmen oder z. B. auch anzunehmen, daß zwar Elementararten innerhalb einer „Sammelart" (etwa vieler Linn£'scher Arten) sich stetig anordnen lassen, während Sammelarten untereinander sich grundsätzlich durch erhebliche und in der Natur unausfüllbare Unterschiede trennen. Es ist eben durchaus nicht selbstverständlich, daß die von Kant aufgestellte Stetigkeitsforderung, die im Bereich der Zahlen und des Raumes wie der Sinnes qualitäten oder reinen Solchheiten unausweichlich ist, in den Ansatz mit aufgenommen werden muß, durch den die Naturwissenschaft ihren Gegenstand bestimmt. Hat doch auch die Materientheorie durch die Annahme letzter Arten von Urdingen und durch die andere einer Unstetigkeit der Natur- vorgänge Erfolge von größter Tragweite erzielt, während der Aus- gang von einer Kontinuität der Materie hierzu keinerlei Hand- haben bot. Denn die für eine Reihe von Stoffen geglückte Fest- stellung, daß es kleinere Teile vom Charakter eines chemischen Elements als sein größenmäßig bestimmbares Atom nicht gibt, der Versuch der gegenwärtigen Naturforschung, mit der Annahme zweier Klassen gleicher Urdinge, der negativen Elektronen und der positiven Wasserstoffkerne? auszukommen, verstoßen ebenso gegen die Kantischen Prinzipien wie die Voraussetzung der Planck- schen Quantentheorie, daß die Energieabgabe schwingender Atome nicht stetig, sondern sprungweise erfolgt, sodaß das Verhältnis von Energiequantum und Schwingungszahl, das Wirkungsquantum, konstant ist. Sie verstoßen freilich nur dann gegen jene zwei Prinzipien Kants, wenn diese mehr bedeuten sollen als Aussagen über bloße Denk bar k ei t, wenn sie als Forderungen für Natur- möglichkeit ausgelegt werden. Es ist von großer Bedeutung, daran festzuhalten, daß Ordnungsformen, die für bloße Setzungen Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 99 zwingende Geltung als Denkmöglichkeiten besitzen, keineswegs ohne weiteres Ordnungsformen der Naturtatsächlichkeit darstellen. Inwiefern sie dies tun, muß an Hand der Gregebenheit besonders untersucht werden. Mit der Preisgabe der stetigen Erblichkeit stetiger Varia- tionen, die Darwin für die unerläßliche Bedingung der Möglichkeit der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Lebewesen gehalten hatte, verlor auch die Selektionshypothese erheblich an Wert. Sie konnte die Umwandlung einer Art in eine andere nicht mehr er- klären, wenn sie das Bestehen der auszuwählenden Art schon vor- aussetzen mußte. Damit steht die Biologie vor der Frage, ob die neue Fassung des Vererbungs- und Artbegriffs überhaupt noch als mögliche Voraussetzung der Abstammungslehre gelten kann, ob, paradox gesprochen, Artkonstanz und Artenumwandlung sich ver- einen lassen. Soweit sich übersehen läßt, gibt es nur zwei mög- liche Auswege. Entweder man nimmt an, daß von Anfang an sämtliche jemals in Organismen verwirklichten Erbeinheiten oder Gene vorhanden und über die vorauszusetzenden Urorganismen völlig ungeordnet so verteilt waren, daß nur ganz wenige von ihnen sich in einfachen Formbildungen äußern konnten und die ganze spätere Mannigfaltigkeit durch ihre Vereinigung infolge der geschlechtlichen Fortpflanzung allmählich möglich wurde. Dann gibt es zwar genetische Verwandtschaft und Stammbaum, aber keine echte „Entwicklung", sondern nur einen Wechsel von Gen- Verkettungen, der dem Austausch der Elemente im Auf- und Abbau der chemischen Verbindungen entspricht. Diese Anschauung, in der Gegenwart wohl nur von dem holländischen Botaniker J. P. Lotsy vertreten, der damit einen Gedanken des Österreichers A. Kerner von Marilaun aufgriff, ist einstweilen nicht mehr als eine kühne Hypothese, die nur auf die Tatsächlichkeit des Auftretens neuer Formen, der sogenannten „Kombinationen", in den den Mendel- schen Regeln unterworfenen Kreuzungen sich stützt. Oder man setzt voraus, daß unter bestimmten Bedingungen eine Änderung der Reaktionsnorm einer Art eintreten, eine sprunghafte Wand- lung ihrer erblichen Fähigkeiten, eine „Mutation" stattfinden kann. Dann ist die Geschichte der Lebewesen eine wirkliche Entwick- lung, ein Entstehen neuer Potenzen, eine Umbildung in zahllosen Einzelschritten. Das Musterbeispiel des Schöpfers dieser Muta- tionstheorie, des holländischen Botanikers H. de Vries, die von ihm eingehend untersuchte Oenothera Lamarckiana, scheint nach 100 EmilTJngerer, Der Darwinismus u. d. log. Struktur d. biol. Artbegriffs. neueren Untersuchungen wegen ihrer verwickelten Erb lichkeits Ver- hältnisse zur endgültigen Entscheidung dieser Frage nicht geeignet zu sein. Das sprunghafte Auftreten neuer erblicher Formen ohne Zwischenstufen ist aber durch ein umfangreiches Tatsachenmaterial belegt. Freilich sind gerade die sichersten Fälle großenteils „Ver- lustmutanten", d. h. solche neuen Arten sind vielfach ärmer an Mannigfaltigkeit der Formbildung als ihre Mutterarten, sodaß sie nur für die Tatsache der Mutation, nicht aber für deren Ausrei- chen zur Erklärung der Entstehung der Organismenwelt zeugen können. Auch steht der Mutationstheorie noch die Schwierigkeit im Wege, daß sie noch in keinem Falle eindeutig die Bedingungen für das Eintreten der Mutation, der erblichen Änderung der Re- aktionsnorm zu bestimmen vermag. So ist denn in der Gegenwart gerade die Grundfrage der Ab- stammungslehre wieder vollständig im Flusse. Das Lebenswerk Darwins war der erste großartige Versuch, die begrifflichen Vor- aussetzungen zu ihrer Lösung zu schaffen und deren Berechtigung durch eine gewaltige Tatsachenfülle zu belegen. Seine Lehre war die nächstliegende , von ihrem Schöpfer mit unerbittlicher Folge- richtigkeit durchgeführte Hypothese und damit eine notwendige Stufe der Wissens entwicklung. Die größere Strecke bis zum Ziel liegt noch vor uns. Auf der erfolgreichen Zusammenarbeit experi- menteller und logischer Forschung, die in den letzten Jahrzehnten die inneren Schwierigkeiten dieses ersten Lösnngs Versuchs aufge- deckt hat, ruht die Hoffnung einer glücklichen Bewältigung der von Darwin der Biologie gestellten Aufgabe. Die philosophischen Grundlagen in Spenglers „Untergang des Abendlandes"1). Von Dr. Kurt Sternberg, Berlin. 1. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man rühmend auf die Verdienste hinweisen, welche sich die Philosophie der letzten Jahrzehnte, speziell die neukantische, um die methodi- sche Grundlegung der Naturwissenschaften erworben hat. Man darf geradezu behaupten, daß in dieser Hinsicht ein gewisser Ab- schluß erreicht worden ist oder doch wenigstens erreicht worden war. Wohl sind die jüngsten, vor allem durch die moderne Rela- tivitätstheorie bewirkten Fortschritte auf naturwissenschaftlichem Grebiet imstande, der Naturphilosophie entscheidende Anregungen zu geben ; aber es bedurfte eben einer Wandlung des naturwissen- schaftlichen Weltbilds, um für die Naturphilosophie neue Aufgaben zu gewinnen, und die philosophische Begründung des alten — sagen wir: des Newtonschen Weltbilds — war doch im wesentlichen vollendet. Anders verhielt und verhält es sich auf geschichtsphilosophi- schem Boden. Gerade das 19. — das sogenannte historische — Jahrhundert hat einen ungeheuren Fortschritt der Geschichtswis- senschaften gezeitigt, und hieraus erwuchs der Philosophie die Pflicht zu einer methodischen Grundlegung der Geschichtswissen- schaften. Diese Pflicht wurde um so ernster, je mehr auf der einen Seite die historische Forschung sich entwickelte und je mehr auf der anderen Seite die moderne Philosophie, vor allem die 1) Die folgenden Ausführungen sind der erweiterte Abdruck eines Vortrages, der am 14. April 1921 in der Berliner Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft gehalten wurde. Der Vortrag berücksichtigte und verwirklichte die Anregungen, die die Schriftleitung in ihrem Zusatz zu der Besprechung des Buches von Spengler durch Prof. Schuck in Kant-Studien Bd. XXV, Heft 2—3 S. 265 gegeben hatte. Die Schriftleitung. 102 Kurt Sternberg, neukantische, ihr Interesse der Naturwissenschaft widmete. Wohl kam es in der Richtung auf die philosophische Durchdrin- gung der geschichtlichen Wirklichkeit zu wertvollen Leistungen, auch innerhalb des Neukantianismus, sofern man diesen in einem weiteren Sinne nimmt und auch die B a d e n e r Schule Win- delbands undRickerts zu ihm rechnet. Allein man war noch lange nicht am Ende, und nach wie vor blieb der Versuch einer philosophischen Konstruktion des geschichtlichen Lebens eine der wichtigsten, ja, vielleicht die wichtigste Obliegenheit der Philo- sophie unserer Zeit. Es mußte für die Geschichtsphilosophie das erreicht werden, was für die Naturphilosophie bereits erreicht worden war. Das war die Problemlage, als Spenglers so großes Aufsehen erregendes Buch „Der Untergang des Abendlandes" erschien, und diese Problemlage erklärt sowohl das Erscheinen des Spengler- schen Werks sowie das Aufsehen, welches es erregt. Nun ent- steht die Frage, ob durch Spengler eine Veränderung der ge- schilderten Problemlage herbeigeführt worden ist, d. h. ob er uns die ersehnte Geschichtsphilosophie großen Stils gegeben oder doch wenigstens einen förderlichen Beitrag zu ihr geliefert hat. 2. Was Spengler will, entspricht durchaus der Forderung der Gegenwart, um deren Erfüllung sich auch so mancher andere Geschichtsphilosoph bemüht hat und bemüht. Es handelt sich darum, die Sphäre des geschichtlichen Lebens in ihrer Eigenart, in ihrer Autonomie, herauszustellen, und diese Herausstellung kann nur unternommen werden, indem man das Verhältnis von Geschichte und Natur bestimmt, indem man beide voneinander abhebt und streng umgrenzt. Hiermit soll nicht gesagt sein, daß eine Be- schränkung auf die Differenz von Geschichte und Natur notwendig oder auch nur möglich wäre ; die Einheit der Vernunft verlangt vielmehr, daß neben und über allen Differenzen die letztliche Ein- heit von geschichts- und naturwissenschaftlicher Erkenntnis auf- gewiesen wird. Allein den methodischen Ausgangspunkt wird freilich der Unterschied zwischen Geschichte und Natur zu bilden haben, und Spengler wird nicht müde, diesen Unterschied aufs stärkste zu betonen. Immer wieder hebt er hervor, daß die Ge- schichte „im Gegensatz zur Natur", daß „die Welt als Geschichte, aus ihrem Gegensatz, der Welt als Natur, begriffen" werden müsse. Besonders interessant ist folgende Stelle: „Der Mensch ist als Element und Träger der Welt nicht nur Glied der Natur, sondern Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 103 auch Glied der Geschichte, eines zweiten Kosmos, von anderer Ordnung und anderem Gehalte, der von der gesamten Metaphysik zugunsten des ersten vernachlässigt worden ist". Die letzte Bemerkung Spenglers über die Vernachlässigung der geschichtlichen Welt durch die Philosophie ist keineswegs eine beiläufige, isolierte; auch anderswo wird von der „Morphologie der Natur" als „bisher dem einzigen Thema der Philosophie" ge- sprochen. Diese Behauptung läßt sich gewiß nicht aufrecht halten. Wohl ist es richtig, und es ist dies mit speziellem Bezug auf die letzten Jahrzehnte auch im vorigen ausdrücklich hervorgehoben worden, daß die Philosophie vielfach vorwiegend der Natur Beach- tung geschenkt hat. Der — Spengler unbekannte — Grund hierfür ist darin zu suchen, daß die Philosophie sich um ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit willen znnächst an den Naturwissen- schaften als den methodisch am weitesten fortgeschrittenen Wis- senschaften orientieren mußte. Daß aber niemals das Reich des Historischen in seiner Eigengesetzlichkeit und Verschiedenheit von der Natur gewürdigt worden wäre, wird man weder für die Ge- genwart zugeben können, wenn man die modernen, dem histori- schen Naturalismus entgegengesetzten geschichtsphilosophischen Bemühungen vor Spengler kennt, noch für die Vergangenheit, wenn man sich der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus von Kant über Fichte bis zu Hegel erinnert. Man mag über diese klassische Geschichtsphilosophie Deutschlands denken, wie man will : keinesfalls kann man leugnen, daß hier und gerade hier der Versuch gemacht worden ist, eine von der Natur unabhängige geistig-geschichtliche Welt zu konstruieren, und diese Konstruktion wurde nur dadurch möglich, daß Kant die Idee der Freiheit als ihr methodisches Grundprinzip aufgestellt hatte. Wenn Spengler dennoch meint, erst durch ihn sei das Problem der Geschichte im Unterschied zu dem der Natur entwickelt worden, so ist dies einer jener zahlreichen, völlig unbegründeten Prioritätsansprüche, von welchen sein Werk durchsetzt ist. Allein nicht die Priorität ist sachlich das Entscheidende, son- dern die Fassung, die Spengler dem Verhältnis von Geschichte und Natur gibt. Da er die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus ignoriert, so ist es von vornherein klar, daß trotz seiner ständigen Betonung des Gegensatzes zwischen Geschichte und Natur bei ihm von einem durchgreifenden, prinzipiellen Gegensatz gar keine Rede sein kann ; denn ein solcher liegt nur vor, die geschieht- 104 Kurt Sternberg, liehe Welt kann von der Natur nur als unabhängig gedacht wer- den, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Freiheit gedacht wird, wie dies von seiten Kants, Fichte s und Hegels geschah. Es vermag und braucht in diesem Zusammenhang nicht ausgemacht zu werden, ob die auf dem Grunde der Freiheitsidee ruhende prin- zipielle Entgegensetzung von Geschichte und Natur richtig und notwendig ist oder nicht. Spengler jedenfalls wünscht einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Geschichte und Natur zu kon- struieren; aber er beraubt sich selbst der Möglichkeit, der imma- nenten Voraussetzungen einer solchen Konstruktion, indem er das methodische Rüstzeug der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus unbenutzt läßt. 3. Dies zeigt sich, sobald man danach fragt, worin nun eigentlich Spengler den Gegensatz von Geschichte und Natur erblickt. Er lehrt, „die Polarität von Geschichte und Natur" sei die „von lebendiger und toter Natur". Daß auf diesem Wege ein grundlegender Unterschied zwischen Geschichte und Natur nicht statuiert werden kann, leuchtet ohne weiteres ein; denn auch die lebendige Natur, zu der die Geschichte in Beziehung gesetzt wird, ist doch wohl Natur. Die Geschichtswissenschaft wird so zu einer Naturwissenschaft und zwar zu einer Wissenschaft von der or- ganischen Natur, die Biologie zu ihrem logischen Fundament, und das geschieht, obwohl für Spenler „die Biologie nach Gehalt und Methode unsre schwächste Wissenschaft" ist. Es gehört dies zu den mancherlei methodischen Unbegreiflichkeiten in dem Speng- lerschen Werk. Also die Geschichte ist Spengler zufolge ein Teil des or- ganischen Lebens. Leben und Geschichte haben ist hiernach ein und dasselbe. Spengler hebt ausdrücklich hervor, daß auch jeder Grashalm, jedes Insekt eine Geschichte hat. Man sollte auf Grund dessen erwarten, daß Spengler nichts ferner liegt als die Auffassung der Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Kul- tur ; allein gerade die Kultur wird ihm — oder vielmehr richtiger : gerade die Kulturen werden ihm zu den Trägern des geschicht- lichen Lebens, zu der „eigentlichen Substanz der Weltgeschichte". Dies wird freilich nur dadurch möglich, daß er, der den Gegensatz von Geschichte , d. h. geschichtlicher Kultur, und Natur dauernd betont, in der Kultur nichts als ein Stück Natur sieht, ein Stück der lebendigen Natur. „Kulturen sind Organismen", heißt es bei Spengler; an anderer Stelle werden sie sogar noch spezieller Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 105 als Pflanzen bezeichnet: „Kulturen sind Pflanzen". Diese Ver- gleichung wird bis ins einzelne ausgeführt: „Wie Blätter, Blüten, Zweige, Früchte in Tracht, Form und Haltung ein Pflanzendasein zum Ausdruck bringen, so tun es die ethischen, mathematischen, politischen, wirtschaftlichen Bildungen im Dasein einer Kultur". Gegen diese biologische Betrachtungsweise der Kulturen läßt sich an sich nichts sagen; es kommt nur darauf an, daß man sich ihrer Grenzen bewußt ist. Der Grashalm und das Insekt sind Organismen und die Kulturen nach Spengler auch. Läßt sich aber von dem Organismus einer Kultur nicht mehr und nichts an- deres sagen als von dem eines Grashalms und Insektes? Die Frage stellen heißt sie bejahen. Was ist denn nun das, was den Organismus der Kulturindividuen von dem des Grashalms und des Insektes sowie jedes sonstigen Naturindividuums unterscheidet? Die Antwort mag lauten, wie sie wolle: sie kann jedenfalls nicht mehr der Biologie entnommen werden. Gerade weil die Kultur - und die Naturorganismen vom biologischen Standpunkt aus, also als Organismen, einander gleich sind, vermag die Verschiedenheit von Kultur und Natur, die Selbständigkeit, die Eigenart der Kul- tur, nicht durch die Biologie begreiflich gemacht zu werden. Diese weiß als eine Naturwissenschaft nichts von Werten; wir aber wissen heute längst, daß dem Kulturbegriff die Beziehung auf Werte immanent ist, auf die Werte des Wahren, Guten und Schönen. Diese Werte finden sich zwar im Leben; aber sie wur- zeln nicht in ihm, sie stehen zu ihm vielmehr oft in einem Ver- hältnis der Spannung und Reibung. Ebendarum kann die Kultur nicht restlos und in ihrer spezifischen Geltung als Kultur über- haupt nicht auf das Leben gegründet, biologisch erfaßt werden. Die Biologie ist folglich, da nach Spengler die Kulturen der Gegenstand der Geschichte sind, zwar ein, aber nicht das ein- zige methodische Fundament der Geschichte, nicht einmal das hauptsächliche, nämlich nicht das, welches die Geschichte in ihrer eigentlichen, in ihrer autonomen Bedeutung als Geschichte konsti- tuiert. Vorausgesetzt, daß man überhaupt von der Geschichte eines Grashalms und Insektes reden kann, so ergibt sich das Pro- blem: Was macht die Geschichte der Kulturen zu der Geschichte der Kulturen und damit zu dem, was wir in Wahrheit unter Ge- schichte verstehen im Unterschied von der Geschichte eines Gras- halms und Insektes? Man verriegelt sich den Zugang zum Ge- scbichtsbegrifF ganz ebenso wie den Zugang zu dem mit dem Ge- 106 Kurt Sternberg, Schichtsbegriff — auch nach Spengler — unzertrennlich ver- bundenen Kulturbegriff, wenn man die Geschichte und die Kultur nur ganz allgemein als Organismen anspricht und nicht in ihrem spezifischen Geltungs werte würdigt, wenn man in den geschicht- lichen Kulturindividuen nichts als Lebewesen sieht. 4. Diese Lebewesen sollen nun eine Seele haben. Nach Spengler liegt jeder Kultur ein bestimmtes Seelentum zugrunde; ja, eine Kultur ist ihm zufolge nichts anderes als ein bestimmtes Seelentum. An einer Stelle, an welcher er von Kultur redet, setzt er zur Erläuterung dieses Ausdrucks hinter ihn in Klammern das Wort Seele. So ist ihm „sichtliche Geschichte" — als die Ge- schichte der Kulturen — „Ausdruck, Zeichen, formgewordenes Seelentum". Alle Teile eines Kultur Organismus : Religion, Kunst, Wirtschaft, Recht usw. sind danach als Symbole einer ganz ge- wissen Psyche zu verstehen; in der Einheit dieser Psyche liegt die Einheit der betreffenden Kultur. Auch gegen eine solche kulturpsychologische ßetrachtungsart ist an und für sich nichts einzuwenden ; nur ist es wiederum nötig, die ihr gesetzten Schranken zu beachten. Gewiß darf jede Kultur als Ausdruck eines eigen- und einzigartigen Seelentums angesehen werden ; aber es kann und muß noch mehr in ihr erblickt werden. Jede Kultur repräsentiert zugleich einen ganz bestimmten Wert bezw. einen ganz bestimmten Inbegriff von Werten, und hierdurch wird sie überhaupt erst zur Kultur. Sonst würde sie eine bloße Naturerscheinung sein und bleiben, deren prinzipieller Unterschied von allen anderen Naturerscheinungen nicht angegeben zu werden vermag. Hier liegt die Grenze für jedwede Kulturpsychologie, wenigstens für jedwede naturalistische, d. h. für eine solche, welche Kultur und Seele ausschließlich im Sinne eines Naturproduktes nimmt. Dies tut Spengler, und es muß das umsomehr hervorgehoben werden, als er sich immer wieder bemüßigt fühlt, die Schale seines Zorns und Spottes über die moderne naturwissenschaftliche Psy- chologie auszugießen. Er lehnt eine Psychologie ab, deren Begriffe „aus der Vorstellungsweise der Naturwissenschaft" stammen, deren Objekt „in der Tat ein Stück verkappter Physik" ist; er spricht vom „platten Handwerk der experimentellen Psychologie", von ihren „albernsten Methoden". Nun, experimentelle Psychologie findet man in dem Spenglerschen Werke freilich nicht; man kann aber auch auf dem Pfade der naturwissenschaftlich orien- Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 107 tierten Psychologie wandeln, ohne experimenteller Psychologe zu sein, und bei Spengler ist das der Fall. Gerade er hat darum am wenigsten das Recht, sich gegen die naturwissenschaftliche Psychologie zu wenden. Wie naturalistisch seine eigene Psychologie ist, geht schon daraus hervor, daß er die Geburt aller Kulturseelen „aus dem Schöße einer mütterlichen Landschaft" lehrt, „an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist*. Eine jegliche Kultur = Seele „erblüht auf dem Boden einer genau ab- grenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt". Noch naturalistischer — man möchte beinahe sagen: materialisti- scher — kann keine Psychologie sein! Spenglers psychologischer Naturalismus wurzelt in seiner biologischen Grundeinstellung, in dem Umstand, daß er das Leben zum Zentralbegriff seiner Philosophie macht. Das Leben ist uns in der Form von Erlebnissen gegeben; diese sind die Manifesta- tionen des Lebens. Es ist somit von Spenglers Voraussetzungen aus nur konsequent, wenn er die Geschichte als den „Inbegriff des einmaligen wirklichen Erlebens" definiert, wenn er sagt: „Er- lebtes ist Geschehenes, ist Geschichte". Der Psychologismus ist mit dem Biologismus ebenso unzertrennlich verknüpft wie die naturwissenschaftliche Psychologie mit der Biologie. Walter Blumenfeld hat in einem Vortrag, den er in der Berliner Ab- teilung der Kant- Gesellschaft hielt, die Beziehungen zwischen naturwissenschaftlicher Psychologie und Biologie in überzeugender Weise klargelegt; er hat gezeigt, daß jene in dieser logisch ver- ankert ist, daß die allgemeine Biologie sich zur naturwissenschaft- lichen Psychologie spezialisiert, konkretisiert1). Von hier aus wird es verständlich, daß neben der Biologie eine naturalistische Psychologie, daß die Biologie als naturalistische Psychologie im Mittelpunkt der Geschichtsphilosophie Spenglers steht. 5. Der Psychologie und Biologie entnimmt er das methodi- sche Mittel zur Bewältigung der geschichtsphilosophischen Pro- bleme. Seine Methode ist letzten Endes keine andere als eine der in der modernen Völkerpsychologie verwendeten, nämlich die der Entwicklungsvergleichung. Freilich ist bei ihm das Objekt der Vergleichung ein verschiedenes, nämlich nicht bloß einzelne 1) Blumenfeld, Zur kritischen Grundlegung der Psychologie (Philosophi- sche Vorträge der Kant-Gesellschaft Nr. 25; Berlin 1920). 108 Kurt Sternberg, Kulturgebiete wie Sitte, Recht, Religion usw., sondern die — als selbständige Organismen verstandenen — Kulturen in ihrer Ge- samtheit resp. die ihnen zugrunde liegenden Seelen. Die Kultur- seelen sollen in ihren Entwicklungs Stadien miteinander verglichen werden. Spengler nennt seine Methode der Entwicklungsvergleichung die morphologische. Man kennt die Morphologie aus der Biologie ; sie ist die Lehre von den die Gestalt und ihre Entwicklung be- stimmenden Gesetzen. Spengler überträgt nun in konsequenter Verfolgung seines Biologismus die Morphologie aus der Biologie auf die Geschichte. Es sollen durch Vergleichung die für die Kultur- bzw. Seelengestalten und ihre Entwicklung charakteristi- schen Strukturformen aufgedeckt und auf diese Weise nicht vage Analogien, sondern sichere, eindeutig festgelegte Homologien ge- wonnen werden. Auch diese Termini spielen bekanntlich in der Biologie eine große Rolle. Die Analogie bezeichnet in der Bio- logie die Gleichwertigkeit der Verrichtung, des Gebrauchs, die Homologie hingegen eine solche der Struktur, des Baus. Struk- turelle Gleichwertigkeiten, also Homologien, soll nun die Geschichts- philosophie zu finden trachten. Sie kann es Spengler zufolge; denn der Organismus jedweder Kultur = Seele zeigt — immer nach Spengler — dieselbe Struktur. Er wird geboren, wächst und blüht, gelangt zur Reife, um dann zu verfallen und schließlich ab- zusterben. Es gibt bei ihm Frühling, Sommer, Herbst und Winter ; das sind die Stadien : Kindheit, Jugend, Männlichkeit und Greisen- tum. Alles kommt darauf an, die Entwicklungsphase und inner- halb ihrer den Platz zu bestimmen, den ein historisches Faktum oder Individuum einnimmt. Historische Fakta oder Individuen der mannigfachen Kulturen sind homolog, sofern sie innerhalb ihrer Kultur an der gleichen Stelle stehen. Aus dem Begriff der Homologie folgen die Begriffe der Gleichzeitigkeit und des Zeit- genossen. Gleichzeitig sind „zwei geschichtliche Fakta, die, jedes in seiner Kultur, in genau derselben — relativen — Lage ein- treten und also eine genau entsprechende Bedeutung haben"; als Zeitgenossen müssen Individuen angesprochen werden, welche „Glie- der derselben geistigen Stufe verschiedener Kulturen" sind. Gleich- zeitig geschieht die mystisch-visionäre Ausgestaltung des Welt- bilds zu Beginn einer jungen Kultur; Plotin, den Spengler der von ihm neu eingeführten, das gesamte erste Jahrtausend un- serer Zeitrechnung beherrschenden arabischen Kultur zurechnet, Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 109 und Dante, der zu unserer das zweite nachchristliche Jahrtausend umfassenden abendländischen Kultur gehört, sind somit Zeitgenossen. Gleichzeitig sind die Epochen der Jonik und des Barock. Poly- let, der Schöpfer des Kanons der antiken Plastik, und Jo- ann Sebastian Bach, der Schöpfer des Kanons der abend- ländischen kontrapunktischen Musik, sind Zeitgenossen; sie legen ie strenge Form der spezifischen Kunst ihrer Kultur fest. Gleich- seitig erfolgt in jeder Kultur ihr Übergang zur Zivilisation, d. h. su ihrem letzten Stadium, wo die schöpferische Kraft der Seele ibnimmt und schließlich ganz verloren geht, wo sie nicht mehr die Tiefe, sondern in die Breite, nach der Ausdehnung, strebt, wo der Organismus zum Mechanismus erstarrt, wo die organische, organisierende Seele zum mechanischen, mechanisierenden Geiste wird. Die Sophisten und Sokrates auf der einen, Voltaire und Rousseau auf der anderen Seite stehen an der Schwelle der Zivilisation; sie sind also Zeitgenossen. Dies sind ferner Alexander der Große und Napoleon, bei denen die für alle Zivilisation charakteristische Tendenz zur Breite, zur Expansion, zum ersten Male auf politischem Gebiet in die Erscheinung tritt. Dagegen sind Cäsar und Napoleon, die man auch oft zusam- menstellt, keine Zeitgenossen; denn Cäsar gehört einer späteren Stufe der Zivilisation an als Napoleon, der mit Alexander an ihrem Anfang steht. Daher sind nur Alexander und Na- poleon homologe, also innerlich dasselbe bedeutende, strukturell gleichwertige Phänomene; Cäsar und Napoleon sind hingegen bloß analoge, hinsichtlich ihrer äußeren Betätigung bis zu einem gewissen Grade ähnliche Phänomene. Es ist nicht zu verkennen, daß Spenglers Argumentation etwas Bestechendes an sich hat, und man kann auch nicht leugnen, daß ihm mit Hilfe dieser Argumentation vielfach überraschende Vergleichungen von großer Kühnheit und Neuheit gelangen sind, die stark zum Nachdenken anregen. Allein die methodischen Grenzen und Schwächen der Spenglerschen Position liegen für den, der sie unter logischem Gesichtspunkt betrachtet, auf der Hand. Zunächst einmal ist die Unsicherheit bemerkenswert, die sich bei Spenglers Vergleichungen zeigt. Es ist unter Spengler- schen Voraussetzungen gewiß richtig, daß — im ganzen gesehen — Plato und Aristoteles auf der einen, Goethe und Kant auf der anderen Seite Zeitgenossen sind. Dennoch bleibt es pein- 110 Kurt Sternberg, lieh, daß im einzelnen bisweilen Plato und G-oethe als die großen Vertreter der Intuition sowie Aristoteles und Kant als die großen Systematiker, bisweilen aber auch Plato und Kant zusammengestellt werden. Noch peinlicher ist es, daß zwar in der Regel Aristoteles und Kant als die Vollender der systematischen Philosophie ihrer Kulturen miteinander verglichen werden, daß aber an einer Stelle auch einmal Schopenhauer als „letzter großer Systematiker" der abendländischen Philosophie bezeichnet wird. Damit würde Schopenhauer zu einem Zeit- genossen des Aristoteles werden, derselbe Schopenhauer, der sonst als morphologisch gleichwertig mitEpikur, also einem der Begründer der nacharistotelischen Philosophie, ange- sprochen wird. Dies kommt daher, daß es, wie auch Heinrich Scholz in seiner Broschüre über Spengler ausführt *), bei die- sem trotz der hierauf bezüglichen Darlegungen an einem objektiven Prinzip fehlt, auf Grund dessen im besonderen Falle eindeutig bestimmt werden könnte, ob zwei Erscheinungen wahrhaft homolog oder bloß analog sind. Das kann nach Spengler gar nicht er- kannt, sondern nur „gefühlt, erlebt, geschaut" werden, und wie sonst noch die Lieblingstermini der Spenglerschen Methodik lauten. Überdies ist zu erwägen, ob auf dem Wege Spenglers über- haupt jemals wirkliche Homologien gefunden werden können oder ob wir nicht vielmehr mit Notwendigkeit auf die Bildung von Analogien beschränkt bleiben. Der Ausgangspunkt Spenglers ist die Auffassung der Kulturen als Organismen. Diese Auffassang ist aber eine rein analogische. Zwar heißt es bei Spengler, wie wir bereits wissen, einmal: „Kulturen sind Organismen" und ein anderes Mal: „Kulturen sind Pflanzen", wobei das Wort „Sind" bei der zweiten Stelle von Spengler selbst durch Sperrdruck noch besonders hervorgehoben worden ist. Allein eine solche Be- hauptung steht logisch auf demselben Niveau wie die bekannte materialistische, daß Empfindungen Nervenbewegungen sind. Wie Empfindungen Empfindungen und Nervenbewegungen Nervenbewe- gungen sind, so sind Organismen Organismen resp. Pflanzen Pflanzen und Kulturen Kulturen. Allerdings kann ich diese als Organis- men, also nach Analogie mit den Organismen betrachten; aber 1) Scholz, Zum „Untergang" des Abendlandes. Eine Auseinandersetzung mit Oswald Spengler S. 59 (2. Aufl., Berlin 1921). Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 111 das Ergebnis eines solchen analogiscben Verfahrens vermag immer nur eine Analogie zu sein. Spengler selbst erklärt einmal gleich zu Anfang seines Werkes: „Das Mittel, lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie". Nun wohl: ist es die Analogie, so ist es eben nicht die Homologie, d. h. eine ßedeutungsgleichheit in strengem Gesetzessinne. Man weiß ans der Logik, mit welchen Schwierigkeiten die Analogieschlüsse zu kämpfen haben, daß sie alle in höherem oder geringerem Grade fragwürdig sind. Ihr Produkt ist höchstens nur eine mehr oder weniger unbestimmte Generalisation , niemals ein bestimmtes Gesetz. Es liegt gewiß eine nicht uninteressante Nuance vor, wenn Spengler nicht mehr wie vielfach die bis- herige Philosophie die gesamte Menschheit, die Gesellschaft, ein Volk oder eine abgegrenzte Kulturerscheinung, z. B. die bildende Kunst oder noch spezieller die deutsche Romantik, sondern die einzelnen Kulturen in ein analogisches Verhältnis zu den Orga- nismen setzt und auf sie seine Generalisationen bezieht; allein unter prinzipiellem Gesichtspunkt ist es ein und dasselbe. Es bleibt sich in logischer Hinsicht gleich, ob ich von Geburt, Blüte, Reife und Verfall einer einzelnen Kulturerscheinung oder einer ganzen Kultur spreche und ob ich von einer Kultur oder von einem Volk resp. der Menschheit den Durchgang durch die Stadien der Kindheit, der Jugend, der Männlichkeit und des Greisentums behaupte. Spenglers analogische Generalisationen unterscheiden sich vom methodischen Gesichtspunkt aus keineswegs von den- jenigen, welche aus der bisherigen Geschichtsphilosophie bekannt geworden sind, sofern diese generalisierende Tendenzen verfolgte. Hier wie dort handelt es sich um mehr oder weniger unsichere Generalisationen, nicht aber um sichere Gesetze. Diese können, wie wir seit Galilei und der Begründung der modernen Naturforschung wissen, niemals durch Generalisation, sondern nur durch Analyse eines Einzelfalls gefunden werden. Indem Spengler durch generalisierende Abstraktion Gesetze zu gewinnen trachtet, zeigt er, daß . er — trotzdem das alte Grie- chenland, wie wir sehen werden, nach seiner Meinung völlig tot ist — noch ganz auf dem von keinem Fortschritt der neuzeitlichen Logik berührten Standpunkt der aristotelischen Induktion steht. Freilich: die Gesetze bei Galilei und in der modernen Natur- wissenschaft sind Naturgesetze. Allein Spengler selbst hebt 112 Kurt Sternberg, ausdrücklich hervor, daß alle Gesetze Naturgesetze sind: „Es gibt nur Naturgesetze". Da mutet es nun höchst sonderbar an, daß Spengler, der von dem Gegensatz zwischen Natur und Ge- schichte ausgeht und ihn immer wieder betont, nach Gesetzen des geschichtlichen Lebens sucht, obwohl diese Gesetze seiner eigenen Überzeugung nach ausschließlich Naturgesetze sein können. Dies heißt denn doch wohl die methodische Verwirrung bis auf die Spitze treiben! Zwar würde Spengler seinerseits bestreiten, daß er historische Gesetze zu entdecken sucht; aber was bedeutet es, wenn man strukturelle Gleichwertigkeiten aufweisen, wenn man von der Analogie die Homologie als strenge Bedeutungsäqui- valenz, wenn man vor allem die geschichtliche Zukunft berechnen will? Spenglers Werk beginnt mit dem Satze: „In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gewagt, Geschichte vorauszu- bestimmen". Was den in diesen Worten zum Ausdruck gelan- genden Prioritätsanspruch betrifft, so wird er durch den bloßen Hinweis auf Comte und Spencer erledigt, die gleichfalls „Ge- schichte vorauszubestimmen" trachteten. Ja, schon der erste und älteste Geschichtsphilosoph großen Stils, der heilige Augustin, strebte danach, indem er seine Geschichtskonstruktion keineswegs auf die — Augustinische — Gegenwart beschränkte, sondern bis zum jüngsten Tag und sogar darüber hinaus führte. Aber auch hier kommt es letzten Endes nicht auf die Priorität, sondern auf die Sache an. Diese liegt in dem Versuch, Geschichte vorauszubestimmen. Soll eine solche Vorausbestimmung nicht eine bloße Spekulation sein, so muß sie sich offenbar auf die Erkenntnis von Gesetzlich- keiten gründen, ganz wie die Vorausbestimmung von Naturtat- sachen. An keiner anderen Stelle tritt der — Spengler selbst völlig unbewußte — prinzipielle Naturalismus seiner Geschichts- betrachtung so klar zutage wie ebenhier. Es wird aber nicht bloß ganz allgemein versucht, Geschichte vorauszubestimmen; es wird der spezielle Versuch gemacht, den Untergang des Abendlandes vorauszubestimmen. Dieser Versuch wird Von Spengler nur gemacht, er kann von ihm nur gemacht werden, weil er die Strukturgesetzlichkeit der abendländischen Kultur genau zu kennen meint und nicht bloß der abendländischen, sondern auch der anderen Kulturen ; denn gerade auf Grund ihrer Vergleich ung erscheint ihm der Untergang des Abendlandes als Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 113 ein notwendiges Phänomen. Nun haben wir im vorigen gesehen, daß die auf der Basis der Spenglerschen Morphologie vorge- nommenen Vergleichungen immer nur zur Aufstellung analogischer Verhältnisse, niemals zur Statuierung gesetzlicher Beziehungen führen. In der Tat: was Spengler beibringt, um uns den Ver- fall der abendländischen Kultur glaubhaft zu machen, sind nichts als Analogien, allerdings zum Teil recht interessante. Diese Ana- logien lassen vieles in einem ganz neuen Licht erscheinen, und durch sie hat sich Spengler zweifelsohne ein Verdienst erworben. Immerhin sind Analogien keine Gesetze. Notwendigkeit haben aber nur diese, und es kann somit keine Rede davon sein, daß Spengler den Tod unserer Kultur, noch dazu für die Zeit um das Jahr 2000, nachgewiesen hätte. Sollten ein solcher Nachweis und überhaupt eine historische Vorausbestimmung nicht etwa schon im Prinzip unmöglich sein: auf dem Fundament von Spenglers Morphologie sind sie jedenfalls nicht möglich. 6. Diese Morphologie macht nun noch eine Voraussetzung, die ihrer entscheidenden Bedeutung wegen besonders betrachtet werden muß. Sie erblickt in einer Kultur nicht bloß einen Orga- nismus, sondern einen solchen von absoluter Selbständigkeit. Diese Voraussetzung folgt aus dem Wesen der morphologischen Methode an sich keineswegs; die Morphologie, wie sie in der Biologie ver- wendet wird, macht sie nicht. Der biologische Organismus wird durchaus als abhängig gedacht von seinen Vorfahren sowie son- stigen Einflüssen und zwar nicht bloß rein äußerlich, mit Rück- sicht auf seine Gestalt, sondern auch innerlich, in seelischer Hin- sicht. Von hier aus gesehen, lag für Spengler kein zwingender Grund vor, bei seiner Übertragung des Organismus begriffs auf die Kulturen diesen totale Selbständigkeit zuzuschreiben. Immerhin kann man Spenglers Motiv verstehen: Je mehr und je strenger die verschiedenen Kulturen voneinander abgegrenzt sind, um so klarer und reiner kann ihre von Spengler angenommene struk- tive Gesetzlichkeit hervortreten, um so leichter wird die nach Spengler mögliche Vorausbestimmung ihres Schicksals, insbe- sondere des Untergangs der abendländischen Kultur. Darum stellt Spengler also eine radikale Trennung der Kulturen her. Ihm zufolge liegt jeder von ihnen — wir wissen es bereits — ein eigen- und einzigartiges Seelen tum zugrunde, und alle einzelnen Erscheinungen innerhalb einer Kultur sind ein Aus- druck, Symbole dieses eigen- und einzigartigen Seelentums. Mag Kautstudien XXVn. 8 114 Kurt Sternberg, eine Kultur — immer nach Spengler — sich auch äußerlich die Formen einer anderen aneignen, so erfüllt sie diese doch mit einem völlig neuen inneren, seelischen Gehalt. Es besteht, sieht man von der „Oberfläche" ab, kein Zusammenhang zwischen den ver- schiedenen Kulturen; die eine wurzelt niemals in der anderen, die eine setzt die andere nicht voraus. „Im Phänomen der einzelnen, aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berüh- renden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Grehalt aller Historie". Demselben relativistischen Standpunkt, den Spengler gegen- über den Kulturen in ihrer Gesamtheit einnimmt, unterstellt er nun natürlich auch die einzelnen Kulturgebiete. Gerade in philo- sophischen Kreisen könnte man der Auffassung sein, daß dieser Relativismus in bezug auf die Philosophie bereits durch einen Blick auf ihre Entwicklungsgeschichte widerlegt würde; denn die Philosophie der abendländischen Kultur — diese stets im Speng- lerschen, d. h. ausschließlich das zweite nachchristliche Jahr- tausend umfassenden Sinne verstanden — ist bekanntlich ohne die antike Philosophie nicht begreiflich, gar nicht denkbar. Spengler ist anderer Meinung: „Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer und nur ihrer Zeit". „Es gibt keine Philosophie überhaupt". Und wie es — immer nach Spengler — keine Philosophie über- haupt gibt, so gibt es auch sonst keine Wissenschaft, zum Bei- spiel keine Mathematik überhaupt: „Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken". Ebenso gibt es keine Physik, sondern „nur einzelne, auftauchende und schwindende Physiken innerhalb einzelner Kulturen". Die moderne Mechanik mit ihrem Geltungs- anspruch ist nichts als „eine die Struktur des westeuropäischen Geistes bezeichnende Illusion". Wie es auf wissenschaftlichem Gebiete steht, so auch auf moralischem: „Es gibt so viele Moralen, als es Kulturen gibt"; mithin gibt es „keine allgemein menschliche Ethik". Entsprechendes gilt von der Kunst bzw. den Künsten. „Die Malerei — das gibt es nicht". „Malerei ist nur ein Wort". „Ebenso ist Musik ein vages Wort". Die Kunst „der freistehenden griechischen Statue, des Kontrapunkts, des byzantinischen fron- talen Porträts, des perspektivischen Ölgemäldes : Jede dieser Künste ist ein Organismus für sich, ohne Vorgänger und Nachfolger, wenn man vom Äußerlichsten absieht". Darum gibt es „keine Geschichte der Kunst, der Architektur, der Musik, des Dramas"; es sind Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 115 „diese Gesamtgeschichten lediglich eine äußerliche. Summierung einer Anzahl von Einzelphänomenen, von Sonderkünsten . . . , die nichts als den Namen und einiges der handwerklichen Tecknik gemein haben". „Nichts als den Namen"; schon gut, aber immerhin den Namen! Wie kommt das? Worauf beruht es, daß wir sowohl die Fresko- malerei Griechenlands als auch die perspektivische Ölmalerei der Neuzeit als Malerei, sowohl die antike Musik — sie mag im übrigen so primitiv gedacht werden wie nur möglich — als auch die mo- derne kontrapunktische Musik als Musik bezeichnen? Es müssen hier wie dort gewisse grundlegende Voraussetzungen logischer Natur vorhanden sein, welche allein es ermöglichen, dann aber auch dazu verpflichten, von Malerei bezw. Musik zu sprechen. Malerei und Musik sind eben nicht bloße „Namen", bloße „Worte", noch dazu „vage Worte" ; es handelt sich vielmehr um streng de- finierte Begriffe. Diese Begriffe stellen — wie sämtliche Begriffe — Geltungszusammenhänge dar; sie enthalten — gleich allen Be- griffen — in sich ein System formaler Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn ein Objekt durch sie bestimmt werden soll. Diese formalen Bedingungen hat das Objekt der antiken Ma- lerei und Musik genau so zu erfüllen wie das der abendländischen, damit es als Objekt der Malerei und Musik begriffen werden kann und muß, mögen antike und abendländische Malerei und Musik inhaltlich auch noch so sehr voneinander verschieden sein. Das System der formalen Bedingungen, der Geltungszusammenhang, stellt die Einheit der Malerei und der Musik, überhaupt der Kunst her und gestattet, ja, gebietet es uns, von der Malerei, der Musik, der Kunst zu reden. Das System der formalen Bedingungen, der Geltungszusam- menhang, gestattet und gebietet es uns auch, von der Moral zu reden. Gewiß: „es gibt so viele Moralen, als es Kulturen gibt"; aber diese verschiedenen Moralen sind immerhin Moralen. Der Begriff der Moralen setzt doch wohl den der Moral voraus! Ebenso setzt der Begriff der Physiken, Mathematiken, Philosophien doch wohl den Begriff der Physik, Mathe- matik, Philosophie voraus. Fraglos besteht zwischen der dynamischen Physik der Neuzeit und der statischen des Altertums ein großer Unterschied, derselbe Unterschied wie zwischen der infinitesimalen Mathematik der Neuzeit und der euklidischen des Altertums. Allein dieses Unterschiedes ungeachtet, handelt 8* 116 Kurt Sternberg, es sich beidemal um Physik resp. Mathematik, und dieser Umstand erfordert, daß beidemal ein Inbegriff von Momenten vorliegt, die das jeweilige Objekt in seinem physikalischen resp. mathematischen Geltungswerte, die den Geltungswert von Physik resp. Mathematik konstituieren. Und inbetreff der Philosophie ist es nickt anders. Allerdings ist jede Philosophie ein Ausdruck ihrer Zeit. Das führte schon Plato als Entschuldigung für die Irrlehren der Sophisten an, und von Hegel stammt das schöne und tiefe Wort: „Eine Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt". Aber Hegel dachte gar nicht daran, der verschiedenen Philosophien wegen den ein- heitlichen Philosophiebegriff aufzuheben; denn er wußte, daß in ihnen allen trotz ihrer inhaltlichen Verschiedenheit dieselben formalen Elemente wirksam sind, die Elemente, welche die ver- schiedenen Philosophien zur Philosophie machen und somit den Begriff der Philosophie selbst begründen. Die Wirksamkeit der formalen Elemente, der logischen Voraus- setzungen und Bedingungen, welche den Grund legen zu den Be- griffen Wissenschaft, Moral und Kunst, garantiert die Einheit auf den genannten Kulturgebieten. Diese formale Einheit bildet den absoluten Faktor in den relativen Inhalten; sie stellt die von Spengler so völlig verkannte * Kontinuität her. Die Kontinuität in der Wissenschaft, Moral und Kunst — sie bedeutet aber die Kontinuität in der Kultur überhaupt; denn die wissenschaftliche, die — im weitesten Sinne verstandene, also auch Recht, Religion usw. in sich begreifende — moralische und die künstlerische Kultur umfassen den gesamten Bereich der menschlichen Kultur. „Was ist nun von der monadologischen Struktur der welt- geschichtlichen Kulturen zu halten?", fragt Heinrich Scholz in seiner Auseinandersetzung mit Spengler, und er fährt fort: „Unsere Antwort darf kurz sein. Sie lautet so : Soweit sich dieser Strukturgedanke mit dem Kontinuitätsprinzip verträgt , ist er gut" 1). Hiermit ist die Stellung gekennzeichnet, die unter logi- schem Aspekt allein diesem Problem gegenüber eingenommen werden kann. Relativität und Kontinuität schließen einander keineswegs aus. Die Kontinuität ist stets eine solche im Relativen; der Begriff der Kontinuität fordert 3omit den der Relativität als sein Korrelat. Umgekehrt verlangt auch dieser jenen zu seiner Ergänzung. Das 1) Scholz, 1. e. S. 48. Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 117 Relative hat nur Sinn nnd Bedeutung in Beziehung auf ein Abso- lutes, das in ihm kontinuierlich fortwirkt. Dieses Absolute, welches kontinuierlich fortwirkt — es ist nichts anderes als das Denken, die Erkenntnis selbst. Gewiß: alles Gedachte, alles Erkannte ist relativ; daß aber alles Relative in der Einheit des Denkens, der Erkenntnis, wurzelt, in logischem Sinne aus ihr hervorgeht, dies besagt das Prinzip der Kontinuität. Darum ist es von Leibniz und von Kant vertreten worden, und über seine methodische Be- deutung sollte zum mindesten seit Hermann Cohen kein Zweifel mehr möglich sein. Das Urteil der Kontinuität ist das Urteil des Ursprungs, des logischen Ursprungs aus dem Denken, wie es sich am klarsten in der mathematischen Infinitesimal- Analysis offenbart. Hätte sich Spengler, der diese ständig im Munde führt, ihren wahren methodischen Sinn und Gebalt vergegenwärtigt, so würde er sich auch Sinn und Gehalt des Kontinuitätsprinzips vergegen- wärtigt und nicht alle Kontinuität bestritten haben. Nicht dies ist der Fehler Spenglers, daß er die Relativität aller Kultur auf das stärkste betont und aufzuzeigen strebt. Dies ist sogar ein Verdienst von ihm, und er hat in der Unterscheidung der verschiedenen Kulturen, in ihrer Abhebung voneinander, Be- deutsames geleistet. Daß er aber die Relativität in relativisti- schem Sinne interpretiert, ausbeutet, darin liegt der Fehler. Et- was anderes ist es, die Relativität, etwas anderes, den Relativis- mus zu vertreten; jene ist im Gegensatz zu diesem mit dem un- entbehrlichen Kontinuitätsgedanken durchaus verträglich. 7. Dieser ist aber unentbehrlich, weil er und nur er uns das Verständnis fremder Kulturen ermöglicht. Wäre zwischen den verschiedenen Kulturen keine Kontinuität vorhanden, so würde es keine Übergänge geben, keine Brücken, die von der einen zur an- deren führen, und es würde somit unmöglich sein, die eine von der anderen aus zu erfassen, zu begreifen. Die völlige Leugnung der Kontinuität würde also den völligen Skeptizismus im Gefolge haben. Spengler zeigt unverkennbar Neigung, diese Konsequenz zu ziehen. Er selbst bezeichnet seinen Standpunkt als Skeptizismus, als „historisch-psychologischen Skeptizismus". Sollte es wirklich nötig sein, die in der Philosophie längst erkannte theoretische Widersinnigkeit des Skeptizismus noch einmal nachzuweisen? Ge- ringes Nachdenken führt zu der Einsicht, daß letzten Endes nicht das Denken im Zweifel, sondern der Zweifel im. Denken wurzelt. 118 Kurt Sternberg, "Wir verdanken Richard Hönigswald eine wertvolle Studie über den Zweifel *). In ihr wird seine ungemein große methodische Fruchtbarkeit gekennzeichnet; in ihr werden aber auch seine Grenzen abgesteckt. Diese Grenzen ergeben sich daraus, daß der Zweifel — als ein Denken — die Denkgesetze zu seiner Bedin- gung hat, an sie mithin nicht heranreicht. So wird zwar die Skepsis gerechtfertigt, welche den Hebel aller Forschung bildet, zugleich aber der Skeptizismus ad absurdum geführt. Das letztere ist in der Tat nicht schwer ! Der Skeptizismus will eine Theorie sein, aber eine solche, die alle Theorie unmöglich macht; der Skeptizismus will eine Erkenntnis vermitteln, aber eine solche, die alle Erkenntnis aufhebt; der Skeptizismus will Wahrheit • geben, aber eine solche, die alle Wahrheit leugnet. Dieser innere Widerspruch, der dem Skeptizismus anhaftet, ist seit langem auf- gedeckt worden; man sollte meinen, daß er auch Spengler be- kannt geworden sei. Allein das Gregenteil ist der Fall; er macht sich bei ihm in seinem ganzen Ausmaß, in seiner vollen Schärfe geltend. Auf der einen Seite setzt Spenglers Methode der morpho- logischen Vergleichung doch wohl das Verständnis des zu Ver- gleichenden voraus, nämlich der Kulturen resp. der ihnen zugrunde liegenden Seelen. So erscheint es ihm denn als die Aufgabe seiner Morphologie, „das Weltgefühl nicht nur der eigenen, sondern das aller Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten über- haupt bisher erschienen und deren Verkörperung im Bereiche des Wirklichen die einzelnen Kulturen sind." In diesem Sinne sucht er den Charakter der verschiedenen Kulturseelen festzulegen. So bestimmt er die antike Kulturseele als die apollinische. Man kennt diesen Terminus von Friedrich Nietzsche her. Die apollinische — es ist die auf das Maß, auf das Begrenzte gerich- tete Seele. Ihr gegenüber ist die des Abendlandes im zweiten nachchristlichen Jahrtausend die faustische; es eignet ihr Fausts Sehnsucht nach dem Unendlichen, Grenzenlosen, Fausts Wille zur Macht. "So wird mithin die Möglichkeit einer Erfassung der mannigfachen Kulturseelen von Spengler angenommen, und von dieser Möglichkeit leben die meisten Ausführungen in seinem Werke. Nichtsdestoweniger leugnet er auf der anderen Seite wieder- holt und mit Entschiedenheit, daß einer Kultur das Verständnis 1) Hönigswald, Die Skepsis in Philosophie und Wissenschaft (Göttingen 1914). Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes." 119 einer anderen möglich sei. Ausdrücklich wird erklärt, daß jede Kulturerscheinung Symbol eines Seelentums, Zeichen eines „Welt- gefühls" ist, „das nur zu Menschen einer einzigen Kultur redet." Deshalb handelte resp. handelt es sich nach Spengler um eine bloße „Illusion", wenn wir die Antike zu verstehen glaubten resp. glauben: „Wir haben in unser Bild von den Griechen und Römern jedesmal das hineingelegt, hineingefühlt, was wir in der Tiefe der eigenen Seele entbehrten oder erhofften." Das ist ja nun wohl richtig. Jeder Epoche erscheint die An- tike anders; jede macht sich von ihr ein anderes Bild, ein anderes Ideal. Aber ist ein anderes Verständnis etwa kein Verständ- nis ? Vielleicht versteht niemand von uns Heutigen die Philosophie Pia tos so, wie die Griechen und vor allem Plato selbst und seine Zeitgenossen sie verstanden haben; allein daraus folgt nicht, daß wir sie überhaupt nicht verstehen. Spengler hat schon ganz Recht mit seinem vorher angeführten Satze, daß jede Philo- sophie ein Ausdruck ihrer Zeit ist; er hat jedoch Unrecht, wenn er hinzufügt: „und nur ihrer Zeit." Der Philosophie ist neben dem zeitlichen noch ein überzeitlicher Faktor immanent, der in allem Zeitlichen kontinuierlich fortwirkt, und dieser überzeitliche Faktor ermöglicht auch anderen Zeiten ein — wenn auch anderes — Verständnis der Philosophie einer Zeit. Was von der Philo- sophie gilt, das gilt auch von sämtlichen übrigen Kulturerschei- nungen. Gewiß: ein griechisches Drama, eine griechische Statue hat vielleicht, sogar vermutlich in einem Griechen ein anderes Gefühl der Schönheit ausgelöst als in uns Jetzigen; immerhin: ein Gefühl der Schönheit ist es nach wie vor, welches ausgelöst wird. Das ist nur begreiflich bei der Annahme gewisser Bedin- gungen, Gültigkeiten, die in der Antike vorlagen und auch in der Moderne nicht verloren gegangen sind, gar nicht verloren gehen können, weil sie von allem Zeitlichen unabhängig sind. Wir kommen somit zu dem Schlüsse: Jede Kulturerscheinung ist ein Ausdruck, ein Symbol eines bestimmten Seelentums ; aber sie ist nicht bloß der Ausdruck, nicht bloß das Symbol einer Psyche. Und was sie mehr ist: das konstituiert den Begriff der Kultur selbst, ist darum in allen Kulturen wirksam und ermöglicht es der einen, die andere — wenn auch auf ihre Weise — zu ver- stehen. 8. Es heißt einmal bei Spengler: „Weil Gegensätze sich berühren, weil sie auf ein vielleicht Gemeinsames in der letzten 120 Kurt Sternberg, Tiefe der Existenz verweisen, finden wir in der abendländischen, faustischen Seele jenes sehnsüchtige Suchen nach dem Ideal der apollinischen, die sie allein von allen anderen begriffen und um die Kraft ihrer Hingabe an die sinnlich-reine Gegenwart beneidet hat." Diese Stelle, an der übrigens plötzlich zugegeben wird, daß die abendländisch-faustische Seele die griechisch- apollinische „be- griffen" hat, enthält einen sehr fruchtbaren Gedanken, den Spengler nur leider nicht zu Ende gedacht hat. Er sagt, daß „Gegensätze sich berühren" und „ auf ein vielleicht Gemeinsames . . . verweisen." Allerdings: bei jeder Vergleichung wird logisch ein einheitliches Prinzip vorausgesetzt, auf Grund dessen verglichen wird, eine höhere Einheit , innerhalb derer die Vergleichung statt- findet. Ebendas bedeutet das Prinzip der Kontinuität ; diese ist die Einheit im Verschiedenen, im Gegensätzlichen. Mögen zwei Objekte auch noch so verschieden, entgegengesetzt, sein: es muß eine kon- tinuierliche Einheit zwischen ihnen gedacht werden, da sonst ihre Verschiedenheit, ihr Gegensatz, gar nicht gedacht werden könnte. So muß denn auch zwischen den nach Spengler entgegenge- setzten Seelen der abendländisch-faustischen und der antik-apolli- nischen Kultur eine kontinuierliche Einheit gedacht werden; sie müssen „auf ein vielleicht Gemeinsames in der letzten Tiefe der Existenz verweisen." Wenn dem aber so ist, dann können das Apollinische und das Faustische einander nicht bloß entgegengesetzt, nicht schlecht- hin fremd sein, dann muß das Apollinische auch in der Kultur des Abendlandes und das Faustische in der der Antike wirksam sein. Hiermit ist gegeben, daß weder die Kategorie des Apolli- nischen zur Bestimmung der antiken noch die des Faustischen — wenigstens wenn sie in Spenglers Sinne genommen wird — zur Bestimmung der abendländischen Kultur ausreichend ist. Trotzdem soll durchaus zugestanden werden, daß Spengler mit Hilfe dieser Kategorien Beträchtliches gelungen ist. Durch sie ist so manche Kulturerscheinung in ganz anderer Weise als zuvor dem Verständnis erschlossen worden. Spenglers Schilde- rung der antiken und der abendländischen Kultur — und nicht nur dieser beiden — macht den eigentlichen Wert seines Werkes aus. Nichtsdestoweniger sind diese Kulturschilderungen einseitig. Sie kehren stets bloß einen, vielleicht manchmal den entschei- denden, jedenfalls aber nicht alle Gesichtspunkte hervor. Wenn Spengler, der die Kultur als Ganzes atomisiert, bei der Fest- Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 121 legung der einzelnen Kulturen nach Einheit trachtet, so ist das gewiß berechtigt ; aber er hätte Einheit nicht mit Einfachheit ver- wechseln sollen. Eine Einheit kann zusammengesetzt, ein Gebilde von höchst komplizierter Struktur sein, und Kulturen sind zu- sammengesetzte Einheiten, Grebilde von höchst komplizierter Struktur. Gerade der bei ihm so beliebte Begriff des Faustischen hätte Spengler die Augen öffnen können. Bekanntlich sagt Faust von sich, daß zwei Seelen in seiner Brust wohnen. Nur die eine ist die nordisch-germanische, die ins Unendliche, Grenzenlose stre- bende; die andere aber, die ihn an das endliche, begrenzte Dies- seits kettet, ist die, welche Spengler als die apollinische be- zeichnet. Ja, sogar noch eine dritte Seele, die religiös -christliche, wohnt in der Brust des Faust, den der Klang der Osterglocken von dem beabsichtigten Selbstmord zurückhält. Hätte Spengler dies beachtet, so würde er den Begriff des Faustischen nicht in unzulässiger Weise verengt haben, so würde seine Bestimmung der okzidentalen Kultur durch diesen Begriff ganz erheblich frucht- barer gewesen, ganz erheblich tiefer gegangen sein. Er würde entdeckt haben, daß der abendländischen Kultur des zweiten nach- christlichen Jahrtausends — schon sofern sie als faustisch charak- terisiert wird — nicht bloß eine, sondern verschiedene Seelen zu- grunde liegen, und diese Erkenntnis würde ihn zu der Frage ge- führt haben, ob nicht vielleicht auch der antiken Kultur noch mehr als nur jene apollinische Seele immanent ist. Der junge Nietzsche stellte neben das Apollinische das Dionysische. Er war hier schon sehr viel weiter als Spengler, dem das Dionysische in der griechischen Kultur nichts als ein bloßer Auflehnungsversuch gegen das Apollinische, nichts als eine mehr oder minder unwesentliche Gegenbewegung ist. Dem Dio- nysischen eignet ganz unverkennbar ein Zug zum Unendlichen, und dieser Zug muß sich auch in den einzelnen Erscheinungen der griechischen Kultur — wenigstens in einem gewissen Sinne und bis zu einem gewissen Grade — nachweisen lassen. Bei Speng- ler freilich heißt es in bezug auf das antike Seelenbild, wie es speziell von Plato gemalt worden ist: „Nichts deutet auf ein Unendlichkeitsbedürfnis hin." Aber was besagt es, wenn der platonischen Lehre zufolge die Dinge die Ideen nie erreichen, obwohl sie ewig danach streben? Die ganze Tragik des Lebens, die ganze Problematik der Kultur gelangt hier zum Ausdruck, 122 Kurt Sternberg, und diese Tragik, diese Problematik, ist von den Griechen erfaßt worden, seitdem die Pythagoreer ihre Tafel der Gegensätze aufstellten und Heraklit den Kampf als den Vater aller Dinge bezeichnete. Die Problematik, die das Wesen der Kultur überhaupt aus- macht, ist in der antiken Kultur erkannt worden und konnte ihr nur erkannt werden, weil sie in ihr wirksam war, und sie \s\ in der abendländischen Kultur des zweiten Jahrtausends unsere] Zeitrechnung womöglich noch tiefer erkannt worden, weil sie in ihr womöglich noch mehr wirksam war bzw. ist. Es ist der groß- artige Grundgedanke, von dem die Hegeische Dialektik getragei wird, daß alles geistig-geschichtliche Leben sich in Gegensätzen vollzieht, vollziehen muß, und dieser Gedanke bewährt und be- wahrt seine prinzipielle methodische Bedeutung, mag er in ein- zelnen Ausführungen Hegels auch oft genug zu „ Ab strusi täten* — um mit Spengler zu reden — geführt haben. Der dialek- tische, der Gesichtspunkt der Problematik, ist für das Verständnis der Kultur in unseren Tagen vornehmlich von Arthur Liebe H fruchtbar gemacht worden, der als den Grundgegensatz in allei Kultur den zwischen dem griechischen und dem jüdisch-christ- liehen Ideal anspricht, wobei beide Ideale nicht als historische Fakta, sondern als überzeitliche Wertgegensätze verstanden werdei müssen1). Hier wird also das jüdisch-christliche Ideal genannt, dessen von Spengler nur ganz ungenügend gewürdigte Bedeu- tung für die abendländische Kultur auch von Goetz Briefs be- tont worden ist 2). Man sieht jetzt, wie unzureichend die Bestim- mung der abendländischen Kultur durch die Kategorie des Fau- stischen ist, wenn sie nicht in dem vorher bezeichneten weiterei Sinne genommen wird, sondern ausschließlich in dem engen Sinne Spenglers, dem zufolge das Faustische einzig das germanische Unendlichkeitsstreben ist. Ernst Troeltsch hat schon | Recht, wenn er drei Grundbestandteile unserer Kultur unterscheidet, nämlich den religiös-christlichen, den nordisch-germanischen unc den humanistisch-antiken, und wenn er in der Verschlingung diese] drei Faktoren die eigentümliche, die schwere Problematik unsere] Leuchter"; Darmstadt 1919). 2) Briefs, Untergang des Abendlandes, Christentum und Sozialismus. Eine Auseinandersetzung mit Oswald Spengler (Freiburg i. Br. 1920). Die philosoph. Grundlagen in Spenglers n Untergang d. Abendlandes". 123 Zeit sieht1), die übrigens von Georg Simmel in einer kleinen, gehaltreichen, noch kurz vor seinem Tode erschienenen Studie durch verschiedene Einzelbeispiele beleuchtet worden ist2). Diese Problematik unserer Zeit wird, aber nur begreiflich, wenn man das kontinuierliche Fortwirken des religiös-christlichen, des nor- disch-germanischen und des humanistisch- antiken Moments aner- kennt, und so offenbart sich uns das Kontinuitätsprinzip als die Bedingung für das Verständnis nicht bloß fremder Kulturen, son- dern auch unserer eigenen Kultur. 9. Was setzt nun eigentlich Spengler an die Stelle des Kontinuitätsprinzips? Es ist ein Prinzip, das man mit Heinrich Scholz als das der Kohärenz bezeichnen kann3). Diese wird freilich bei Spengler selbst letztlich zur Koinzidenz. Jede Kultur bringt doch nach ihm ein ganz gewisses Seelen- tum zum Ausdruck, und durch die Beziehung auf dieses Seelentum erhalten die verschiedenen Kulturgebiete ihren Zusammenhang. Keines von ihnen ist isoliert, für sich zu begreifen, sondern nur im Konnex mit allen anderen; denn sie sind sämtlich Symbole einer Seele. "Wenn diese sich in den uns schon bekannten Sta- dien entwickelt, so entwickeln sich eben alle die kulturellen Phänomene, in denen sich die Seele verkörpert; die Entwicklung des einen ist unlöslich verknüpft mit der der ganzen übrigen. Also nicht nur die Erscheinungen einer bestimmten Kultur im allgemeinen, auch die einer bestimmten Kulturstufe im besonderen sind unzertrennlich miteinander verbunden. Das ist nun freilich nicht ganz neu. Vor allem hat Comte den inneren Zusammenhang der verschiedenen Kulturgebiete be- tont und hervorgehoben, daß einer Veränderung in dem einen stets eine solche in allen anderen entspricht. Dennoch ist dieser gewiß höchst fruchtbare Gedanke wohl noch nie mit einer solchen Kraft vertreten und in einem solchen Umfang durchgeführt worden wie von Spengler. Allein Spengler hat ihn maßlos übertrieben. Wenn er mit Rücksicht darauf, daß RichardWagners „ Ring des Nibelungen" sowie „Tristan und Isolde" einerseits und Darwins Hauptwerk andererseits ungefähr gleichzeitig entstanden sind, die Behauptung 1) Troeltsch, Deutsche Bildung (in dem Sammelwerk „Der Leuchter" ; Darmstadt 1919). 2) Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur (München u. Leipzig 1918). 3) Scholz, 1. c. S. 14f. 124 Kurt Sternberg, aufstellt, der dritte Akt von „Siegfried* und nun gar „Tristan und Isolde" enthielten „die Musik zur geschlechtlichen Zuchtwahl", so kann man nur sagen: „difficile est satiram non scribere". Spengler hat in gewissem Sinne schon ganz Eecht, wenn er er- klärt: „Griechische Musik steht der griechischen Plastik tausend- mal näher als der Kunst Palestrinas," aber nur in gewissem Sinne ; denn als Musik gehört die griechische Musik wohl doch zu „der Kunst Palestrinas". Zwar befindet sich die Musik alle- mal in nahem Zusammenhang mit der bildenden Kunst; allein sie ist keine bildende Kunst, wie Spengler schlechtweg meint. Darum ist sein Satz: „Watteau gehört zu Coup er in und Ph. Em. Bach" freilich richtig; aber wenn er hinzufügt: „nicht zu Raffael", so geht er offenbar zu weit. Dasselbe trifft zu, wenn er die Mathematik zur Kunst und die Kunst zur Mathematik, die Physik zur Religion und die Religion zur Physik macht. Die berühmten Worte Kants, daß es nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften ist, wenn man ihre Grenzen ineinanderlaufen läßt, sie gelten nicht bloß vom ^wissen- schaftlichen, sondern von all den verschiedenen Kulturgebieten. Sollen diese miteinander verknüpft werden, so werden sie in ihrer Verschiedenheit vorausgesetzt; verschieden voneinander sind sie aber nur dann, wenn ein jegliches eine in sich geschlossene, streng abgegrenzte Einheit bildet. Ist dies der Fall, so ist es auch mög- lich, die kontinuierliche Entwicklung auf jedem dieser Kulturge- biete für sich darzustellen, ihre geschichtliche Entwicklung geson- dert als eine kontinuierliche zu begreifen. Dies muß sogar ge- schehen, bevor die mannigfachen parallelen Entwicklungen in ihrer Parallelität verstanden werden können, bevor die Kohärenz dieser Entwicklungen eingesehen zu werden vermag. Die Kohärenz, die niemals wie bei Spengler zur Koinzidenz ausarten darf, hat somit die Kontinuität zu ihrer logischen Bedingung, und die Pa- role lautet nicht : Kohärenz oder Kontinuität, sondern : Kohärenz und Kontinuität. 10. Fragt man nach dem Grunde, aus welchem Spengler die Kontinuität nicht gelten lassen will, so erkennt man leicht, daß es die Furcht ist, es könnte mit der Kontinuität zugleich ein Sinn oder gar ein Zweck anerkannt werden. Das aber ist es, wovor sich Spengler scheut. Die Kulturen „wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde," so heißt es bei Spengler. Er weist einmal darauf hin, He- Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 125 raklit habe das Werden „mit dem Spiel eines Knaben verglichen, der Sandhaufen auftürmt und wieder zerstört." Genau so wie der spielende Knabe Heraklits macht es — zwar nicht die Ge- schichte, wohl aber — Spengler mit den Kulturen; er türmt sie auf und zerstört sie wieder, ohne Sinn, ohne Zweck. Nun hat Spengler gewiß ganz Recht, wenn er sich gegen eine Behandlung der Geschichte unter dem Einfluß subjektiver Ideale wendet, sofern sie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt und sich nicht darauf beschränkt, ein rein persönlicher Standpunkt zu sein; denn es ist in der Tat „eine völlig unhalt- bare Manier, Weltgeschichte zu deuten, indem man seiner politi- schen, religiösen oder sozialen Überzeugung die Zügel schießen" läßt. Allein darf die Geschichte wissenschaftlich auch nicht unter dem Aspekt eines subjektiven Sinnes und Zweckes betrachtet werden, so darf sie es doch wohl unter dem eines objektiven Sinnes und Zweckes, und sie muß es sogar, soll sie überhaupt be- greiflich sein. Dieser objektive Sinn und Zweck der Geschichte können aber in nichts anderes gesetzt werden als in die Idee der Kulturmenschheit. Spengler selbst spricht die Weltgeschichte nicht nur gelegentlich, sondern wiederholt als die „Gesamtge- schichte des höheren Menschentums" an. Freilich findet sich ein- mal auf derselben Seite, auf welcher von der „Geschichte des hö- heren Menschentums" die Rede ist, die Behauptung : „Die Mensch- heit ist ein leeres Wort", und diese Behauptung steht allerdings der Spenglerschen Geschichtsauffassung näher als der Begriff einer „Gesamtgeschichte des höheren Menschentums". Hätte Spengler an diesem Begriff festgehalten und ihn in seine letzten Konsequenzen zerlegt, so dürfte seine Geschichtsphilosophie we- sentlich fruchtbarer ausgefallen sein. Die „Gesamtgeschichte des höheren Menschentums" — das ist die Geschichte der Kultur- menschheit, d. h. der Menschheit in der Beziehung auf die ewigen Kulturwerte des Wahren, Guten und Schönen. Diese Geschichte braucht durchaus nicht als ein Fortschritt in der Richtung auf irgendwelche subjektiven und angeblich endgültigen Ziele an- gesehen zu werden, und sie darf es in wissenschaftlicher Hinsicht auch gar nicht; wohl aber darf und muß sie verstanden werden als eine einheitliche Gesetzlichkeit unter dem Gesichtspunkt der objektiven Kulturideen. Die Einheit dieser Ideen, dieser kul- turellen Werte, konstituiert die Einheit und damit den Sinn der Menschheit und folglich auch ihrer Geschichte. Wir werden uns 126 Kurt Sternberg, daher die folgenden Worte aus einer Abhandlung zu eigen machen, in der sich Alfred Bäumler u. a. auch mit Spengler ausein- andersetzt: „Das sinnlose Bild der in ihren Kreisen sich zu Tode drehenden ,Kulturen' verschwindet. An seine Stelle tritt die alte, aber gereinigte Vorstellung der einen, in sinnvoller Bewegung be- griffenen (nicht fortschreitenden') Menschheit. Es ist eine mannig- fach gebrochene Bewegung — aber es ist jedenfalls Bewegung in einem Granzen, nicht sinnloses Drehen im Kreise"1). Sinnvolle, wenn auch mannigfach gebrochene Bewegung in einem Ganzen — ebendas besagt der Gedanke der historischen Kontinuität. 11. Von dem Kontinuitätsgedanken aus ergibt sich nun auch die Bedeutung, in der allein vom Untergang des Abendlandes, überhaupt von Untergängen der Kulturen geredet werden kann. Spengler spricht vom Untergang der abendländischen Kultur, weil er in ihr einen Organismus sieht, der geboren wird und reift, verfällt und stirbt. Nun ist das zwar nichts als ein bloßes Bild, wie im vorigen dargetan worden ist; aber es ist schon viel ge- wonnen, wenn dieses Bild wirklich ausgeführt wird, wobei man freilich nicht immer nur mit Spengler an den pflanzlichen Or- ganismus zu denken hat. Der tierisch-menschliche Organismus stirbt; aber er braucht darum nickt völlig unterzugehen. Wenn er sich fortpflanzt, dann erhält er sich in seinen Nachkommen und zwar nicht bloß den äußeren Formen, sondern auch der inne- ren Seele nach. So brauchen auch Kulturen nicht völlig unter- zugehen; auch sie erhalten sich in ihren Nachkommen, d. h. in den nachkommenden Kulturen, und zwar auch nicht bloß den äußeren Formen nach, wie Spengler meint, sondern auch der inneren Seele nach. Ja, Kulturen können dem Kontinuitäts- prinzip zufolge gar nicht völlig untergehen; ihre Aufhebung kann immer nur eine solche im Hegeischen Sinne sein. Sie er- halten sich in den folgenden Kulturen und wirken fort, weil der Begriff der Kultur selbst sich erhält. So vermag von einem ab- soluten, totalen Untergang in der von Spengler gewollten Weise gar keine Rede zu sein. Um ihn dennoch behaupten, um den Untergang des Abend- landes nicht bloß voraussagen, sondern sogar genau vorausberechnen zu- können, genügt es nicht, in den Kulturen Organismen zu er- blicken ; man muß diesen Organismen vielmehr eine ein für allemal 1) Bau ml er, Metaphysik und Geschichte (in der Zeitschrift „Die neue Rundschau« XXXI. Jahrgang Heft 10 vom Oktober 1920) S. 1128 f. Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 127 feststehende, von vornherein bekannte Lebenszeit zuschreiben. Durch den Begriff des Organismus wird solches nicht gefordert. Tierisch-menschliche"" Organismen erreichen ein sehr verschiedenes Lebensalter, das zum Teil von äußeren Einflüssen abhängig ist. Yon allen äußeren Einflüssen schließt Spengler seine Kultur- organismen freilich geradezu hermetisch ab, und nur darum kann er ihnen eine a priori bestimmte, im voraus berechenbare Lebens- dauer beimessen. Diese legt er auf tausend Jahre fest. Um nun das Dogma von der tausendjährigen Dauer der Kul- turen aufrecht halten zu können, muß Spengler zu allen mög- lichen und unmöglichen Mitteln greifen. Wenn er die Entstehung der antiken Kultur auf die Zeit um das Jahr 1000 v. Chr. ansetzt, so hat das vielleicht Sinn; wenn er behauptet, daß die antike — wohlgemerkt: die antike, nicht die griechische — Kultur vom 4. vorchristlichen Jahrhundert an in ständigem, sich stetig steigern- dem Verfall begriffen ist, so braucht und vermag das durchaus nicht jeder zuzugestehen; wenn er endlich die antike Kultur beim Auftreten Jesu für total erloschen, vollkommen abgestorben aus- gibt, so ist das kaum noch ernst zu nehmen. Er bringt dies nur fertig durch die bereits berührte Erfindung einer das ganze erste nachchristliche Jahrtausend umfassenden arabischen Kultur. Auf diese Weise gelingt es ihm, die gesamten spätantiken Kulturer- scheinungen seit Christi Geburt, also die philosophischen, religiösen, künstlerischen usw., nicht mehr als antike anzusprechen, sondern eben der neuen arabischen Kultur einzugliedern. Er hat sich hier offenbar durch den Einfluß täuschen lassen, den in der Tat der Orient damals auf den hellenisch-römischen Kulturkreis ausgeübt hat. Dieser Einfluß reicht aber nicht dazu aus, um der Antike einfach den Lebensfaden abzuschneiden und um das Jahr 1 eine völlig neue Kultur beginnen zu lassen, die nur darum als die arabische bezeichnet wird, weil viele Jahrhunderte später die Araber ihren großen Siegeszug angetreten haben. Wie zu der Zeit von Christi Geburt das orientalische Moment für die Gestaltung der europäischen Kultur von Bedeutung wurde, so das nordisch-germanische Moment um das Jahr 1000 n. Chr. Allein auch dies reicht nicht dazu aus, um unter Preisgabe aller Kontinuität die Entstehung einer gänzlich neuen, nämlich unserer abendländischen Kultur zu behaupten. Um nun den Tod dieser unserer abendländischen Kultur für die Zeit um das Jahr 2000 vorausbestimmen zu können, muß Spengler sie schon seit langem 128 Kurt Sternberg, in Verfall begriffen sehen. Nach ihm haben die moderne Philo- sophie und Mathematik ihre schöpferische Fähigkeit endgültig ein- gebüßt, Entropielehre und Relativitätstheorie sind „Symbole des Niedergangs", ebenso Ibsen und Strindberg sowie Richard Wagner. Man kann hierüber verschiedener Meinung sein, und eine Auseinandersetzung würde unfruchtbar bleiben. Was soll man aber dazu sagen, wenn Spengler bereits ein Phänomen der Zersetzung unserer Kultur darin erblickt, daß „die Musik Beet- hovens die große Form der Instrumentalmusik des 18. Jahrhun- derts zerstört" habe, weil schon Beethoven „dem großen Stil nicht mehr gewachsen" gewesen sei? Hier rächt sich das man- gelnde Verständnis, welches Spengler dem vorher entwickelten Begriff der Problematik entgegenbringt. Hätte er für ihn Ver- ständnis, so würde er gesehen haben, daß das titanische Ringen Beethovens, welches — wie zum Beispiel im Schlußsatz der 9. Sinfonie — nicht nur die hergebrachte Form sprengt, sondern nahezu alle Form überhaupt zu sprengen droht, keineswegs bloß ein Zeichen der Zerstörung, sondern zugleich kraftvollen Aufbaues ist, daß es keineswegs bloß etwas Negatives, sondern zugleich et- was Positives bedeutet. Es ist also Spengler nicht gelungen, und es konnte ihm auch nicht gelingen, nachzuweisen, daß die Lebensdauer der Kul- turen tausend Jahre beträgt. Dieser Gedanke erinnert sehr an den des tausendjährigen Reiches, an die aus dem Altertum be- kannten Spekulationen über das Weltjahr. Die mystische Zahlen- symbolik der — nach Spengler schon so lange vollkommen toten — Pythagoreer erlebt hier, wenn auch in veränderter Form, eine Wiederauferstehung und nicht bloß hier, sondern bei allen, die — wie Max Kemmerich und Friedrich von Stromer- Reichenbach — durch Aufdeckung okkulter Zahlbeziehungen, angeblicher periodischer Rhythmen bzw. rhythmisch gegliederter Perioden Geschichte vorauszubestimmen, die Zukunft „exakt" zu berechnen suchen. Nicht nur jede Kultur, so meint Spengler, auch „jede^ ihrer notwendigen Phasen hat eine bestimmte, immer gleiche, immer mit dem Nachdruck eines Symbols wiederkehrende Dauer." In diesem Sinne macht er „auf den Abstand der drei punischen Kriege und auf die ebenfalls rein rhythmisch zu begrei- fende Reihe des spanischen Erbfolgekrieges, der Kriege Friedrichs des Großen, Napoleons, Bismarcks und des Weltkriegs aufmerk- sam." Er fragt: „Was bedeutet die in allen Kulturen herrschende Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 129 50 jährige Periode im Rhythmus des politischen, geistigen, künst- lerischen Werdens?" Hier sieht er eine „Welt geheimnisvollster Zusammenhänge", und er erklärt:. „Die Dauer einer Generation — gleichviel von was für Wesen — ist ein Wert von beinahe mysti- scher Bedeutung." Allerdings, um Mystik handelt es sich, um mystische Metaphysik! 12. Spengler, der angesichts seines Strebens, die historische Zukunft zu berechnen, zweifellos stark naturalistisch eingestellt ist, hat dennoch ein überaus inniges Verhältnis zur Metaphysik. Der Grund hierfür liegt in der psychologisch-biologischen Funda- mentierung seiner Philosophie. Man kann es immer wieder bei psychologisch-biologisch orientierten Denkern — so auch bei Berg - son — beobachten, wie der psychologisch-biologische Ausgangs- punkt zu einem metaphysischen Ende führt. Arthur Liebert hat in einer wertvollen Untersuchung die Relation zwischen dem Psychologismus und Biologismus einerseits und der Metaphysik, zum mindesten einer ontologistischen, d. h. auf das Sein bezogenen, verdinglichenden Metaphysik andererseits klargelegt. Er hat ge- zeigt, wie alle ontologistische Metaphysik auf die unzulässige Ver- dinglichung von Erlebnissen, von psychischen Vorstellungen, zu- rückgeht1). Die Spenglersche Metaphysik ist ein Schulbeispiel für die Richtigkeit von Lieberts Theorie. Spengler verdinglicht nicht bloß einzelne seelische Erleb- nisse ; er verdinglicht das Erlebnis der Seele selbst. Seine Kultur- seelen sind nicht das, was sie unter logisch- wissenschaftlichem Aspekt allein sein dürften, nämlich Begriffe, Kategorien, metho- dische Prinzipien, um eine Anzahl zusammenhängender, zusammen- ' gehöriger Erscheinungen als Einheit zu begreifen; sie sind Gege- benheiten, Wesenheiten, Dinge. Wenn sie, wie zum Beispiel die arabische Kulturseele, durch den überragenden Einfluß einer an- deren Kultur in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden — was nach Aufhebung des Kontinuitätsprinzips eigentlich gar nicht mög- lich sein sollte — , so holen sie das Versäumte mit doppelter Kraft und in beschleunigtem Tempo nach. Sie sind auch eifersüchtig: „Es scheint, daß die Seele alter Kulturen in ihren letzten Ver- feinerungen und sterbend wie eifersüchtig auf ihr eigenstes Eigen- tum, ihren Gehalt an Eorm . . . ist." Stirbt eine Kultur, d. h. wird sie zur Zivilisation, so hat „die Seele sich fortgestohlen", so 1) Liebert, Das Problem der Geltung (2. Aufl.; Leipzig 1920). Kantstudien XXVII. 9 130 Kurt Sternberg, kehrt sie ins „Urseelentum" zurück. Die Seelen sind nämlich ewig. Ihre „Gestalt bedarf keiner Wirklichkeit, um zu sein. Sie entsteht und vergeht nicht." Darum bezeichnet Spengler die Kulturseelen als „reine Formen"; darum spricht er auch von „un- geborenen Formen" eines Seelentums. Damit sind wir glücklich wieder bei den substantiellen Formen, bei den Entitäten einer längst überwundenen ontologistischen Metaphysik angelangt. Die Entelechie des alten — angeblich so vollkommen toten — Ari- stoteles ist zu frischem Leben erwacht, allerdings ohne das Moment, welches methodisch ihren Gehalt und ihre Rechtfertigung ausmacht, nämlich ohne das teleologische. Aristoteles gehörte einer Kultur an, der Spengler einen apollinisch- statischen Cha- rakter zuschreibt, und wenn er die aristotelischen Formsub- stanzen in seiner Metaphysik erneuert, so ist diese eine apollinisch- statische. Hat er nun aber damit Recht, daß die abendländische Kultur eine faustisch- dynamische ist, so fällt der Abendländer Spengler mit seiner apollinisch-statischen Metaphysik aus dem Rahmen der faustisch-dynamischen Kultur des Abendlands heraus. In den „reinen Formen" und „Gestalten" glaubt Spengler des Lebens selbst, an sich, habhaft zu werden. Es liegt auf der Hand, daß er damit das Leben nicht mehr im Sinne der wissen- schaftlichen Biologie nimmt, aus der doch seine Methode der mor- phologischen Vergleichung stammt. Auch dies ist eine Beobach- tung, die man sehr oft bei den von der Biologie ausgehenden Philosophen machen kann, daß sie dazu gelangen, dem Leben eine ganz andere Bedeutung zu geben als die, welche es. in der Bio- logie hat. Bei Spengler tritt an die Stelle des biologischen Lebensbegriffs ein davon sehr verschiedener — oder vielmehr rich- tiger: das Leben selbst in seiner Unmittelbarkeit. Die Biologie hat es mit. dem erkannten, begriffenen Leben zu tun; Spengler will — gleich Bergs on — das Leben als solches erfassen ohne die Vermittlung, ohne den Umweg des Begriffs. Das soll durch Intuition, durch das Gefühl geschehen. Die Sphäre des Gefühls ist die der Kunst, und so wird der Historiker, wenigstens der philosophische, der Geschichtsphilosoph, für Spengler zum Künstler. „Dichten und Geschichtsforschung sind verwandt," sagt er; „über Geschichte soll man dichten". Nur der Künstler und der Historiker nur als Künstler wird mit dem Leben eins, mit diesem Leben, das nichts anderes als das Schicksal ist. Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 131 Und das Schicksal? „Schicksal ist das Wort für eine nicht zu beschreibende innere Gewißheit." Wie heißt es doch im „Faust"? „Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein." Schicksal hat Spengler zufolge nichts mit Kau- salität zu tun, umsomehr aber diese mit jenem; denn Kausalität ist „erstarrtes Schicksal". Ganz ebenso ist — immer nach Spengler — Raum „er- starrte Zeit". Die Zeit — das ist dasselbe wie das Schicksal, das Leben in seinem ständigen, ewigen Flusse. Darum kann die echte Zeit nicht begriffen, gemessen, sondern nur gefühlt, erlebt werden. Spengler stellt dem physikalischen Begriff der gemessenen Zeit die gefühlte, erlebte Zeit gegenüber, genau wie Bergson, und die Geringschätzung, mit der Spengler auf Bergson herab- blickt, ist in Anbetracht ihrer großen methodischen Verwandt- schaft nicht so recht verständlich. „Zeit ist ein Wort, um etwas Unbegreifliches anzudeuten," sagt Spengler. Seine hier latent, an anderer Stelle aber auch offen geäußerte Klage über die Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks zur adäquaten Darstellung innerer Erlebnisse und Ge- fühle ist bei Romantikern oft anzutreffen. Romantiker ist Speng- ler trotz aller naturalistischen Tendenzen durch und durch, und er selbst widerlegt auf das beste seine — übrigens kaum glaub- liche — Behauptung, daß die Gegenwart „von aller Romantik endgültig geschieden ist. " Wer kennt nicht aus der romantischen Philosophie die Methode der unmittelbaren Anschauung, der er- lebnis- und gefühlsmäßigen Erfassung von etwas, was angeblich durch das begriffliche Denken nicht erreicht wird ? Die typischen Züge der romantischen Geisteshaltung — sie finden sich bei Spengler sämtlich, nicht zum mindesten auch jene Grenzver- wischungen, jenes Ineinanderfließen der Formen, wodurch die Ro- mantik von jeher charakterisiert wird. Sogar jener Grundgegen- satz zwischen Geschichte und Natur, auf dem die ganze Geschichts- philosophie Spenglers beruht, wird von ihm aufgehoben und zwar nicht bloß in der praktischen Ausführung, worauf ja im vorigen bereits hingewiesen worden ist, sondern selbst in der Theorie. Nach Spengler bezieht sich die Geschichtsbetrachtung auf das Werden, die Naturwissenschaft auf das Gewordene. Da nun ihm zufolge in jedem Weltbild sich sowohl Momente des Werdens wie auch solche des Gewordenen finden, so daß es sich immer nur um ein Mehr oder Weniger des einen oder des anderen 9* 132 Kurt Sternberg, Faktors handelt, besteht zwischen Geschichte nnd Natnr überhaupt kein qualitativer, genereller Unterschied mehr, sondern bloß noch ein quantitativer, gradueller. Damit wird die Autonomie sowohl der geschichtlichen wie der Natursphäre vernichtet. Genau so wird, wie wir gesehen haben, die Autonomie der sämtlichen Kul- turgebiete vernichtet; denn sie fallen sämtlich letzten Endes zu- sammen als schemenhafte, wesenlose Symbole irgendeines Seelen- tums. Man darf wohl sagen, daß alle die Gefahren und Mängel, die Heinrich Rickert in einem unlängst erschienenen Werke der „Philosophie des Lebens" nachsagt1), bei Spengler in poten- zierter Form, in einem bis ins Ungeheuerliche gesteigerten Maß zutage treten. 13. Es leuchtet ohne weiteres ein, wie Spengler in Anbe- tracht seiner romantisch-symbolistisch- mystischen Geisteshaltung der kritischen Philosophie Kants gegenübersteht. Spenglers Verhältnis zu Kant — das ist ein Kapitel für sich, welches hier nicht mehr erschöpfend behandelt, sondern nur noch angedeutet werden kann. Dabei geht man am besten von der Behauptung Spenglers aus, „der einzige ernste Versuch" einer Wiederbelebung Kants finde sich in — Weiningers „Geschlecht und Charakter". Den Neukantianismus ignoriert Spengler also völlig. Freilich, es handelt sich hier ja um „Professorenphilosophie der Philosophie- professoren", die Spengler im Anschluß an Schopenhauer gründlich verachtet. Vielleicht würden aber seine zahlreichen Be- merkungen über Kant den Kern der Sache besser getroffen haben, hätte er die neukantische „Professorenphilosophie" mehr ge- würdigt. Wenn man das Leben unmittelbar erfassen zu können glaubt, so wird man natürlich sagen, daß Kants „zopfige Formeln", daß seine „Abstraktionen" sowie überhaupt die der systematischen Philosophen „das Leben . . . nicht zu berühren vermochten." Wer sich mit jugendlicher Schwärmerei zu einem Leben an sich aufzu- schwingen vermag, dem muß der auf methodische Klarheit und Sauberkeit und darum überall auf begriffliche Formung und Ord- nung bedachte Kant als der „ewige Greis" erscheinen. Begriffen werden kann nach Spengler nur die Natur, nicht das Leben und 1) Rickert, Die Philosophie des Lebens (Tübingen 1920). Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 133 somit nicht die Geschichte, welche Leben ist. Deshalb ist es durchaus eine Konsequenz der Voraussetzungen Spenglers, wenn er erklärt, Kant habe sein Interesse ausschließlich der Natur zugewandt. Hat denn nicht aber gerade Kant durch die Aufstellung der Freiheitsidee die Möglichkeit einer Welt wahren geistig-geschichtlichen Lebens, einer Welt der Kultur, überhaupt erst erschlossen? Schon durch den Hinweis auf die Freiheitsidee als das Kantische Moralprinzip erledigt sich auch der Vorwurf Spenglers, daß das Weltbild Kants, der die Ethik als die Lehre von dem das Gute wollenden und auch die Ästhetik als die Lehre von dem das Schöne fühlenden Menschen neubegründet hat, nicht „die Ausstrahlung des ganzen Menschen", sondern „nur die des erkennenden ist." Um die Erkenntnis handelt es sich allerdings stets bei Kant; denn aus ihrem Bereiche kommt man ohne logisches Salto mortale nicht heraus, und der ganze Mensch kann immer nur der erkannte sein in einer Philosophie, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. Freilich soll umgekehrt der erkannte Mensch der ganze sein, und er ist es auch bei Kant; denn Gegenstand der Erkenntnis ist ihm keineswegs bloß der erkennende, d. h. das Wahre denkende Mensch, sondern auch der das Gute wollende und der das Schöne fühlende. Neben den allgemeinen Mißverständnissen Spenglers in be- zug auf Kant stehen nun zahlreiche besondere. Wer die Zeit fühlen und erleben will, vermag wohl der Kantischen Frage nach der Bedeutung der Zeit als eines wissenschaftkonstituierenden Faktors nicht gerecht zu werden, und wer die Zeit zum Raum „erstarren" läßt, wer diesen als „erstarrte Zeit" ausgibt und er- klärt, der echte Raum könne „weniger verstanden" als vielmehr nur gefühlt, „geahnt" werden, dem muß wohl das begriffliche, dafür aber auch begreifliche „Raumproblem der kritischen Philo- sophie" als ganz ungemein „dürftig" erscheinen. Spengler ver- fehlt das Kantische Raumproblem bereits als Problem; denn sonst würde er nicht der Meinung sein, daß nach Kant die An- schauungsform „alle Dinge erst schafft". So spricht er auch von dem „kosmischen Solipsismus, der Kants Vernunftkritik zu- grunde liegt." Hier offenbart sich jenes subjekti vis tische Mißver- ständnis Kants, das durch Schopenhauer beinahe sakrosankt geworden ist; es zeigt sich der Einfluß Schopenhauers, dem 134 Kurt Sternberg, Spengler überhaupt sehr nahesteht, wie Alfred Bäumler ge- zeigt hat1). Außer zu Schopenhauer unterhält Spengler — schon als Kritiker der Kultur, speziell der Dekadenz — die innigsten Beziehungen zu Nietzsche, und auch dieser hat so manches bei- getragen zu der irrigen Auslegung Kants durch Spengler. Der Geist von Nietzsches Machtphilosophie wirkt auf Speng- ler, wenn er erklärt, die Kantische Lehre vom Raum als der Anschauungsform „bedeute einen Herrschaftsanspruch der Seele über das Fremde, u sie wolle „die Welt ,als Erscheinung' den Machtansprüchen des erkennenden Ich unterwerfen," und wenn er in den kategorischen Imperativ den — allerdings nicht individua- listischen, sondern sozialistischen — Willen zur Macht hineinver- legt. Dies alles beweist, wie wenig Spengler sich über den Kan- tischen Begriff der Form klargeworden ist. Nach seiner Mei- nung sind die Formen der Anschauung und des Denkens von Kant im Sinne des „Angeborenseins" genommen worden. Er ver- mag sich eben nicht über den psychologischen Ausgangspunkt zu erheben und in die Sphäre reiner logischer Geltung vorzudringen. Das zeigt sich nicht zum wenigsten, wenn der alle Grenzen ver- wischende Romantiker auch die Grenze zwischen dem Äpriori und Aposteriori aufhebt, beide ineinanderlaufen läßt und „den schwan- kenden Grad" der Allgemeingültigkeit behauptet. Spengler weiß nichts vom Geltungsproblem, diesem Grundproblem des Kri- tizismus; der Ontologist weiß nur etwas vom Seinsproblem. 14. Dem Sein gegenüber sind zwei Einstellungen möglich : die naturalistische, die sich an das natürliche Sein hält, und die ro- mantisch-symbolistische, die auf die Erfassung eines übernatür- lichen Seins ausgeht und in allem natürlichen bloßes Symbol eines übernatürlichen Seins erblickt. Spengler kennt nur diese beiden Einstellungen ; aber er kennt sie beide. Naturalismus und romantischer Symbolismus gehen bei ihm ständig mit- und durch- einander. Hierin ist er nun freilich ein Kind seiner, unserer Zeit. Ar- thur Liebert hat die Entwicklung geschildert, welche unsere Kultur in den letzten Jahrzehnten genommen hat, und er hat ge- zeigt, wie diese Entwicklung beherrscht wird von dem Kampf 1) Bäumler, 1. c. S. 1114f. und S. 1120ff. Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 135 zwischen einem aufs Nene andringenden Romantizismus und Sym- bolismus auf der einen und einem allmählich immer mehr zurück- gedrängten, aber keineswegs ganz aufgegebenen Naturalismus auf der anderen Seite 1). Dieser Kampf hat bekanntlich in der Kunst zu jener Bewegung geführt, die man als Expressionismus bezeich- net. Der Expressionismus will die Grefühle und Erlebnisse der Seele zu unmittelbarem Ausdruck bringen. Das will auch Speng- ler, für den die Kulturerscheinungen doch nichts als ein Aus- druck, Symbol eines bestimmten Seelentumes sind. Mit dem Spenglerschen Werk hat der — im weiteren Sinne verstan- dene — Expressionismus einen gewaltigen Vorstoß auf das Grebiet der Philosophie unternommen. Allein hiermit ist jenes Werk noch nicht erschöpfend gekennzeichnet. Wir haben gesehen, daß sich in ihm neben den Zügen eines romantisch-symbolistischen Expres- sionismus auch eine stark ausgeprägte naturalistische Tendenz findet, und erst das, erst diese Verquickung von Naturalismus und Romantik, macht Spenglers Buch zu einem typischen Buche unserer Zeit. Aus ihr und nur aus ihr erklärt sich die Bemühung Spenglers sowie der vorhin genannten Max Kemmerich und Friedrich von Stromer-Reichenbach, auf dem Wege einer mystischen Romantik ein rein naturalistisches Ziel zu ver- folgen: die Vorausberechnung der historischen Zukunft. Unsere Zeit ist eine solche des Übergangs. Es muß und es wird ihr gelingen, sich von jenem ungesunden Hin- und Herpen- deln zwischen Naturalismus und Romantik zu befreien. Ebendies wird allmählich auch zu der dringlichsten Aufgabe für die Philo- sophie der G-egenwart. Sie kann aber nicht dadurch gelöst werden, daß man den einen oder den anderen Faktor in den Schwerpunkt rückt, daß man sich für den Naturalismus oder für die Romantik entscheidet. Die Problemlage selbst muß überwunden werden! Naturalismus und Romantik liegen trotz aller scheinbaren und auch wirklichen Gegensätzlichkeit auf derselben Ebene; beide sind in unkritischer Weise ontologistisch, auf das Sein eingestellt. Demgegenüber werden wir, sollen die Leistungen Kants und des Neukantianismus nicht vergeblich gewesen sein, wiederum die kritische Geltungsfrage aufzurollen haben; wir werden uns an das halten müssen, was man bei Spengler am schmerzlichsten 1) Lieb er t, August Strindberg. Seine Weltanschauung und seine Kunst (Berlin 1920) S. 29 ff. und S. 123 ff. 136 Kurt Sternberg, vermißt, an das platonische Xöyov didövcu, d.h. wir werden danach streben müssen, uns vor uns selbst auf das Genaueste Rechenschaft abzulegen über die Geltung der methodischen Grund- lagen unseres Philosophierens. So und nur so können wir von Naturalismus und romantischem Mystizismus loskommen! 15. Indem wir von ihnen loskommen, werden wir zugleich von dem trostlosen Fatalismus loskommen, der bei Spengler so- wohl aus der naturalistischen wie auch aus der mystisch-roman- tischen, keineswegs aber aus einer kritischen Quelle gespeist wird und der ihn veranlaßt, das Abendland unrettbar dem Untergang verfallen zu sehen. Jawohl, es gibt ein Schicksal. Allein dieses Schicksal ist in und durch uns selbst; es wird, indem wir es ge- stalten. Im vorigen ist gezeigt worden, daß Spengler ein wissen- schaftlicher Nachweis vom Untergang des Abendlandes nicht ge- lungen ist. Dennoch mag sein Pessimismus berechtigt sein; wir wissen es nicht. Jedoch selbst in diesem Falle ist zu beachten, daß — wie dargelegt worden ist — auf Grund des Gedankens der historischen Kontinuität nicht von einem absoluten, sondern immer nur von einem relativen Untergang die Rede sein kann. Wie sich die griechische Kultur trotz Spengler bis auf den heutigen Tag erhalten hat, so wird sich auch unsere Kultur er- halten in allem, was in ihr wertvoll und fruchtbar ist. Sie mög- lichst wertvoll und fruchtbar werden zu lassen, das hat unser aller Aufgabe zu sein. Durch Fatalismus und Pessimismus kann diese Aufgabe gewiß nicht erfüllt werden; denn sie führen zu einem Quietismus, der letzten Endes Selbstmord bedeutet1). Nein, 1) In einer nach Niederschrift der obigen Zeilen veröffentlichten Abhandlung „Pessimismus"? (Schriftenreihe der Preußischen Jahrbücher Nr. 4; Berlin 1921) wendet sich Spengler gegen die Kennzeichnung seines Standpunkts als eines pessimistischen, indem er darauf hinweist, daß er doch dem heutigen Abendländer eine Aufgabe stelle, nämlich die — nach ihm einzig mögliche — , die angebrochene Zivilisation bewußt zur größten Entfaltung zubringen. Allein Spenglers Aus- führungen bieten nicht die mindeste Veranlassung, von den im Text gegebenen Darlegungen irgendetwas zurückzunehmen. Selbstverständlich ist derjenige ein Pessimist, welcher den „Untergang" des Abendlandes lehrt. Daran wird auch nichts geändert, wenn Spengler in seiner Abhandlung erklärt, er meine den Untergang im Sinne der Vollendung. Die Vollendung der abendländischen Kultur bedeutet für Spengler nicht ihr Emporreifen, ihren Aufstieg zur Höhe, sondern ihren Abstieg von dieser, ihren Verfall. Ebenhierin liegt sein Pessimismus, mit dem ein gewisser Quietismus unzertrennlich verknüpft ist. Wohl ist Spengler Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 137 die Aufgabe kann nur erfüllt werden durch zielbewußte und plan- volle Arbeit an der Steigerung der Kultur, durch jene Beschäftigung, die nie ermattet, Die langsam schafft, doch nie zerstört, Die zu dem Bau der Ewigkeiten Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, Doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht. nicht insofern Quietist, als er uns zu beschaulicher Betrachtung einlädt; er ver- langt von uns im Gegenteil energisches Handeln. Allein er schreibt diesem Han- deln nicht die Fähigkeit zu, unserer Kultur zum — nach ihm längst unwider- ruflich erloschenen — Glänze zu verhelfen. Gegen ihren Niedergang können wir Spengler zufolge nichts mehr unternehmen. In dieser — wahrlich entschei- denden — Hinsicht bleibt uns also nichts übrig, als die Hände in den Schoß zu legen, und das ist unzweifelhaft auch eine Art von Quietismus. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. Von Privatdozent Dr. Georg <*nr witsch (Petersburg). Die innigsten Beziehungen zwischen Kant und Rousseau sind allgemein bekannt *). Daß aber Kant in einer ganzen Reihe von schwerwiegenden Äußerungen eine höchst interessante und eigen- artige, von der herkömmlichen Auffassung gänzlich abweichende Interpretation der Rousseauschen Gedankenwelt gegeben hat, ist so viel wie unbeachtet geblieben. Dasselbe gilt auch von J. Gr. Fichte, um so mehr, da hier auch der Einfluß Rousseaus wenig Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Die Aufgabe vorliegender Abhandlung ist diese Lücke zu füllen und Rechenschaft über Kants und Fichtes Interpretation der Rousseauschen Theorie zu geben. 9 1. Zum ersten Male äußerte sich Kant über die Gedankenwelt Rousseaus in den „Bemerkungen" 2) zu den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1763). Er spricht in diesem vorkritischen Jugendwerke, wie allgemein bekannt, mit der größten Begeisterung von Rousseau: „Der erste Eindruck, den ein Leser . . . von den Schriften Rousseaus bekommt, ist, daß er eine ungemeine Scharfsinnigkeit des Geistes, einen edlen Schwung des Genius und eine gefühls volle Seele in einem so hohen Grade an- trifft, als vielleicht niemals irgend ein Schriftsteller, von welchem Zeitalter oder von welchem Volke es auch sei, vereint besessen haben mag". Und weiter : „Rousseau hat mich zurecht gebracht. Ich 1) Ausführliche Literaturangabe und Zusammenfassung ihres Ergebnisses bei V. Delbos, „Essai sur la formation de la philosophie pratique de Kant", 1903, S. 115—129, 101—106. Vgl. neustens Vorländer, Kant und Rousseau. (Neue Zeit, 1919, Nr. 20 ff.) 2) Zuerst veröffentlicht in der Ausgabe von Kants Werke von Rosenkranz und Schubert, XI B. I Abt., 1842; nach dieser Ausgabe werden die unten fol- genden Zitate angeführt. Georg Gurwitsch, Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 139 lerne die Menschen ehren"1). Die Lehre von der Menschen- würde ist nach Kants Auffassung der Grundpfeiler des Rousseau- schen Systems. „Rousseau entdeckte", sagt Kant, „zu allererst unter der Mannigfaltigkeit der menschlich angenommenen Gestalten die tief verborgene Natur des Menschen und das versteckte Gesetz, nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtung gerecht- fertigt wird" 2). Diese Natur und dieses Gesetz bilden die Welt des Sittlichen3). „Die größte Angelegenheit des Menschen ist zu wissen, was man sein muß, um ein Mensch zu sein" 4) — formuliert Kant die neue ethische Problemstellung, die er aus den Werken Rousseaus herauslas. Und er vergleicht Rousseau mit Newton 5). Der viel verschmähte Genfer Bürger ist für den um seine Welt- anschauung ringenden Kant ein Newton der Moral ! So wie Newton zu allererst die Ordnung in der Welt der Naturerscheinungen fest- gestellt hatte, ist es Rousseau nach Kantischer Meinung gelungen, die Gesetzmäßigkeit der moralischen Welt aufzudecken6). Wenn man bedenkt, welch' eine grundlegende Bedeutung für Kants theo- retische Philosophie das System Newton's hatte, das in den Augen des Königsbergers mit der Naturwissenschaft überhaupt zusammen- fiel7), so wird man ganz besonders auf diesen Vergleich aufmerksam. Rousseau wird allgemein als ein Philosoph des moralischen Gefühls dargestellt8). Dann wäre zwischen ihm und den eng- lischen Moralisten Hutscheson, Shaftesbury und Hume kein erheb- licher Unterschied zu finden. Warum denn sieht Kant gerade in Rousseau den Newton der moralischen Welt? Kant kann hier nicht anders verstanden werden9), als daß er zwischen Rousseau 1) ibid, S. 240. 2) ibid, S. 248. 3) Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen 1763, S. 217, Band II, „Kants gesammelte Schriften", herausgegeben von der Preußischen Aka- demie der Wissenschaften, I. Abteilung. 4) „Bemerkungen", S. 239, 241. 5) ibid, S. 248. 6) ibidem. 7) Vgl. dazu die Ausführungen Cohens in „Kants Theorie der Erfahrung", II. Aufl. S. 24—26, 55 ff. 8) Auch Hoeffding, der am entschiedensten Rousseaus Einfluß auf die Kantische Ethik hervorhebt (vgl. Hoeffding, „Rousseau und seine Philosophie" 1897, S. 121, Anmerkung, und den Aufsatz in Kantstudien, B. II, „Rousseaus Einfluß auf die definitive Form der Kantischen Ethik"), charakterisiert trotzdem seinen morali- schen Standpunkt als den des Gefühls. Vgl. op. cit. S. 114—116. 9) Vgl. auch Kants „Nachricht" von der Einrichtung seiner Vorlesungen, in 140 Georg Gurwitsch, und den Engländern einen grundlegenden Unterschied erblickt. Worin lag denn dieser Unterschied? — das ist die erste Frage, auf die die Rousseau-Interpretation antworten muß, wenn sie auf die Winke Kants aufmerksam werden will. Auf diesen Unter- schied hat Kant schon in seinen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" hingewiesen. Kant legt hier im be- wußten Gegensatze zur englischen Moralphilosophie dar, daß die empirischen Neigungen, wie Mitleid und Gefälligkeit, nicht zur Begründung der Moral ausreichen. „Demnach kann wahre Tugend", führt hier Kant aus, „nur auf Grundsätze gepropft werden, welche je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler wird sie. Diese Grundsätze sind nicht spekulative Regeln, sondern das Bewußtsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt .... Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage: es sei das Gefühl der Schönheit und der Würde der mensch- lichen Natur" l). Die angeführten Worte Kants sind eine präzise Wiedergabe der Ausführungen Rousseaus in den „Bekenntnissen des savoyardischen Vikars". „La justice et bonte", lesen wir dort, „ne sont point de mots abstraits . . . formet par l'entendement, mais de vöritables affections de l'äme, eclairees par la raison" 2). „Trop souvent la raison nous trompe, nous n'avons que trop acquis le droit de la recuser: mais la conscience ne trompe jamais; eile est le vrait guide de l'homme" 8). Und diese „conscience", als Quelle der moralischen Gewißheit, unabhängig und ebenbürtig der theoretischen Vernunft, wird von Rousseau als überempirisches Prinzip klar und deutlich, allerdings aber mit den Mitteln der kartesianischen Metaphysik, dem empirischen „sentiment" der eng- lischen Gefühlsphilosophen gegenübergestellt: „La conscience", sagt Rousseau, „est la voix de l'äme"4), und die Seele, nach dem III. Artikel der Bekenntnisse, ist eine inmaterielle Substanz, als überempirisches, unbedingtes Prinzip in seiner vorkritischen, meta- physischen Dinghaftigkeit. „L'action de l'äme sur le corps est l'äbime de la philosophie" 5) sagt einmal Rousseau ganz in karte- dem Wintersemester-Halbjahre 1765—66, wo die Engländer ausdrücklich erwähnt werden. 1) Beobachtungen .... II B, op. cit. S. 217. 2) Emile, Livre IV, e'dition des oeuvres dans un volume de Sautelet, Ver- diere, Dupont et Roret, 1826, S. 204. 3) ibid, S. 224. 4) ibidem. 5) Ursprüngl. Eedaktion des „Contr. Soc", aus dem Nachlaß veröffentlicht, Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 141 sisch - okkasionalis tischer Art. „Conscience ! Conscience ! u ruft er aus: „instinct divin, l'immortelle et Celeste voix, guide assure d'un etre ignorant et borne, mais intelligent et libre, juge infaillible du bien et du mal . . ." 1). Wenn man diese Äußerungen Rosseaus mit den oben angeführten hindeutenden Worten Kants zusammen- stellt, so wird ohne weiteres klar, daß Rousseau im scharfen Gegen- satze zu der englischen Moral philosophie nicht das empirische Ge- fühl, sondern ein metaphysisches Prinzip zum Ausgangspunkt seiner Ethik machte. Es war das innere Gefühl, aber von allen empi- rischen Inhalten gereinigt und zum Unbedingten emporgehoben — ethische Intuition von der Vernunft geklärt (eclair^e par la raison) — eine vorkritische praktische Vernunft, eine autonome Quelle der sittlichen Gewißheit. Das war das grundlegend Neue, das Bahnbrechende, das ein Kant aus den Werken Rousseaus mit Enthusiasmus herauslas. Um mit Kant zu reden: die Moral, die auf „allgemeinen Grund- sätzen" (nicht auf dem vagen Sentiment der Engländer) gegründet ist, welche aus dem „Bewußtsein eines Gefühls" des Erhabenen (deutsche ungelungene Uebersetzung der „ conscience a) und nicht aus der theoretischen Vernunft, die ohnmächtig in moralischen Dingen ist (also gegen den Intellektualismus der Aufklärung über- haupt, und Leibniz-Wolf im besonderen) hervorgeht, und dessen Inhalt das Prinzip der menschlichen Würde ist. Rousseau hat als erster die Welt des reinen sittlichen Sollens entdeckt und die Lehre der autonomen Moral der intellektualistischen Aufklärung gegenübergestellt. — Das war der prinzipielle Standpunkt der Kantischen Rousseau-Interpretation, den der große Königsberger schon in seiner vorkritischen Periode formuliert und, wie wir weiter sehen werden, für immer festgehalten hat. Wir haben nun über die Kantische Interpretation der einzelnen Lehren Rousseaus und ihres systematischen Zusammenhanges zu berichten, die die konkrete Durchführung dieser prinzipiellen Grund- auffassung enthält. — Rousseaus Lehre wird immer als eine An- zuerst von Alexejew (1887), und dann von Dreyfuß - Brisac (1896), 22. S. des Manuskriptes. 1) Emile IV, 226 S. 2) Der einzige, so viel ich sehe, der in der neueren Literatur auf den prin- zipiellen Gegensatz zwischen „sentiment" und „conscience" bei Rousseau aufmerk- sam wurde, ist Charles Renouvier gewesen, vgl. seine „Esquisse d'une Classifi- cation systematique de doctrines philosophiques" in der „Critique religieuse". 142 Georg Gurwitsch, häufung von widerstreitenden Behauptungen dargelegt. Der Anarchist und Individualist Rousseau vom „Discours sur l'in^ga- litöa und vom „Emile" soll nichts Gemeinsames mit dem Verehrer des Staatsgedankens und Absolutisten des „Contr. Soc." haben1). Im „Contrat Social" selbst soll Rousseaus Gedanke immer zwischen dem Individualismus und Absolutismus schwanken2). Ist es denn überhaupt möglich , von der Gedankenwelt Rousseaus , als von einem Ganzen zu reden? Kant erkennt das Vorhandensein von scheinbaren Widersprüchen im Gedankengange Rousseaus gerne an. Aber er sucht diese Widersprüche durch ein tiefes Eindringen in die Gedankenwelt Rousseaus aufzuheben, er ist überzeugt, daß Rousseau sich nur „dem Scheine nach widerspricht". „. . . Die Befremdung an seltsamen und widersinnigen Meinungen (Rousseaus), die demjenigen was allgemein gangbar so sehr entgegen gehen"8), sucht Kant schon in den „Reflexionen zur Anthropologie von den 70 und 80 Jahren" zu heben; er gibt sich hier Mühe „die drei paradoxe Sätze des Rousseau: 1) von dem Schaden der Kultur (durch Wissenschaften), 2) von dem Schaden der bürgerlichen Ver- fassung (durch Ungleichheit), 3) vom Schaden durch künstliche Methode der Erziehung"4) gemeinverständlich zu interpretieren. In dem „Mutmaßlichen Anfange der Mensch engeschichten" (1785), also schon in der kritischen Periode, wird das Problem der Rousseau-Interpretation klar und tief als die Aufgabe formuliert: „die so oft gemißdeuteten, dem Scheine nach einander widerstrei- tenden Behauptungen des berühmten J. J. Rousseau unter sich und mit der Vernunft in Einstimmung zu bringen" 5). Also stellt sich Kant auf den Standpunkt der Einheit der Gedankenwelt Rousseaus. Er sieht in seinen Werken ein folgerichtiges System. Von den Reflexionen zur Anthropologie der 70 er und 80 er Jahre, über die kulturphilosophischen Schriften : „Ideen zur allgemeinen Geschichte 1) So Faguet in „Revue de deux Mondes" 15. Sept. 1909, Bourguin, Les deux tendences de Rousseau (Revue mätaphysique et morale, 1912, mafy Espinace (Revue internationale de Fenseigrement 1895), von den älteren Schrift- stellern Morley, Saint-Marc Girardin und der Russe Tschitscherin. 2) So Gierke, Joh. Althusius, III. Aufl. 116—117, 347. Rebm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaften S. 259, Landmann, Der Souveränitätsbegriff. S. 124. 127-130, von den älteren P. Janet, Stahl und Mohl. 3) „Bemerkungen", op. cit. S. 240. 4) Handschriftlicher Nachlaß, B. II, 2, Ausgabe der preußisch. Akademie der Wissensch., III. Abt., S. 889. 5) Kants Schriften, B. VIII op. cit. S. 116. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 14:3 in weltbürgerlicher Absicht" und dem „Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte" zu den rechtsphilosophischen Werken : „Theorie und Praxis", „Zum ewigen Frieden" und den „Metaphysischen An- fangsgründen der Rechtslehre" und zur endgültigen Redaktion der „Anthropologie" wickelt sich immer derselbe Faden dieser Rousseau- Interpretation ab. In den „Reflexionen" stellt Kant die Frage, ob Rousseau wirk- lich behauptet habe, daß „der wilde Zustand besser sei, als der gesittete" x) und daß „es nötig sei, in die Wälder zurückzukehren" 2). Er lehnt diese Auffassung von Rousseaus Gedanken entschieden ab. Die „ganze Absicht des Rousseau ist, den Menschen durch Kunst dahin zu bringen, daß er alle Vorteile der Kultur mit allen Vorteilen des Naturzustandes vereinigen könne. Rousseau will nicht, daß man in den Naturzustand zurückgehen, sondern dahin zurücksehen soll"3). Aber was heißt es, „alle Vorteile der Kultur mit allen Vorteilen der Natur vereinigen" ? Kants Antwort lautet : „den moralischen Zustand" erreichen. In den Reflexionen zur Anthropologie der 70 er Jahre legt Kant den Inhalt von Rousseaus Dissertationen von „dem Schaden der Wissenschaften" und von der „Ungleichheit der Menschen" mit folgenden Worten dar: „Der natürliche Zustand ist in der Idee ein goldenes Zeitalter, das der Rohigkeit und Unwissenheit. Aber der Mensch kann sich darin nicht erhalten und geht aus dem Stande der Natur, ohne noch eine Idee von der sittlichen Ordnung zu haben, und so entwickeln sich . . . die Kenntnisse, aus ihnen die Begierden und Bedürfnisse, mit diesen das Elend entspringt. Er wird cultiviert. . . . Nun bedarf er moralisiert zu werden und dann erreicht er seine Bestimmung. — Der Naturmensch stimmt alsdann mit dem Ver- nunftmenschen. Aber nur die Spezies erreicht sie" 4). In den letzten drei Sätzen zieht Kant zu seiner Auslegung des Inhaltes der Dissertationen den „Contr. Soc." und den „Emile" herbei, die er auch auf der nächsten Seite ausdrücklich erwähnt5). — In den „Ideen zur allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) formuliert Kant seine Auffassung von Rousseaus Endabsicht in noch klarerer Weise: „Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft cultiviert. . . . Aber uns für moralisiert zu 1) Handschrift! Nachlaß, op. cit S. 778 B. II, 2. 2) ibid, S. 783. 3) ibid, S. 890. 4) ibid, S. 8ß8. 5) ibid, S. 890. 144 Georg Gurwitsch, halten, daran fehlt noch sehr viel" *) . . . „Ehe dieser letzte Schritt geschehen, . . . erduldet die menschliche Natur die härtesten Übel, unter dem betrüglichen Anschein äußerer Wohlfahrt" . . . und „Rousseau hatte so unrecht nicht, wenn er den Zustand der Wilden vorzog, sobald man nämlich diese letzte Stufe, die unsere Gattung noch zu ersteigen hat (NB. die der sittlichen Ordnung) wegläßt"2). Rousseau hat diese letzte Stufe weggelassen, als er seine zwei Dissertationen schrieb, aber das war nur die Me- thode der Kritik an der intellektualistischen Kultur der Aufklärung. In seinem „Contr. Soc." und „Emile" behandelt er die Frage, wie dem Elend durch „Kunst" abzuhelfen sei, und antwortet: durch Gründung einer bürgerlichen Verfassung, die auf sittlicher Ord- nung fußt, und den Menschen von der Tierheit zur moralischen Person erhebt. Nun wird die Lösung, die Kant dem Problem der Einheit der Gedankenwelt Rousseaus in dem „Mutmaßlichen An- fange der Menschengeschichte" gibt, ganz klar und verständlich: „In seiner Schrift über den Einfluß der Wissenschaften und über die Ungleichkeit der Menschen", sagt hier Kant von Rousseau, „zeigt er ganz richtig den unvermeidlichen Widerstreit der Kultur mit der Natur des menschlichen Geschlechts, als einer physischen Gattung, in welcher jedes Individuum seine Bestimmung ganz er- reichen sollte ; in seinem Emile aber, seinem Gesellschaftlichen Kon- trakte und anderen Schriften, sucht er wieder das schwere Problem aufzulösen: wie die Cultur fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln bis vollkommene Kunst wieder Natur. wird : Als welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist" 3). Und in seinem letzten Greisen- Werke — in der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798) faßt Kant das ganze Ergebnis seiner Interpretation der Rousseauschen Kultur- philosophie in folgenden abschließenden Bemerkungen zusammen: „Man darf eben nicht die hypochondrische Schilderung, die Rousseau von dem Menschengeschlecht macht, das aus dem Naturzustande her- auszugehen wagt, für Anpreisung wieder dahinein und in die Wälder zurückzukehren, als dessen wirkliche Meinung annehmen. ...... Seine drei Schriften von dem Schaden, den 1. der Ausgang aus der Natur in die Cultur unserer Gattung, durch Schwächung 1) Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 7. Satz, Band VIII, op. cit. S. 26. 2) ibid, S. 26. 3) Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, op. cit. B. VIII, S. 116— 118. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 145 unserer Kraft ; 2. Die Civilisierung durch Ungleichheit und wechsel- seitige Unterdrückung, 3. Die vermeinte Moralisierung durch natur- widrige Erziehung und Mißbildung der Denkungsart angerichtet hat: — diese drei Schriften, sage ich . . ., sollten nur seinem Sozialkontrakt, seinem Emile, und seinem Savoyardi- schen Vicar zum Leitfaden dienen aus dem Irrsal der Übel sich herauszufinden, womit sich unsere Gattung durch ihre eigene Schuld umgeben hat"1). Diesen Deutungen Kants scheint es mir angemessen, einige sich hierauf beziehende Zitate aus Rousseau beizufügen. Rousseau lehnt selbst mit der größten Energie die Meinung ab, als ob er im „Discours sur rinegalite"" die Notwendigkeit der Rechtsgemein- schaft negiert hätte. In einem Briefe an Voltaire vom 18. Aug. 1856, der auf dessen verbissene Angriffe antwortet, schreibt er : n Vous avez qualifie de livre contre le genre humain un ecrit ou je plai- dais la cause du genre humain contre lui meme, . . . car je mon- trait aux hommes comment ils faisaient leurs malheurs eux-memes, et par consequent comment ils les pouvaient eviter" 2). Und in der ursprünglichen Redaktion des „Contr. Soc." heißt es noch klarer: „ Quoique (les hommes) deviennent malheureux et me*schants en devenant sociables, . . . loin de penser qu'il n'y aii ni vertu, ni bonheur pour nous, . . . par de nouvelles asso- ciations, corrigeons s'il se peut, le defaut de l'association generale. Montrons . . . dans l'art perfectionne* la reparation des maux, que l'art commence fit ä la nature" 3). Und diese perfektionierte Kunst besteht, wie Rousseau es schon gelegentlich im „Discours sur l'ine'- galite" ausspricht, in dem Aufbau einer neuen Rechtsordnung, die auf den Regeln des Sollens, des natürlichen Rechts gegründet wird, „regles que la raison est . . . force" de re'tablir sur d'autre fonde- ment (als im Naturzustande, wo der Instinkt vorherrscht), quand par ses developpements successifs, elles est venue a bout d'^touffer la nature" 4). Rousseau stellt, ganz im Sinne der Kantischen Deu- tung, im „Contr. Soc." den ideellen bürgerlichen Zustand, als den der sittlichen Ordnung , des ethischen Sollens , der Mechanik der Instinkte im Naturzustande gegenüber. Im 8. Kap. des I. Buches lesen wir: „Ce passage de l'e'tat de nature ä T^tat civil produit 1) Anthropologie, op. cit., B VII, S. 326—327. 2) Oeuvres completes, op. cit., S. 1386. 3) Ursprüngliche Redaktion, S. 10—11 des Manuskriptes. 4) Discours sur l'ine'galittf, ddition Lahure, I. Band, S. 81. Kantetudien XXVII. 10 146 Georg Gurwitsch, dans Thomme un changement tres remarquable en substituant dans sa conduite la justice a l'instinct et donnant a ses actions la moralitö qui leur manqnait auparavant. C'est alors seulement que la voix du devoir succ^dant ä 1'impulsion physique et le droit k l'appetit, Thomme . . . se voit force" ... de consulter sa raison, avant d'ecouter ses penschants". . . . „La Constitution de l'homme (s'altöre) . . . , a l'existence physique et independante ... (se sub- stitue) . . . une existence partielle et morale" l). „. . . Ce que l'homme perd . . . c'est la liberte" naturelle, ce qu'il gagne, c'est la liberte" civile"-*). „. . . il ... fait qu'un behänge avantageux . . . de sa force, que d'autre pouvaient surmonter, contre un droit que l'union social rend invincible" 3). Und diese neu er- worbene civile Freiheit, die Rousseau als moralische mit großer Klarheit der natürlichen Freiheit, die nur Unabhängigkeit einer Kraft von der anderen bedeutet, gegenüberstellt, wird von ihm als sittliche Autonomie verstanden. „On pourrait . . . aj outer ä l'acquis de l'ätat civil la liberte" morale, qui seul rend l'homme vraiment maitre de lui; car 1'impulsion du seul appätit est £scla- vage et l'obeissance ä la loi qu'on s'est prescrite est liberte^ 4)« Diese Autonomie wird nach Rousseaus Lehre durch die Unter- werfung des Einzelnen unter die „volonte generale" erzeugt. Es entsteht also die Frage: was ist „volonte generale"? Bevor wir aber auf die Antwort Kants auf diese Frage eingehen (und Kant hat wirklich eine Antwort gegeben), möchte ich noch die Auf- merksamkeit auf eine grundlegende Unterscheidung hinlenken, die Rousseau mit der größten Schärfe seines Denkens, nicht aber des Ausdrucks, macht. Sie steht nämlich in unmittelbarer Beziehung zur Kantischen Interpretation des Rousseauschen Systems und gewährt den klarsten Einblick in seinen Gedankengang. — So wie zwei Arten der Freiheit, unterscheidet Rousseau auch zwei Arten des natürlichen Rechts: das instinktive, natürliche Recht des Naturzustandes, das mit der Kraft zusammenfällt, und das wahrhafte moralische Naturrecht — das Vernunft recht, das nur im bürgerlichen Zustande Geltung erlangt, und seine Quelle in der „volonte* generale" hat. In der ursprünglichen Redaktion des „Contr. Soc.a ist diese Unterscheidung5) ausdrücklich ausge- 1) Contr. Soc. L. II, C. VII. 3) ibid, L. II, C. IV. 2) Contr. Soc. L. I, C. VIII. 4) ibid, L. I, C. VIII. 5) Ausführliche Darlegung dieser vorhin unbeachtet gebliebenen Lehre Rousseaus habe ich in meiner Monographie „Rousseau und die Erklärung der Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 147 sprochen: „Proteges par la socie*te* dont nous sommes membres . . . nous sommes portös . . . ä en user avec les autres hommes ... et de cette disposition . . . naissent les rögles du droit raisonne* different du droit naturel proprement dit, qui n'est fonde* que sur un sentiment vrai, mais tres vague et souvent etouffe* pur Tamour de nous meme" 1). „C'est ainsi que se forment en nous les pr^miers notions distincts du juste et de l'injuste. Le plus grand avantage qui resulte . . . de la loi . . . (Texpression de la volonte* generale) . . . est de nous montrer clairement le vrai fondement de la ju- stice et du droit naturel (c'est a dire du droit naturel raisonne*)" 2). Und in seiner anonymen Abhandlung im XI. Bande der „Enzyklo- pädie" — „Droit Naturel" s), weist Rousseau mit der größten Klarheit Rechte. Idee der unveräußerlichen Rechte des Einzelnen in der politischen Theorie Rousseaus", Petersburg 1918 (russisch), S. 23—51, zu geben versucht. 1) Ursprüngliche Redaktion des Cont. Soc, op. cit., S. 66 des Manuskripts. 2) ibid, S. 66-67. 3) Ich rechne diesen anonymen Artikel Rousseaus Werken an aus folgenden Gründen. Außer der allgemeinen Ähnlichkeit der hier entwickelten Lehren mit Rousseaus Ansichten (worauf schon Dreyfuss-Brisac in seiner „Einleitung zur Ausgabe des Contr. Soc." 1896 S. XI, aufmerksam wurde und Zustimmung von Chinz, Revue historique de la France t. XIV, und Haymann, Rousseaus Sozial- philosophie, S. 81—82, Anm. 3, fand) ist es mir gelungen, die textuelle Iden- tität einer Reihe von Sätzen dieses Artikels mit dem Wortlaut der ursprüng- lichen Redaktion des „Contr. Soc." festzustellen. Wir lesen: Im Artikel „Droit naturel": In der ursprünglichen Redaktion: „. . .Ou porterons nous cette question? „. . . Le philosophe me renverra par Ou? Devant le genre humain; c'est Devant le genre humain . .., ä ä lui seul qu'il appartient de la qui seul il appartient de deci- de'cider parce que le bien de der parce que le plus grand bien tous est la seul passion qu'il ait de tous est la seul passion qu'il (VI -384) ait« (S.d.M. 7—8) C'est ä la volonte" gänärale que C'est, me dira-t-il, a la vo- l'individu doit s'adresser pour lontö gdnärale que l'individu savoir jus^qu'oü il doit etre hom- doit s'adresser pour savoir jus- me, citoyen, pere, enfant et qu'oü il doit etre homme, citoyen, quand il lui convient de vivre sujet, pere, enfant et quand il et de mourir. (VII— 384) lui convient de vivre et de mou- rir (ibid.) . . . Vous resterez convaincu : . . . 2. Que la volonte' generale soit Que la volonte* gdndral est dans dans chaque individu un acte chaque individu un acte pure pure de l'entendement, qui rai- de l'entendement, qui raisonne sonne dans la silence de passions . 10* 148 Georg Gurwitsch, auf die „volonte* g^nörale" als die Quelle dieses vernünftigen Na- turrechtes hin. „Parce que la volonte* ge* neurale est toujours bonne, eile n'a jamais trompe*. Vous avez le droit naturel le plus sacre* a tout ce que vous est point conteste* . . . (par eile)" *)." „Ainsi la cause du droit naturel se plaide pardevant l'humanite* ... et cette consideration de la volonte* ge*ne*rale est la regle de la conduite". Und im Traktat „L'e*conomie politique" heißt es: „Cette volonte* g6*ne*rale est ... la regle du juste et de l'injuste . . . C'est cette vois cöleste qui dicte ä chaque citoyen , les pre*- ceptes de la raison publique 3) . . . Also sieht Rousseau ganz unbe- streitbar in der volonte* ge*ne*rale die Quelle des natürlichen Ver- nunftsrechtes. Was soll denn die volonte* ge*ne*rale in seinem System bedeuten? Nun wird Kants Antwort auf diese Frage be- sonders interessant und wichtig. „Der allgemeine a priori vereinigte Volkswille", mit welchem Terminus Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechts- dans lasilence des passions, sur sur ce que l'homme peut exiger ce que l'homme peut exiger de de son semblable et sur ce que son semblable et sur ce que son son semblable est en droit d'exi- s'emblable peut exiger de lui ger de lui, nul n'en disconvien- (IX— 385) dra. (ibid. 8) Je sens que je porte l'epouvante et letrouble aumilieu del'espece humaine, dit l'homme independant . . ., mais il faut que je soit malheur- eux, ou que je fasse le malheur des autres, et personne ne m'est plus eher que moi. (ibid. 6) Je sens que1 je porte l'epou- vante et le trouble au milieu de l'espece humaine, mais il faut ou que je sois malheureux, ou que je fasse le malheur des au- tres, et personne ne m'est plus eher que je me le sui ä moi meme (III— 383). Wenn man die angeführten Zitate vergleicht, so wird ihre wörtliche Iden- tität unzweifelhaft; und da die Ursprüngliche Redaktion bis 1887 im Manuskript geblieben ist und sie von allen Forschern (vgl. Dreyfuss-Brisac, op. cit, S. IX und Alexejew, Etüden über Rousseau, B. II, S. 5—7) zur Periode vor 1755 (die Zeit des Erscheinens des XI. Bandes der Enzyklopädie) gerechnet wird, so läßt sich mit Sicherheit behaupten: 1) daß die zitierten Sätze der Abhandlung „Droit Naturel" aus der „Ursprünglichen Redaktion" des „Contr. Soc.fa entlehnt sind, 2) daß dieses nur der Verfasser der „UrsprünglichenJEtedaktion" selbst machen konnte, da sie ungedruckt geblieben ist und 3) daß also Rousseau der Autor dieses Artikels ist. Vgl. zur ausführlicheren Begründung, meine Arbeit „Rous- seau ", S. 49—80. 1) Droit Naturel VII, op. cit, S. 384. 2) ibid. IX, op. cit., S. 385. . 3) Economie politique I, Oeuvres completes, S. 313, 314, 315. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 149 lehre" die Rousseausche volonte* gene"ral" übersetzt, wird schon in der „Theorie und Praxis" (1793) als Synthese zwischen Freiheit und Gleichheit definiert: „Eigentlich kommen", sagt Kant hier, „um diesen Begriff auszumachen, die Begriffe der äußeren Frei- heit, Gleichheit und Einheit des Willens aller zusammen"1). Und im Aufsatze „Über ein vermeintliches Recht, aus Menschen- liebe zu lügen" (1797) wird der Inhalt der „volonte* genäral" als „vereinigte(r) Wille aller nach dem Prinzip der Gleichheit, ohne welche keine Freiheit von jedermann statthaben würde" 2) bestimmt. Dieser synthetische „a priori gegebene allgemeine Wille" ist es, der, wie es im „Traktat zum ewigen Frieden" (1795) erklärt wird, „gerade allein was unter Menschen Rechtens ist bestimmt", „welch' (letzteres) als der Ausspruch des allgemeinen Willens nur ein ein- ziges sein kann . . . und die Form Rechtens nicht die Materie oder das Objekt, worin ich ein Recht habe, betrifft" s). „Der allgemeine vereinigte Volkswille — der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle, und alle über jeden ebendasselbe beschließen" 4) ist, wie es einmal Kant mit Bezug auf das Problem der Strafe ausspricht: „in jedem die reine rechtlich-ge- setzgebende Vernunft (homo noumenon)" 5), die dem empi- rischen homo phaenomenon gegenübersteht. Darum nennt auch Kant diesen Willen den „vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillen"6), oder im Sinne des eigenen Kantischen Systems eine Idee: „Es ist eine bloße Idee der Ver- nunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: näm- lich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können " 7). „Man nennt dieses Grundgesetz, das nur aus dem allgemein vereinigten Volkswillen entspringen kann, den ursprünglichen Vertrag" 8), ... (der) „keineswegs als ein Fak- tum vorauszusetzen nötig ist, ja als ein solcher garnicht möglich 1) „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", op. cit. B. VIII, S. 295. 2) op. cit. B. VIII, S. 429. 3) Zum ewigen Frieden, Anbang I, op. cit. B. VIII, S. 378. 4) Theorie und Praxis, II. Abschnitt, op. cit. B. VIII, S. 292. 5) Die Metaphysik der Sitten, I. Teil, Rechtslehre, § 49, allgemeine An- merkung, E., op. cit, B. VI, S. 335. 6) ibid, § 51, S. 338. 7) Theorie und Praxis, B. VIII op. cit., S. 297. 8) ibid, S. 295. 150 Georg Gurwitsch, ist" ... „sondern nnr als Vernnnftprinzip zur Beurteilung aller rechtlichen Verfassung überhaupt" *) (Geltung hat). — Die Unterwerfung unter den synthetischen a priori vereinigten, in jedem die reine rechtlich- gesetzgebende Vernunft darstellenden all- gemeinen Willen, die den Inhalt des Gesellschaftsvertrages ausmacht und zum bürgerlichen Zustande hinleitet, kann selbstverständlich nur zur Begründung der wahren Freiheit des Einzelnen führen. Der allgemeine Wille ist ja nur Synthese zwischen Freiheit und Gleich- heit. Kant drückt dies Ergebnis seiner Deutung der politischen Theorie Eousseaus, die der von Benjamin Konstan2) eingeleiteten und zuletzt von Jellinek8) formulierten Auffassung scharf ent- gegengesetzt ist, in folgenden Worten aus: „Man kann nicht sagen : der . . . Mensch im Staate habe ein Tteil seiner angeborenen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde ge- setzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, in einem rechtlichen Zustande unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt" 4). Die Unterwerfung unter den synthetisch a priori vereinigten Willen erzeugt „die gesetzliche Freiheit, die bürgerliche Gleichheit und die bürgerliche Selbständigkeit" 5). Und diese Rechte, die „nicht sowohl Gesetze (sind), die der schon errichtete Staat gibt, sondern nach denen allein eine Staatserrichtung nach reinen Vernunftprinzipien des äußeren Menschenrechtes überhaupt möglich ist" 6), sind, wie Kant es ausdrücklich in der „Theorie und Praxis" ausspricht, „un- verlierbare Rechte gegenüber dem Staatsoberhaupt" 7). So erzeugt die Einsetzung der absoluten Herrschaft des apriorischen synthe- tisch vereinigten Gesamt willens „den Staat in der Idee, wie er 1) ibid, S. 297. 2) B. Constant, Cours de politique constitutionnel (1818—1820), Edition Laboulay, 1861, B. I, S. 10, 128—129, B. II, S. 537, 549. 3) Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1895, S. 6. 4) Metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 47, op. cit., B. VI, S. 315 — 316. 5) ibid, S. 46, S. 314; „Theorie und Praxis", B. VIII op. cit. S, 290—295. 6) Theorie und Praxis, B. VIII S. 290. 7) ibid, S. 303. Allerdings spricht ihnen Kant im entschiedenen Unter- schiede zu Rousseau (vgl. unten S. 153) den Zwangscharakter ab und erblickt das „einzige Palladium der Volksrechte in der Freiheit der Feder" (304). Über den Grund dieser Schwankungen in der politischen Lehre Kants vgl. die tief- dringenden Ausführungen von Prof. P. Nowgorodzeff. Die politischen Theo- rien Kants und Hegels, Moskau 1902 (russisch), S. 126—146. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 151 nach reinen Rechtsprinzipien sein soll" 1), wo „das Gesetz selbst- herrschend ist und an keiner besonderen Person hängt" 2). Nach Kants kritischer Auffassung ist dies die ewig unerreichbare Auf- gabe, zu der ein jeder Staat streben soll; nach Rousseaus meta- physischer Theorie — die einzig rechtmäßige Form des in Wirklich- keit zu begründenden Staates. — Jedenfalls können aber, wie wir gleich sehen werden, Kants Sätze als präzise Wiedergabe und Interpretation der politischen Theorie Rousseaus angesehen werden, wenn auch in der Formulierung der selbständige rechtsphiloso- phische Standpunkt Kants zu fühlen ist, so daß der eigene Kan- tische Aufbau von seiner Rousseau-Interpretation auseinanderzu- halten ist. Umsomehr wird es hier angemessen erscheinen, Rousseau selbst sprechen zu lassen. Kant deutet die „volente generale", die in der Rousseau- Literatur immer wieder als Durchschnittswille mit dem empi- rischen Volkswillen vermengt wird, als ein überempirisches Prinzip in seiner Allgemeingültigkeit. Diese Auffassung stimmt ganz und gar mit dem Wortlaute des „Contr. Soc." überein. „La volonte generale" lesen wir hier: „est toujours constante, inalteralbe et pure" „eile est indes tructible" „(Si) la volonte generale devient muette . . . s'ensuit-il de la (qu'elle) soit an6*antie ? Non" 4). . Sie bleibt immer rein und unverändert (eile est la meme) 5). Sie untersteht nicht dem empirischen Wechsel der Dinge, da sie überhaupt über die empirische Wirklichkeit emporgehoben ist; gerade darum ist die „volonte" generale toujours droite" und „eile ne peut pas errer" 6). Rousseau unterscheidet im Begriffe der Staatsgewalt zwei Elemente: die ideelle „volonte" generale" und die reelle „force publique", die mit der „delibe*- ration publique" zusammenfällt 7). „II y a ... dans l'£tat une force commune qui le soutient, une volonte" generale, qui dirige cette force, et c'est l'application de l'une ä l'autre, qui constitue la sou- verainete^ 8). Und diese zwei Elemente liegen in der denkbar größten Entfernung, wie es Rousseau in einem vorhin schon erwähnten Zitat ganz kartesisch ausdrückt: „Comme dans la Constitution de l'homme l'action de Tarne *sur le corps est Täbime de la philosophie, de 1) Met. Auf. d. Rechtslehre, § 45, op. cit. B. VI, S. 313. 2) ibid, § 52, S. 341. 3) Contr. Soc. L. IV, C. I. 4) ibid, L. IV, C. I. 5) ibid, L. II, C. II. 6) ibid, L. II, C. III. 7) Vgl. darüber ausführlich in meiner Arbeit „Rousseau ..." S. 56-59. 8) Ursprüngliche Redaktion des „Contr. Soc", op. cit. S. 20 des Manuskripts. 152 Georg Gurwitsch, meme Taction de la volonte generale sur la force publique est 1'äbime de la politique dans la Constitution de l'£tat" l). Wir sehen, die „volonte g^nörale" ist für Rousseau eine metaphysische Sub- stanz im vorkritischen Sinne, keine regulative Idee nach Kantischer Weise. Sie ist aber ganz unzweifelhaft ein rein ideelles, über- empirisches Prinzip, kein empirischer Durchschnitts wille 2). Um so mehr, als Rousseau in der „volonte g£n£rale" die Quelle des ewigen Vernunftsrechts erblickte. „Le droit naturel ne change pas" lesen wir in dem gleichnamigen Artikel der Enzyklopädie: „puisque il est toujours relative ä la volonte generale" 8). — Und dieses überempirische ideelle Prinzip, das als „volonte" generale" bezeichnet wird, fällt im Grunde bei Rousseau mit der individuellen conscience zusammen, oder richtiger gesagt, die „volonte* generale" ist eine Richtung der „conscience", seine abstract-rechtliche Seite. Rousseau spricht es selbst gelegentlich aus, indem er den Begriff der Tugend — „vertu", das eine Mal durch das Übereinstimmen der Handlung mit der „conscience", das andere Mal mit der „vo- lonte generale", definiert 4). Und dann wird die volonte* generale mit der größten Klarheit von Rousseau als überempirischer Be- standteil des individuellenWollens hingestellt; die „volonte* g£n6rale" wird nicht dem individuellen Willen, sondern dem Privatwillen, also seinem empirischen Element, das bei jedem Menschen ein anderes ist, gegenübergestellt: „Chaque individu peut . . . avoir une volonte* particuliere contraire ou dissemblable ä la volonte" generale qu'il a . . ." 5). „Que la volonte* generale . . . soit dans chaque individu un acte pure de l'en t end em ent , qui raisonne dans la silence de ses passions . . . nul n'en disconviendra" 6). „Volonte generale" ist abstrakte überempirische Wesenheit eines jeden Individuums, die bei allen die gleiche ist. — Nun verstehen wir, warum die Unterordnung unter die volonte generale zur indivi- 1) Ursprüngl. Red. des „Contr. Soc" op. cit. S. 22 des Manuskripts. 2) So viel ich sehe, waren Kistiakowski (Gesellschaft und Einzelwesen 1899, S. 156—157) und Stammler („Notion et portde de la volonte generale chez J. J. Rousseau", Revue Metaphysique, Mai 1912, S. 383—389) die einzigen in der modernen Literatur, die den ideellen Charakter der volonte* generale» emporhoben. Vgl. „Rousseau ..." S. 51—80. 3) Droit naturel, IX. op. cit., S. 385. 4) Emile, IV., op. cit., S. 227 und Economie politique, op. cit., S. 316. 5) Contr. Soc, L. I, C. VII. 6) Ursprüngliche Redaktion des Contr. Soc, op. cit., des Manuskripts. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. l 153 duellen Freiheit und Gleichheit führt, eine Synthesis der beiden erzeugt1). Es ist eine Unterwerfung unter sein eigenes und bei allen gleiches vernünftig - moralisches Wesen, also Autonomie; so werden die unveräußerlichen natürlichen Vernunftrechte von Ein- zelnen errungen, die nur jetzt, im Staatszustande, zur Geltung kommen, aus der „volonte generale" emporquellend. Die unbe- dingte Veräußerung aller Eechte von Seiten des Individuums, als conditio sine qua non des Gesellschaftsvertrages, stellt sich als bloßes Absagen von Instinkten zu Gunsten des natürlichen Ver- nunftsrechts heraus, dessen Hauptinhalt die individuelle Freiheit ist. Es ist ein Erringen, nicht ein Absagen von unveräußerlichen Menschenrechten 2). — Und statt des Absolutismus des empirischen Volkswillens haben wir in Rousseaus Konstruktion die Herrschaft, die Souveränität des Vernunftsrechts, als unbedingte Voraussetzung des Bestehens des Staates selbst ; wenn die empirische delib^ration publique nicht mehr mit der metaphysischen „volonte* generale" übereinstimmt, so wird nach Rousseaus Lehre, im Unterschiede zu Kant, der Staat aufgelöst, da keine rechtmäßige Gewalt mehr vorhanden ist und die Individuen in den Naturzustand zurück- fallen3). Das Individuum und seine unveräußerlichen Vorrechte, in der Substanz der* „volonte* generale" symbolisiert, sind das ein- zige Ziel, zu dem Rousseaus politisches Denken hinstrebt4). — Wir sehen: Kants Interpretation der Rousseauschen Lehre von der volonte g£ne"rale 5) im Zusammenhange mit seiner Deutung 1) Über diese Synthese vergleiche man Ausführungen in „Rousseau . . .", S. 97—100. 2) In der Abhandlung „De Päconomie politique" (1755), schon nach der „Ur- sprünglichen Redaktion" verfaßt, werden einzelne unveräußerliche Menschenrechte formuliert, die aus der „volonte generale" emporgehen (Ec. polit. II, 317, S. 316, I, 314), und von der Regierung wird gefordert „de respecter les droits in- violables de tous les membres de l'e'tat". Diese ihre Pflicht wird so streng verstanden, daß Rousseau hinzufügt : „c'ette Convention (der Staat) serait dissoute par le droit, s'il perissait dans l'e'tat un seul citoyen qu'on eut pu secourir, si l'on en retenait un seul en prison et s'il se perdait und seul proces avec une in- justice evidente (Ec. pol. II, S. 316). Ausführlicher, in meiner Arbeit „Rousseau . . ." S. 37—41, und über Eigentumsrecht und Religionsfreiheit, ibid, S. 80—95. 3) Contr. Soc. L. IV, C. II und Economie Politique II, 316. 4) Vgl. meine Arbeit „Rousseau . . ." (S. 75—78), wo ich als Rousseaus End- absicht die Lehre von der Souveränität der unveräußerlichen Rechte des Ein- zelnen zu bezeichnen versuchte. 5) Es ist hervorzuheben, daß in einem Punkte Kants und Rousseaus An- sichten über die „volonte' ge'ne'rale" sich entschieden scheiden. Der Metaphysiker 154 Georg Gurwitsch, der Kultarphilosophie des Genfers, kann zu einer ganz neuen, von der Tradition stark abweichenden Auffassung dessen politischer Theorie führen, die als ein durchaus konsequentes System sich dar- legen läßt. 2. Wenn wir uns nun zu Fichte, diesem offenherzigen Bewunderer der französischen Revolution wenden, um ihn über seine Auffassung des Systems Rousseaus zu befragen, so kommen vorerst selbstver- ständlich seine politischen Jugendschriften in Betracht: „Zurück- f orderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas" und „Bei- trag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die franzö- sische Revolution" (1793), beide vor den ersten rechtsphilosophischen Publikationen Kants in der Schweiz erschienen. Der „Beitrag", der den stärksten Einfluß von Rousseau bezeugt1), enthält fol- gende allgemeine Erklärung über den Genfer Bürger, den Fichte zum Stammvater des deutschen Idealismus erhebt: „Rousseau ... (der unseren Weg ging) . . . verfuhr viel zu schonend mit euch ihr Empiriker, das war sein Fehler. Man wird noch ganz anders mit euch reden. Unter euren Augen, und ich kann es zu eurer Be- schämung hinzusetzen . . . durch Rousseau geweckt, hat der menschliche Geist ein Werk vollendet, das ihr für Rousseau ist von der glücklichen Harmonie zwischen Gerechtigkeit und Vorteil überzeugt, darum verbindet er ohne Bedenken seine ideelle volonte" generale mit dem „allgemeinen Interesse". Diese Verbindung, die metaphysisch fundiert ist, kann aber keineswegs zur utilitaristischen Ausdeutung der volonte" generale führen (wie es immer in der Literatur geschieht, und auch in den neueren sonst scharf- sinnigen Werken von Fr. Haymann (Rousseaus Sozialphilosophie 1899, S. 166, 152, 175) und M. Liepmann (Die Rechtsphilosophie Rousseaus, S. 115—118) wiederholt wird). Außer dem vorhin gesagten kann noch auf die Worte Rousseaus verwiesen werden: „le droit ne se plit point aux passions des hommes" (Emile, V Partie, S. 295) und seine Erklärung im Anfange des „Contr. Soc": er wolle verbinden „ce que le droit permet, avec ce que 1'interSt prescrit" (L. I, C. I); also hält er doch die beiden klar auseinander. — Der Kritizist Kant hat nur die Brücke vernichtet, die der metaphysische Glaube Rousseaus zwischen der ideellen „volonte generale" und dem empirischen Interesse geschlagen hatte. 1) Über den Einfluß, den Rousseau auf Fichte ausübte, vergleiche besonders die Ausführungen von Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie 1890, Kap. V. — Völlig unbegründet ist die Behauptung Streckers, Die An- fänge von Fichtes Staatsphilosophie 1917, „daß man aus Fichtes Werken nicht den Eindruck gewinnt, als ob er sich besonders gründlich mit ihm (Rousseau) auseinandergesetzt habe" (S. 31). Das Entgegengesetzte scheint mir das richtige zu sein, wie aus den folgenden Ausführungen klar werden soll. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 155 das Unmöglichste aller Unmöglichkeit würdet erklärt haben, wenn ihr fähig gewesen wäret, die Idee desselben zu fassen : er hat sich selbst ausgemessen" 1). Fichte spricht im „Beitrag" auch sehr klar aus, worin eigentlich die bahnbrechende Tat Rousseaus bestand : Rous- seau hat zuerst das Reich des reinen sittlichen Sollens entdeckt, die Autonomie der sittlichen Welt festgestellt. So erklärt Fichte, er habe die Ansichten eines gewissen Herrn Rehrbergs zu bekämpfen, „der durchgängig aus dem, was geschieht, auf das schließt, was geschehen soll; der alles wieder verwirrt, was Rousseau und seine Nachfolger (also Kant) auseinandergesetzt haben und hier auseinandergesetzt (wird)"2). Und wirklich ent- wickelt der jugendliche Fichte, mit der ihm eigenen Macht seiner tiefen Einfältigkeit, im Anfange des „Beitrags"3) die Lehre vom reinen Sollen mit so einer Schärfe und Präzision des Ausdruckes, wie es Rousseau und selbst Kant nicht gegönnt war. Und dieser glühende Prediger des reinen Sollens sieht gerade in Rousseau den Stammvater seiner Lehre. — Es ist bezeichnend für Fichtes Auslegung des Begriffs „con- science" bei Rousseau, daß er im Gewissen (deutsche Übersetzung der conscience) die Quelle der sittlichen Gesetzgebung erkennt. „Das Gesetz, heißt es im „Beitrag" : das nur für freie Hand- lungen gilt . . . und daher Sittengesetz genannt wird , wird im Gewissen geäußert" 4) , und das Reich des sittlichen Sollens ist das „Gebiet des Gewissens a 5). Hier wird die Rousseausche Ter- minologie der Kantischen vorgezogen. Daß die „conscience" — „das Gewissen" des Genfers, als reine Quelle des sittlichen Sollens, als über empirisches Prinzip, nicht als vages empirisches Gefühl, interpretiert wird, ist offenkundig6). Auch für Fichte, wie für Kant war Rousseau der Newton der Moral. Über das Problem der scheinbaren Kulturfeindschaft bei Rousseau handelt Fichte in den „Vorlesungen über die Bestimmung des Ge- lehrten" (1794), nämlich in der 5. Vorlesung betitelt: „Prüfung der Rousseauschen Behauptungen über den Einfluß der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit". Trotz der 1) Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, II. Auflage, Zürich 1844, S. 32—33. 2) op. cit., S. 50. 3) op. cit, S. 11—17. 4) op. cit, S. 17. 5) op. cit., S. 110—112. 6) Auch in „Der Bestimmung des Menschen" wird das „Gewissen" zur Quelle der sittlichen Welt erhoben, Ausg. Medicus, B. III, S. 354 ff. 156 Georg Gurwitsch, bemerkbaren Abkühlung der Begeisterung für den Genfer1), wird Rousseau hier als „einer der größten Männer seines Jahrhunderts u bezeichnet. „Friede sei über seiner Asche, ruft Fichte aus: und Segen über seinen Namen. — Er hat gewirkt. Er hat Feuer in manche Seele gegossen, die weiterführte, was er anfing" *). Aber zwischen Rousseaus Ansichten und seinen eigenen Behauptungen, daß „die Bestimmung der Menschheit gesetzt ist in dem beständigen Fortgange der Kultur und der gleichförmigen Entwicklung aller ihrer Anlagen und Bedürfnisse" 3), konstatiert Fichte einen Widerspruch, den er doch aufzuheben verspricht : „Wir werden den Widerspruch lösen, wir werden Rousseau besser verstehen, als er sich selbst verstand und wir werden ihn in vollkommener Übereinstmmung mit sich selbst und mit uns antreffen"4). Nämlich, „Rousseau hatte sich ein Bild von der Welt und besonders von dem gelehrten Stande entworfen, wie sie sein sollten" 5). Mit diesem Standpunkte des Sollens „kam er in die größere Welt . . . und wie ward ihm, als er Welt und Gelehrte sah, wie sie wirklich waren. Er sah, zu einer fürchterlichen Höhe gestiegen — Menschen ohne Ahnung ihrer hohen Würde ... sah, wie sie in Befriedigung . . . niederer Sinnlichkeit nicht Recht und Unrecht, nicht Heiliges noch Unheiliges achteten; (folgt entrüstete, mit Rousseau über- einstimmende Schilderung der Laster des Zeitalters). — Das alles sah er und sein hochgespanntes und so getäuschtes Ge- fühl empörte sich. Mit tiefem Unwillen strafte er sein Zeitalter" 6). Die Negation der Kultur in den Dissertationen war also die Methode einer ethischen Kritik und Beurteilung der positiven Kultnr, die Betätigung des Standpunktes des Sollens. „Die Sinn- lichkeit herrschte, das war die Quelle des Übels; nur diese Herr- schaft der Sinnlichkeit wollte er (Rousseau) aufgehoben wissen" 7). 1) Sie war durch das Fortschreiten Fichtes zu einem selbständigen Stand- punkt verursacht, der immer weiter vom Rousseauschen Individualismus abwich, und nach 1798 — 1800 zur synthetischen Konstruktion der konkreten Wertgemein- schaft führte. Das Urteil über Rousseau wurde bei Fichte daher immer strenger (vgl. z. B. die „Grundlage des Naturrechts" (1796), die „Grundzüge des gegen- wärtigen Zeitalters" 1806 und etwa „die Staatslehre" (1813) aus dem Nachlasse). Der Unterschied der Bewertung rührt aber nicht an der Einheit der Fichteschen Rousseau-Interpretation. 2) Fichtes Werke in Auswahl, herausgegeben von Fr. Medicus, I. Bd., S. 272. 3) ibid, S. 263—264. 4) ibid, S. 265. 5) ibid, S. 266. 6) ibid, S. 266—267. 7) ibid, S. 268. Kant und Fichte als Kousseau-Interpreten. 157 „Rousseau wollte nicht, fährt Fichte fort, in Absicht der geistigen Ausbildung, sondern bloß in Absicht der Unabhängigkeit von den Bedürfnissen der Sinnlichkeit den Menschen in den Naturstand zurückversetzen", „er nahm (dabei) unvermerkt an, daß sie schon aus demselben herausgetreten sein und den ganzen Weg der Bil- dung durchlaufen haben"1). — Rousseaus „Fehlschluß" besteht darin, daß er die „Sinnlichkeit überhaupt tötet. Daher Rousseaus Naturstand". „Rousseau vergißt, daß die Menschheit diesem Zu- stande nur durch Sorge, Mühe und Arbeit sich nähern kann und soll"2). „Vor uns also liegt, was Rousseau unter dem Namen des Naturstandes ... hinter uns setzte"1) ... „Rousseau schildert die Vernunft in der Ruhe, aber nicht im Kampfe; er schwächt die Sinnlichkeit statt die Vernunft zu stär- ken" 3). „Hierin fehlt Rousseau ... er fühlt stark das Elend der Menschen; aber er fühlt weit weniger seine eigene Kraft, dem- selben abzuhelfen" 3). Er hat noch nicht erkannt, darin liegt sein Hauptfehler, daß „Handeln! Handeln!, das ist, wozu wir da sind" 4). — Diese Kritik, die Fichte an der Rousseauschen Theorie übt, differiert nicht, wie es im ersten Augenblick scheinen mag, mit der Kantischen Rousseau-Interpretation. Fichte versteht es ganz genau, wie aus seinem „Beitrage" hervorgeht, daß Natur bei Rousseau im positiven Ausbau seines Systems, also im„Contr. Soc." und „Emile", mit dem Reiche des sittlichen Sollens, des vernünftigen Natur- rechts zusammenfällt. Fichte übt nur Kritik an der Methode, die Rousseau benutzt, um die intellektualistische Kultur der Auf- klärung zu beurteilen: das Bezugnehmen auf den einfältigen, in- stinktiven Naturzustand, die Wildheit, als Wertmesser der histo- risch gegebenen Kultur. Schon Kant hat dieser Methode Rousseaus seine eigene gegenübergestellt: er nannte das Verfahren des Genfers „synthetisch, weil er vom natürlichen Menschen anfange, während ich (Kant) analytisch verfahre und vom gesitteten Menschen aus- gehe" 5). Dieser Unterschied der Methoden wird von Fichte mit desto größerer Energie emporgehoben, als er im Begriffe stand, seine Ethik des Handelns, die nicht nur über Rousseau, sondern auch über Kant hinausging, auszuarbeiten. Daß aber dieser Unter- schied des Verfahrens eben ein rein methodischer war, dafür ist das beste Zeichen, daß Fichte, als er in den „Grundzügen des 1) ibid, S. 270. 2) ibid, S. 271. 3) ibid, S. 273. 4) ibid, S. 272. 5) Bemerkungen . . . op. cit., S. 220. 158 Georg Gurwitsch, gegenwärtigen Zeitalters" von der Rechtsphilosophie zur Geschichts- philosophie sich wandte, zur „synthetischen Methode" Rousseaus zurückkehrte; er unterscheidet hier ganz im Sinne des Genfers 5 Epochen in der Geschichte der menschlichen Gattung: angefangen von der Epoche der Unschuld, wo „die Vernunft wirkt als dunkler Instinkt", durch die Epoche der Befreiung von der gebietenden Autorität unmittelbar und mittelbar von der Vernunft überhaupt — dem Zustand der vollendeten Sündhaftigkeit", zur „Epoche der Vernunft - Weisheit, dem Stande der vollendeten Rechtferti- gung" '). — Jedenfalls berührt der Unterschied der Methoden nicht das Endergebnis der Rousseauschen Kritik der Kultur, die klar, so gut von Fichte, wie von Kant, als bahnbrechende Entdeckung der Selbständigkeit der ethischen Welt (in der Negation der Allein- herrschaft der theoretischen Vernunft symbolisiert), erfaßt wird. Es wurde schon erwähnt, daß der „Beitrag" die Lehren des „Contr. Soc." unter der Kategorie des reinen Sollens interpretiere. So wird die Lehre vom ursprünglichen Vertrage selbst ausgelegt. Fichte führt diesbezüglich folgendes aus, sich gegen Rehrberg wendend: „Es sei (wird von Rehrberg behauptet) seit Rousseau gesagt und wieder gesagt worden, daß alle bürgerliche Gesell- schaft sich der Zeit nach auf einem Vertrag gründet, meint ein neuer Naturrechtslehrer : aber ich wünsche zu wissen, gegen welchen Riesen diese Lanze eingelegt ist. Wenigstens sagt Rousseau das nicht. — Man muß auf seinen Gesellschafts vertrag einen sehr flüchtigen Streifzug gemacht haben, um das in ihm zu finden . . . Rousseau sucht im ganzen Buche nach dem Rechte, nicht nach der Tatsache" 2). Mit welch' einer Tiefe und Präzision hier Fichte Rousseau versteht, wird besonders klar, wenn man folgende Äußerungen Rousseaus in Betracht zieht, die die nur un- längst bekannt gewordene (1887) ursprüngliche Redaktion des „Contr. Soc." enthält: „Dans la multitudes d'aggregations . . . il n'y a . . . pas une qui ... ait £te (form6) selon . . . (la maniere) que j'£tablis. Mais je cherche le droit et la raison et ne dispute pas de faits"8). Wir sehen, Fichte ist so tief in die Gedankenwelt Rousseaus eingedrungen, daß er, ohne es zu wissen, sogar wörtlich die gleiche Formulierung des Sinnes der Vertragstheorie Rousseaus 1) Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1806. Erste Vorlesung, der Ausgabe von Medicus IV. Band, S. 405. 2) „Beitrag", op. cit., S. 43—44 und Anmerkung. 3) Ursprüngliche Redaktion, op. cit., S. 24 des Manuskripts. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 159 gab, wie der Genfer selbst. Desto belehrender für die Rousseau- Forschung müssen Fichtes einzelne Deutungen der politischen Theorie des Genfers werden, und vor allem, der grundlegenden Lehre von der „volonte generale". Die „Grundlage des Naturrechts" (1796 — 97) enthält eine aus- führliche Auslegung dieses Hauptbegriffes der Rousseauschen Rechts- philosophie. „Wie kann", wirft Fichte hier, das Grundproblem des „Contr. Soc." formulierend, die Frage auf: „die Freiheit eines Einzelnen, die nach dem Rechtsgesetze nur durch die Freiheit aller begrenzt ist, mit der notwendigen Bedingung des Rechtsgesetzes — der gänzlichen und ohne jeden Vorbehalt geschehenden Veräußerung der Macht und des Rechtsurteils jeder Person — in Vereinigung ge- bracht werden" *). Und er antwortet, sich ausdrücklich auf Rousseau berufend 2), mit dem Hinweis, daß diese Unterwerfung nicht unter die Willkür des empirischen „allgemeinen Willens (volonte de tous), sondern unter den „gemeinsamen Willen (volonte generale) (S. 262), den „apriorischen Willen des Rechts" erfolgt. „Der aufgestellte "Widerspruch ist gehoben, wenn . . . ich mich nicht der veränder- lichen Willkür eines Menschen, sondern einem unabänderlichen festgesetzten Willen (unterwerfe) und zwar ... da das Gesetz so ist, (wie) ich selbst nach der Regel des Rechts es geben müßte . . . meinem eigenen unveränderlichen Willen, den ich notwendig haben müßte, wenn ich gerecht bin und also überhaupt Rechte haben soll"8). Also ist der „ge- meinsame Wille" — das volonte ge*ne*rale in Fichtescher Deutung — das „Wollen des Rechts"4), als der bei allen Individuen gleiche Bestandteil ihres Wollens — „das einzig mögliche daher, worüber ihr Wille sich vereinigt"5). „Wenn eine Million Menschen beisammen sind, so mag wohl jeder Einzelne für sich selbst soviel Freiheit wollen, als nur immer möglich ist. Aber man ver- einige den Willen aller in einen Begriff, als einen Willen, so teilt derselbe die Summe der möglichen Freiheit zvl gleichen Teilen; er geht darauf, daß alle miteinander frei seien, daß daher die Freiheit eines jeden beschränkt sei durch die Freiheit aller übrigen" — „Rousseaus volonte* gön^rale, deren Unterschied von der volonte* des tous keineswegs so gar unbegreiflich ist" 6), fügt Fichte in der Anmerkung an. — 1) Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, op. cit., B. II, S. 105—106. 2) ibid, S. 110, 262. 3) ibid, S. 108. 4) ibid, S. 110. 5) ibid, S. 110—111. 6) ibid, S. 110. 160 Georg Gurwitsch, Wir sehen, die Fichtesche Interpretation der volonte generale stimmt mit der Kantischen überein, nur daß die Formulierang sich näher dem Rousseauschen Gedankengange hält, als es bei Kant geschah. Durch diese Präzision der Wiedergabe erhält Fichte die Möglichkeit, den Unterschied der „volonte* ge*n£rale" und „vo- lonte* des tous" zur Klarheit zu bringen, und so die berüchtigte Dunkelheit der Rousseauschen Lehre über die Summierung der Einzel willen l) , aufzuklären. „Alle einzelnen", erklärt Fichte Rousseaus Gedanken, „wollen jeder soviel als möglich für sich be- halten und allen übrigen so wenig wie möglich lassen; aber eben darum, weil dieser Wille unter sich streitig ist, hebt das Wider- streitende sich gegenseitig auf, und das, was als letztes Resultat bleibt, ist, daß jeder haben solle, was ihm zukommt. Wenn zwei Leute im Handel miteinander begriffen sind, so mag man immer annehmen, daß jeder den anderen bevorteilen will; da aber keiner von beiden der Bevorteilte sein will, so vernichtet sich dieser Teil ihres Wollens gegenseitig und ihr gemeinsamer Wille ist der, daß jeder erhalte was recht sei"2). Also das Resultat der Summierung ist nicht ein empirischer Wille, der aus summierten Teilen besteht, sondern das apriorische, bei allen Beteiligten gleiche Wollen des Rechts, das, durch das gegenseitige Vernichten der empirischen Bestandteile des individuellen Willens, in ihrer Rein- heit und Klarheit hervortritt3). So ist nach Fichtes Auffassung die „volonte generale" ein unveränderliches apriorisches Wollen des Rechts, das eine Syn- thesis zwischen der Freiheit eines jeden und der Gleichheit aller erzeugt. Kann demnach die erforderte Unterwerfung unter die „volente generale" zur Beeinträchtigung der Freiheitsr echte führen? Fichtes Antwort, die auch hier mit der Kantischen zusammenfällt, wenn auch viel schärfer formuliert, ist von vornherein klar. „Weit entfernt", führt hier Fichte aus, in die Tiefen des Rousseauschen Denkens eindringend, „durch diese Unterwerfung meine Rechte zu 1) Contr. Soc. L. II, C, III: „II y a souvent bien de la dififärence entre la volonte* de tous et la volonte" generale, . . . mais otez de ces memes volontes les plus et les moins qui s'entre-ditruisent, reste pour somme de differences la vo- lonte" generale". Sogar ein so tiefer Forscher in der Geschichte der Rechtsphilo- sophie, wie 0. v. Gierke, deutet dieses Zitat im Sinne der Lehre vom „Durch- schnittswillen", des arithmetischen Mittels der empirischen Willensäußerungen aus, vgl. Gierke, Johannes Althusius, III. Aufl. 1913, S. 203. 2) Grundlage des Naturrechts, op. cit., S. 110—111, Anmerkung. 3) Vgl. m. Arb. „Rousseau . . .", S. 62—67. Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 161 verlieren, erhalte ich sie erst, indem ich erst durch sie äußere, daß ich die Bedingung, unter welcher allein jemand Eechte hat, erfülle" '). Wie wir uns erinnern, unterscheidet Rousseau zwischen dem vor staatlichen „droit naturel" instinctif, das mit der Macht zusammenfällt, und dem vernünftigen Naturecht, dem wahrhaften Recht, das aus der volonte' generale hervorgeht. Als Vorbedingung der Geltung des Vernunftsrechts muß die volonte* g£n£rale herr- schen, also der Staat gegründet sein. Diesen neuen Gedanken Rousseaus 2) prägt Fichte vollständig aus. „Es ist", sagt er (die Lehre Rousseaus klar erfassend) . . . „gar kein Naturrecht (denn das droit naturel instinctif des Genfers ist eigentlich kein Recht, wie wir wissen), d. h. es ist kein rechtliches Verhältnis zwischen Menschen möglich, außer in einem Gemeinwesen und unter posi- tiven Gesetzen" s). ... „Keiner kann bei einem Staatsvertrage etwas zubringen und es geben, denn er hat nichts vor diesem Vertrage. Weit entfernt sonach , daß dieser Vertrag sich mit Geben anfangen sollte, hebt er an von Erhalten" 4). Diesen Worten würde Rousseau unbedingt zustimmen, da es gerade seine Mei- nung war, daß erst im bürgerlichen Zustande die unveräußerlichen Vernunftsrechte der Menschen erzeugt werden5). Das ist, wie wir schon sahen, die logische Folge der Rousseauschen Lehre über die zwei Arten des Naturrechts. „11 est si faut", lesen wir direkt zur Bestätigung dieser Deutung in einem bereits vorerwähnten Zitat des „Contr. Soc": „que dans le contrat social ily ait de la part de particuliers aucune renonciation veritable . . . qu'au lieux d'une alieanation ils n'on fait qu'un eschange avan- tageu de leur force, contre un droit, que Tunion social rend invincible" 6). r Fichte hat die größere Klarheit in der Darlegung dieses Ge- dankens erreicht, indem er den verwirrenden Begriff des instink- tiven Naturrechts fortließ. Im Grunde war er bei Rousseau auf 1) Grundlage des Naturrechts I, op. cit., B. II, S. 108. 2) Vgl. meine Arbeit „Rousseau ...", S. 29—35, 48—51, 77—78, 91—94;. 96—97. 3) Grundlage I, op. cit, S; 152. 4) ibid, II, S. 208. 5) In meiner Schrift habe ich gerade auf dieser Lehre des Genfers fußend,. Rousseau gegen Jellinek (Die Erklärung der Menschenrechte, 1896, S. 6 ff.) zu«, verteidigen versucht. 6) Contr. Soc, L. II, C. IV. Kantstudien. XXVU. 11 162 Georg Gurwitsch, einer terminologischen Zweideutigkeit gebaut 1). Wenn daher Fichte, sich Rousseau gegenüberstellend, bemerkt: „Rousseau behauptet unbedingt, ein jeder gibt sich ganz. Dies kommt daher: Rousseau nimmt ein Eigentumsrecht an vor dem Staats vertrage" 2), so kann dies nur die Terminologie, nicht den Sinn der Lehre des Genfers betreffen. Rousseau weiß es ganz genau, daß das Eigentumsrecht, wie jedes andere Recht im normativen Sinne nur im Staat be- steht; und gerade bezüglich des Eigentumes formuliert er es auch dem Ausdrucke nach sehr deutlich: „H faut bien distinguer . . . la possesion qui n'est que l'effet de force, de la propriöte* . . . Ce que l'homme perd par le contrat social c'est un droit illimite' ä tous ce qui le tente et qu'il peut atteindre, ce qu'il gagne . . . c'est la pro priese* de tout ce qu'il possede" 3). Also sind eigentlich Fichtes Ausführungen eine genaue Wiedergabe des Rousseauschen Gedankenganges, nur von der terminologischen Unklarheit befreit, gegen die sich Fichtes Kritik wendet. Rous- seau muß das Verdienst zugesprochen werden, als erster erkannt zu haben, daß das Vernunftrecht sich nur im bürgerlichen Zu- stande realisiert, wo es erst zur Geltung kommt, also kein vor- gemeinschaftlicher Begriff ist. Und Fichte hat diesen Gedanken endgültig ins Klare gebracht. Gerade auf dieser Idee fußt Rousseaus eigentümliche Be- gründung der Menschenrechte, die ein Meister von der Größe Jellineks verkannt hatte. Die Menschenrechte werden nach Rous- seaus Lehre, wie es schon erwähnt wurde, im Staate durch die Vor- herrschaft der volonte generale geboren, — des vernünftig-ethischen Elementes des individuellen Wollens eines jeden Bürgers. Ihre Grundlage ist die Menschenwürde, die sich nur nach der Unter- werfung aller Instinkte unter dieses ideelle Prinzip behauptet und zur Entfaltung kommt. Der Staat wird zur rechtmäßigen Insti- tution nur durch die unbedingte Vorherrschaft des Vernunftrechtes. Wenn der Mehrheits willen nicht mehr mit der „volonte* generale" übereinstimmt, so gibt es nach Rousseau auch keinen Staat mehr, keine Rechtsgewalt, sondern nur Vergewaltigung rein faktischer 1) Vgl. darüber meine Ausführungen in „Rousseau ", S. 41—51. 2) Grundlage des Naturrechts, II, op. cit., S. 208. 3) Contr. Soc, L. I, C. VIII u. IX. Anderer Meinung ist Liepmann (op. cit., S. 124), der ein vorstaatliches Eigentumsrecht bei Rousseau annimmt. Vgl. meine Auseinandersetzung mit ihm in „Rousseau ", S. 91 — 94. Kant und Fichte als Eousseau-Interpreten. 163 Art1). Und da der Hauptinhalt des Vernunftsrechtes, nach Rousseau, die individuelle Freiheit ist, so ist die Souveränität der individuellen Freiheitsrechte die Grundidee seiner politischen Theorie. Und dieses gerade hat Fichte mit klarem Blicke aus den Werken Rousseaus herausgelesen. Gerade in der Zeit seiner größten Be- geisterung für Rousseau schrieb er seine flammende Lobrede für die unveräußerlichen Menschenrechte : „Zurückforderung der Denk- freiheit von den Fürsten Europas" (1793), und im „Beitrage" und der „Grundlage" werden immer mit größter Energie die Menschen- rechte unter ausdrücklicher Berufung auf Rousseau verteidigt. Die französische Revolution, von der Fichte auch durch den Terror nicht abgeschreckt wurde, erscheint ihm als „ein reiches Gemälde über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwert2). Die Grundlage der Menschenrechte ist Menschenwürde. „Der Mensch hat ein Recht zu den Bedingungen, unter denen allein er pflicht- mäßig handeln kann. Solche Rechte sind nie aufzugeben, sie sind unveräußerlich" 3). Also „es ist ewige menschliche und göttliche Wahrheit, daß es unveräußerliche Menschenrechte gibt, und daß die Denkfreiheit darunter gehört"4). Und der einzige Zweck des Staates ist, nach Fichtes Ansicht, in dieser Anfangsperiode, die ganz mit Rousseau übereinstimmt, das Geltendmachen dieser Men- schenrechte, die „Kultur zur Freiheit" der Person5). Es kann keine Veräußerung der Freiheit stattfinden. „Nein, Mensch, du durftest es nicht versprechen; du hast das Recht nicht, auf deine Menschheit Verzicht zu tun; dein Versprechen ist rechtswidrig, mithin rechtsohnmächtig"6); — aus diesen Worten des „Beitrags", die eine genaue Wiedergabe des berühmten Satzes Rousseaus („Renocer a ca liberte c'est renoncer a sa qualite d'homme . . . une teile renonciation est incompatible avec la nature de l'homme; et c'est oter toute moralite a ses actions, que d'oter toute liberte a sa volonte") 7) sind, werden von Fichte alle Konsequenzen gezogen, und ein System der Menschenrechte errichtet, das auch das System Rousseaus in seinem eigentlichen Gedankengange war. Eine neue 1) Siehe oben S. 153 (Anm. 2). 2) Beitrag, op. cit., Vorwort, S. VIII. 3) Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bis- her unterdrückten (1793). J. G. Fichtes sämtliche Werke, Berlin 1845, Bd. VI, S. 12. 4) ibid, S. 19. 5) Beitrag op. cit., S. 70, 73, 77. 6) ibid, S. 73. 7) Contr. Soc, L. I, C. IV. 11* 164 Georg Gurwitsch, Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. Theorie der Menschenrechte, die im Staate erzeugt werden und durch die Vorherrschaft der individuellen volonte* gänörale zur Geltung kommen1). Fichte hat die individualistische Grundidee des „Contr. Soc.a, die in der Synthese zwischen individueller Frei- heit und Gleichheit gipfelt, klar zum Vorschein gebracht, und so das Hauptmotiv des Rousseauschen politischen Denkens aufgeklärt. — Wenn wir jetzt das Endresultat unserer Ausführungen zu- sammenfassen, so scheint uns bewiesen, daß Kant und Fichte tiefe und bedeutungsvolle Auslegungen der Rousseauschen Theorie brachten, die in voller Übereinstimmung mit dem Texte der Werke des Genfers stehen, und als Wegweiser zur weiteren Rousseau- Forschung, als unentbehrlich betrachtet werden müssen. Die Kant- Fichtesche Interpretation gibt die Möglichkeit, die Theorie Rous- seaus, trotz aller scheinbaren Wiedersprüche, als ein folgerichtiges einheitliches Ganzes zu begreifen, und ihren Zusammenhang mit der Geschichte des deutschen klassischen Idealismus, also ihre historische Bedeutung, zu erkennen. 1) Siehe oben S. 153 Anmerkung. Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. Von Privatdozent Dr. Siegfried ÜKarck, Breslau. I. Der Sinn der Rousseauschen Staatsphilosophie ist von jeher der Gegenstand lebhafter Streitfragen gewesen. In das Gewirr vulgärer Auffassungen, in denen Rousseau bald als Staatsabsolutist, bald als Utilitarist oder als Utopist anerkannt, bezw. bekämpft wurde, hat erst die problemgeschichtliche Herausarbeitung kri- tischer Motive bei Rousseau vom Boden der neukantianischen Rechtsphilosophie aus Klarheit gebracht. Es ist das Verdienst Stammlers, Haymanns und Natorps, das Rousseau -Problem auf eine neue Grundlage gestellt zu haben. Sie überwanden ins- besondere endgültig die genetische Auffassung des Gesellschafts- vertrages gemäß dem klaren Sinne der Rousseauschen Problem- stellung. Trotz oder gerade infolge dieser grundlegenden metho- dischen Einstellung bleibt die Analyse des Ineinanders kritischer und dogmatischer Gedankengänge bei Rousseau stets aufs neue für die problemgeschichtliche Forschung anziehend. Der kritische, nicht genetische Sinn der Rousseauschen Frage- stellung im Contrat social steht schon nach dessen Eingangssätzen außer Zweifel. Eine spekulative Hypothese über die Entstehung des staatlichen Zusammenlebens zu geben lehnt Rousseau dort ab, er stellt vielmehr die quaestio iuris des Staates in der Frage nach der Vereinbarkeit des staatlichen Zwanges mit der natürlichen Freiheit des einzelnen. Der rechtlich- staatliche Zwang soll geprüft und legitimiert werden, jedoch der Maßstab dieser Rechtfertigung, der Begriff der natürlichen Freiheit, scheint die Möglichkeit kri- tischer Lösung des Problems von vornherein dogmatisch zu ge- fährden. Scheint doch mit dem Begriff der „natürlichen Freiheit" 166 Siegfried Marck, der spekulative Gedanke des Nat Urzustandes den Eckstein der Rousseauschen Staatsphilosophie zu bilden, auch wenn er nicht mehr als Ausgangspunkt für die Entstehung der Gesellschaft ver- wandt wird. Auch die kritische Frage nach der Rechtfertigung des Staates scheint an die ganze Problematik des Naturzustandes gebunden. Die Abgrenzung des Rousseauschen „Naturzustandes" gegenüber den möglichen Bedeutungen dieses Begriffes und seine Beziehung zur „natürlichen Freiheit" bilden eine grundlegende Voraussetzung des Verständnisses der Rousseauschen Staatsphilo- sophie. In enger logischer Verknüpfung mit dem Gedanken des Vertrages geht der Begriff des Naturzustandes durch die Staats - Philosophie und hat neben dem Sinn der Hypothese bald die Bedeutung der Kategorie, bald die der Fiktion. Mit der methodischen Erfassung des Gesellschaftsbegriffs ist auch der Be- griff des Naturzustandes charakterisiert, der den Gegenbegriff der Gesellschaft bedeutet. Bei einer genetischen Ableitung ist der Begriff des Naturzustandes eine Hypothese über ein gesellschafts- loses Verhalten, mit der die Grenze der gesellschaftlichen Er- fahrung überschritten wird. Wo hingegen die Frage nach der logischen Möglichkeit der Gesellschaft gestellt wird und ihre kate- gorialen Bedingungen aufgewiesen werden, hat auch der Begriff des Naturzustandes kategorialen Charakter. Denn soll er einen methodischen Sinn in der transzendentalen Frage nach der Möglich- keit der Gesellschaft besitzen, so kann er dies nicht als deren schlechthin negative Setzung, als der Gedanke des gesellschaft- lichen Chaos, vielmehr muß er den methodologischen Ansatzpunkt zur Konstituierung des Gesellschaftsbegriffes bilden. Der Natur- zustand ist als Gegensatz des Gesellschaftsbegriffes, platonisch gesprochen, nicht das ovx ov sondern das fti) bv der Gesellschaft, d. h. nicht ihre schlechthinnige Negation, ihr Nichtsein, sondern ihr Noch-nicht-sein als Ansatzpunkt ihrer Konsti- tuierung. Der Begriff des Naturzustandes in der Rolle einer Fiktion tritt mit seinem möglichen logisch - kategorialen Sinn auf eine Seite, während der Sinn der Hypothese auf der andern Seite steht. Auch in der Fiktion wird im Gegensatz zur genetischen Hypothese über ein Faktum ein Zustand mit schöpferischer Phan- tasie gesetzt, ein Naturzustand „erdichtet". Soll die wissenschaft- liche Fiktion sich von willkürlicher oder ästhetischer Phantasie unterscheiden, so muß sie als wissenschaftspädagogische Verdeut- lichung eines auch unabhängig von ihr geltenden Begriffes auf Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. 167 diesen als ihre methodische Grundlage zurückweisen. Der Natur- zustand als Fiktion kann also nur den wissenschaftlichen Sinn einer Veranschaulichung der „apriorischen Vernunftidee" Natur- zustand besitzen, die Fiktion muß in jenem methodologischen An- satzpunkte für die Kategorien der Gesellschaft objektive Fundie- rung haben. Vom kategorialen resp. fiktiven Sinne des Naturzu- standes aus kann infolge der Unabtrennbarkeit von Ergebnis und methodischem Ansatzpunkte der Staatsbegriff einer Staatsphiloso- phie abgelesen werden. So hat z. B. auch bei H o b b e s der Naturzustand kategorial- fiktive und nicht Hypothesenbedeutung. Seinem Naturzustand als Kriegszustand entspricht der auf bloße Übermacht des Sou- veräns gegründete staatliche Frieden, der Zustand des ,Nichtkrieges', wie man ihn im zwischenstaatlichen Leben bezeichnet hat. In formaler Hinsicht ist für den B/ousse au sehen Naturzustand seine kategoriale Bedeutung festzuhalten, zu der sich auch bei ihm Elemente der Fiktionsbedeutung gesellen. Seinem materialen Sinne nach aber enthält der Rousseausche Naturzustand ein über den sonstigen Gedanken des Naturzustandes hinausgehendes Ele- ment. Eousseaus ,Natur' ist ja nicht die Natur der Naturwissen- schaft, sein Naturbegriff ist vielmehr romantisch nicht bloß im vulgären, sondern im philosophischen Sinne dieses "Wortes, insofern er die Synthesis zweier heterogener Elemente, eben der Natur der Naturwissenschaft und der wahrhaften Menschlichkeit oder der Kultur in sich darstellen will. Unter ethischen Gesichtspunkten ist die Forderung der Naturrückkehr sowohl sittlicher Imperativ wie Streben zu leidensfreier Idylle. Von dieser romantisch ver- klärten Natur aus, die allein auch Kultur ist, kommt Rousseau in seiner sozialphilosophischen Erstlingsschrift ,Discours sur l'origine de rinegalite" parmi les hommes' zu völliger Ablehnung der Ge- sellschaft, zu radikalem sozialphilosophischem Pessimismus. Die Gesellschaft ist ihm das Stadium des Abfalls aus der natürlichen Vollkommenheit. Hinsichtlich dieses Standpunktes ist der „Contrat social" kritisch auch gegenüber .dem Naturzustande. Nicht mehr stimmungsmäßig verworfen, sondern kritisch gerechtfertigt soll der Staat im Contrat social werden. Seine Notwendigkeit gegenüber dem Naturzustande wird damit anerkannt. Im Gegensatz zur früheren idyllischen Verklärung der Natur werden Sittlichkeit und Gerechtigkeit menschlicher Handlungen nunmehr erst in den Über- gang zum bürgerlichen Zustand verlegt: ,Ce passage de T£tat de 168 Siegfried Marck, nature a Fötat civile produit dans 1'homme un changement tres- remarquable, en substituant dans sa conduite la justice a l'instinct, et donnant ä ses actions la moraHte" qui leur manquait aupara- vant',1). Indessen macht sich auch das übernaturalistische Element des Rousseauschen Naturbegriffs hier von neuem geltend, wenn die sittliche Freiheit als natürliche bezeichnet wird. Das kultur- indifferente Moment des Naturbegriffs kommt in derjenigen Fas- sung des Naturzustandes zum Ausdruck, mit dem der bürgerliche Zustand brechen muß und in dessen Charakteristik Rousseau mit Hobbes verwandte Züge aufweist. Das Kulturelement dagegen des Naturbegriffes erhält sich im Gedanken der natürlichen Frei- heit', die den Maßstab für die Deduktion der bürgerlichen Ord- nung bildet. In Rousseaus Staatsbegriff spiegelt sich also die Doppeldeutigkeit seines Naturgedankens: dem naturalistisch ver- standenen Naturzustand entspricht eine utilitaristisch-eudämonisti- sche Fassung des Begriffs vom Sozialverein. ,Je suppose les hommes parvenus ä ce point ou les obstacles qui nuisent a leur conversation dans l'e*tat de nature Temportent par leur resistance sur les forces que chaque individu peut employer pour se main- tenir dans cet e"tat. Alors cet £tat primitif ne peut plus subsister ; et le genre humain perirait s'il ne changeait sa maniere d'etre* 2). Diese Fassung aber wird zurückgedrängt durch Rousseaus ethisch- idealistischen Staatsbegriff, in dem der romantische Naturbegriff durch Entlassung seines idealistisch-kulturellen Ele- ments seinen Gewinn trägt. Hier erhält das ne libre den Sinn einer eingeborenen sittlichen Freiheit, auf der die Menschenwürde beruht : ,Renoncer ä sa libert£, c'est renoncer a sa qualite d'homme, aux droits de l'humanit6, meme ä ses devoirs' 8). Dieser Rousseau- sche Freiheitsbegriff liegt in der Richtung des Kantischen Auto- nomiegedankens und hebt sich scharf ab von der anarchischen Willkürfreiheit des Hobbesschen natürlichen Kriegszustandes. Die anarchische Freiheit des Hobbes muß ganz in der bürgerlichen Freiheit verschwinden, sie muß restlos gegen die bürgerliche Frei- heit veräußert werden. Rousseaus natürliche Freiheit bleibt in der bürgerlichen Freiheit als deren unveräußerlicher Maßstab, dem jene zu genügen hat, erhalten. Diese Funktion der natürlichen Freiheit ist nicht nur von der Problematik des dogmatischen Be- 1) Du Contrat Social (Petits Chefs-D'Oeuvre de J.-J. Rousseau, Paris 1886) I, 8 S. 164. 2) a. a. 0. I, 6 S. 160. 3) a. a. 0. I, 4 S. 156. Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. 169 griffs Naturzustand* befreit, sondern erhebt sich auch über dessen kritische Fassung als Grenzbegriff. An die Stelle des Naturzu- standes tritt jetzt das Naturrecht, dessen Sinn der eines sittlich-vernünftigen, eines ,richtigen* Rechtes ist. Die natürliche Freiheit des einzelnen ist der Ausdruck der Menschheit im Indi- viduum, ist sittlich- vernünftige Freiheit; die Vereinbarkeit des staatlichen Zwanges mit der natürlichen Freiheit bedeutet die Rechtfertigung jedes positiven Rechtes vor dem richtigen Rechte. II. Die Vereinbarkeit von Unterordnung und natürlicher Freiheit ergibt sich für Rousseau bekanntlich durch die Möglichkeit der Zurückführung des Staates auf einen Urvertrag als seine logische Bedingung. Eine mit der natürlichen Freiheit des einzelnen ver- einbare Autorität des Staates muß von den Unterstellten freiwillig, d. h. in ihrer Rolle als ursprünglich freie Kontrahenten anerkannt werden können. Der den Staat konstituierende Vertrag tritt in parallelen Bedeutungen zu seinem Gegenbegriff Naturzustand auf, als Hypothese, als Kategorie oder als Fiktion. Sofern der Ver- trag den aus der Sphäre des positiven Rechtes stammenden Akt bezeichnet, drängt sich bei ihm der fiktive Charakter in den Vorder- grund, demgegenüber das Ergebnis des Aktes den kategorialen Sinn dartellt, auf den die Fiktion zurückweist. Ebenso wie im Begriff des Naturzustandes spiegeln sich im Vertragsgedanken die verschiedenen Grundeinstellungen dem Staate gegenüber: utilita- ristische und idealistische. Unter diesen Gesichtspunkten ist eine Gegenüberstellung der Rousseauschen Vertragstheorie zu der des Hobbes klärend. Beiden gemeinsam ist der nicht als Hypothese auf ein Faktum zielende, sondern fiktive Charakter des Vertrages, beide verbindet — darauf hat besonders Gierke1) aufmerksam gemacht — gegenüber andern Vertragstheorien ein vertragstheoretischer Monismus. An die Stelle der zwei Verträge früherer Theorien: 1. Bildung einer Gesellschaft durch Vereinigung (Unionsvertrag) und 2. Einsetzung einer staatlichen Herrschaft durch vertragsmäßige Unterwerfung (Subjektions vertrag) wird bei beiden Denkern ein Staatsvertrag gesetzt, nun aber mit dem grundlegenden Unterschiede, daß Hobbes den Vereinigungsvertrag im Herrschaftsvertrage, Rousseau den 1) Otto v. Gierke: Joh. Althusius . . . Breslau 1913. 170 Siegfried Marck, Herrschaftsvertrag im Vereinigungs vertrage aufhebt. Bei Hobbes nämlich schließen den fingierten Vertrag empirische Subjekte untereinander zu Gunsten eines Herrschers, bei Rousseau da- gegen wird der Vertrag zwischen den einzelnen und der Ge- samtheit geschlossen. Dieser Unterschied führt bei Rousseau zu einer Umbildung des Vertragsgedankens, der sich bei ihm in demselben Maße von dem des Hobbes entfernt wie sein Begriff der natürlichen Freiheit vom Hobbesschen Naturzustande. Bei Hobbes soll der fingierte Vertrag zwischen den empirischen ego- istischen Einzelnen das Staatsrecht begründen, er müßte bereits ein Recht voraussetzen, das mit dem Grundsatze „pacta sunt ser- vanda u Verträge als bindend normiert. Für den Hobbesschen Ver- trag gilt, was Radbruch1) in seiner geistreichen Analyse gegen- über dem Vertragsgedanken überhaupt herausarbeiten will : soll jener Zirkel vermieden werden, so muß hinter den Vertrag auf das ihn psychologisch begründende Vertragsinteresse der einzelnen an der wechselseitigen Beschränkung des Eigentums als gesell- schaftsfundierend zurückgegangen werden. So weit wie Rousseau mit dem Hobbesschen Naturzustand in seiner Staatsphilosophie ar- beitet; weist auch sein Vertragsbegriff auf die Heteronomie ego- istischer Vertragsinteressen. Bereits aber der Gedanke eines Ver- trages zwischen einzelnen und der Gesamtheit deutet auf eine Form des Vertragsgedankens hin, in der sich wiederum der Be- griff der natürlichen Freiheit geltend macht und die durch das erwähnte Zirkelargument nicht angreifbar erscheint. Rousseaus natürlich freie Subjekte stehen in keinem Kriegszustande mitein- ander, der die Fiktion eines Friedensschlusses unter ihnen recht- fertigen könnte. Einem sittlich vernünftigen Rechte unterstellt, sind sie vielmehr von vornherein in einer Beziehung der Verträg- lichkeit*. Denn die sittlich - vernünftige Freiheit des einen hat keine mögliche Interessenkollision mit der Freiheit des andern. Sie bilden von vornherein eine Gesamtheit, deren Bedingung das Vernunftrecht als das ,Zusammenbestehen der Freiheit eines jeden mit der des andern', kantisch geredet, ist. Mit der Umwandlung des Begriffs Naturzustand* in den eines Natur rechtes (Vernunft- rechtes) erhält auch der Begriff des Vertrages die bloße Funktion einer Symbolisierung vernunftrechtlicher Beziehungen. Der Rousseausche Vertrag setzt im Gegensatz zu dem zwischen 1) Gustav Radbruch: Grundzüge der Rechtsphilosophie. Leipzig 1914. Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. 171 empirischen Subjekten kein höheres ,Natur'-Recht über sich voraus, weil er selbst das ,Naturrecht' definiert, das jedem positiven Recht als logische Bedingung vorangeht. Er wird nicht im Naturzustand', sondern innerhalb des Naturrechtes geschlossen. Damit aber tritt der fiktive Vertrags Schluß zu Gunsten des rein logischen Ver- tragsresultates im Sinne des Sichvertragens oder der Vereinbar- keit der vernünftigen Freiheit des einen mit der des andern als Bedingung staatlicher Ordnung immer mehr zurück. Auch der Vertrag wird wie die natürliche Freiheit zum vernunftrechtlichen Maßstabe des positiven Rechts. Die Bürger eines Staates stehen zueinander in dem wechselseitigen Verhältnis, das durch den Ge- danken des Ur Vertrages adäquat symbolisiert wird. Es hat auch nur fiktive Bedeutung, wenn von dem Vertragsschluß zwischen den einzelnen und einer Gesamtheit gesprochen wird, vielmehr stellen die einzelnen kraft der zwischen ihnen waltenden Bezie- hungen von vornherein eine Gesamtheit dar. Der endgültige Sinn des Vertragssymboles spricht nur die reine Idee einer Rechtsord- nung aus, den Gedanken des Vernunfrechtes als Bedingung jedes empirisch-positiven Rechtes. Von den natürlichen Subjekten aber fordert die naturrechtliche Freiheit Unterordnung, die Gesamtheit der einzelnen hat sich der reinen Idee der ,Rechtsgemeinschaftf als ihrer Bedingung zu unterstellen. So bedeutet für die empiri- schen Subjekte der Gedanke des Rechts die Unterordnung eines jeden unter die Idee der eigenen Freiheit, damit unter die Frei- heit der andern und durch sie unter die Freiheit der Gesamheit. In Rousseaus Sprache: der Untertan in jedem Bürger wird frei durch seine Unterordnung unter sich selbst und den andern als Souverän und dadurch unter die Souveränität der Gesamtheit. Von dem richtig verstandenen Sinne des Urvertrags aus kann die aus ihm resultierende Rousseau sehe volonte* g^närale nunmehr als die reine und allgemeingültige Idee des Staates bezeichnet werden. Rousseaus allgemeiner Wille ist der allge- mein gültige und richtige Wille der Rechtsordnung. Die volonte" gön^rale bedeutet den Inbegriff von Normen, die in der Idee der Rechtsordnung gesetzt sind, sie ist der Ausdruck für die in der rechtlichen Ordnung geforderte Zusammenfassung freier Persön- lichkeiten zu einer ob j ektiv- notwendigen Gesamtheit. Volonte gön^rale ist Gesamtheitswille überhaupt als Form jedes em- pirischen Gesamtheitswillens, ist nur in demselben Sinne , Wille', wie das erkenntnistheoretische Bewußtsein überhaupt Bewußtsein 172 Siegfried Marck, ist. Ein Staatsbewußtsein überhaupt konstituiert jener Begriff der Gesamtheit als Träger der normativen Bedingungen, die einen empirischen Staat erst möglich machen. Nicht empirische einzelne waren die Kontrahenten des Rousseauschen ;Ur Vertrages , sondern die frei,.geborenena Individuen sind von vornherein als Rechtssub- jekte zu denken. Als ihr Inbegriff faßt die volonte* g6ne"rale sie zur Gesamtheit zusammen als den reinen Begriff des Staates stellt sie damit die reine Idee der Souveränität dar. Der allgemein- gültige Gesamtwille ist seinem Begriffe nach stets richtig und kann nicht irren. In Rousseaus Satze: ,Der Souverän ist immer was er sein soll' ist daher die Definition des objektiven Normcha- rakters der volonte generale gegeben. Zweifel an der Richtigkeit der Souveränitätsidee wäre eine staatsphilosophische Parallele zum logischen Zweifel am Begriffe der Wahrheit oder mit einem reli- gionsphilosophischen Vergleich: eine Spannung zwischen Sein und Sollen kann es bei der volonte* generale ebensowenig geben wie in einem göttlichen Willen. Die unbedingte Geltung der Idee der volonte* g£n£rale ist nicht gleichbedeutend mit dem positiv staats- rechtlichen Satze: ,Der König kann nicht Unrecht haben' oder mit der Formel der Volkssouveränität: ,Das Volk kann nicht irren'. Denn in der volonte* generale handelt es sich eben nicht um den Souverän im Sinne eines positiven Rechtes, sondern um die reine regulative Idee der Souveränität, nicht um einen tat- sächlichen Gesetzgeber im Staate, sondern um den Begriff des Staates überhaupt. Rousseau hat zwar den Terminus volonte* ge- nerale ebenso für die allgemeingültige Idee der Souveränität als Form jeder empirischen wie für den empirischen Souverän' selbst verwandt, dem Sinne des Zusammenhangs nach hat er jedoch die volonte generale als Souveränität im Sinne des richtigen Rechtes erfaßt und sie als Bedingung positiv-rechtlicher Souveränität er- kannt. Nach dem Recht oder Unrecht eines empirischen Souveräns kann überhaupt erst unter der Voraussetzung und im Namen des allgemeingültigen Maßstabes der reinen Souveränität gefragt werden. Die Deduktion eines Souveräns im Sinne des positiven Staatsrechts ist eine weitere Aufgabe, die sich der Rousseauschen Staatsphilo- sophie stellt und die den Begriff der volonte g£n6rale zur Vor- aussetzung hat. III. Ehe Rousseaus Versuch einer Deduktion auch des positiv rechtlichen Souveräns in der Lehre von der Volks Souveränität be- Grundzüge der Rousseauschen Staatsphilosophie. 173 trachtet wird, sei die Problematik der Beziehung seiner Idee des Rechts zum positiven Recht angedeutet. Es ist oft auf Rousseaus theoretischen Radikalismus hingewiesen worden, der schlechthin kein positives Recht und keinen empirischen Staat als solche an- erkennt, in denen die Bedingungen des Urvertrages nicht erfüllt sind. Ein Recht der Sklaverei etwa enthält nach Rousseau einen logischen Widerspruch und kann daher niemals als Recht bezeichnet werden, auch wenn es tatsächlich in Geltung gestanden hat; gegen- über dem französischen Staate des ancien regime, der für Rousseau nicht der Idee des Staates entspricht, bedeutet die Revolution keinen Rechtsbruch. Gegen diesen Radikalismas Rousseaus haben sich von jeher die Angriffe des positiven Rechts gerichtet. Auch der Vertreter der kritizistischen Rousseau- Auffassung Haymann1) hat zwar in seiner Darstellung Rousseaus mit aller Schärfe den Anspruch des Contrat social nicht ein bloßes Ideal von Recht und Staat, sondern in der Rechtsidee zugleich die Kategorien jedes Rechtsstaates darzustellen, hervorgehoben, in seiner Kritik Rous- seaus hat er jedoch diesen Anspruch abgewiesen und die Rousseau- sche Staatstheorie doch nur auf die Rolle einer regulativen Idee für den Staat beschränken wollen. Demgegenüber ist die logische Eigenart des zur praktischen Philosophie gehörenden Geltungsge- bietes ,Recht' hervorzuheben, der gemäß die regulative Idee hier zugleich die Funktion einer konstitutiven Bedingung besitzt. Wie in aller praktischen Philosophie tritt die Bedingung seiner Ob- jektivität hier in der Eorm der Forderung auf, deren ,Erfüllung' allein in der Annäherung an diese Forderung, in der ,Richtung' nach ihr hin gelegen ist. So gewiß also die Idee des nichtigen' Rechts lediglich eine ,Richtung' in der Satzung des Rechts be- deutet, so gewiß ist Rousseaus Anspruch, in seinem regulativen Begriffe der volonte* generale zugleich die konstitutive Form jedes empirischen Gesamtwillens aufzustellen, gerechtfertigt. Ein dar- über hinausgehender Versuch der Deduktion bestimmter Rechts- inhalte aus der allgemeingültigen Rechtsidee ist geradezu als Widerspruch zum regulativen Prinzip unmöglich. Der Gedanke des Urvertrages vermag nur seiner Idee widersprechende Rechts- inhalte wie in der Tat ein Recht der Sklaverei auszuschalten, nicht anzugeben, welche Inhalte des positiven Rechts der richtigen Rechts- idee adäquat sind. Es ist ein positivistischer Begriff des Rechts, 1) Franz Haymann: J.-J. Rousseaus Staatsphilosophie. Leipzig 1898. 174 Siegfried Marck, nicht der Begriff des positiven Rechts, von dem aus Haymann zur restlosen Identifikation der Geltungsart des positiven Rechtes mit seinem tatsächlichen Beobachtetwerden und zur Ablehnung des Rous- seauschen Anspruches gelangt. Dieser Positivismus reißt positives Recht und richtiges Recht vollständig auseinander. Bei seiner konsequenten Durchführung kann auch von keiner regulativen Rolle des richtigen Rechtes mehr die Rede sein, auch für dessen regulative Funktion müssen Recht und positives Recht unter dem gemeinsamen Begriffe ,Recht' zusammengefaßt werden können. Dies ist nicht möglich, wenn die Geltungsart des positiven Rechtes ganz alogische Geltung ist, vielmehr muß zur Zusammenfaßbarkeit des positiven und des richtigen Rechtes im positiven Recht die Gel- tungsart des richtigen Rechtes inbegriffen sein. Und in der Tat verbinden sich in der Geltungsweise des positiven Rechtes der Paktor der Durchsetzbarkeit, des Sich-Geltung-verschaffen-könnens mit dem rechtslogischen Geltungsbegriff, wie er im richtigen Recht in Reinheit zum Ausdruck kommt. Einem empiristischen Begriffe des positiven Rechtes stände das Ideal eines guten Rechts nicht einmal als Vernunftidee, sondern als Schöpfung willkürlicher Phan- tasie gegenüber1). IV. Aus der vom Urvertrag gewonnenen Idee der volonte" gene- rale sucht Rousseau den Souverän des positiven Staatsrechts, den Träger der Hoheit des empirischen Staates, zu deduzieren. Dieser Souverän im Staate ist das Volk und Rousseaus Lehre die konse- quenteste Durchbildung des alten Gedankens der Volkssouveränität. Das souveräne Volk ist der empirische Träger der reinen Staatssouveränität, der trotz der Gleichsetzung mit der volonte generale, wie sie aus manchen Wendungen hervorzugehen scheint, 1) Dieser Gesichtspunkt zur Verteidigung der konstitutiven Bolle des Rechts- ideals bei Rousseau gilt auch gegenüber Stammlers Einwand gegen ihn, daß er die drei zu trennenden Fragen der Rechtsphilosophie 1. was ist Recht? 2. worauf beruht die Verbindlichkeit des Rechts? und 3. was ist das richtige Recht? in einer Problemstellung und -Lösung zusammenfasse. Ohne in diesem Zusammen- hange auf diese letzten rechtsphilosophischen Fragen eingehen zu können, sei auf die Unablösbarkeit des formalen Rechtsbegriffs, auf den Stammlers erste Frage antworten will, von dem Geltungsbegriff der zweiten Frage hingewiesen und auf die Unmöglichkeit im formalen Rechtsbegriffe etwas der Idee des richtigen Rechtes, dem Gegenstand der dritten Frage, Widersprechendes zu setzen. (Rudolf Stammler : Die Lehre von dem richtigen Rechte. Berlin 1902. 3. Abschn., IV). Grundbegriffe der Kousseauschen Staatsphilosophie. 175 im Zusammenhange des Rousseauschen Denkens von dieser be- grifflich zu trennen ist. Denn von der volonte generale wird mit Eecht ihre schlechthinnige Unfehlbarkeit behauptet, vom Volke jedoch heißt es, daß es zwar stets den richtigen Willen besitzt, daß ihm die Einsicht aber in seinen eigenen Willen infolge Irre- führung mangeln kann. Dem Volke steht als alleinigem, unteil- barem und unveräußerlichem Souverän die stets direkt, nicht durch Repräsentation auszuübende Funktion der Gesetzgebung zu. Volks- souveränität und ihre Darstellung in der gesetzgebenden Gewalt — und nur in dieser — werden von Rousseau direkt aus der Idee der volonte generale herzuleiten gesucht. Es handelt sich, in Rousseaus Lehre von der Volkssouveränität um den Versuch einer Deduktion der Republik. Bei seiner scharfen Trennung von Souveränität und Regierung braucht diese durchaus nicht mit de- mokratischer Republik zusammenzufallen, sondern sie kann auch aristokratische, ja auch Republik mit monarchischer' Spitze, d. h. alleiniger Exekutivgewalt eines Präsidenten, sein. Diese auch von Kants Autorität gestützte Deduktion der republikanischen Staats- form muß — soweit der rationalistische Standpunkt der Vernunft- deduktion gegenüber der Staatsform, (nicht der Regierungsform) den Rousseau mit Energie vertritt, anzuerkennen ist — als geglückt bezeichnet werden. Volonte* g£n£rale — das ist der Nerv der De- duktion — bedeutet rechtlich-staatliche Allgemeingültigkeit. Sie ist aufs deutlichste geschieden von der volonte* de tous als der Summe der nicht-staatsbürgerlichen Partikularwillen. Eun ist zwar das allen Einzelwillen logisch vorangehende apriori in seiner All- gemeingültigkeit und seinem Charakter als Kategorie niemals durch ein induktives Abstraktionsverfahren aus den noch ungeformten Sonderwillen zu gewinnen, dennoch aber schließt die Allgemeingültig- keit des Staatswillens die Allheit der nun nicht mehr partikulären sondern staatsbürgerlichen Willen in sich ein. M. a. W. : die kategoriale Allgemeinheit oder Allgemeingültigkeit der volonte generale ist stets bezogen auf die quantitative Allgemeinheit oder Allheit der einzelnen staatsbürgerlichen Willen. Auch hier gilt das Wort aus Riehls Kritizismus, daß Verallgemeinerung nicht zur Allgemeingültigkeit, Allgemeingültigkeit aber zur Allgemein- heit führt. Ein empirischer Gesamtheitswille kann nur dort anerkannt werden, wo die Allheit der citoyens in der Bildung des Gesamtwillens zum Ausdruck gelangt, jeder Staatsbürger an der Gesetzgebung in gleicher Weise Anteil erhält. Anders gewendet: 176 Siegfried Marck, der positiv rechtliche Träger der Staatssouveränität oder die Idee der Rechtsgesamtheit kann nur die empirische Gesamtheit, das Volk, sein. Ein Akt der Souveränität ist ein Beschluß der Ge- samtheit über die Gesamtheit, denn auch der Gegenstand des An- spruch auf Allgemeingültigkeit erhebenden Gesetzes muß allgemein sein, muß die Gesamtheit betreffen. Kein formeller Ausschluß eines Staatsbürgers bei dem Zustandekommen des Gesetzes und kein formeller Ausschluß eines Staatsbürgers durch das Gesetz ist möglich, keine Entrechtung eines Trägers der Gesetzgebung (souverain), kein Ausnahmegesetz gegen ein Objekt der Gesetzge- bung (sujet). Ein antirepublikanischer Denker wie Gierke hat sich der zwingenden Kraft der Idee der Volkssouvränität durch die metaphysische Idee einer realen Staatspersönlichkeit zu entziehen gesucht. Die Unterscheidung von Staatssouveränität und Organ- souveränität ist für diesen Denker nicht die logische der regula- tiven zum richtigen Recht gehörenden Idee des Staates von dem positiv rechtlichen Staate und seiner gesetzgebenden Gewalt, viel- mehr ist die „lebendige" Staatspersönlichkeit durch die Organe der Souveränität stets auch in der empirischen Gesetzgebung wirksam. Man kann bei dieser Theorie allerdings der Konsequenz einer po- sitiv rechtlichen Gesetzgebung durch die empirische Gesamtheit ausweichen, kann den positiv rechtlichen Souverän in die zwei Or- gane des Monarchen und des Volkes zerlegen, die bei Wahrung der Einheit der Souveränität gleichsam zu den zwei Attributen der Einen Staatssubstanz werden — damit aber ist der kritisch- regulative Sinn des Begriffs Staatssouveränität völlig verloren ge- gangen. Mit der Einführung der Volkssouveränität sind ' jedoch die Schwierigkeiten einer der Idee der volonte generale adäquaten Gesetzgebung für Rousseau noch keineswegs erschöpft. Das Volk ist als empirischer Träger der Souveränität gefunden, nunmehr aber gilt es den Volkswillen selbst aus den empirischen Einzel- willen zu konstruieren. Diese bleiben der irrationale Rest der Analyse, ihr Egoismus das spröde Material, in dem der empirische Gesetzgeber arbeiten muß und auf das auch die staatsphilosophi- sche Konstruktion zuletzt stößt. Jedes Gesetz ist eine Willens- kundgebung des souveränen Volkes, aber wie unterscheidet sich das Volk unverwechselbar von einer heterogenen Masse? Wie ist die empirische Gesamtheit, die der reinen Rechtsidee der Ge- samtheit zwar nie adäquat sein kann, aber sich ihr annähern soll. Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. 177 aus den zerstreuten Einzelwillen zu gewinnen? Wenn das Volk spricht, kommt ein Gesetz zu stände, wie aber löst man dieser von der Hobbesschen multitudo zu unterscheidenden juristischen Person des , Volkes4 die Zunge? Welches Abstimmungsverfahren garantiert, daß das Volk gesprochen hat? Die formale Forderung einer Abstimmung aller Staatsbürger garantiert nicht den Inhalt des Volks willens als Resultat der Abstimmung. Das souveräne Volk mag nunmehr im Sinne des positiven, nicht des richtigen Staatsrechtes niemals irren, wohl aber können die Abstimmenden oder eine Gruppe von ihnen sich irrtümlich als ,Volk* ausgeben. Kein Verfahren scheint zu garantieren, daß sich in der Abstimmung tatsächlich das Volk dargestellt hat.* Für die Technik der positiven Gesetzgebung stellt vielmehr der Begriff des Volkes ebenso ein regulatives Prinzip dar wie die volonte* generale für den Begriff des positiven Rechtes. Auch beim Übergang von der Volkssou- veränität zum Majoritätsprinzip kann es immer nur eine an- nähernde Lösung geben. Rousseau hat den Blick für die Schwierig- keiten dieses Überganges, er umgibt die Methode der Abstimmung und das Majoritätsprinzip mit einer Reihe staatsrechtlicher Kau- telen, und diese hätten ihn gegen den Vorwurf schützen sollen, theoretischer Vertreter eines Majoritätsdespotismus zu sein, der den kritischen Unterschied von volonte* generale und volonte de tous nivelliere. Neben unkritischen und unvollziehbaren Begriffen wie dem eines Durchschnittswillens aus der Summa differenter Einzelwillen steht sein großartiger Versuch die Abstimmung als staatsrechtliches Experiment zu denken, d. h. im präzisen Sinne als Antwort] auf eine richtig gestellte Frage nach dem Gesamt- willen zu fassen. Dieses Experiment will er von einem Auspro- bieren des Kräfteverhältnisses der partikularen Willen scharf ge- trennt sehen. Von jedem Abstimmenden fordert der Staatsgedanke, daß er restlos auf die ihm vorgelegte Frage nach dem Staatsin- teresse, daß er als Staatsbürger antworte. Die Stimme des Sonder- interesses müßte nach dem regulativen Sinne der Abstimmung aus- geschaltet werden. Eine praktisch-technische Handhabe zur Kon- struktion eines Volks willens vermögen diese vernunftrechtlichen Forderungen natürlich in keiner Weise zu bieten, sie können nur als regulative Idee den abstimmenden Staatsbürger leiten , als Staatsbürger zu stimmen, d. h. an das Gemeinwohl zu denken. Stammler hat gegenüber diesem letzten Begriffe und seiner eu- dämonis tischen Mißdeutung mit Recht das Motiv des sozialen Ideals Kantstudien. XXYIL 12 178 Siegfried Marck, Grundbegriffe d. Rousseauschen Staatsphilosophie. in ihm hervorgehoben. Anf tatsächliche Abstimmungsergebnisse ange- wandt, hat die Auffassung der Abstimmung als methodisch einwand- freies staatsrechtliches Experiment nur den Wert einer Fiktion, ebenso wie die Geltung des Willens der Majorität als Wille der Ge- samtheit nur eine Fiktion, und zwar eine Fiktion niederer Stufe be- deutet, die nur in technischen, nicht mehr in rechtlichen Gesichts- punkten fundiert ist. Die Inhalte des empirischen Gesamtwillens und das zu ihrer Feststellung unumgängliche Majoritätsprinzip bilden so die eigentliche Grenze, bis zu der eine unter dem Ge- sichtspunkte des richtigen Rechts stehende staatsphilosophische Analyse im Sinne Rousseaus überhaupt vordringen kann. Positive Gesetzesinhalte kann solche Analyse niemals als richtig kenn- zeichnen, nur durch Aufstellung formal-regulativer Prinzipien das negative Kriterium für rechtswidrige darstellen. Positives Recht und historische Staaten kann die Rechts- und Staatsphilosophie, auch wenn sie so weit wie bei Rousseau vordringt, nicht dedu- zieren, und ihre regulativen Vernunftprinzipien bilden daher auch kein Prinzip der historischen Betrachtung von Staat und Recht. Die Bildung der Inhalte des Gesamtwillens und damit des positiven Rechts erfolgt in politischen Macht- und Wirtschaftskämpfen. Diese zu erkennen überläßt die Staatsphilosophie der Geschichte. Eine Theorie für die historische Entstehung von Recht und Staat, für das tatsächliche Herausringen eines Gesamtheitswillens aus den Kämpfen der Individuen, Parteien und Klassen bildet die eigentümliche Schranke der Staatsphilosophie in ihrer Problemstellung. An dem Punkte, an dem die Rolle der , Wirtschaft' gegenüber dem ,Recht' einsetzt und mit ihr die praktische gegenüber der ,richtigen' Po- litik muß Rousseaus philosophische Lehre vom Staate wie jede andre Halt machen. Zur „Antinomie im Problem der Gültigkeit". Von E. v. Aster, Gießen. Der Berliner Philosoph Paul Hof mann hat seinem großen Werk über „die antithetische Struktur des Bewußtseins " (Berlin 1914) eine kurze erkenntnistheoretische Skizze folgen lassen („Die Antinomie im Problem der Gültigkeit. Eine kritische Voruntersuchung zur Erkenntnistheorie". Berlin 1921. 77 S.), die dieselbe Grundtendenz wie das größere Buch verfolgt, die erkenntnis- theoretische Einstellung aber deutlicher hervortreten läßt. Hof- mann macht einen Versuch, von dem man voraussehen konnte, daß er einmal gemacht werden würde: er sucht den Gegensatz von „Logismus" und „Psychologismus" in der modernen Erkenntnis- theorie als eine unauflösbare] Antinomie, die im Wesen der Er- kenntnis gründet und ihren zwei Seiten entspricht, darzustellen. Es ist der Gegensatz zweier prinzipiell gleichberechter Weltan- schauungsmotive (Objektivismus und Subjektivismus), der sich darin äußert, daß man die eine oder die andre Seite zum Ausgangspunkt wählt, jeder ist an sich berechtigt und möglich, aber von keinem beider Standpunkte aus ist es möglich, den andern zu widerlegen. Durch den Kampf zwischen Rationalismus und Empirismus wurde die vor-Kantische Metaphysik zerstört, Kant glaubte in der „Er- kenntnistheorie" einen Inbegriff streng und allgemein giltiger, wissenschaftlich beweisbarer Gedanken, wenn auch ohne metaphy- sische Brauchbarkeit, aus dem Zusammenbruch der Metaphysik retten zu können. Nun tritt derselbe Gegensatz, der die Meta- physik als Wissenschaft zerstörte, in der Erkenntnistheorie wieder zu Tage. Philosophie ist ohne „Weltanschauung" nicht möglich, in Dingen der Weltanschauung aber gibt es von Anfang verschie- dene Möglichkeiten, zwischen denen nicht mehr wissenschaftlich entschieden werden kann, zwischen denen man „wählen" muß. Zur 12* 180 E. v. Aster, Philosophie in diesem Sinne gehört nicht nur Metaphysik, sondern auch Erkenntnistheorie, deren letzte Gegensätze daher nicht ent- schieden, sondern nur verstanden werden können. Nicht rein historisch verstanden, als Produkte geschichtlicher Bedingungen, sondern durch Herausarbeitung der hier letzt-möglichen Typen und ihrer gedanklichen und außergedanklichen Motive. Es ist der Geist Wilhelm Diltheys, der in dieser Auffassung der Phi- losophie und ihrer Geschichte erkennbar wird. Der „Logismus", wie ihn Hofmann faßt, setzt das Bestehen einer (schaubaren oder denkbaren) absoluten Wahrheit jenseits von Raum, Zeit und Individuum voraus; alles „Sein" ist für ihn abhängig von dieser Idee der Wahrheit, ihrem Bestehen, ihrer Gültigkeit, denn „sein" bedeutet: in einem gültigen Existential- urteil gesetzt sein. Der „Psychologismus" erklärt umgekehrt die Wahrheit als eine Beziehung zwischen Seiendem, als Übereinstim- mung von Denkinhalten und realen Dingen, oder, im Phänomena- lismus, von Bewußtseinsinhalten miteinander (Erwartungen und Wahrnehmungen) und behauptet daher, daß es nur eine relative, von wechselndem Seiendem abhängige Wahrheit gebe: Die Anti- nomie ist unauflöslich, weil es gleich berechtigt und gleich unver- meidlich ist, das Sein als Setzung des Bewußtseins und daher den Begriff des Seins nur sinnvoll als Inhalt einer gültigen Erkenntnis aufzufassen, wie umgekehrt Erkenntnis als existenten Denkakt an- zusehen. Es sei mir nun im Folgenden gestattet, diesen Ausführungen Hofmanns einige kurze kritische Bemerkungen hinzuzufügend Es geschieht das zugleich in Verteidigung des eignen Standpunktes, da H. mich gelegentlich als Vertreter des „Psychologismus" phä- nomenalistischer Richtung nennt. (Ob diese Bezeichnung für mich und für H. Cornelius, als dessen Schüler ich mich fühle, in jeder Hinsicht zutrifft, ist eine Frage untergeordneterer Bedeutung). H. gebraucht bezeichnender Weise die beiden Begriffe „Be- wußtsein" und „Erkenntnis" als gleichbedeutend; so können wir seiner Meinung nach wie bei der Erkenntnis so beim Bewußt- sein nicht nur in Worten, sondern in der Sache zwischen der Er- kenntnis und dem was erkannt wurde, scheiden. Hier hätte ich zunächst Einspruch zu erheben. Der Begriff des Bewußtseins oder des unmittelbar Gegebenen ist meiner Meinung nach ein Begriff, der über den Gegensatz des Seins und der Erkenntnis hinausliegt und in Bezug auf den wir jene Scheidung nur in nachträglicher Zur „Antinomie im Problem der Gültigkeit". 181 Übertragung und Analogisierung vornehmen können. Anders ge- sagt: das unmittelbare Erleben oder Gegebensein ist kein Exi« stentialurteil. In jedem Existentialurteil wird ein bestimmtes „Was", das also dem Existentialurteil, oder dessen Was-Erkenntnis der Erkenntnis seiner Existenz logisch vorhergeht, für existierend gesetzt. Im unmittelbaren Erleben oder Gegebensein aber wird eben nicht etwa ein vorgegebenes „Was" (ein rot, ein hart, ein Lustgefühl nicht einmal ein „dies") als existierend erkannt. Eben- sowenig wird im unmittelbaren Erleben ein vorgegebenes „was" als ein bestimmtes „was", als ein „solches" erkannt: sondern jedes „was" (einschließlich des bloßen „dies") entsteht erst im unmittel- baren Gegebensein. (Mit Fichte könnte man sagen, das Bewußt- sein sei eine Tathandlung, keine Tatsache). Halte ich dann dies inhaltlich bestimmte Etwas als einen solchen Inhalt fest, dann kann ich, diesen gewonnenen Denkinhalt rückbeziehend auf das Gegebene, das Bewußtseinserlebnis, in dem er entstand und es mit demselben identifizierend das Urteil fällen: das Erlebte sei „dies" oder ein solches (in weitergehender logisch vorausgesetzter Vergleichung, es sei ein „rot" etc.), und ebenso umgekehrt : „dies" oder „rot" sei gegeben, existiere als gegeben. Genauer freilich muß eben dieses Urteil schon anders lauten; nämlich: dieser In- halt ist jetzt und er ist mir gegeben oder er existiert jetzt und in meinem Bewußtsein. Denn indem ich das „Was" von dem Er- lebnis unterscheide, kann ich jetzt bereits diesen Inhalt auch als nicht existierend, nämlich zu einer andern Zeit oder in einem an- dern Bewußtsein nicht existierend vorstellen. Das „Sein", das durch jene das Existentialurteil ermöglichende Scheidung im Be- wußtsein entsteht, entsteht sofort als ein Sein verschiedener Sphären oder Seinsweisen, als gegenwärtiges, vergangenes, zukünftiges, als Sein meines und eines fremden Bewußtseins; denn mit der Schei- dung des Erlebnisses und seines „was" sind sofort jene weiteren Möglichkeiten, dies was als existierend zu beurteilen, gesetzt. Ohne diese Scheidung in Erlebnis und Inhalt des Erlebnisses in jene zwei Bestandteile, die als identisch gesetzt werden, kann nicht sinnvoller Weise von einem Urteil, speziell auch nicht von einem Existentialurteil gesprochen werden. Zugleich ist es auch hier erst möglich sinnvoller Weise die Frage nach der „Wahr- heit" zu stellen (die sich jedoch in diesem Fall unmittelbar und evident bejahend beantwortet, das Erlebnis und das „Was" des Erlebnisses werden selbst als identisch erlebt): nicht das un- 182 E. v. Aster, Zur „Antinomie im Problem der Gültigkeit". mittelbar Gregebene ist „wahr" — das gäbe keinen Sinn — sondern daß es diesen Inhalt hat, ein „dies" ist oder daß „dies" gegeben ist, ist wahr. Aber mußte nicht der Bewußtseinsinhalt selbst da- sein und so-sein, ehe sein „was " und das Erlebtsein dieses „Was" geschieden werden konnte? Diese Frage ist zweideutig: der Ur- teilende identifiziert das „Was" mit dem Erlebnis, behauptet also schlechthin, daß es eben dies „was" ist, das erlebt wurde und das Erlebnis ein solches Erlebnis . Darum wird doch das Urteil erst sinnvoll von jener Scheidung aus und für den, der sie voll- zieht, genau so, wie jene Frage erst hier sinnvoll wird. Noch genauer muß ich von jener vollzogenen Scheidung aus gesprochen sagen : der Bewußtseinsinhalt mußte als mein und mein jetziges Erlebnis „dasein". Gleichwohl setzt nicht das unmittelbar Gre- gebene als solches Zeit und fremdes Bewußtsein etwa voraus, son- dern die Zeit und das fremde Bewußtsein entstehen erst für das Wissen dessen, der jene Unterscheidungen vollzieht (Zukunft ist die in der Weise der Erwartung, Vergangenheit die in der Weise der Erinnerung vorgestellte Wasgegebenheit). Nehme ich meinen Standpunkt vor allen jenen Unterscheidungen, so ist das Bewußt- sein, das unmittelbar Gregebene weder seiend, noch nicht seiend, weder jetzt noch zu anderer Zeit, wie ein ganz allein für sich gesetzter Punkt im Raum weder ruht noch sich bewegt. Das Bewußtsein, von dem der „Psychologist" ausgehen muß, erinnert so an das „Bewußtsein überhaupt" der Windelband-Rickert- schule, von dem es sich aber dadurch unterscheidet, daß es positiv beurteilt, d. h. von dem Standpunkt der Trennung von Erlebnis und „Was" des Erlebnisses aus gesehen sofort zum individuellen jetzigen Bewußtsein wird, so wie das reine „Sein" Hegels beur- teilt sofort zum „Werden" wird. Es erinnert aber auch an die „Wahrheit", die der Logismus nach H. als Letztes voraussetzen muß. denn damit das Wort „Wahrheit" nicht eine leere Worthülse ist oder bleibt, muß auch der Logist das, was er mit jenem Wort meint, irgendwie selbst erfassen, also sich („phänomenologisch) zur „Selbstgegebenheit" bringen. Damit wird die Wahrheit ein un- mittelbar Gregebenes. Auch vom logistischen Standpunkt aus lassen sich gegen H. eine Reihe von Einwänden erheben. Auf sie näher einzugehen ist indessen nicht meine Aufgabe. Besprechungen. I. Geschichtsphilosophie. Hegel, G. W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Welt- geschichte. Vollständig neue, auf Grund des aufbehaltenen handschriftlichen Materials besorgte Ausgabe von Georg- Lasson. Hierzu als Einleitung: Hegel als Geschichtsphilosoph von Georg Lasson. Verlag F. Meiner, Leipzig. Der fleißige Hegelforscher Georg Lasson hat uns mit einer Neuausgabe der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte beschenkt. In vier, die Einleitung des Herausgebers mitgerechnet fünf, Bänden liegt sie vollendet vor. Schon ist von dem Lassonschen Einleitungsband die zweite Auflage notwendig geworden. Das Interesse an Hegel scheint noch im Wachsen. Lasson weiß ihm zu dienen, als Herausgeber wie als Erklärer. Vollkommen richtig erfaßt der Herausgeber den Augenblick, wenn er — hier wie in allen seinen Ausgaben — nicht auf die letzte philologische Genauigkeit ausgeht, sondern sich sein Ziel näher steckt. Er weiß, daß für eine „Akademie- ausgabe" heut die Zeit noch nicht gekommen ist. Erst muß die 0 Öffentlichkeit sich noch ganz anders, als es bisher der Fall ist, wieder für Hegel interessieren, ehe den großen wissenschaftlichen Körperschaften zugemutet werden kann, hier eine Pflicht zu sehen. Bis dahin sind Ausgaben wie die Lassonschen gerade das Richtige. Sie halten die Mitte zwischen dem Verlangen des Lesers nach Hand- lichkeit und Lesbarkeit und der Forderung des Forschers nach Ausbreitung des gesamten, für den ursprünglichen Textbestand wichtigen Ueberlieferungsstoffs. Wenn von Lasson immerhin jenes Verlangen noch wesentlich vollständiger be- friedigt wird als diese Forderung, so entspricht das ebenfalls nur dem Umstand, daß der philosophische Gelehrte im allgemeinen jenem Pol des reinen Lesers näher stehen muß als dem des reinen Forschers; philosophisches Verständnis erschließt sich viel eher dem heiteren Blick des gemächlich von Blatt zu Blatt fortwan- dernden Lesers als dem ängstlich unter gerunzelter Stirn über die Zeile gebeugten bewaffneten Auge des Philologen. Lasson der Erklärer unterzieht sich. in seinem Einleitungsband der schweren Aufgabe, „Hegel als Geschichtsphilosoph" und — bezeichnend für die Eigenart Hegelscher Systematik — damit zugleich Hegel als Philosophen überhaupt, dem Publikum von heute nahe zu bringen in einer Sprache, die dem Philosophen selber verwandter ist als dem Publikum, das in ihn eingeführt werden soll. Kein Zweifel, daß gerade der Geschichtsphilosoph sich solchem Unterfangen vergleichsweise noch am gefügigsten erweist, gefügiger als etwa (um gleich die extrem ungünstigen Fälle zu nennen) der Logiker oder der Naturphilosoph, aber selbst auch ge- fügiger als etwa der Staatsphilosoph. Denn von Hegels Geschichtsphilosophie führt bis dicht an die Gegenwart heran ein ununterbrochener Strom wissenschaft- licher Tradition, bezeichnet etwa durch die Namen Rankes und Treitschkes, ein Strom, der dicht hinter Hegel zwar eine entschiedene Abbiegung erfahren hat, der aber nicht wie die anderen Ströme seiner Philosophie schon wenige Jahrzehnte nach seinem Tod unter der Erde verschwunden, wenn nicht gar versickert war. So konnte Lasson die Aufgabe, die er sich offenbar gestellt, Hegel hegelsch reden 184 Besprechungen (Hegel— Adler). zu lassen, gelingen. Wer Lassons Einleitung auf sich wirken läßt, kann aus ihr ein wohlgerundetes Bild des großen Denkers gewinnen. Darf ich gleichwohl ein Bedenken äußern? Es ist mehr grundsätzlicher Natur, — doch nicht bloß grundsätzlicher. Gewiß gehört zu aller geschichtlichen Darstellung Liebe. Aber so wie es nicht die höchste Liebe ist, die sich mit ihrem Gegenstand identifiziert, sondern wie es höhere Liebe ist, zu lieben, was man sich nicht gleicher Art weiß, wie — mit einem Wort — die Kluft und das Gefühl der Kluft erst der Liebe den vollen Krafteinsatz und den stärksten Flügel- schlag abnötigt, so, meine ich, müßte dennoch aus einem größeren und vor allem aus einem empfundeneren Abstand das Bild gewaltiger, die Farben leuchtender, die Umrisse kühner sich gegen den Himmel abzeichnen. Es ist ja doch kein Zu- fall, daß unter den drei bedeutenden biographischen Versuchen — Rosenkranz, Haym, Dilthey — der Haymsche, bei dem in der Liebe des Erkennenden ein starkes Stück Haß mitschwingt, der weitaus lebendigste und lebenskräftigste ge- worden ist, so lebendig, daß selbst die starken Verzeichnungen, die er enthält, hier wenig stören; wie wir im Werk des malerischen Genius anatomische Un- richtigkeiten übersehen, die auf dem Gemälde des Akademikers uns unerträglich sein müßten. Lasson selber hat jenen Abstand vielleicht mehr, als er zugeben möchte; in der Schlußzeile seiner Einleitung — vom Gott der Geschichte, „der zugleich der Vater jedes einzelnen Ich ist" (Seite 177) — steckt das, was er weiß und was Hegel nicht gewußt hat, jedenfalls nicht so gewußt hat, daß dies Wissen den Aufbau seiner Philosophie bestimmt hätte. Von hier aus , von diesem seinen Wissen aus, müßte sich noch ein andres Bild Hegels zeichnen lassen, als uns Lasson, bisher wenigstens, gegeben hat. Vielleicht, daß er es noch gibt, und wenn nicht er, dann ein andrer. Vorläufig aber seien wir ihm dankbar für das, was er gibt. Für viele wird es heute gerade das sein, was sie brauchen. Frankfurt a. Main. Dr. Franz Rosenzweig. Adler, Dr. Max, Professor a. d. Universität Wien, Marx als Denker. 2. umgearbeit. Auflage. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien. 1921. VIII u. 159 Seiten. Engels als Denker. Verlagsgenossenschaft „Freiheit", Berlin 1921. VIII und 79 Seiten. In diesen beiden Veröffentlichungen, deren zweite zum 100. Geburtstage En- gels erschienen ist, hat Max Adler die Resultate seiner früheren Arbeiten über die philosophischen Grundlagen des Marxistischen Sozialismus zu summarisch- klarem Ueberblick zusammengefaßt. Das, was er im Vorwort zu seinen „Marxisti- schen Problemen" gesagt hat, gilt auch für diese Untersuchungen: sie wollen keine Marx-Philologie geben und sind auch keine, vor allem deswegen, weil sie sich nicht auf den speziellen Vorwurf beschränken, sondern diesen im Gesamtzu- sammenhang des Geistigen sehen und bearbeiten, solcherart sowohl für das engere als das weitere Gebiet zu aufschlußreichen Ergebnissen gelangend. Auf dem Boden des neukantischen Kritizismus stehend, sucht Adler den philosophischen Gehalt der sozialistischen Einstellung — darin bekundet sich eben das Nicht-Philologische seiner Forschung — vor allem in der methodologischen Orientierung ihrer Theorie. Denn jeder Erkenntnisfortschritt ist es nur darum, weil er zugleich Fortschritt der methodischen, idealistischen Hypothesen-Bildung auf Basis des Datums der Erfahrung ist. Der Nachweis für die Geltung dieses Postulates im Bereich der Naturwissenschaften wurde zu einem der tragenden Eckpfeiler der neukantischen Bewegung; Adler, welcher immer mit Entschiedenheit für die Unität der natur- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnis eingetreten ist, beansprucht dieses Postulat folgerichtig auch für die geisteswissenschaftliche Methode, die sich ihm eben in der Marx's verkörpert. Es ist außerordentlich instruktiv, wie er jenen Nachweis hier in der Analyse der Hegeischen Dialektik und Logik gründet, die ihm ent- gegen der landläufigen Ansicht und durchaus zutreffend keineswegs eine gewaltige, solipsistische Konstruktion darstellt, vielmehr in ihrer „Dialektik des Realen" die Aufforderung ihm enthüllt, zum Datum der Erfahrung Kants zurückzukehren. Akzeptiert man diese sehr begründete Auffassung Adlers über die Hegeische Philosophie, so zeigt sich diese nicht nur als Vorläufer und Wegweiser für die Besprechungen (Adler). 185 weitere Entwicklung des Idealismus, sondern sie stellt auch die empirischen Wissenschaften mit allen Nachdruck in jene Richtung ein, welche schon Kant für sie gefordert hatte, nämlich in die ausschließliche Blickrichtung auf das Ob- jekt ihrer Erkenntnis. Die Forschergeneration nach Hegel, welche eigentümlicher- weise durchwegs vermeinte, Hegel „überwunden" zu haben, verdankte ihre empi- rische Gewissenhaftigkeit und Präzision sicherlich zum Großteil der Hegeischen Logik, durch deren Schule sie gegangen ist. Wir sehen dies in gleicher Weise bei Ranke und Mommsen als bei Marx und Engels, in einiger Entfernung auch in den religionspsychologischen Forschungen Feuerbachs. Im gewissen Sinne scheint Hegel damit dem Positivismus den Weg bereitet zu haben, denn die Einstellung auf das Objekt ist unverkennbar eine positivistische, ist ja selbst Kant in seiner Einstellung auf sein Objekt, das das Phänomen des Denkens überhaupt ist, ein Positivist im weitesten Verständnis zu nennen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Marx den positivistischen Anregungen, die er bei- spielsweise von Saint-Simon erfahren hat, sich gerne öffnete. Was ihn aber über die allgemeine positivistische Arbeitsweise in den Geisteswissenschaften, etwa der Buckles, hinausführte, war jener philosophische Blick aufs Ganze und die be- wußte, prinzipielle Herausstellung der neuen Methode, die jeden großen Denker, es sei bloß Kepler oder Newton angeführt, auszeichnete. Sozialismus als Logik vom „vergesellschafteten Menschen" ist, wie Kelles-Kranz formulierte, kein „Dogma" sondern eine „Forschungsmethode" und diese neue und durchaus idealistische Arbeitshypothese zum wirkenden Agens der Soziologie gemacht zu haben, ist die Tat Marx's. Es ist nun allerdings die Frage, ob die idealistische Grundtendenz einer positivistischen Arbeitsmethode auch schon die Berechtigung gibt, den „Inhalt" solcher Arbeit als Philosophie anzuerkennen. Soziologie und Geschichtsphilosophie laufen so eng ineinander, daß es immer nahe liegt, es sei auf Barth verwiesen, die beiden zu identifizieren, und daß die materialistische Geschichtsauffassung viel- fach als „die" Geschichtsphilosophie schlechthin gilt, ist bekannt. Es muß nicht neuerdings betont werden, welche Gefahren der philosophische Positivismus für die reine Philosophie in sich birgt, so vielfältig seine Erscheinungsformen sind, seien diese nun psychologistisch-energetisch, pragmatistisch oder sonstwie gefärbt, sie enthalten als letzte Möglichkeit doch immer die Gefahr eines groben Materia- lismus. Für Marx besteht diese in doppelter Beziehung. Denn erstens ist sein und Engels Verhältnis zu Feuerbach in diesem Sinne auszudeuten, ebenso seine Bejahung Dietzgens als „Philosophen der Sozialdemokratie" ; andererseits, wenn auch nur rein äußerlich, verleitet das Wort „Materialistische Geschichtsauffassung" leichthin dazu, diese mit dem naturalistischen Materialismus zu verwechseln. Adler sucht nun, in einer ausgezeichneten und tiefgründigen Polemik gegen Stammler — in der vorliegenden Broschüre nur auszugsweise — diesen drohenden Vorwurf gegen Marx zu entkräften und, eben auf Grund der idealistischen Reinheit der methodischen Prinzipien in der Marxistischen Einstellung, auch deren logische und philosophische Reinheit nachzuweisen. Eine wesentliche Unterstützung findet er dabei in dem ethischen Gehalt, der dem Sozialismus innewohnt und jedenfalls über den des Positivismus hinausgeht und der auch anderen Kantianern, wie Lange, Cohen, Staudinger, Woltmann, Vorländer Anlaß gegeben hat, die innere Verbin- dung zwischen Kant und Marx, resp. Engels aufzusuchen. Daß die materialistische Geschichtsauffassung mit naturalistischem Materialismus nicht in einen Topf ge- worfen werden darf, kann daher, und vor allem in Ansehung der scharfen Unter- suchungen Adlers als ausgemacht gelten. Hingegen darf deren positivistische Tendenz, wie wir glauben, nicht übersehen werden. Schon Masaryk reklamierte Marx als Positivisten, und Adler selber hat in einer schönen Studie über Marx und einen so positivistischen Denker wie Mach es war, die geistige Verwandt- schaft dieser beiden Männer hervorgehoben. Die Folgerungen, welche aus diesem Tatbestande zu ziehen wären, gehen aber über den Rahmen dieser bescheidenen Besprechung weit hinaus. In einer Zeit, in welcher „Marxismus" allzuoft zum Schlagwort herabge- zogen wird, bestenfalls zu einer „Ueberzeugung", die wie jede politische nicht 186 Besprechungen (Adler — Brandenburg). mehr von sich weiß, als daß sie „respektiert" werden will, und yor einer Popu- larisierung, die, wenn es hoch geht, den Sozialismus in eine sozusagen philoso- phische Verbindung mit Darwinismus und Dietzgenismus bringt, erscheint es als ein tieferes, menschliches und wissenschaftliches Verdienst der Adlerschen For- schungen, immer wieder auf das rein Geistige der Quelle hingewiesen zu haben und sie aufzudecken. Teesdorf. Hermann Broch. Brandenburg, Erich, o. ö. Professor an der Universität Leipzig, Die ma- terialistische Geschichtsauffassung. Ihr Wesen und ihre Wandlungen. Verlag von Quelle und Meyer in Leipzig. 1920. 66 S. Preis geb. 3 Mk. Die kleine Schrift des Historikers der Leipziger Universität, aus einer Rek- toratsrede hervorgegangen, gibt zunächst eine prägnante Darstellung des ökono- mischen Materialismus und weist die naheliegenden Mißverständnisse, auf denen die üblichen Einwände beruhen, zurück, die Verwechslung mit dem philosophi- schen Materialismus, mit dem Fatalismus usw. Die kritische Stellungnahme des Verf. ist in dem Abschnitt „Unzulänglichkeit der Naturfaktoren zur Erklärung der Entwicklungsrichtung. Lebensnotdurft und Lebensverbesserung". (S. 39 ff.) enthalten und richtet sich gegen die beiden Kernpunkte der marxistischen Theorie, gegen die Auffassung, daß das ständige Anwachsen der Produktivkräfte, weiterer Erklärung nicht bedürftig, die Grundlage der Erklärung der ganzen gesellschaft- lichen Entwicklung bildet und daß der politische, juristische, ideologische „Ueber- bau" durch die jeweiligen ökonomischen Verhältnisse und die durch sie bewirkte Klassenteilung bestimmt ist. Verf. sieht in dem Bedürfnis nach Lebensverbesse- rung eine Triebkraft der ökonomischen Entwicklung und meint, daß weder die Richtung dieses Bedürfnisses, noch die Art seiner Befriedigung durch die Pro- duktionsverhältnisse eindeutig bestimmt sei. „Oder kann jemand im Ernst be- haupten", fragt er, „daß im 15. Jahrhundert nur die Erfindung der Buchdrucker- kunst, im 19. nur die der Eisenbahnen und des Telegraphen die westeuropäische Gesellschaft vor dem Untergange hätte retten können?" Wo es eine Wahl gebe, da hänge die Entscheidung schließlich von der seelischen Beschaffenheit der be- treffenden Menschengruppe ab. „Verschiedene Gruppen könnten durch eine lange Reihe in verschiedener Richtung verlaufender Entscheidungen von dem gleichen Ausgangspunkte her im Laufe der Zeit zu ganz von einander abweichenden Zu- ständen gelangen". Ebenso könnten im allgemeinen bei einem bestimmten Sta- dium der Produktivkräfte die Menschen auch bei anderen Produktionsverhältnissen, Klassenbildungen, Staats- oder Denkformen leben als den tatsächlich verwirk- lichten, wenn auch vielleicht schlechter und unvollkommener. Somit verbürge der Zwang der Lebensnotdurft nicht die Eindeutigkeit des historischen Geschehens. Die Schlußkapitel zeigen, wie einzelne Sozialisten, Bernstein u. a., die Theorie weitergebildet haben, um diesen Schwierigkeiten gerecht zu werden. Man könnte hier allerdings ebenso gut wie von einer „Fortbildung", vom Aufgeben des Marxis- mus sprechen. Denn was bleibt mehr übrig als ein selbstverständlicher Gemein- platz, wenn man in den ökonomischen Verhältnissen lediglich Bedingungen oder Schranken des gesellschaftlichen Lebens sieht und in der materialistischen Ge- schichtsauffassung ein heuristisches Prinzip, daß neben den anderen Kräften auch die ökonomischen zu berücksichtigen rät. Gegen Max Adlers Versuch, die Ein- deutigkeit der Entwicklung durch einen ideellen Faktor, „die Idee der sozialen Gemeinschaft" zu begründen, meint Verf. wohl mit Recht, daß sich die ausschlag- gebende Wirksamkeit dieses Faktors kaum nachweisen ließe. Mir scheinen die vom Verf. mit so viel Nachdruck vorgebrachten Einwände nicht gerade unwiderleglich. Klimatische und ökonomische Verhältnisse, die die Anspannung aller Kräfte in Kampf ums Dasein verlangen, — und beides fällt unter den Begriff der Produktionsbedingungen — zwingen dazu, sich jede nach dem Stand der Naturerkenntnis mögliche technische Verbesserung zu nutze zu machen. Gewiß haben Buchdruckerkunst, Eisenbahn und Telegraph die westeu- ropäische Gesellschaft nicht „gerettet"; aber sobald einmal diese Einrichtungen »ach dem Stand der Kenntnisse möglich waren, war es so unwahrscheinlich, daß Besprechungen (Brandenburg — Barth — Hurwicz). 187 man sie ungenützt ließ, wie daß ein Goldstück unberührt auf einer belebten Strecke liegen bleibt. Auch ist leicht zu erkennen, daß die Bedürfnisse, die durch jene Erfindungen befriedigt wurden, unmittelbar aus den Verhältnissen der Warenpro- duktion, als Produktion für den Markt entsprangen. Die Bestimmtheit des „Ueber- baus" durch die Produktionsverhältnisse ist deshalb schwer zu prüfen, weil nicht leicht abzugrenzen ist, was zu diesem „Ueberbau" gehört, muß man sich doch, wie auch der Verf. meint, davor hüten, „diesen Grundsatz zu eng oder pedantisch zu fassen, zu viel Einzelheiten des Verfassungs- oder Geisteslebens auf diese Art erklären zu wollen". (S. 17). Immerhin ist es wohl nicht unbillig, von einem Historiker, der die Möglichkeit verschiedener Klassenbildung usw. bei gleichen Produktionsverhältnissen behauptet, konkrete Beispiele dafür zu verlangen. Die Bemerkung (S. 19), daß die Theorie von Marx und Engels nicht aus Hegels Phi- losophie erwachsen, im Keime kaum mit ihr verwandt sei, sondern „sich nur eines Stückes dieser Philosophie als eines brauchbaren logischen Hilfsmittels be- dient" habe, scheint mir gegenüber der sonst in der Regel (so neuerdings wieder von E. Tröltsch in der „Hist. Zeitschrift" (1919) vertretenen Anschauung das Richtige zu treffen. Prag. Josef Winternitz. Barth, Paul, Dr., ord. Honorarprofessor an der Universität Leipzig. Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. Erster Teil: Grundle- gung und kritische Uebersicht. 3. und 4. wiederum durchgesehene und erweiterte Auflage. 1922. Leipzig. 0. R. Reisland. 870 Seiten. Br. Mk. 90.— ; geb. 105.—. Obwohl in Kant-Studien, Band XXII (1917), Heft 3 S. 329—340 dem Werke Barths ein eingehender Bericht nebst genauer Würdigung gewidmet worden ist, obwohl ferner die neue Auflage von der früheren, die zur Besprechung gelangt war, nur in geringem Maße abweicht, sei dennoch an dieser Stelle nochmals auf jenes Werk und auf das Erscheinen der 3. und 4. Auflage mit nachdrücklicher Empfehlung aufmerksam gemacht. Denn es handelt sich um eine Leistung von hervorragender Qualität. Ihr Hauptwert besteht in dem etwa 700 Seiten umfas- senden historisch-kritischen Teil, der in mustergültiger Klarheit und Zuverlässig- keit wohl alle ernstlich in Betracht kommenden Typen der Geschichtsphilosophie, vor allem die soziologischen Ausprägungen derselben, zur ausführlichen Darstel- lung bringt. Wir lernen sowohl die „intellektualistische Soziologie" (Comte, De Greef u. a.), ferner die „biologische Soziologie" (besonders Herbert Spencer, Fouille'e u. a.), als auch die „voluntaristische Soziologie" (Tönnies, Ward, Giddings u. a.) kennen. Unter dem Titel: „Die einseitigen Geschichtsauffassungen" werden die „individualistische und die kollektivistische", die „anthropogeographische", die „ethnologische", die „kulturgeschichtliche", die „politische", die „ökonomische", endlich die „ideologische" Geschichtsauffassung besprochen. Barths meisterhafte Stoffbeherrschung und unbedingte Sachlichkeit in allen Angaben, ferner die ebenso geschickte wie lehrreiche Zusammenfassung und An- ordnung des ungeheuren Materials an vorhandenen geschichtsphilosophischen Theo- rien haben uns ein Werk geschenkt, das man ein Lehrbuch der Hauptformen der Geschichtsphilosophie im wahrsten Sinne nennen kann. Es läßt sich seinem Wesen und Wert nach mit den Neubearbeitungen des alten 'Ueberweg' vergleichen und mit diesen auf eine und dieselbe Stufe stellen. Das Beste, was man ihm nachsagen kann, läßt sich wohl so aussprechen : Für jeden, der sich mit vollem Vertrauen mit der Geschichte der Geschichtsphilosophie beschäftigen will, ist Barths Buch eine Unentbehrlichkeit. Berlin. Arthur Liebert. ' Hurwicz, Elias, Die Seelen der Völker. Ihre Eigenart und Bedeutung im Völkerleben. Ideen zu einer Völkerpsychologie. Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G., Gotha. Preis Mk. 6.— Dieses Werk ist auf dem Boden der morphologischen Psychologie gewachsen. Es gehört zur großen Reihe derjenigen modernen Arbeiten, die jenseits einer 188 Besprechungen (Hurwicz). atomistisch-synthetischen und experimentierenden, wie einer konstruktiv-metaphy- sischen Psychologie die Fülle seelischer (individueller wie überindividueller) Ge- stalten phänomenologisch erkennen wollen. Vor allem ist es Hurwicz aber um die Methodik dieses Erkennens zu tun, sein Werk ist vorwiegend erkenntnistheo- retisch. Doch ist das erkenntnistheoretische Interesse immerhin erst das eine Motiv. Es könnte allein die Wahl eines so komplizierten Objektes wie die Völkerver- schiedenheit nicht erklären ; denn die Erkenntnistheorie wird gut tun, erst einmal die Methodik der Biographie zu erklären, bevor sie ernstlich die Aprioris in der Erkenntnis überindividueller Lebensformen heraus zu analysieren versucht. Das andere Motiv ist das Interesse am Gegenstand, wie es vor allem durch den Weltkrieg mit seinen Völkerproblemen und ihrer unzulänglichen Lösung hervor- gerufen worden ist. So sind denn auch die erkenntnistheoretischen Erörterungen reichlich durchzogen von Beispielen völkerpsychologischer Erkenntnis. Die Geschichte der Völkerpsychologie zeigt, daß diese sich als wissenschaft- liche Disziplin erst in unseren Tagen konstituieren will. Im griechisch-römischen Altertum finden sich wohl bei Plato und Aristoteles, bei Strabo und Plinius, bei Cäsar und Tacitus, bei Hippokrat und Galen gelegentlich völkerpsychologische Apercus. Doch „eine breite und systematische Abhandlung der Völkerpsychologie hinterläßt uns das Altertum doch nicht". Der Stand der Völkerpsychologie im Mittelalter ist für uns dunkel. Von einigen Arbeiten an der Schwelle der Neuzeit abgesehen, setzt dann die bahnbrechende Inangriffnahme der Völkerpsychologie mit Herder ein, Kant fördert sie in seiner Anthropologie, und im Gefolge des phi- losophisch deduzierten Nationalitätsbegriffs bei Fichte strömen völkerpsycholo- gische Erkenntnisse in die Gedankenmasse des klassischen Idealismus ein. Hegel und die von ihm abhängige historische Schule waren dann von Natur diesen Pro- blemen zugekehrt ; doch hat die historische Schule wegen ihres mystischen Begriffs des Volksgeistes hier wenig geleistet; Lazarus, Steinthal und Wundt, die man gemeinhin als die modernen Begründer und stärksten Förderer der Völkerpsy- chologie bezeichnet, haben nur die allen Völkern gemeinsamen psychischen Er- scheinungen, aber nicht ihre Sonderarten erforscht. .Ein reiches Material gerade für diese Charakterdifferenzen ist verstreut in Beobachtungen von Essaiisten, Dichtern und Politikern. Es ist der Wert des Werkes von Hurwicz, daß sein Buch aus einer umfassenden Kenntnis der einschlägigen deutschen, englischen, französischen und russischen Literatur herausgewachsen ist. Da er aber seine Charakterisierung der verschiedenen Völker fast ausschließlich dieser Literatur (Fouille'e, Leroy-Beaulieu, Emile Boutmy, Münsterberg, Scheler, Nötzel usw.) ent- nimmt, so wollen wir uns allein auf die Kennzeichnung seiner erkenntnistheore- tischen und methodologischen Ausführungen beschränken. Es gilt hier zunächst, überhaupt einmal den Gegenstand der Völkerpsycho- logie, den Volkscharakter zu konstituieren. Verschiedene Einwände stellen die Anerkennung seiner Existenz in Frage. Die Mannigfaltigkeit psychischer Gestalten innerhalb eines Volkes, die Verschiedenheit der Individuen, Klassen, Berufe, Lo- kaleinheiten soll den übergreifenden Begriff einer Volkseinheit sprengen. Doch vergißt dieser Einwurf, daß mit der Behauptung der Einheit des Volkscharakters noch nicht die psychische Identität aller seiner Angehörigen behauptet wird, und daß dieses Phänomen der Ueber-Einheit, der Einheit über Einheiten ein Urphä- nomen der geschichtlichen Welt darstellt. Es genügt aber nicht, diese Einheit in eine mystische Begriffsatmosphäre einzunebeln, sondern es müssen präzis und möglichst erschöpfend die diese Volks- Einheit bewirkenden Motive aufgesucht werden. Da sind die physikalisch-geo- graphischen Einflüsse: Luft, Licht, Temperatur, Boden. Allerdings ist hier — wie die Literatur zeigt — die Gefahr der Ueberschätzung recht groß, und oft verdecken schöngeistige, vage Analogien zwischen materieller Gegebenheit und seelischem Charakter echte Erkenntnisse durch Ueb jrspannung des Vergleichs. Diese physikalisch-geographischen Einflüsse sind nur ein die Einheit formendes Element neben andern; der psychophysische Volkstypus wird weiterhin gebildet durch die verschiedensten Arten von Assimilation: durch Symbiose, durch Staat- Besprechungen (Hurwicz — Jaensch). 189 liehe, die Einheit prägende Erziehung, durch gemeinsame Existenzbedingungen und vor allem durch das Schicksal einer gemeinsamen Vergangenheit. Die affek- tive Beschaffenheit repräsentiert das charakterologische Merkmal, durch das sich auch alle anderen Merkmale des Volkscharakters enthüllen. Alle anderen Merk- male — bis auf die geistige Disposition. Es ist der vorsichtig analysierenden Art dieses Buches durchaus angemessen, die geistige Eigenart als unableitbar und selbständig hinzunehmen und so metaphysischen Konstruktionen zwar aus dem Wege zu gehen, zugleich aber auch vor dem irrationellen Kern sich zu bescheiden, ohne zu gewaltsamer Auflösung zu drängen. So kommt man über den Dualismus von objektiver und subjektiver Gesetzlichkeit auch hier nicht hinaus. Die Seele der Völker ist, ebenso wie die Seele des Einzelnen, „gleichsam die Kesultante eines Kräftekomplexes". Jeder Versuch, die Seele einseitig aus sich selbst oder ebenso einseitig aus seiner Umwelt zu erklären, muß scheitern. Welches sind nun die Methoden, die Völkerseele zu erkennen? Die sta- tistische Methode liefert vor allem in der Kriminalstatistik reichliches Material. Die Beobachtung kann durch Massenbilder, auf belebten Plätzen und in kritischen Momenten, oft entscheidenden Einblick gewinnen. Die rechtspsychologische For- schung hat in Männern wie Jhering, Gierke, Kohler, die sprachpsychologische Forschung durch Studium der Synonima, durch Vergleich der abstrakten und kon- kreten Vokabeln, der Phonetik und der unübersetzbaren Worte verschiedener Sprachen völkerpsychologische Erkenntnisse gewonnen. Die Psychologie der Philosophie, der Wissenschaft und der Künste eines Volkes bietet weitere Möglichkeiten zur Erkenntnis seiner Eigenart. Doch darf „nur solchen Erscheinungen charakterologischer Wert beigemessen werden, die sich in einen einheitlichen seelischen Strukturzusammenhang einreihen lassen". Neben all diesen Erkenntniswegen läuft ebenbürtig parallel einher der Erkenntnis- weg der Intuition, er führt erst zu jenen differenzierten Distinctionen, die allein fähig sind, Seelen begrifflich auszudrücken. Die Völkerpsychologie — das sagt ein Nachwort — steht im Dienste eines Ethos : sie soll erkennen, um anzuerkennen. Sie soll jene Humanität im Völker- verkehr fördern, die Herder, den Stifter der völkerpsychologischen Wissenschaft, und seinen Kreis beseelt hat. Man mag über diese ethische Mission, die H. der Völkerpsychologie zuteilt, skeptisch denken. Gleichviel: die theoretis che Auf- gabe der Völkerpsychologie ist ein Teil jener gewaltigen Aufgabe unserer Zeit: alle seelischen Gestalten unserer Welt im Begriff einzufangen. Berlin. Ludwig Marcus e. Jaensch, E. R., o. ö. Professor an der Universität Marburg, DieFriedens- frage im Zusammenhang mit Bildungs- und Kulturproblemen der Gegenwart. (Wissenschaft und Leben, herausgegeben von Prof. Dr. E. R. Jaensch in Marburg. Heft 1). Leipzig. 1919. Verlag von Johann Ambrosius Barth. 16 S. 0.80 Mk. Zur Förderung der Friedensbewegung würde es wesentlich beitragen, wenn die Ueberzeugung von der Möglichkeit der Erfindung neuer furchtbarer Vernich- tungsmittel, die selbst schwache Völker mit Erfolg handhaben können, und zu diesem Zweck diejenige von der Möglichkeit überhaupt, völlig Neues (im Sinne der schöpferischen Entwicklung) zu erfinden, in weiten Kreisen ausgebreitet würde. Aber die Naturforscher, die dazu am meisten berufen sind, entziehen sich über- wiegend dieser Aufgabe, teils weil der. Beschäftigung mit den Naturwissenschaften vorwiegend eine innere Abkehr vom Leben zu Grunde liegt, teils wegen ihrer über- wiegenden positivistischen Grundhaltung. — So der Vf., dessen stark rationalisti- scher Gedankengang dem wesentlichen Zusammenhang zwischen Friedensfrage und modernen Kulturproblemen m. E. nicht gerecht wird. Berlin. A. Vierkandt. 190 Besprechungen (Lessing). Lessing, Th., Dr., Privatdozent an der Technischen Hochschule in Hannover, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. C. H. Becksche Verlags- buchhandlung Oskar Beck, München. 1919. 299 S. Derselbe: Die verfluchte Kultur. Im gleichen Verlag 1921. 45 S. Die Forderung, mit der L.s geschichtstheoretisches Buch schließt: „ein Buch, das in Tagen, wo Geschichte alle Herzen erfüllt, von Geschichte befreien will, darf nicht selbst historisch beurteilt werden" (298), ist in dem vorliegenden Fall umso weniger akzeptabel, als gerade L.s Anschauungen im stärksten Maße selbst Ausdruck sind der geistigen Situation der Zeit. Der Stimmung nach stehen sie in der Nähe von Spenglers Kulturskepsis: Schatten des Untergangs, Ah- nungen vom „Erkalten der Erde", von unaufhaltsamem Verfall und Auflösung, demgegenüber einmal der zeitgemäße Glaube an das „ex Oriente lux", zum andern die postulierte Notwendigkeit einer radikalen Desillusionierung in Bezug auf alles, was Geschichte heißt — diese Züge bestimmen die Physiognomie des Buches. Sachlich genommen liegt die Grundauffassung in der Richtung einer Metaphysik des Irrationalen, in der sich Schopenhauersche und Nietzschesche Anfänge ins 20. Jahrhundert kontinuieren. Die beste Einführung in L.s Gedanken gibt die kleine (2 Jahre nach dem größeren, mit dem Strindbergpreis ausgezeichneten Werk erschienene) Broschüre. Hier kommt der beherrschende Dualismus von Geist und Leben am stärksten zum Ausdruck. L.s ganze Ausführungen variieren das Doppelthema: Sehnsucht nach dem alogischen, nur erlebnismäßig zu gewinnenden Urgrund des „Leben- digen" (in dem seit Nietzsche, Bergson, Simmel geläufigen emphatischen Sinn) — Kampf, Haß und Verachtung gegen das „notgeborene Widerspiel des Lebens", gegen dessen „Ueb ermächtiger" Geist. Die als Höchstes gefeierte Idee des Le- bens freilich — und darin offenbart sich das unkritisch Dogmatische der grund- legenden Konzeption — wird nur als abstraktes Ethos wirksam; unter dem Titel „Leben" wird nur die allgemeine Vitalität, das unmittelbare und bewußtlose „Ele- mentarischflutende" überhaupt herausgearbeitet. Dieses dumpfe und gänzlich be- griffslose Substrat erscheint als Träger aller Realität; einer Realität freilich, die stark an jene absolute Indifferenz erinnert, die einst von Hegel als die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, bezeichnet wurde. Da sich über ein solches meta- physisch Erstes systematisch nicht viel sagen läßt, treten faktisch die polemisch destruierenden Ausführungen stark in den Vordergrund. In dem Verhältnis von Leben und Geist liegen keinerlei positive Möglichkeiten beschlossen. Alle Tätig- keit der ratio ist lebensf eindlich; vernünftige Formung vergiftet und entseelt die kostbare Irrationalität des Lebendigen. „Der sicherste Totschläger des Le- bens ist der Begriff" (24). Kultur aber bedeutet für diesen erneuerten Rous- seauismus nichts anderes als die Gesamtheit aller aus dieser Lebensvergewaltigung erstehenden Wertformen, wobei zwischen Kultur- und Zivilisationserscheinungen keinerlei Unterschied gemacht wird: Kultur ist „die ganze Welt menschheits- steigernder Sachwerte, von Dynamo, Turbine, Eisenbahn, Dampfschiff angefangen bis zu den höchsten Leistungen der Kunst und Wissenschaft" (20). Das Baco- nische Erkenntnisideal „Wissen ist Macht" erscheint schlechthin als „das Ideal, darin die ganze Geschichte des Abendlandes wurzelt" (24). Solche Voraussetzungen ermöglichen die These, daß für alles Ueble, für allen Schmerz, für alle Schrecken und Sinnlosigkeiten des Kulturdaseins dem „Raubtier Geist" die Schuld zufalle; solche Voraussetzungen erklären auch die ungewöhnliche Auffassung bestimmter geschichtlicher Persönlichkeiten: Sokrates, Buddha und Christus sind die ersten Verführer zum Geist, Hegel, Darwin und Marx die letzten großen „Truggeister" und „Köpfeverwüster" des Abendlandes. „Ihr Werk ist: die Kultur. Ihr Werk: der Fluch der Kultur" (39). Bei dieser Polemik gegen große Ahnen gerät L.s an sich schon extrem subjektiver Vortrag zuweilen bis hart an die Grenze des Möglichen (die „tollhäuslerische Annahme" des Hegeischen „Historismus"!). Die „Wandlung von Erlebnis in Geschichte zu belauschen" (12) ist das Ziel des geschichtstheoretischen Hauptwerks. L. wünscht hier „den ersten entschie- denen Versuch zu einer historischen Kategorienlehre darzubieten" (5). Diese Besprechungen (Lessing— Müller-Freienfels). 191 Kategorienlehre wird aber zu einer Negation der historischen Kategorien; die eigentliche Aufgabe der beiden ersten Hauptteile (Erkenntniskritik und Psycho- logie der Geschichte) bildet die Zerstörung der „Legende" von der Geschichte als Wissenschaft. Völlig verkehrt erscheint H. Rick er ts Definition der Ge- schichte als Wir klichk ei ts Wissenschaft; denn geschichtliches Erkennen formt die ursprüngliche Lebensgrundlage ebenso gewaltsam um wie das naturwissen- schaftliche Erkennen. Alles Urteilen über Geschichte ist eine logificatio post festum an der Hand fertiger Normen und Wertmaßstäbe. Es gibt in Wahrheit keine Einheit, keine immanenten Ziele, keine Entwicklung, überhaupt keine „ge- nerellen Instanzen" in der Geschichte. Alles dies sind Unterstellungen der Ver- nunft ; denn in der geschichtlichen Materie selbst ist keine Vernunft. Diese Ver- nunftlosigkeit des geschichtlichen Lebens sucht L. durch eine ausgedehnte Erör- terung der historischen Zufälle darzutun; die Wesenlosigkeit der „generellen Instanzen" aber wird zu begründen versucht durch eine stellenweise an Lamettries zynische Lehre von „Hunger und Liebe" erinnernde psycho-physiologische Erklä- rung aus Wunsch und Willen, aus grober menschlicher Notdurft und Betäubungs- bedürfnis. Geschichtliche Ideale sind „Notausgänge des Lebens", sind Fiktionen, die an die brutale und sinnlose Realität herangetragen werden. Es „brennt . . . hinter den historischen Idealen nie etwas anderes als die aufsummierte Selbstsucht und aufsummierte Dummheit vieler Einzelnen. Hinter jeder Ansicht Absicht, hinter jeder Einsicht Notdurft" (22). — Der dritte Teil (Geschichte als Ideal) sucht nach solchem Negativismus dennoch einen Weg, auf dem Geschichte möglich wird, zu erschließen. Hier kehrt sich plötzlich das bisher als gänzlich unfruchtbar erkannte Verhältnis von Sein und Wert um. Die als Wissenschaft verpönte Geschichte muß zur „umdichtenden Willenschaft" erhoben werden. Nur durch bewußte Umgestaltung der facta bruta nach Maßgabe bestimmter Wertzu- sammenhänge entsteht das Bild einer geschichtlichen Welt, das innere Berechti- gung besitzt. Die Weltgeschichte wird also zum „Weltgedicht", zur „Hüterin des schönen Scheins" gegenüber der „unheiligen ernüchternden Erkenntnis unseres Wissens" (273) und die „rein illusionäre Natur der Geschichte (wird) grade der Geschichte unverwelklicher Ruhmestitel" (233). Die Geschichte darf „den er- kennenden und daher wahnfreien Geist nicht dulden! Ihre Macht ist die Macht des Wähnens" (271). Eine Entscheidung zwischen den mannigfachen möglichen „Baugedanken" der Geschichte ist Sache des persönlichen Erlebens. L. selbst stellt von allen Lebensdeutungen die epikuräische und die buddhistische am höchsten. Der beschränkte Raum verbietet eine eingehende kritische Würdigung. Das logisch nicht völlig geklärte Verhältnis zwischen dem illusionären dritten Teil und den wahnfreien ersten Abschnitten mag aus der referierenden Wiedergabe schon hervorgegangen sein. Besonders bemerkt sei ein — leider nicht durchge- führter — Gedanke: die in einem besonderen Kapitel versuchte Bestimmung der Geschichte als „allgemeiner Gestaltenkunde", als „universaler Charakterologie". Hier liegt, insofern die logisch entscheidenden Begriffe der „Individualität" und des historisch Konkreten angedeutet sind, in den übrigen theoretischen Zusammen- hang eingelassen ein systematisch fruchtbarer Keim. München. Friedrich Seifert. Mttller-Frelenfels, Richard, Philosophie; derlndividualität. Leipzig. Meiner 1921. XII u. 272 S. Um eine bedeutsame Philosophie der Individualität zu schreiben, muß der Philosoph selber eine bedeutsame Individualität sein. Als solcher hat sich R. M.-F. durch eine Reihe feiner psychologischer und ästhetischer Schriften erwiesen. In seinem neuen Werke erfliegt er noch höhere Höhen. Am Eingang seiner — wie jeder echten — Philosophie steht das Erkenntnis- problem. Was heißt Erkennen? Formung von Inhalten. Also: Gestaltung eines Chaos von Empfindungen zum durchdenkbaren Kosmos ; Erhebung von subjektiven 192 Besprechungen (Miiller-Freienfels). Eindrücken zu objektiver Gültigkeit; doch auch, und dies ist die andere Seite des Vergeistigens : Abtötung des Lebendigen und Konservierung des Ewigbeweg- lichen durch kategoriale Gifte. Von hier aus nun scheiden sich die Denkertypen. Die Rationalisten betonen die Form des Erkennens; immer einseitiger und ein- seitiger; bis im äußersten Falle das „Gegebene", will sagen, das Tatsächliche, Einzigartige, Unauflösliche zur bloßen „Aufgabe" sich verflüchtigt; und da schreibt denn zuletzt Kant übers Marburger Tor: „Begriffe ohne Anschauung sind leer". Die Irrationalisten dagegen neigen dazu, das allgemeingültige Gesetz in bloße Konvention aufzuweichen und zuletzt sogar noch die Kategorien selber als Fäl- schungen der Wirklichkeit, als Idole und Fetischismen beiseite zu schieben; bis sie ganz am Ende vor der Realität des unmittelbaren Erlebens verstummen müßten, wenn sie recht konsequent sein wollten; denn „Anschauungen ohne Begriffe sind blind". Zu diesen extremen „Lebensphilosophen", besser „Erlebensphilosophen" nun, die jüngst Rickerts schneidige Kritik traf, gehört unser Autor nicht; aber immer doch zur zweiten Gruppe von Erkenntnistheoretikern, zu den „Irrationa- listen" also. (Man vergleiche auch seine schöne Untersuchung über „Rationales und irrationales Erkennen" in den „Annalen der Philosophie", II). Ihm ist das Sein vor dem Denken (S. 97) ; denn schöpferisch kann niemals die Vernunft sein ; schöpferisch ist immer nur das Irrationale (S. 86 f.; 171); und die letzten Gründe aller Erkenntnis sind ihrem Wesen nach individuell, also eben nicht von vorne- herein allgemeingültig (177). Lächerlich ist das bekannte Argument der Logisten gegen diese Ansicht: sie schließe ein, daß eben auch sie selber nicht allgemein- gültig sei; denn: „Die Relativisten behaupten ja gar nicht, eine absolute Er- kenntnis erbracht zu haben, sondern auch ihr allgemeinster Satz, daß alle Er- kenntnis relativ sei, meint natürlich alle menschliche Erkenntnis, besagt also, daß auch in jenem allgemeinsten Satze die Relation auf die menschliche Er- kenntnis stecke" (176 f.). Wer nun mit dem Vf. einerseits die Denkformen für notwendige Instrumente aller ersinnlichen Erkenntnis hält, anderseits aber sich weigert, aus ihnen nach rationalistischen Rezepten das Sein hervorgehen zu lassen, dem bleibt nichts übrig, als sie nach psychologistischer oder biologistischer Methode aus dem irra- tionalen Seelenleben abzuleiten. Dies nun tut der Vf. in dem glänzenden Ab- schnitt von der Rationalisierung des Vernunftfreien (S. 85 ff.). Aus Probierbewe- gungen und der mnemischen Tendenz, nützliche Aktionen zu wiederholen („Trial and error": Bain und Jennings), lassen sich zweckmäßige Gewohnheiten er- klären (S. 95; 100 ff.); solche werden vererbt (S. 103) oder durch Nachahmung fortgepflanzt (S. 88) ; zu ihnen gehören nun auch die logischen Verfahrungs weisen (S. 94f.). Der soziale Verkehr aber macht die Varianten ausgleichende „zwischen- individuelle Rationalisierung" nötig (S. 91) und erzwingt sie, wo es erforderlich wird, durch Erziehung (S. 105 ff.). „Die Rationalisierung geschieht zunächst überall ohne Ratio" (S. 96). Hat sich nun aber das psychische Wesen mit Vernünftig- keit einmal bewehrt, so wendet es diese Riesenwaffe wider alles Irrationale an, bearbeitet solches, macht es sich dadurch mundgerecht. Die „Rationalisierung" in einem andern Sinne des Wortes tritt ein: die begriffliche Erfassung des sonst Ungreifbaren. Und um die Fülle alles Einmaligen, Höchstpersönlichen, Immer- wechselnden, das im Erleben keine Grenzen und keine Normen kennt (S. 36 — 81), nun dennoch zu packen und zu verstehen, dazu tragen wir eine besondere Kate- gorie in uns: die Individualität. Als „eine der Grundformen der denkenden Verarbeitung des Erkenntnismaterials" (S. 202) ist sie das unumgängliche Mittel, in den Wirrwarr des unmittelbaren Erlebens Ordnung zu bringen. Der Vf. ver- gleicht sie mit anderen Kategorien ihrer Gruppe und findet sie schließlich als eigenartigen Urbegriff (S. 203—208) ; am ehesten ließe sie sich mit dem Begriffe der „Form" identifizieren ; allein, sie enthält im Gegensatz zu diesem die Voraus- setzung der Zeitlichkeit (S. 200) ; ist „geprägte Form, die lebend sich entwickelt" (S. 206); „Entwicklung" also ist ihr notwendiges Korrelat (S. 36 ff.). Ohne die so definierte Kategorie nun ließe sich lebendiges Geschehen über- haupt nicht auffassen; ein Gestöber unzusammenhängender Sensationen wäre es, was vom Ich, merkwürdige Wechselbilder, was vom Mitmenschen, vom Tier, von Besprechungen (Müller-Freienfels). 193 der Pflanze übrig bliebe. So darf man behaupten, daß das Individuum als solches recht eigentlich erst durch die Denkform der Individualität entsteht, die es aus den Strudeln des Urerlebens herausgestaltet. Im Fortgange dieser Gestaltung aber begegnet ihr, was auch anderen Kategorien geschieht, wenn sie auf besondere Probleme angewendet werden: sie splittert sich in Antinomien auf und erscheint dann in einander widersprechenden Fiktionen. Da finden wir für psychologische Zwecke oft die Erdichtung einer substantiellen „Seele" (S. 20; 118 f.), eines „Kernes" der Persönlichkeit (S. 121) bequem; und dann wieder individualisieren wir in der Geschichte gerne umfassende „Normalsubjektivitäten" (S. 68, 111, 125 f., 130, 230 ff.). Wir verlegen das letzte Geheimnis der menschlichen Handlungen in angeblich dauerhafte Charaktere, die wir nach angeblich feststehenden „Typen" einteilen (S. 132 ff.) — um dann wieder ein von außen einwirkendes „Schicksal" alles Tun und Leiden entscheiden zu lassen (136). Lauter Fiktionen ; aber genug, sie helfen uns zur Herausarbeitung des „Individuums" aus dem völlig Irrationalen, also Un- zugänglichen, höchstens durch „Einfühlung" zu Erahnenden (S. 61, 123, 209, 219). Doch halt ! Geraten wir da nicht in einen Zirkel ? Aus ' den Bedürfnissen der höheren Lebewesen, insonderheit der Menschen, also doch biologisch charak- terisierter Individuen, soll das Denken und mit ihm die Kategorie der Individu- alität samt ihren Auszweigungen entsprossen sein; und diese Kategorie soll nun wieder das Individuum schaffen? Wie verträgt sich das? Mit dieser Frage be- treten wir metaphysischen Boden. Es verträgt sich unter folgender Annahme (S. 210): ein Irrationales, Unerkennbares, nur im Drange des Augenblicks blind Erfahrbares, ein X, treibt das Denken aus sich heraus; und das Denken stellt dieses X als eine Summe von Individuen vor. Individuum ist demnach Erschei- nung; und die dahinter stehende letzte Realität, das geheimnisvolle X — ist das „Leben" (S. 201,213); Leben wird somit zur wahren „Individualitas individuans" (S. 197 ff., 218). Das einzelne Ich verliert ihm gegenüber seine Suveränität; es fehlt ihm ja an genauer Abgrenzung gegen die Umwelt (S. 65 ff., 221 ff., 230); es ist fast beliebig spaltbar (S. 54 ff.); als geschlossene Einheit tritt es keines- wegs von vornherein auf; eher als Aufgabe hohen Menschentums läßt sich die „Persönlichkeit" bezeichnen (S. 64). Auch stellt sich das individualisierte Leben im einzelnen Ich keineswegs eindeutig dar; vielmehr kommen da sieben verschie- dene Erscheinungsweisen in Betracht (S. 11 ff.): das Momentan-Ich, der Leib, die fiktive Seele, das „Mein", das Innenbild, das Außenbild, die Objektivierung im Wirken. Man sieht, das Individuum als solches ist Phänomen; in seinem Leibe sowohl wie in seinem Bewußtsein spiegelt sich ein „Drittes", eben das Leben (S. 199, 213). „Ein Drittes" — ist diese Konstruktion nötig? Gerät der metaphysische Aufbau nicht gefälliger, wenn wir statt der Vokabel „Leben" die andere als gleichbedeutend setzen : „Seele" ? Dann würden wir die bewußten Erlebnisse als besondere, hochkomplizierte Zustände des Dinges an sich auffassen ; und dieses er- schiene unsern Sinnen als Leib. Soweit nun brauchte die Aenderung noch keine der Ansichten des Vf. wesentlich zu modifizieren; nur die Polemik gegen den psychophysischen Parallelismus (S. 214) würde gegenstandslos. Aber es steckt freilich hinter der Ausdrucksweise des Vf. mehr als nur der Ausdruck. Der Parallelismus nämlich hängt logisch fest mit der mechanistischen Weltauffassung zusammen ; diese nun würde sich mit des Vf. Voraussetzungen an sich vortrefflich vertragen ; zumal seine psychologische Methode — wie er etwa nützliche Instinkte aus Probierbewegungen ableitet (S. 95) oder den Willen zum bloßen Bewußtseinsbe- gleiter einer Bedürfnisbefriedigung macht (S. 145) — mutet schulgerecht mecha- nistisch an ; auch gibt er zu, daß die Mechanistik theoretisch nicht zu widerlegen sei (S. 258). Allein genug, sie ist ihm einmal zuwider — weil sie ihm allzu ra- tional und maschinenmäßig vorkommt; und verwirft er sie, dann freilich muß er seinen Phänomenalismus wohl oder übel formulieren, wie er tut. Vielleicht zeigt sich hier ein gewisser Konflikt zwischen Denkantrieben und ästhetischem Geschmack ? Aber wenn schon : was täte das ? Auch Konflikt ist Leben, und nur aus leben- digem Leben keimt echte Philosophie. Dadurch aber hebt sich Richard Müller- Freienfels so hoch über die meisten, die sich heute Philosophen nennen: daß er Kftntstndien. XX VII. 13 194 Besprechungen (Müller-Freienfels — Schulze-Soelde). seine tiefen und starken Gedanken mit seinem Blute, nicht mit Wörtern nährt. Deshalb regt er mit jedem Satze an, sei es zu lebhafter Beistimmung (wie durch- weg den Ref.), sei es meinethalben auch zum Widerspruch. Daher auch funkelt sein Stil und erquickt zugleich durch lautere Klarheit. Kurzum, wir haben eine ungewöhnliche Leistung vielseitigen und gediegenen Denkens vor uns : niemand wird an dem Buche vorbeigehen dürfen. Berlin. Julius Schultz. Schulze-Soelde, Walther, Dr., Geschichte als Wissenschaft. Berlin 1917. Verlag Reuther und Reichard. 93 S. Nicht um die Geschichte an sich, sondern um die Erkenntnis der Geschichte handelt es sich in der vorliegenden Untersuchung. Zur Erörterung gelangt die den berühmten Kantischen nachgebildete Frage, wie Geschichtswissenschaft mög- lich ist. Diese Frage kann nach Schulze-Soelde weder in einer rein formallogischen Begriffsbildungslehre auf die Art Rickerts beantwortet werden, noch durch eine Betrachtung, die sich ausschließlich an den gegenständlichen Inhalt wendet. Auf die Beziehung zwischen Form und Inhalt kommt es dem Jünger Kants an. Allerdings stellt Kant selbst — immer dem Autor zufolge — diese Bezie- hung für das Gebiet des Historischen noch nicht zur Diskussion. Die Kantische Geschichtsphilosophie ist nicht kritisch; es sind in ihr eine metaphysische und eine ethische Epoche zu unterscheiden. Die Metaphysik kommt bei der Be- gründung der historischen Erkenntnis für den streng wissenschaftlichen Kritizismus nicht in Betracht, aber auch nicht die die Sache in den Bereich des Praktischen hinüberspielende Ethik. Nicht eine Ethik, sondern eine Theorie der Geschichte muß gegeben werden. Das tut Kant nicht, der, wo seine Geschichtsphilosophie nicht metaphysisch oder ethisch orientiert ist, das Problem der Geschichte in das der Natur auflöst. Sein Verdienst ist die Schöpfung und Durchführung der kritischen Methodik in bezug auf den Naturgegenstand; was nun not tut, das ist die Anwendung, die Uebertragung der kritischen Methodik auf den eigenartigen historischen Gegenstand. Die Auffindung dieses ist die Leistung Hegels ; von ihm wird das Bewußtsein als Gegenstand der Geschichte entdeckt, die Vernunft, deren Begriff allerdings so weit zu fassen ist, daß auch die Unvernunft darunter fällt. Freilich verfährt Hegel dog- matisch, ontologistisch. Er nimmt nicht die vom kritischen Standpunkt aus un- entbehrliche Trennung zwischen Ichbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein vor, zwischen der erkennenden Vernunft des Historikers und der zu erkennenden Ver- nunft als dem Gegenstand der Historie; die Vernunft wird bei ihm zur Vernunft an sich. Wenn Kant dem spezifischen Charakter des inhaltlichen Momentes am Geschichtsbegriff nicht gerecht wird, so ist das bei Hegel hinsichtlich der for- malen Struktur des Geschichtsbegriffs der Fall. Hieraus resultiert die Notwendig- keit einer Synthese von Kant und Hegel. Es kommt also alles auf die Einsicht an, daß der Kernpunkt das Wechsel- spiel zwischen Ich- und Gegenstandsbewußtsein ist, die Beziehung zwischen der die Geschichte erkennenden und der sie machenden Vernunft. Ebendadurch, daß das Bewußtsein, die Vernunft, nicht bloß das Subjekt, sondern zugleich das Ob- jekt der Erkenntnis darstellt, unterscheidet sich die historische von der Natur- erkenntnis. In bezug auf die Natur handelt es sich darum, das noch nicht Be- wußte in der Erkenntnis, durch sie, zum Bewußtsein zu erheben; in bezug auf die Geschichte hingegen ergibt sich die Aufgabe, das bereits Bewußte zu erfassen, nachzubilden, zu erneuern. Das von dem Historiker zu bearbeitende Material ist im Unterschied zu dem des Naturwissenschaftlers kein sinnliches, sondern ein intelligibles. Wohl geht auch der Historiker von sinnlichen Daten aus; denn das die Geschichte schaffende Bewußtsein findet seinen Niederschlag in Taten, Lei- stungen, welche einen Ausbruch des Bewußtseins in die sinnliche Aeußerlichkeit bedeuten. Allein nicht das Sinnliche als solches, sondern die ihm immanente Be- deutung, die ihm zugrunde liegende Vernunft, ist der eigentliche Gegenstand der Geschichte. Daraus folgt dann weiter, daß der Kausalzusammenhang in der Geschichte Besprechuugen (Schulze-Soelde — Schuck). 195 ein anderer ist als der in der Natur. Wenn das Historische aus der Vernunft hervorgeht, für die doch die Spontaneität kennzeichnend ist, so gibt es in der Geschichte im Gegensatz zur Natur nicht eine Kausalität der Gesetzlichkeit, son- dern eine solche der — nicht in ethisch-praktischem, sondern in theoretischem Sinne verstandenen — Freiheit. Der Gesetzesbegriff bezieht sich nur auf das sich regelmäßig Wiederholende, mithin auf die Natur; für die Geschichte aber gilt Leibniz' principium identitatis indiscernibilium und damit die Freiheit. — Eine kritische Würdigung dieser Darlegungen würde sich vor allem auf folgende vier Fragen zu richten haben: 1. auf die, ob in einer auf die Heraus- schälung des logisch-kritischen Geltungsproblems so ernsthaft bedachten Unter- suchung die häufige Verwendung der unter Umständen irreführenden Termini Ich, Bewußtsein, Subjekt und Objekt zweckmäßig ist; 2. auf die erheblich wichtigere Frage, ob mit der von Schulze-Soelde an der Kantischen Geschichtsphilosophie geübten Kritik schon das letzte Wort gesprochen ist; 3. auf die noch sehr viel wichtigere Frage, ob wirklich das Entscheidende für den Gesetzesgedanken der Gedanke der Regelmäßigkeit ist, ob ferner jedes Gesetz ein Naturgesetz ist und folglich der Freiheits- und der Gesetzesbegriff sich ohne weiteres ausschließen, so daß der letztere in der Tat für die Geschichtswissenschaft gar nicht in Betracht käme; 4. auf die vielleicht bedeutungsvollste Frage, ob ohne jedwede Beziehung auf die Idee der Kultur der Gegenstand der Geschichtswissenschaft erschöpfend bestimmt und von dem der Naturwissenschaft hinreichend abgegrenzt werden kann. Die soeben aufgeworfenen Fragen vermögen an diesem Orte nur gestellt, nicht beantwortet zu werden. Nur dies sei noch gesagt, daß Schulze-Soeldes Arbeit eine von echt kritischer Gesinnung getragene und ganz ungemein scharfsinnige ist. Berlin- Wilmersdorf. Kurt Sternberg. Schuck, Karl, Professor in Karlsruhe, Spenglers Geschichtsphilo- sophie. Eine Kritik. G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlagsanstalt Karls- ruhe B. 1921. 39 Seiten. Schucks Schrift verdient unter der nach und nach ziemlich angewachsenen Spengler -Literatur besondere Beachtung. Im Gegensatz zu anderen Schriften, die sich mit einzelnen Thesen, Auffassungen und Deutungen Spenglers befassen, die ethisch, religiös oder kulturpolitisch zu ihm Stellung nehmen, ihn bejahen oder verneinen, versucht Seh. zum erstenmal eine prinzipielle philosophische Gesamt- kritik an den Grundbegriffen der Spenglerschen Geschichtsphilosophie bezw. Ge- schichtsdeutung. Nur wer sich die Mühe gemacht hat, Spengler wirklich durch- zuarbeiten, wer seine faszinierende und verwirrende Diktion kennt, wird die Leistung der Sch.schen Arbeit zu schätzen wissen. Wenn Seh. den Anspruch er- hebt, eine erschöpfende Kritik, die nicht nur beurteilt, sondern auch versteht, zu geben, so kann das m. E. nur für die Fragestellung und Problemandeutung, nicht aber für die Durchführung gelten. Im Verhältnis zur Größe und Tiefe der ange- schnittenen Probleme ist Sch.s Kritik zu knapp und negativ ausgefallen. Seh. gibt zu, daß die historischen Einzelheiten, das geschichtliche Material, das Spengler für seinen Kulturbegriff und sein schicksalmäßiges Entwicklungs- schema verwendet, auf Schritt und Tritt Fehler und Willkürlichkeiten aufweist. Wenn Seh. auch recht hat, daß alle Anschauungen über solche Einzelheiten nur relativ sind, so hat er doch nicht recht, wenn er meint, daß eine genaue Kritik der Einzelheiten nicht nötig sei, da der Schwerpunkt der Entscheidung von den Prinzipien her zu treffen ist. Die Willkürlichkeiten dieses Materials können Grenzen erreichen, welche die Wissenschaftlichkeit dieser ganzen Geschichts- philosophie in Frage stellen. M. E. wird diese Grenze von Spengler sehr oft er- reicht und überschritten. Wenn es z. B. nicht richtig ist, daß der griechische Geist den Begriff des Unendlichen nicht gekannt hat, so fällt doch die gesamte Geschichtskonstruktion des „faustischen" Abendlandes im Gegensatz zum nur plastisch denkenden Hellenentum. Was bleibt dann übrig ? ... S. 1 1 seiner Schrift stellt Seh. eine Reihe wichtiger Fragen, ob die seelische Zuständlichkeit allen Individuen desselben Kulturkreises gemeinsam ist, ob es Ausnahmen gibt, ob Individuen an- derer Völker und Kulturkreise an dieser seelischen Zuständlichkeit auch teilhaben 13* 196 Besprechungen (Schuck — Bruhn). können. Seh. erledigt sie damit, daß durch sie die eigentlich metaphysische Grund- lage des Kulturbegriffes nicht berührt werde. Und doch ist das der Fall, denn die ganze mögliche Bedeutung und Geltung der Hypothese „Kulturseele" steht und fällt mit der Beantwortung dieser Fragen. Denn wenn diese Kulturseele nicht allen Individuen des Kulturkreises gemeinsam ist, wenn sie hinausreicht in andere Kultursphären, wenn diese Kontinuität Formen erreicht, die den ganzen Sinn des Begriffes qualitativ ändern, was bleibt dann von der ganzen Konzeption noch übrig? Seh. lehnt Spenglers metaphysischen Kulturbegriff ab, weil er will- kürliche Deutungen zuläßt und die Entwicklung in ein Zwangsschema preßt, in das sie nicht gepreßt werden kann. Allerdings glaubt er, daß auch manches für Spengler spricht, so die Erscheinungen der kulturellen Hochblüten, „die sich jeden- falls nicht immer rein kausal erklären lassen", sondern wo wirklich die Herrschaft bestimmter Ideen durchgeführt ist. Zunächst ist diese „Herrschaft bestimmter Ideen" ein recht problematischer Begriff der Geschichtsphilosophie, der noch drin- gend der Klärung bedarf und dann: muß man denn metaphysische Kulturseelen annehmen, wenn man nicht Kausalitätstheoretiker sein will? Seh. selbst erkennt in der eigentlichen philosophischen Kritik, die sich ja von der historischen nur ganz künstlich trennen läßt, daß sich hier das Problem einer historischen Gesetz- mäßigkeit im Gegensatz zur kausalen und biologischen erhebt. Aber an diesem Punkt, wo nun das Positive der Kritik einzusetzen hätte, begnügt sich Seh. mit Aufstellung einer „noetischen" Gesetzmäßigkeit, die nur angedeutet und daher unklar bleibt. Hier hätte eine Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie der Wertphilosophen, mit der ökonomischen Geschichtsauffassung und mit der heutigen Soziologie einsetzen müssen. Ein Gedankensprung Sch.s sei hier kurz noch angemerkt. Seh. tadelt in Spengler mit vollem Recht eine einseitig psy- chologistische Geschichtsauffassung. So Seite 21; Seite 31 kommt dann die plötzliche Behauptung: „Der einseitige erkenntnistheoretische Subjek- tivismus Spenglers ist das Produkt gewisser Formen des Neukantianismus, die in immanenz- und geltungsphilosophischen Einseitigkeiten befangen sind und die Dinge an sich — als vorkantisch — glauben leugnen zu müssen." Es geht doch nicht an, psychologistische Geschichtsauffassung mit erkenntnistheoretischem Sub- jektivismus zu identifizieren, ganz abgesehen davon, daß Erkenntnistheorie die weitaus schwächste Seite Spenglers ist. So wertvoll die kritischen Fragestellungen Seh s im einzelnen sind, die Funda- mentalfrage wird nicht gestellt. Spengler will Weltbildschöpfer sein, will Gesamt- erkenntnis geben, die Zukunft vorausbestimmen. Es ist zu fragen, kann das noch Aufgabe einer Philosophie sein, die Wissenschaft sein will? Wer den transzen- dentalen Grundgedanken des kantischen Kritizismus verstanden hat, wird das ver- neinen müssen. Die kritische Philosophie, die jene metaphysischen Türme haßt, um die gemeiniglich viel Wind ist, steckt sich bescheidenere Ziele, das andere überläßt sie der Kunst, die keine strenge logische Rechenschaftslegung erheischt. Heidelberg. Dr. Emil Kraus. IL Religionsphilosophie. Bruhn, Wilhelm, Dr., Privatdozent an der Universität Kiel, Der Ver- nunftcharakter der Religion. Leipzig. 1921. Verlag von Felix Meiner. 283 Seiten. „Es genügt nicht, daß heutzutage weithin das Interesse an den irrationalen Erlebenstatsächlichkeiten erwacht ist. . . . Vielmehr ist die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß hier ein für den wissenschaftlichen Standpunkt ganz unerhörter Anspruch erhoben wird, den es logisch nachzuprüfen gilt. Besonders die Theo- logie, welche doch in besonderem Maße die rationale Wissenschaft von einem Irrationalen sein will, darf sich nicht daran genügen lassen, das letztere als ihr Schoßkind umherzutragen und sich in seiner Eigenwilligkeit zu sonnen, sondern hat die Pflicht, die Tatsächlichkeit als Anspruch aufzufassen und als Problem dem Logos zur Feststellung des Vernunftcharakters zu überantworten." Besprechungen (Bruhn). 197 Mit diesen Worten hat der Verfasser die Prohlemlage seines Werkes nach meinem Urteil so zutreffend formuliert, daß ich sie voranstelle, obschon sie in seiner Arbeit selbst erst an einer verhältnismäßig recht späten Stelle (S. 163 f.) erscheinen. Die ersten anderthalbhundert Seiten, die dieser Formulierung vorangehen, sind ausgefüllt mit kritikreichen Erörterungen des Wirklichkeits- und des Geltungs- begriffs und der Konstruktion der drei Geltungsreihen des Nurbewußten, des Ueberbewußten und des Auchbewußten. Unter dem Nurbewußten ist das Erlebte, unter dem Ueberbewußten das Normative, unter dem Auchbewußten das mit dem Bewußtsein der Normativität, folglich des transsubjektiven Forderungscharakters Erlebte zu verstehen. Es kann übrigens sein, daß damit die Meinung des Ver- fassers noch nicht ganz zutreffend charakterisiert ist. Aber ich müßte S. 62— 66 ausschreiben, um dem Leser das zur Nachprüfung erforderliche Material vorzu- legen, und würde mich selbst doch nicht deutlicher ausdrücken können, als es so- eben versuchsweise geschehen ist. Vielleicht geht meine Unsicherheit auch darauf zurück, daß hier im Text nicht alles so klar ist, wie es wünschenswert wäre. Gegen die Identifizierung des Normativen mit dem Ueberbewußten würde ich z. B. sehr ernste Bedenken anzumelden haben. Die Analysis der „Geltung des Auchbewußten" führt den Verf. anfangs in die nächste Nähe Frischeisen-Köhlers, dem das Verdienst zugesprochen wird, „das psychologische Erleben Diltheys zu einem kritischen Empirismus des Irrationalen durchgebildet zu haben" (S. 177). Schließlich aber drängen ihn kriti- sche Bedenken (S. 190 ff.), deren Wiedergabe ohne eine eingehende Interpretation des für meine Begriffe recht schwierigen Textes nicht möglich sein würde und daher an dieser Stelle unterbleiben muß, auch über Frischeisen-Köhler hinaus zu folgender Position, die ich im Interesse einer treuen Berichterstattung in des Ver- fassers eigener Formulierung hier einsetze: A) „Das menschliche Bewußtsein, für gewöhnlich in der Knechtschaft der Dinge von Erscheinung sich zu Erscheinung spinnend, erfaßt sich in den Augen- blicken der Selbstbesinnung ohne weiteres als die Dauer im Wechsel, den festen Punkt in der Erscheinungen Flucht" (S. 196). B) Dieses unantastbare „Ichheitsfaktum" ist der wissenschaftlich geltende Beweis dafür: „1. Daß das subjektiv-individuelle Bewußtsein das reale Sein umschließt; und zwar ... als das Transsubjektive, in welchem das schlechthin Unabhängige gegen- über der subjektiven Empirie und damit der gesuchte Halt im Flusse der Er- scheinungen gegeben ist; 2. Daß diese Realität als ein unmittelbarer Besitz in einer irrationalen Be- wußtseinsfunktion des Habens gegeben ist, d.h. nicht als ein Erkennen und Wissen, nicht als Gedanke, Begriff, Postulat oder seelische Zuständlichkeit, son- dern als ein mit dem Bewußtsein auf eine nicht aufzudeckende Weise organisch und innig verbundenes Selbstleben, daher von nicht zu überbietender Unmittelbar- keit und Gewißheit. 3. ... Auch das Erleben des Schönen, des Sittengesetzes und der Gottheit beansprucht die Geltung einer transsubjektiven Realität. ... Da nun einer dieser Inhalte, nämlich das Ichbewußtsein, seinen Realitätscharakter erwiesen hat, so folgt daraus, daß auch die Realität der anderen für wissenschaftlich erwiesen gelten muß, sofern diese die gleichen Kriterien der Irrationalität und Unmittelbar- keit aufzuweisen haben. Damit ist das Erlebnis des Künstlers, des Sittlichen, des Frommen wissenschaftlich unterbaut" (S. 249 f.). Was insbesondere die Religion betrifft, so befindet sie sich, „sofern sie nichts anderes sein will, als eine bestimmte seelische Form des Realerlebens, in Ueber- einstimmung mit der Wissenschaft, und ihre subjektive Gewißheit hat objektive Geltung zu beanspruchen. Damit ist der Vernunftcharakter der Reli- gion erwiesen" (S. 259). Das ist er unstreitig, wenn anders der Glaube an das bewußtseinsunabhän- gige Dasein der Substrate gewisser Erlebnisinhalte ein Vernunftglaube ist, und — wenn die Religion so anspruchslos wird, sich als eine bestimmte seelische Form des Realerlebens charakterisieren zu lassen. Vielleicht hängt es mit meiner theo- 198 Besprechungen (Bruhn — Scholz). logischen Herkunft, vielleicht mit einem andern Vorurteil zusammen, daß es mir nicht gelingen will, die wirkliche Religion, die so anspruchsvoll ist, daß sie den Menschen mit unerbittlicher Strenge vor die Gottesfrage stellt, in dieser Cha- rakteristik wiederzuerkennen. Aber darin irre ich wohl nicht, daß es unmöglich ist, die Religion mit dem Verfasser der vorliegenden Untersuchung in einem Atemzuge als ein Gott- haben und — für das wissenschaftliche Urteil — als eine bestimmte seelische Form des Realerlebens zu charakterisieren. Es muß vielmehr unter allen Um- ständen heißen: Religion, im Licht der Erkenntnis gesehen und an den Maß- stäben empirischer Existentialurteile gemessen, ein Wirklichkeitsbewußtsein von transzendentem Inhalt, folglich von größter Fragwürdigkeit. Dann aber ist ihr Vernunftcharakter jedenfalls nicht auf einem Wege erweisbar, dessen Be- weiskraft darauf beruht, daß an der entscheidenden Stelle der Transzendenz- charakter gestrichen und die ihm kategorisch unterworfene Religion zu einer neutralisierten seelischen Form des Realerlebens herabgestimmt wird. Auch ist mir nicht recht klar geworden, warum der Verfasser für diesen Beweis noch einen besonderen Unterbau in Gestalt einer schwer zu durch- schauenden Lehre von der Konstanz des Ich geliefert hat. Ich bin geneigt, diesen Unterbau auch deshalb für entbehrlich zu halten, weil es mir nicht gelungen ist, mit der Idee eines Ich, das sich selbst in seiner Konstanz als etwas Transsubjek- tives erlebt, einen bestimmten Begriff zu verbinden. Endlich möchte ich nicht verschweigen, daß ich mir bei dem Geltungs- charakter des Wirklichen, von dem in diesem Buch unablässig die Rede ist, auch nichts Bestimmtes zu denken vermag. Geltung ist etwas, was den Urteilen zu- kommt und mit ihrem Wahrsein zusammenfällt. Was Geltung sonst noch be- deuten könnte, und was insbesondere dem Wirklichen widerfährt, dadurch daß ihm eine bestimmte Geltung oder ein besonderer Geltungscharakter zugeschrieben wird, scheint mir noch immer so dunkel zu sein, daß ich diesen Begriff lieber gar nicht gebrauchen, als an einer Stelle verwenden würde, wo deutliche Begriffe am nötigsten sind. Kiel. Heinrich Scholz. Scholz, Heinrich, o. ö. Professor a. d. Universität Kiel, Der Unsterb- lichkeitsgedanke als philosophischesProblem. Berlin. 1920. Reuther und Reichard. 96 S. Bewußt den Namen eines Metaphysikers nicht fürchtend, rührt der Ver- fasser an jenen dunkeln Vorhang, der uns die Aussicht über das Grab hinaus verschließt. Der Tod, allen Positivisten, Materialisten und ihren Geistesverwandten eine gleichgültige Sache oder höchstens ein Aergernis, wird ihm zum Problem, und mit kritischer Wage prüft er die Versuche, die vor ihm unternommen sind, den Tod, das scheinbar Negativste, umzuwerten in ein Positives. Auf Grund um- fassender Belesenheit stellt Scholz mit vollendeter Klarheit die einzelnen Lösungen einander gegenüber, alle Möglichkeiten abwägend, um sich zuletzt jener Meinung anzuschließen, die im Tode nicht einen Untergang, sondern einen üebergang zu höheren Lebensformen von unsichtbarer, aber persönlicher Beschaffenheit sieht, so daß jenseits der Grabesnacht der Morgenstern der Unsterblichkeit aufleuchtet. Nachdem in kurzem Kapitel Piatons Begründung und Kants Kritik der Unsterb- lichkeitsbeweise besprochen sind, erörtert der Verfasser wieder in trefflicher Nebeneinanderstellung die Umformungen, die der Unsterblichkeitsgedanke in alter und neuer Zeit gefunden hat. Besonders wertvoll erscheint mir die Erörterung des Begriffs des Ewigen Lebens. Im Schlußabsatz endlich spricht Scholz über die Grundlagen und den Ge- halt des Unsterblichkeitsglaubens, hier seine persönliche Stellung offenbarend. Er bezeichnet sein Verfahren als ein „argumentierendes" Denken, das er zwar vom „demonstrierenden" der exakten Wissenschaft unterscheidet, darum jedoch keines- wegs als „phantasierend" angesprochen wissen will. So geht er eingestandener- maßen nicht auf Unsterblichkeitsbeweise, sondern nur auf Begründungen des Unsterblichkeitsglaubens aus. Und zwar findet er dessen Grundlagen in dem Besprechungen (Scholz — Enckendorff). 199 Erlebnis der Unzerstörbarkeit des Geistes und der Kraft und ferner in sekun- dären Motiven wie dem Glauben an eine sittliche Weltordnung, an einen Sinn der Geschichte, dem Gedanken der Vollendung. Scholz schließt damit, daß der Un- sterblichkeitsglaube in dem Sinne, in dem er philosophisches Problem werden kann, der auf den Erlebnissen und Spekulationen hochstehender und hochgesinnter Menschen auf ruhende Glaube an die Ewigkeit des persönlichen Geistes sei. Das Büchlein ist wertvoll und klärend, selbst wenn man, wie ich selbst, der Meinung ist, daß der hier vorausgesetzte Begriff der Persönlichkeit oder der In- dividualität zunächst seinerseits als Problem gefaßt werden müßte. Das schließt aber nicht aus, daß man innerhalb des gezogenen Rahmens mit Vergnügen den lichtvollen Erörterungen des Verfassers folgt, die in seiner kürlich erschienenen wertvollen „Religionsphilosophie" noch bedeutsame Ergänzungen finden. |Berlin-Halensee. Richard Müller-Freienfels. Enckendorff, Marie Luise, Ueber das Religiöse. München und Leipzig, 1919. Verlag von Duncker & Humblot. 180 Seiten. Das Buch handelt, wie schon der Titel vermuten läßt, nicht von den ver- schiedenen Religionen sondern von der Religion. Das ersteKapitel behandelt das Wesen der Religion im engeren Sinne. Vf. erblickt es in einer spezifischen inneren Haltung, die ein Urphänomen ist und daher nicht weiter zergliedert, son- dern auf die nur hingewiesen und die nur angedeutet oder durch Vergleiche und Gegenüberstellungen gekennzeichnet werden kann. Die entwickelte Auffassung stimmt wesentlich überein mit derjenigen Ottos in seinem Buch über „das Heilige" : in der religiösen Verfassung läßt der Mensch die Erfahrungswelt vollständig hinter sich und steht einem unbedingt Ueberlegenen und Erhabenen gegenüber mit Gefühlen im Sinne der eigenen Nichtigkeit, des Grauens und der unbedingten Unterwerfung und Verehrung. Daneben klingt eine andere Gedankenreihe an, bei der man an das erste Kapitel in Simmeis hinterlassenem Werk „Lebensanschauung (vier metaphysische Kapitel)" denken mag: in der religiösen Verfassung bewegt sich der Mensch ganz und gar in jener spezifischen Welt des Geistes (Erhebungs- welt), die der Welt der Nützlichkeit (Anpassungswelt) gegenüber, auf die das animalische Leben beschränkt ist, eine spezifische Eigenschaft des Menschen aus- macht. Von dieser „echten Religion" ist für unsere Auffassung streng zu unter- scheiden eine „unechte Religion": bei dieser dringt in die höhere Welt wieder die niedere Welt mit ihren Nützlichkeitsinteressen ein und sucht das Göttliche in den Dienst menschlicher Zwecke zu ziehen und wendet überhaupt die Vorstellungen der Erfahrungswelt auf das Göttliche an. Beide Formen der Religion sind jedoch nur dem Wesen nach zu scheiden; in der Wirklichkeit des religiösen Lebens vermengen sie sich unentwirrbar. Das zweiteKapitel behandelt den tiefen Unterschied zwischen dem reli- giösen Erlebnis und seinem Niederschlag im Dogma, oder anders ausgedrückt zwischen dem religiösen Erlebnis und seiner Rationalisierung. Freiheit z. B. als religiöses Erlebnis (bekanntlich auch als Erlebnis schlechtweg, d. h. auch abge- sehen vom religiösen Einschlag) ist etwas ganz anderes als das metaphysische Dogma vom freien Willen. Ebenso ist es mit der Allmacht Gottes: „Macht, All- mächtigkeit ist Macht über vorhandene Potenzen. Allmächtigkeit ist Allmächtig- keit über . . . Allmächtigkeit schlechthin ohne jenes „über" . . . hebt sich auf, kann nicht gedacht werden. Man kann sie ins Absolute nicht transponieren . . . die absolute Kausalität ist nicht Allmacht. Sie aber wird gefolgert aus dem reli- giösen Erlebnis Allmacht" (S. 46) ... „es ist kein Gesetz, daß das, was wir sind und erleben . . . logisch einwandfrei ausgedrückt werden müßte. — Die Schwierig- keiten der Theodizee fallen hierunter" (S. 48). (Zu den letzten Beispielen ist frei- lich zu bemerken, daß die Unmöglichkeit einer Theodizee wesentlich auch aus Tat- beständen herrührt, die die älteren Weltanschauungen im allgemeinen nicht be- achtet und nicht gewürdigt haben). Alle derartigen theoretisch-metaphysischen Fragen, sagt Vf. mit Recht (S. 49), sind keine religiösen Fragen : „Sie sind Fragen des religiösen Menschen, insoweit er nicht religiös ist." Bei den religiösen Erleb- nissen selbst handelt es sich um unbestreitbare Tatsachen, bei ihren rationalen 200 Besprechungen (Enckendorff). Objektivierungen dagegen um Lehren mit unauflöslichen Widersprüchen. Ein tiefer Sinn und Gehalt kommt nur in der ersten Reihe zum Ausdruck, während die zweite Reihe durchweg Trugprobleme gezeitigt hat. Den neueren psycholo- gischen Anschauungen gemäß könnte man hier auch von einem Gegensatz sprechen zwischen Tiefengebilden und ihrem oberflächenhaften rationalen Ueberbau; und es ist charakteristisch für unsere Zeit, daß das Verständnis für jene Tiefengebilde selbst zum großen Teil bei uns verschüttet ist. Das dritte Kapitel handelt vom Christentum: es übt Kritik an den empirischen christlichen Religionen oder Kirchen und deckt deren Gebrochenheit auf. Der Gott des Christentums ist weitabgewandt und läßt die sinnlich-irdische Seite des Lebens in der religiösen Welt nicht zu ihrem Rechte kommen. Das Christentum hat nicht vermocht, dieses Gebiet des Lebens zu vergöttlichen. Ent- weder kommt es überhaupt nicht zu seinem Rechte oder es sucht sich selbst sein Recht in naturalistischer Weise auf Kosten der Religion. Stellenweise hat Vf. er- greifende Wendungen für diesen Gedanken gefunden. So S. 103. „Es schien er- reicht, daß der Mensch mit dem Scheitel die Sterne berührte. Allerdings: sowie er mit Füßen die Erde wieder berühren wollte, reichte er nicht mehr hinauf, sondern war nur auf der Erde, vom Himmel abgetrennt, wie er dort von der Erde abgetrennt war. Uns fehlt immer noch der Gott, der uns auf Erden gründet und im Himmel hält." Im ganzen aber bewegt sich das Kapitel in Wiederholungen, die teilweise auch stilistisch nicht einwandfrei ausgefallen sind. Am schwächsten ist wohl das letzte Kapitel geraten. Es handelt vom religionslosen Leben der Gegenwart, indem es Kritik übt am Utilitarismus und Po- sitivismus und deren innere Unmöglichkeit aufdecken will. Stellenweise schlägt die Verfasserin auch hier ergreifende Töne an. „In der menschlichen Art liegt es, daß er seine gerade menschlichen Fähigkeiten gebrauchen kann zu einer bloßen Parodie auf das Animalische. Der Mensch kann sich dem Gestrudel seiner Triebe überlassen und das Sichereignen mit Reflexion begleiten . . . und hat der Mensch es gar zu einem Maße von Geistigkeit gebracht und kann er sich dennoch nicht festhalten, ... so übergießt seine Geistigkeit diesen Prozeß mit einem Schimmer, der ihn zehnfach schauerlich, zehnfach demütigend macht. . . . Die Feinheiten der Kultur, die die feinsten Schleier zieht, begleiten den Menschen grotesk und scheuß- lich auf dem Abwärtswege" (S. 120). — „Jene Unterscheidung von den Vielen und den Wenigen ist das hochmütigste und gedankenloseste Wort. . . . Die massa perditionis ist in Jedem von uns — die Sinnlosigkeit. . . . Jeder Mensch ist nur die Möglichkeit zu einem Menschen und die Möglichkeit wird nur in Augenblicken zur Wirklichkeit. Nach diesen Augenblicken zählt der Mensch" (S. 138). Im ganzen ermüdet das Kapitel aber durch seine fortgesetzten Wiederholungen, und man vermißt hier besonders jede Fühlung mit der vorhandenen Literatur. Wer dächte z. B. bei der eben zuerst angeführten Stelle nicht an die bekannte Unterscheidung von Kultur und Zivilisation? Die Form der Darstellung fordert zur Kritik heraus. Der Stil ist an vielen Stellen nachlässig. Häufig sind Einwortsätze, gleichsam bloße Ueber- schriften. An vielen Stellen hat der Stil einen halblyrischen Charakter; stellen- weise fällt er auch in den Ton der Predigt. Die Darstellung bewegt sich oft in einer Reihe von Wiederholungen eines Gedankens, die äußerlich an musikalische Variationen erinnern, aber ohne deren Gehalt und Berechtigung zu besitzen. Sie ist auch gesättigt mit biblischen Reminiszenzen. Dazwischen tauchen lange Aus- züge aus religionsgeschichtlichen Werken auf. Was den Inhalt anbetrifft, so ist von einer planmäßigen Entwicklung der Gedanken, einer geordneten Disposition nirgend die Rede. Erst recht fehlt, wie schon angedeutet, jede Stellungnahme zu der vorhandenen Literatur. Man möge das Buch einmal mit Ottos Buch über „das Heilige" vergleichen, das zum Teil denselben Gegenstand behandelt, um den Unterschied zwischen einer planmäßigen wissenschaftlichen Darstellung und ihrem Gegenteil voll zu würdigen. Man hat den Eindruck, daß hier eine erste Nieder- »chrift von aufgetauchten Gedanken (die Verfasserin hat wirklich Gedanken), Ge- fühlsergüssen und Auszügen vorliegt, die dann unbearbeitet zum Verleger ge- wandert ist. Wer aber über so viel Tiefe und Innerlichkeit verfügt, wie sie aus Besprechungen (Enckendorff— Steffes). 201 diesem Buche spricht, bei dem darf man wohl auch die Fähigkeit voraussetzen, seine Gefühle und Gedanken klar zu gestalten, so wie dies nicht nur jeder Ge- lehrte, sondern auch jeder echte Künstler vollbringt. Berlin. Alfred Vier k an dt. Steffes, J. P., Dr. theol. et phil., Privatdozent an der Universität Münster, Eduard von Hartmanns Religionsphilosophie des Unbewußten. Auf der Grundlage seiner induktiven Metaphysik dargestellt und kritisch ge- würdigt. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen theistischer und monisti- scher Weltanschauung. Mit Druckerlaubnis des hochwürdigsten Herrn Bischofs von Rottenburg. Mergentheim. 1921. Karl Ohlingers Verlag. XII und 575 Seiten. SO Mark. Das Werk behandelt zunächst dieerkenntnistheoretischenVoraus- setzungen, dann — weit ausführlicher — die induktive Metaphysik Hartmanns als Grundlage seiner Religionsphilosophie, endlich diese Religions- philosophie nach ihrem historischen und systematischen Teil. Der letz- tere gliedert sich wieder in Religionspsychologie, Religionsmetaphysik und Reli- gionsethik. Die Gliederung des gewaltigen Stoffes ist sachlich zutreffend, klar und über- sichtlich; die Darstellung schlicht, verständlich1) und nüchtern. Schreibt schon Hartmann im allgemeinen einen trockenen Gelehrtenstil, so kann man sich denken, daß diese möglichst knappe Wiedergabe seiner Gedanken oft an die Ausdauer des Lesers hohe Anforderungen stellt. Obwohl der Verfasser sichtlich bemüht ist, sich möglichst knapp und präg- nant auszudrücken, hat sein Werk doch recht erheblichen Umfang gewonnen, weil er mit einem wahrhaft rührenden Eifer aus dem außerordentlich reichen Schrift- tum Hartmanns das Einschlägige zusammengetragen hat, und weil er Schritt für Schritt auf die Darstellung immer die Kritik folgen läßt. So steckt unendlich viel Gelehrtenfleiß in dem Werke. Dazu bekennt der Verfasser in der Vorrede, er habe die Drucklegung „unter Einsatz schwerster persönlicher Opfer" durchgeführt. Mir drängt sich angesichts des Werkes die Frage auf: sind wirklich alle diese Opfer an Mühe, Zeit und Geld ausreichend begründet? Ist wirklich Hart- manns Religionsmetaphysik ihrem Gehalt nach oder durch ihre Wirkungen so be- deutend, daß es sich für einen Vertreter der katholischen Weltanschauung der Mühe lohnte, sich heute noch so ausführlich mit ihm abzugeben, nachdem sich schon — abgesehen von anderen — Hermann Schell eingehend mit ihm ausein- ander gesetzt hatte! Wollte man aber schon eine Erneuerung dieser (freilich sehr einseitigen) Diskussion, so hätte doch wohl bei dem systematischen Charakter von Hartmanns Denken eine Darstellung und kritische Zerstörung der erkenntnistheoretischen und metaphysischen Fundamente des ganzen Baues seiner Religionsphilosophie genügt, um das Gebäude zum Einsturz zu bringen. Daß wir durch alle Stockwerke und Zimmer ausnahmslos hindurchgeführt werden und daß uns immer wieder gesagt wird, was darin sich befindet und was daran sich aussetzen läßt, das erscheint wirklich entbehrlich. Aber vielleicht erklärt sich das übergroße Interesse der Vertreter der neu- scholastischen Philosophie für Hartmann durch das Gefühl der -— trotz aller Ver- schiedenheit — bestehenden nahen Verwandtschaft. Daß Steffes Hartmanns erkenntnistheoretischem Standpunkt die Bezeichnung des „kritischen Realismus" verweigert, scheint mir sachlich nicht ausreichend be- gründet. Denn wenn auch Hartmann seinen Standpunkt selbst als „transzendentalen" Realismus bezeichnet, so scheint mir doch dafür auch der Name des kritischen Realismus gleich gut zu passen2). 1) Nur bisweilen wird durch das Streben nach Kürze die Verständlichkeit etwas gefährdet. 2) Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die vortreffliche Monographie von Martin Schmidt, „Die Behandlung des erkenntnistheoretischen Idealismus 202 Besprechungen (Steffes — Fichte). Wenn ich nun aber auch diesem kritischen oder transzendentalen Realismus grundsätzlich zustimme1), so vermag ich doch nicht die Zuversicht zu teilen, mit der Ed. v. Hartmann nicht minder wie sein Kritiker Steffes die metaphysischen Probleme, insbesondere die Fragen nach dem Dasein und dem Wesen Gottes und seinem Verhältnis zu der Welt, mit Bestimmtheit zu entscheiden in Anspruch nehmen. Steffes kommt dabei freilich zu ganz anderen Ergebnissen als Hartmann ; seine Polemik ist immer sachlich, aber er hat insofern leichtes Spiel, als sein Gegner tot ist. Lebte er noch, so würde der scharfsinnige und gewandte Dialek- tiker wohl seinem Kritiker nicht die Wahlstatt überlassen. Wir haben hier jenen „Kampfplatz" vor uns, von dem Kant witzig bemerkt, daß daselbst „jeder Teil die Oberhand behält, der die Erlaubnis hat, den Angriff zu tun und derjenige gewiß unterliegt, der bloß verteidigungsweise zu verfahren genötigt ist. Daher auch richtige Ritter, sie mögen sich für die gute oder schlimme Sache verbürgen, sicher sind, den Siegerkranz davon zu tragen, wenn sie nur da- für sorgen, daß sie den letzten Angriff zu tun das Vorrecht haben und nicht ver- bunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten" (Kritik d. r. V. Reclam 351). Wenn wir so mit Kant gegenüber jenen endlosen metaphysischen Streitig- keiten kritische Zurückhaltung uns auferlegen, so können wir freilich uns auch Kants Lösung, den Vernunftglauben in Gestalt der „Postulate", nicht zu eigen machen. Aber wir müssen diese Lehre Kants doch in Schutz nehmen gegenüber der Verkennung, die ihr bei Steffes begegnet. Dieser schreibt (S. 4): „Religion und Wissenschaft können nach kantischer Auffassung in schärfster Form kon- trastieren. Von der Religion darf indes nie die Wahrheitsfrage abgetrennt, nie ihr Anspruch auf absolute Geltung mit bloßer Probabilität unterbaut werden." Es ist unverständlich, wie Steffes diese Behauptung aufstellen kann, da er doch gerade vorher (S. 3) zutreffend bemerkt hat, daß Kant „die sichere wissen- schaftliche Erkenntnis auf das Gebiet der Erfahrung eingeengt und damit einer transzendenten Metaphysik den Boden entzogen habe." Eben dadurch, daß er das metaphysische Schein-„Wissen" „aufhob", hat er doch „für den Glauben Platz bekommen" und dafür gesorgt, daß Wissen und Glauben nicht „kontrastieren" können. Solchen Widerstreit zu verhüten, dient endlich noch die Lehre vom Primat der praktischen Vernunft (Kr. d. pr. V. Reclam 146). Indem aber Kant seine Glaubenssätze als „Postulate" bezeichnet, hat er nicht den Anspruch auf Wahrheit und absolute Geltung für sie aufgegeben, nicht sich mit „bloßer Probabilität" begnügt. Er definiert seinen Begriff des „Postulats der reinen praktischen Vernunft" als „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Ge- setze unzertrennlich anhängt" (Kr. d. r. V. S. 14). Als theoretische Sätze wollen die Postulate natürlich gültig, d. h. wahr sein, und sofern sie a priori geltenden Gesetzen „unzertrennlich" anhangen, kommt ihnen nach Kant deren absolute Geltung und nicht bloß „Probabilität" zu. Gießen. August Messer. III. Rechtsphilosophie und Staatsphilosophie. Fichte, Jon. Gottl., Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Mi- chaelis 1812. Nach der Handschrift herausgegeben von Hans Schulz. Verlag von Felix Meiner in Leipzig. 1920. VI, 176 S. Geh. 8 Mk., geb. 12 Mk. Die Rechtslehre 1812 ist für die Entwicklung der Fichteschen Gedanken- welt besonders wichtig (vergl. Medicus, Zeitschr. f. Völkerrecht Bd. 11). Sie war bisher nur im Erstdruck im zweiten Band der Nachlaßschriften (1834) zugäng- lich. Dort hat J. H. Fichte eine Textbearbeitung auf Grund der Kolleghand- bei Ed. v. Hartmann" (Berlin 1918. Ergänzungsheft der Kantstudien Nr. 43). Sie ist leider, wie es scheint, Steffes unbekannt geblieben. 1) Vgl. meine „Einführung in die Erkenntnistheorie". 2. Aufl. Leipzig 1921. Meiner. Besprechungen (Fichte— Bendix). 203 schrift seines Vaters veröffentlicht. Die Neuausgabe von Schulz geht auf die im Berliner Nachlaß befindliche Originalhandschrift zurück, die alles andere, als einen druckreifen Text bietet. J. G. Fichte hat nach seiner Gewohnheit bei der Vorbereitung für das Kolleg Stichworte, Satzfragmente und Hinweise auf sein gedrucktes „Naturrecht" notiert. Aus diesen fragmentarischen Aufzeich- nungen schuf der Sohn seine Textbearbeitung. Schulz hat sie abgedruckt, um eine fortlaufende Lektüre zu ermöglichen, dabei aber durch ein genaues Zeichen- system den Urtext der Handschrift kenntlich gemacht, sodaß der Leser jeder- zeit in der Lage ist, die zuweilen eine Interpretation bedeutende stilistische Bearbeitung des Sohnes am Urtexte nachzuprüfen. Ungenaue Lesungen des Sohnes, unleserliche Worte, die genaue ursprüngliche Einteilung der Hand- schrift und solche Stellen der Bearbeitung von J. H. F., die auf dem gedruckten Naturrecht beruhen, hat Schulz in einem sorgfältigen Variantenapparat kennt- lich gemacht. Die Neuausgabe zeigt die große Dringlichkeit und Schwierigkeit einer Revision aller von J. H. F. edierten Schriften und ist eine wichtige Vor- arbeit für eine Gesamtausgabe. — Das Register ist hinsichtlich der philo- sophischen Fachausdrücke etwas lückenhaft. Merseburg a. S. Siegfried Berger. Dokumente der Menschlichkeit, Band 1: Joh. G. Fichte, Die Re- publik der Deutschen. Band 2: Thomas Morus, Utopia. Band 3: Jo- nathan Swift, Attacken. Band 4: Jean Paul, Friedenspredigt. Band 5: J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag. Band 6: Thomas Campa- nella, Der Sonnenstaat. Band 7: Imm. Kant, Zum ewigen Frieden. Band 8: Joh. G. Fichte, Neue Welt. Band 9: W. v. Humboldt, Die Grenzen des Staates. Band 10: Louis Blanc, Organisation der Ar- beit. München, Wien, Zürich. 1919. Dreiländerverlag. Die Sammlung bietet eine geschickt ausgewählte Zusammenstellung von kurzen Auszügen aus Schriften, die für das geschichtliche und philosophische Verständnis moderner sozialistischer Ideen von Bedeutung sind. Es ist ja durch- aus notwendig, gerade die philosophischen Grundlagen des Sozialismus kritisch zu prüfen und die mancherlei Fäden bloßzulegen, die von der Philosophie aus zu sozialistischen Lehren geführt haben. Die Herausgeber der vorliegenden Bändchen haben ihre Auswahl großenteils recht sachkundig getroffen. Sie lassen mit Recht die Autoren selbst zu Wort kommen und geben nur jeweils in einem kurzen Nachwort einige, meist sachliche Bemerkungen, in denen sich nur ge- legentlich ihre eigene sozialistische Tendenz verrät. Fichte wird als glühender „Revolutionär", als „Führer des Sozialismus" gepriesen, eine Auffassung, die bei schärferer philosophischer Bestimmung von Fichtes Lehren 'doch nicht stand- hält. Aus Kant sind in Bd. 7 nicht nur Stücke aus dem Traktat zum ewigen Frieden abgedruckt, sondern auch Abschnitte ethischen Inhalts aus anderen Schriften (so die berühmte Apostrophe an die Pflicht und der Schlußabschnitt aus der Kr. d. pr. V.). Von W. von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", werden in Band 9 die drei ersten Kapitel gegeben. Man sieht aus der ganzen Reihe der ausgewählten Schriftsteller jedenfalls, daß die Sammlung erfreulicherweise nicht eng im Rahmen sozialistischer Theorie gehalten ist. Die dünnen Bändchen sind zur einführenden Orientierung über Staats- und sozialphilosophische Ansichten durch- aus brauchbar. Greifs wald. Privatdozent Dr. Willy Moog. Bendix, Ludwig, Dr. jur., Die Neuordnung des Strafverfahrens. Berlin und Leipzig. 1921. Verlag von Dr. Walter Rotschild. 400 Seiten. Unter obigem Titel mit dem Untertitel: „Gegenvorschläge zu den drei Regierungsvorlagen von 1920" hat Dr. Bendix ein Buch erscheinen lassen, für das eine rechtsphilosophische Besprechung durchaus erforderlich erscheint. Denn es sind philosophische Grundsätze, auf die der Verfasser seine Kritik gründet und seine Gegenvorschläge aufbaut. 204 Besprechungen (Bendix). In einer kurzen einleitenden Erörterung über „die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Rechtsfindung und die Strafprozeßreform4' werden die Voraus- setzungen angedeutet, deren anschauliche Erfüllung die Einzelbehandlung der GeselzesvorBchläge ergibt. Die naiv-realistische Voraussetzung des rechtlichen Erkenntnisvorganges wird einer scharfen und überzeugenden Kritik unterworfen. Es gibt keine eindeutigen Tatsachen. Das Ding — auch als rechtlicher Tat- bestand — ist in seinem An-Sich unerfaßbar, es ist eine Aufgabe der Rechts- findung, die gemeinsam von den Parteien zu lösen ist, aber keine Wirklichkeit, die abgesehen von dem Rechtsverfahren Bestand hätte. Dieser Gedanke, der zunächst ganz neukantisch klingt, ist von prinzipieller Bedeutsamkeit, gerade weil er über die neukantische Stellung hinausführt. Mag es in der Sphäre des Theoretischen angängig sein, das An-Sich in die Unend- lichkeit der Erkenntnisaufgabe aufzulösen, in der Sphäre des kulturellen Lebens ist das jedenfalls nicht möglich; denn hier handelt es sich darum, Lebenswirk- lichkeiten zu schaffen, die ihrem Sinne nach abgeschlossen sind. Eine rechts- gültige strafrichterliche Entscheidung schafft für den Betroffenen und für die Gesellschaft eine Realität, für die der Gedanke unendlicher Annäherung an eine ideale Richtigkeit völlig bedeutungslos ist. Ein solcher Gedanke würde höch- stens zum Stachel werden, der zu immer neuen Verfahren, zum Zweck größerer Annäherung an das Ideal treiben und eine gesellschaftliche und psychische Be- ruhigung, einen Rechtsfrieden, nie eintreten lassen würde, d. h. aber, der voraus- gesetzte Gedanke der unendlichen Annäherung wäre genau so lebensunmöglich, wie der naive Realismus denkunmöglich ist. Die Relativität jeder richterlichen Entscheidung kann also nicht dieses bedeuten, daß die Entscheidung einer idealen Richtigkeit gegenüber unvoll- kommen, mehr oder minder angenähert ist, sondern sie muß etwas völlig an- deres, durchaus Positives besagen. Relativität ist kein quantitativer, sondern ein qualitativer Begriff. Die Rechtsentscheidung ist eine freie Schöpfung des Richters, und ihre Gültigkeit beruht auf der Leben schaffenden Kraft, mit der sie in überzeugender Weise den Rechtsunfrieden in Rechtsfrieden verwandelt. Daß sie diese Kraft nur haben kann, weil in die irrational-konkrete Lebendig- keit des einzelnen Falles zugleich die rational-abstrakte Geltung des allgemeinen Rechtsbewußtseins, wie es in dem Gesetz niedergelegt ist, eingegangen ist, ist selbstverständlich und unterscheidet Schöpfung von Willkür. Aber eben das ist das Entscheidende, daß diese rational-abstrakten Elemente nicht selbständig sind und aus einer unantastbaren Lebensjen seitigkeit das Leben vergewaltigen. Darin unterscheidet sich Schöpfung von Mechanismus. Die Kürze der erkenntnistheoretischen Grundlegung hindert im Buche ein näheres Eingehen auf diese Probleme. Daß aber die hier gegebene Deutung dem Sinne des Verfassers gemäß ist, dafür spricht seine Einführung des Stand- punktbegriffs und sein Hinweis auf die Art, wie der Verfasser dieser Zeilen diesen Begriff in dem Vortrag Nr. 24 der Kantgesellschaft über „die Idee einer Theologie der Kultur" eingeführt hat. In der Theologie, sofern sie als norma- tive Religionsphilosophie betrachtet wird, wie überhaupt in jeder normativen Kulturwissenschaft liegen die Dinge ganz analog. Die Normierung ist weder Willkür noch Deduktion. Sie ist eine eigentümliche Einheit von rationalen Denk- und irrationalen Lebenselementen, die wir „Schöpfung" nennen, weil sie das Seinshafte, das in sich Wahre und Ueberzeugende des Lebendigen hat. Die Bendixsche Auffassung der Rechtsfindung führt also über die Erkenntnistheorie hinaus zu einem höchst bedeutsamen Begriff der Kulturphilosophie. Die Strafprozeßreform selbst wird von Bendix in den umfassenden Rahmen staatspolitischer Gedankengänge hineingestellt. Von philosophischem Interesse ist dabei, wie er die „obrigkeitliche", staatsautoritative Auffassung in direkten Zusammenhang bringt mit der abstrakt-rationalistischen Deutung der Rechts- tatsachen, und umgekehrt die volksstaatliche Auffassung mit dem lebendig schöpferischen Sinn der Rechtsfindung. Zu beanstanden ist nur, wenn die erste Richtung als „Mittelalter" bezeichnet wird. Es entspricht das ja der allge- meinen, noch immer herrschenden Auffassung des Mittelalters. Wer aber mit Bendix im besten Sinne des Mittelalters die Uebernahme der wichtigsten Rechts- Besprechungen (Bendix — Brinkmann). 205 funktionen durch Verbände und Kommunen verlangt, darf das aufklärerische Scheltwort nicht mitsprechen. Was er bekämpft, ist ja nicht Mittelalter, son- dern der aus der Auflösung des Mittelalters sich entwickelnde abstrakte Ab- solutismus von Kirche, Staat, Kabinett, Beamtentum, Militär usw., die Zeit der Abstraktion, Zentralisation und Mechanisierung, die unmittelbar in die rationale Aufklärung überging und erst durch die Entstehung der liberalen Idee — in- folge Scheiterns des Staatsabsolutismus in der englischen ^Revolution — einge- schränkt wurde. Es wäre wünschenswert, daß auch die strafprozeßlichen Pro- bleme einmal in den Zusammenhang dieser geschichtsphilosophischen Betrachtung gestellt würden; es würden dann viele Forderungen der Gegenwart in positi- verem Verhältnis zur Vergangenheit erscheinen, als es jetzt vielfach der Fall ist. Und das ist überzeugender als die bloße Antithese. Auf die Einzelforderungen, in denen die Konsequenzen der philosophischen Grundstellung gezogen werden, können wir nicht eingehen. Nicht Forderungen an sich, wie Wählbarkeit der Eichter, Gleichstellung von Berufs- und Laien- richtern (rationales und irrationales Element), radikale Durchführung der Auf- fassung des Strafprozesses als Parteiprozeß, Beschränkung der staatsanwalt- lichen Kechte, wenn möglich ihr Wegfall überhaupt, Erweiterung der Privat- klage, Beteiligung der Laienrichter bei der Eechtsrügeinstanz usw., nicht diese z. T. ganz neuen, z. T. auch sonst erhobenen Forderungen machen in erster Linie die Bedeutsamkeit des Buches aus, sondern der strenge Zusammenhang, in dem sie mit dem philosophischen Grundproblem stehen; und es wäre ein vorläufiger großer Erfolg, wenn die Gegner der Forderungen sich überhaupt ein- mal in die Arena der grundsätzlichen philosophischen Debatte dieser Probleme begeben würden. Berlin. Privatdozent Dr. P. Till ich. Brinkmann, Carl, Dr., Professor an der Universität Berlin, Versuch einer Gesellschaftswissenschaft. München und Leipzig. 1919. Verlag von Duncker & Humblot. 138 S. Die Studie, die durch eine ausgesprochene stilistische Eleganz gekenn- zeichnet ist, behandelt auf einem bestimmten Arbeitsgebiet das, was man philo- sophisch das Problem des Konkreten nennt. Ausschließlich mit den philoso- phischen Grundlagen der vorliegenden Schrift haben wir im folgenden zu tun. Brinkmann sucht den Weg zu dem konkreten Gebilde, das zwischen Indi- viduum und Staat liegt, historisch formuliert: den Weg zwischen deutscher und westeuropäischer Soziologie. Das „gesellschaftliche Kontinuum", heute „bei uns fast zum subjektivsten aller wissenschaftlichen Arbeitsbegriffe geworden", soll zur Bestimmtheit gebracht werden. Hier wären nun zwei verschiedene Wege möglich. Es kann der Begriff der Gesellschaft erörtert und systematisch ab- gegrenzt, oder der Inhalt des Individuum und Staat vermittelnden „Zwischen- gebiets" geordnet angegeben werden. Brinkmann zieht es mehr zur inhaltlichen Beschreibung als philosophischen Ergründung. Seine Handhabung der Beispiele erinnert manchmal an Simmel, für den Brinkmann gegen den der Tendenz nach zu „philosophischen" Othmar Spann Partei nimmt. Die Soziologie steht nach Brinkmann zwischen der Philosophie und der besonderen Erfahrung. Sie liefert also, kantisch zu reden, das Schema für die Anwendung der Philosophie auf die gesellschaftliche Erfahrung. Brinkmann deutet die Probleme nur mehr an, als daß er sie löste, das Ergebnis seines Buches liegt weniger in einem Satz, als in der Art, wie sein Neues zwischen den Extremen gesucht wird. Es ist daher schwer, von den Prinzipien dieses Buches zu reden ; das Prinzip ist gleichsam ein persönliches. Die Auffassung des Autors ist mehr aus Negationen und Verwahrungen zu erraten, als daß sie in be- stimmten Begriffen dargeboten würde. Der Grundeinstellung nach neigt der Verfasser offenbar stärker als er zugeben will der westeuropäischen Behandlung der Soziologie zu. Es kommt ihm vor allem auf die Abgrenzung des soziologi- schen Arbeitsgebietes von der Kechts- und Geschichtsphilosophie, kurz, dem, was man Kulturwissenschaft nennt, an. Daher wendet er sich gegen die deut- 206 Besprechungen (Brinkmann). sehe Anschauung von der Bedeutung des gewöhnlich sogenannten Kulturellen und Geistigen in der Gesollschaft, und drückt seine Vermittlungsabsicht auch so aus: „Der meinetwegen reichlich flache Zivilisationsbegriff der Engländer und Franzosen ist wenigstens ein Anfang wissenschaftlicher Erkenntnis, wenn auch in der Kegel ohne Ende, der „deutsche" Kulturbegriff ist nur ein Ende, sei es das Ende überwissenschaftlicher Gewißheit, aber ohne den Anfang, der wissen- schaftlich nicht mehr entbehrt werden kann" (55). In dieser Aufnahme des west- europäischen Zivilisationsbegriffes als eines Mittels soziologischer Erkenntnis liegt ein glücklicher Gedanke. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn wir aus der Alternative „Zivilisation" und „Kultur" oder „Gesellschaft" und „Staat" einmal heraus kämen und durch Isolierung der in diesen Begriffen enthaltenen Ge- dankenmotive zu Methodenbegriffen gelangten, die dem Konkreten näherzu- rücken gestatteten. — Was Brinkmann positiv versucht, einen „Aufbau der Ge- sellschaft aus ihren physiologischen Fundamenten und ihrem rechtlich-sitt- lichen Ueberbau" ist der Tendenz nach mit dem ausgleichenden Verfahren Kjellens verwandt. Wie dieser zwischen „Leben" und „Recht" so will Brink- mann zwischen „naturhafter Bindung" und „sittlicher Norragebung" vermitteln und zeigen, daß jene ihre Gesetze höher herauf, diese ihre Ansprüche tiefer hinunter in die sozialen Bildungen erstreckt „als die bequeme Dämmerung einer anscheinenden Gesetzlosigkeit gewöhnlich annehmen läßt" (79). In Physis und Nomos „die ehernen Züge menschlicher Gleichheit zu bewahren" ist die Auf- gabe der Gesellschaft. Diese ist, kurz gesagt, ein „Gebilde von Macht und Recht." Die Frage, wodurch sich dieses Gebilde von dem gewiß ebenso zu definierenden Staate unterscheidet, hat Brinkmann nicht eigens beantwortet. Es gälte die eigentümliche nebenstaatliche Macht, deren Träger die Gesellschaft ist, näher zu bestimmen. Daß die „staatsgegnerische oder mindestens staats- freiere Soziologie der westeuropäischen Aufklärung ein kräftiges Eigenleben der Gesellschaftswissenschaft begründet hat" ist, wie Brinkmann bemerkt, nicht zum wenigsten dem tieferen Verständnis Westeuropas für diejenigen Mächte, die neben dem Staate sich entfalten, zu verdanken. Dem Gegensatz von Macht und Recht liegt schließlich der allgemein philo- sophische des Seins und desSollens zugrunde. Die westeuropäische Soziologie ist allzu „monistisch" ausschließlich vom Sein, wie die deutsche zu gern aus- schließlich vom Sollen ausgegangen. Indem er zwischen diesen beiden Rich- tungen zu vermitteln sucht, folgt Brinkmann dem Zuge der deutschen Philo- sophie der Gegenwart, deren Erkenntnisziel das Konkrete bildet, und ist somit deutscher als er glaubt. Die Eigenart seiner Position wird aus den Sätzen deutlich, die ich nicht anders als wörtlich anführen kann, weil sie nach Form und Inhalt den Versuch ausgezeichnet charakterisieren. „Während sich der englische Positivismus umsonst damit schmeichelte, das Sollen durch irgendeine geheimnisvolle Gesellschaftsentwicklung aus dem Sein hervorgehen zu lassen, mühte sich der nachkantische Idealismus ebenso vergeblich darum, den Wider- streit beider in einer nicht minder geheimnisvollen Idealität aufzuheben. In der ersten Anschauung spiegelte sich gleichsam die Zufriedenheit bürgerlicher Herrscherklassen mit einer von der Wirtschaftstatsache geleiteten Sozialordnung, in der zweiten die des alten Obrigkeitsstaats mit der Unterwerfung des Gesell- schaftsdaseins unter seinen Machtwillen. Keine von beiden wird die schlichte Beobachtung und das grundsätzliche Denken auf die Dauer befriedigen können. Wohl gibt die Erkenntnis der Rechtsnorm in ihrer mit jedem sozialen Ge- schehen unmittelbar mitgesetzten Allgegenwart und Unausweichlichkeit dem soziologischen Objekt in Wahrheit erst jene Einheitlichkeit, letzte Verständlich- keit und optimistische Gewähr, auf die sowohl der positivistische Fortschritts- gedanke wie die idealistische Entfaltungstheorie hinzielen. Aber das liegt weder, wie der eine will, an der stetigen Normwerdung des Seins, noch, wie der andere meint, an der systematischen Inkarnation der Norm. Es handelt sich vielmehr dabei ganz einfach um einen labilen Gleichgewichtszustand ohne a priori bestimmbare Richtungen und Durchschnittswerte, deren Eigenstes ge- rade verfehlt wird, wenn man diese Bestimmung ausschließlich von einer seiner beiden Kräftegruppen aus vorzunehmen sucht" (97 f.). — Die Lösung des hier Besprechungen (Brinkmann — Brodmann). 207 aufgerollten Problems des Konkreten in einem „labilen Gleichgewichtszustand ohne a priori bestimmbare Eichtungen und Durchschnittswerte" zu suchen, darf wohl durch Simmeis Art zu philosophieren bestimmt angesehen werden. Die Konstatierung eines labilen Gleichgewichtszustandes zwischen Sein und Norm bietet uns statt eines Begriffes ein Bild. Ueber dieser bildlichen Fixierung des Verhältnisses und einer Bestimmung „ausschließlich von einer der beiden Kräftegruppen aus" liegt erst die eigentliche Aufgabe, die in der begrifflichen Definition des Verhältnisses von Macht und Eecht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit (wenn man die Gesellschaft schon einmal durch Macht und Eecht bestimmen will) liegt. So sehr der „Wirklichkeitssinn" zu schätzen ist, der aus Brinkmanns Studie spricht, so sehr muß doch vor der Unter Schätzung des be- grifflichen Moments gewarnt werden. Wenn der Begriff in einer wirklichkeits- fremden „angeblich idealistischen Kultur -Soziologie" inhaltlich als sozialer „Geist" und dergl. eine zu große Bolle spielt, so folgt daraus noch nicht, daß er zur systematischen Verarbeitung wirklichkeitsnäherer Grundkonzeptionen ent- behrlich ist. Mit bloßem Wirklichkeitssinn ist die Gesellschaftswissenschaft nicht zu begründen. Es gibt keine Systematik ohne Begriffe. Das weiß auch Brinkmann selber, da er geneigt ist, die Soziologie systematisch sehr hoch, noch über die Geschichtsphilosophie zu stellen. „Wenn sich der moderne Ee- lativismus abgewöhnt haben wird, auf prinzipielle soziale Fragen geschichtliche Antworten zu geben, wird vielleicht einmal umgekehrt die große Frage des ,Sinns', der letzten Erklärbarkeit der Geschichte ihre Beantwortung in der Lehre von der Gesellschaft erfahren" (106). So wertvoll das Drängen des Ver- fassers auf eine konkrete Wissenschaft von der Gesellschaft ist, so beweist doch die soeben angeführte Stelle, daß er der Erkenntnis nicht genugtut, daß die Gesellschaftswissenschaft immer nur einen durch systematische Voraus- setzung abgegrenzten Ausschnitt aus dem umfassenden Leben darbietet, das wir geschichtlich nennen, und daß die Soziologie daher niemals der Geschichte ihre Ziele nennen kann. Die anregungsreiche Studie Brinkmanns stellt sich mitten in den Kampf um die Herausarbeitung derjenigen Wirklichkeiten, welche die rein naturwissen- schaftlich oder allzu „idealistisch" orientierte Philosophie bisher vernachlässigt hat. Ich führe nur noch den treffenden Satz an, mit welchem Brinkmann gegen die herkömmliche Art, gesellschaftlich-konkrete Dinge „von oben" zu behandeln nachdrücklich Protest erhebt. „Eben weil man für das Verständnis der höchsten gesellschaftlichen Bildungen noch weniger Vorkenntnis oder sogar noch mehr „Vorurteilslosigkeit" nötig zu haben meint, als für das Leben in der kleinsten seiner Zellen, wagt man es jeden Augenblick, Volkscharaktere zu beurteilen oder Massenstimmungen zu schätzen nach Anhalten, wonach Hinz und Kunz zu behandeln schon die bürgerliche oder strafrechtliche Verantwortung ver- böte" (31). Nürnberg. Dr. Alfred Baeumler. Brodmann, E., Eecht und Gewalt. Berlin und Leipzig. 1921. Vereini- gung wissenschaftlicher Verleger, Berlin. 114 S. 20 Mark. Verfasser — ein hochgestellter Eichter — gehört zu den Praktikern, die das Eecht nicht nur in den Paragraphen der Satzungen suchen oder ängstlich der Uebung nachspüren. Der Wert der vorliegenden Arbeit liegt u. E. in der treffenden Kritik von Gumplowicz' und Somlos verkehrtem Staatsbegriff sowie darin, daß sich Verf. zum Eecht aus der „Natur der Sache" bekennt. Leider verbietet der Eaum, auf Einzelheiten einzugehen. Sonst würde über den u. E. nicht gelungenen Versuch des Verf., zu einer kritisch geläuterten Imperativen- lehre zu gelangen, sowie über das von ihm keineswegs geklärte Verhältnis von „Macht" und „Gewalt" (erstere stehe auch der Sitte zu Gebote, letztere sei als direkter Zwang dem Eechto wesentlich), manches zu sagen sein. Verf. erkennt an, daß das Eecht eine Gewaltanwendung im Dienste der Vernunft bedeute. Aber worin besteht die Eechts Vernunft — wenn sie nach dem Zeugnis des Verf. zwar das Widersittliche regelmäßig ausschlioßt, ohne 208 Besprechungen (Brodmann — Holldack). jedoch positiv mit dem Sittlichen notwendigerweise zusammenzufallen? Eigen- artig berührt es, daß der Verf. (dessen Ausführungen über den „Gesamtwillen" ins Soziologisch -Metaphysische führen)1) eine eigentliche Eechtsphilosophie nicht gelten lassen will (vergl. z.B. S.85ff.), weil ein einheitliches Kriterium der Kechtsbewertung nach seiner Ansicht nicht ausfindig gemacht werden könne. Dennoch stellt er S. 86 das Prinzip auf, „daß Zwang nur insoweit herr- schen soll, als es nach den gegebenen Verhältnissen unbedingt erforderlich er- scheint." Eichtig. Nur darf dieses Prinzip nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als ob die äußere Freiheit Selbstzweck sei. Also ist dieses Prinzip nur negativ. Wenn Verf. aber jedes positive Prinzip richtiger Politik (S. 86) leugnet („alles weitere ist empirisch und Aufgabe der Politik" sie!), so verliert jenes von ihm anerkannte negative Prinzip jeden Wert. Es bleibt inhaltlich ohne jede Erfüllung. Welches ist das entscheidende teleologische Kriterium dafür, daß „Zwang unter den gegebenen Verhältnissen unbedingt erforderlich erscheint"? Berlin. Dr. Alfred Pagel. Holldack, F., Dr., ord. Prof. an der Techn. Hochschule Dresden, Grenzen der Erkenntnis ausländischen Eechts. Leipzig 1919, Verlag von Felix Meiner. 292 S. Preis brosch. 66 Mark. Das vorliegende Buch bedeutet eine tiefgreifende und wahrhaft gründliche, weit über das im Titel des Buches angegebene Thema hinaus förderliche Arbeit, die alle Schwierigkeiten der Erkenntnis geltenden Eechts auf Grund reichen Wissens und mit ungemeinem kritischen Scharfblick bloßlegt — ohne darum zu einem unfruchtbaren Skeptizismus zu gelangen. Wie wir die Gesetze der eigenen Sprache oft erst durch das Studium fremder Sprachen verstehen lernen, so gilt dies mutatis mutandis auch auf dem Gebiete des Eechts. Dies wird durch H.s Untersuchungen zur Gewißheit er- hoben. Sie nehmen ihren Ausgangspunkt von einer speziellen Interpretations- frage und ihrer Geschichte (Seefahrt — § 16 BGB., Seereise — § 2251 BGB.). — Verf. konstatiert eine interessante Parallelentwicklung im französischen Eecht. Sie betrifft den terminus „navir" oder „bäteau de mer". Dieser in seinen rechtspraktischen Folgerungen sehr bedeutsame terminus hat in der französi- schen und in der belgischen Eechtsinterpretation und -praxis einen ganz ver- schiedenen Sinn angenommen, obwohl das diesbezügliche Gesetz in beiden Staaten den gleichen Wortlaut hat. Die Zuweisung eines Schiffes zu den Meerfahrzeugen, von der die Anwendung des Seehandelsrechts ahhängt, geschieht in dem einen Lande nach konstruktiven Merkmalen, d. h. nach der baulichen Eignung des Schiffes für die Meerfahrt, in dem anderen nach wirtschaftlichen Merkmalen, d. h. nach der Absicht des Besitzers, das Schiff zur Meerfahrt zu benutzen (in einigen Urteilen auch nach der Ausfertigung einer rechtlichen Urkunde durch den Besitzer). Sogar Urteilsbegründungen gleichen Wortlauts führen in beiden Ländern zu ganz verschiedenen Konsequenzen, indem mit dem einzelnen terminus ein ganz verschiedener Sinn verbunden wird. Diese höchst interessante Erscheinung veranlaßt nun den Verfasser zu folgender theoretischer Untersuchung. Er geht von der Norm aus und stellt ihr den Sachverhalt der Eechtswirklichkeit gegenüber. Die wechselweise Ee- lation von Norm und Eechtswirklichkeit wird so erstmals einer exakt wissen- schaftlichen Aufklärung entgegengeführt. Und es ergibt sich, daß die Kon- kretisierung des kodifizierten Eechts keineswegs nur von dem ursprünglich ge- meinten, d. h. zu einer einzelnen Zeit den Inhalt einer Vorschrift bildenden, mit den Worten des Gesetzes zu verbindenden Sinne abhängig ist, sondern noch von 1) Ueber den vom Verf. S. 103 betonten „Blankettwillen" vgl. u. a. meine Beiträge zur philosophischen Eechtslehre, Berlin, Tetzlaff. 1914, S. 66, 70. Hier wird neu aufzubauen sein. — Vgl. übrigens wegen der Schwierigkeiten der Imperativenlehre daselbst S. 72 ff.; hierzu freilich Max Wenzel, Juristische Grund- probleme I: Der Begriff des Gesetzes usw., S. 86 Anm. 1— S. 88. Besprechungen (Holldack). 209 einem anderen Faktor emotionaler Art, den Verf. als „Eechtswirklichkeit" be- zeichnet. Alle Kechtswirklichkeit ist, als kulturbedeutsames, historisches Ge- schehen (wie Verf. auf Eickerts Forschungen weiterbauend lehrt), „einmalig", ein Akt volksschöpferischer, aus ursprünglich dunklem, keineswegs in der Denk- tätigkeit, sondern im Gefühl wurzelndem Wertempfinden hervorgehend und da- her nicht restlos in einem logischen Schema ausdrückbar. Eben darum aber, weil die Kechtswirklichkeit einmalig ist, führt sie nicht zu starren Normen, sondern bewirkt sie, über diese allemal hinausweisend, unmerkliche Aenderungen des ursprünglichen Sinnes der gesetzlichen Vorschriften vornehmend. Solche neuschöpferische Interpretation wird umso leichter von statten gehen, je freier die gesetzlichen Generalisationen der Fülle rechtlich erheblicher Einzelvorkommnisse gegenüberstehen. Daher die „Weltgeltung" des entwickelten römischen Eechts und des code civil. Die mannigfachste „Kechtswirklichkeit" konnte hier als Er- füllung der allgemeinen Normen auf grund schon bestehenden Kechts zur Geltung gelangen, oder, wie H. sagt, „normgerecht", mit dem intellektuellen Faktor der Eeehtsgeltung in Einklang gebracht werden. Eine, wie H. meint, auf „ari- stotelisch-hellenistischem" Vorurteil beruhende Dogmatik mußte hier versagen, weil ihr die unzutreffende Annahme konstanter Inhalte der jeweils vorliegen- den, vermeintlich abschließbar mittels bloßer formallogischer Interpretation zu ermittelnden Kegelung verhängnisvoll wurde. Deshalb sei dieser Eechtsposi- tivismus kein wahrer Fortschritt gegenüber Natur- und „Vernunftrecht". Hier wie dort liege echter Dogmatismus vor — Ueberschätzung reiner Denktätig- keit, Uebersehen des emotionalen Faktors wahrer Eechtsgeltung. Dieser Irr- tum macht es begreiflich, daß man zu völliger Verkennung des Wesens auch der vergleichenden Eechtswissenschaft gelangte. Man schloß aus der Gleich- heit der Formulierung von Normen in verschiedenen Eechten auf eine innere Üebereinstimmung der normerlullenden Bewertungen — beruhend auf gleicher Denktätigkeit oder in Hegelscher Weise darauf, daß alles Eecht eine Stufe auf dem Wege zur absoluten Vernünftigkeit in Selbstbewegung des Logos sei. Voraus- setzung und Ziel der universalen Eechtsgeschichte und Eechtswissenschaft glaubte man in der Idee eines Weltrechts finden zu sollen, dem alle Kulturrechte in ihren gemeinsamen Grundzügen zuzustreben schienen. Verf. tritt dieser Ansicht aufs schärfste entgegen, weil sie die Verschiedenheit der „Eechtswirklichkeit", d. h. die Einmaligkeit jeweiligen Kulturlebens und Erlebens mit seinen für jedes Land und Volk sehr verschiedenen Bedingungen vollkommen außer acht lasse. Die denk- und sprachpsychologische Forschung zeige uns überdies, wie dasselbe Wort den mannigfaltigsten Bedeutungsdifferenzierungen unterworfen ist und deshalb Ausdruck der verschiedensten Bewertungen werden kann, die sich von vornherein garnicht übersehen lassen. Die Idee eines Weltrechts bleibt daher ein Gedanke, dessen Erfüllung in der Wirklichkeit des Lebens der Natur der Sache nach ausgeschlossen ist. Damit ist auch die Hauptschwierigkeit der Erkenntnis ausländischen Eechts bloßgelegt, und es ergibt sich ein geringerer Grad der Sicherheit, keineswegs eine völlige Unmöglichkeit, ausländisches Eecht (d. h. ausländische Eechtswirk- lichkeit) — durch Einfühlung — inhaltlich festzustellen1). Darf Eechtsordnung (Inbegriff formulierter Normen) und Eechtsein (Eechts- wirklichkeit) nicht verwechselt werden, so kann von einer eigentlichen Ee- zeption fremden Eechts nur da gesprochen werden, wo ganze Wertstellungen eines Volkes durch das andere übernommen werden, wo also, wie H. sagt, eine Eenaissance vorliegt (S. 101). Davon zu scheiden ist die bloße Uebernahme einer fremden „Eechtsordnung", d. h. des intellektuellen Gerüsts fremden Eechts - wie dies in dem von H. bearbeiteten Falle für die Annahme des französischen Eechts in Belgien zutrifft (vgl. auch das bekannte Verhältnis un- serer Pr. V.-U. vom 31. 1. 1850 zu der belgischen Verfassung — loi belgique; 1) Was die praktische Wichtigkeit dieser Feststellung anlangt, so sei für juristisch nicht genügend orientierte Leser bemerkt, daß das einheimische sog. „Normenkollisionsrecht" in zahlreichen Fällen die Anwendung fremden „mate- riellen" Eechts vorschreibt. Kantstudion. XXVII. 14 210 Besprechungen (Ilolldack). Batbie, traite thoorique et pratique du droit public et administrativ 2 ed. Paris 1855, III p. 127 sv., Arndt, Die Verf.-Urk. f. d. Preuß. Staat, 3. Aufl., 1894, S. 26 ff.). Die grundsätzliche Untersuchung des Verf. findet im II. Teil des Buches ihre praktische Bestätigung. Es zeigt sich hier in der Tat, mit welchen Schwierigkeiten die Feststellung ausländischen Kechts und ausländischen Rechts- lebens und -erlebens verbunden ist. Verf. bringt in diesem IL Teile eine mit wahrhaft philologischer Akribie gearbeitete, kritische Geschichte der einschlä- gigen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Das gesamte Material ist liier in bewunderungswürdiger Vollständigkeit verarbeitet; die mannigfach verschlun- genen Pfade der Entwickelung deckt Verf. restlos auf. Interessant ist es, zu sehen, wie oft eine plötzliche Abkehr vom Bisherigen, ein Umbiegen des erst eingenommenen Standpunkts, z. T. geradezu ein Rückgang zu scheinbar längst aufgegebener Anschauung stattfindet, ja wie sich der Standpunktwechsel inner- halb einer und derselben richterlichen Dezision und Deduktion vollzieht. Der angesponnene Faden wird plötzlich fallen gelassen — eine neue Motivation greift modifizierend ein und führt von dem ursprünglichen Gedankengang ab. So z. B. Einwirkung sozialpolitischer Erwägungen (Arbeiterschutz, Unfallgesetz- gebung) als Motiv von Umdeutungen, die zu der sozialpolitisch wünschenswerten Subsumtion führen. Die Darlegungen des Verf. sind nach Methode und Ergebnis zweifellos höchster Beachtung wert; besonders gilt dies auch von der Ablehnung des Ver- suchs, durch Abstraktion scheinbar gemeinsamer Einzelzüge mehrerer Rechte ein Weltrecht zu gewinnen. Der abgewiesene Standpunkt würde die Natur des Allgemeinen in der Tat völlig verkennen. Das rechtlich Allgemeine ist der logisch-normative Sinn, der mit gewissen sozialen Tatbeständen ohne wei- teres gesetzt ist, die erst hierdurch zu rechtlichen werden und ihrem recht- lichen Sinn zufolge ihr Recht bereits in sich tragen1). Dieser Sinn ist es, der die sog. juristische Konstruktion ermöglicht, die ihrerseits nicht bloß zusammen- fassender Natur ist, sondern juristisch inhaltliche und inhaltbestimmende Be- deutung hat. Kein Gesetzbuch kann an diesem ursprünglichen Sinne der recht- lichen Tatbestände vorübergehen, es muß diese Tatbestände mit ihrem Sinne annehmen, kann sie aber auch, um irgendwie verfolgter Gerechtigkeitsziele willen verwerfen, bezw. ihren ursprünglichen Sinn für das positive Recht durch positive „Bestimmung" modifizieren und ausgestalten („aliquid addere vel detrahere": fr. 6 pr. Dig. 1,1). Mit fast immer zielsicherem Blick haben die römischen Ju- risten diese „naturalis ratio" in den rechtlichen Tatbeständen herauszuarbeiten verstanden — und hierauf beruht die von H. treffend hervorgehobene „zeitlose Geltung römischen Rechtseins4', die, wie H. zeigt, dazu führen muß, daß der Rechtsunterricht sich zu den Wurzeln seiner Kraft im römischen Recht wieder zurückfindet, womit zugleich durch Wiederherstellung der Pandekten Vor- lesung dem Postulat geschichtlicher Besinnung Genüge getan würde. Wenn H. das Ueberwiegen des „Formalen" über das „Materiale" beim römischen Recht betont und wenn er, beiläufig bemerkt, daß es im Wesen der Sache begründet sei, wenn die „Kritik der juristischen Vernunft" nur ein Jurist „gemeinen Rechts"2) (Stammler) zu liefern vermochte, so ist dies wiederum eine höchst treffende Beobachtung. Aber es muß davor gewarnt werden, in logisch und sachlich unzulässiger Umkehrung dieses Sachverhalts den „Formalismus" der Stammlerschen Rechtstheorie mit der bedingenden Rechts inhaltlichkeit zu verwechseln, die in den rechtlichen Tatbeständen selber als deren Sinn und teleologischer Gehalt (unabhängig von jeder positiven Regelung) gesetzt ist. Die römischen Juristen betätigen hier nicht bloß eine „Methode", ein „Ver- 1) Treffend Dernburg, Pand., 7. Aufl., Bd. I § 38 ad 2; in ontologischer Hypostasierung (aber den Grundgedanken gut erfassend) Rein ach, Die apriori- schen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Husserls Jb., 1913, S. A., vgl. dort, S. 162, 163, über die Umbiegung der richtigen Erkenntnis ins Sozial psycho- logische durch Burkh. Wilh. Leist. 2) Pandektenrecht. Besprechungen (Holldack-Israel). 211 fahren", eine „Art und Weise" des Erkennens. Vielmehr handelt es sich bei dem Ablesen der Eechtsfolge aus dem vorliegenden Material rechtlicher Tat- bestände um einen Sachverhalt, der in dem St.schen „Formalismus" nicht recht zur Geltung gelangt- Auch H. läßt die phänomenologische Seite des Problems der Kechtsgeltung etwas stark zurücktreten — freilich aus einem an- deren Motive als einem solchen, das einem Zurückgreifen auf den Formalismus Stammlers entspringen würde. Für H. handelt es sich darum, die „Bechts- wirkliehkeit", die Tatsächlichkeit des zur Durchführung kommenden „Rechts" in ihren psychologischen Hauptmomenten zu erfassen. Zu diesem Behufe knüpft H. nicht an Stammler, sondern an die Wertlehre Eickerts an. H. ist aber durch seine psychologische Einstellung nicht etwa einem völligen Ueber8ehen der logischen Seite des Geltungsproblems zum Opfer gefallen, wie seine Ausführungen S. 27 ff., 91 ff. und sonst zeigen, und er ist ebenfalls weit entfernt davon, Psychologist zu sein (auch der „versteckte Psychologismus" des Eickertschen Wahrheitsbegriffs ist bei H. vermieden). Einzelne Inzidenzpunkte werden vielleicht noch einer anderen Auffassung zugänglich sein, ohne daß man genötigt wäre, in der Hauptsache in Gegensatz zu H. zu treten. So ist meines Erachtens die These von der „logischen Ge- schlossenheit'' des Eechts mit der von H. treffend gelehrten Unabschließbarkeit des Materials und der „Eechtswirklichkeit" logisch wohl vereinbar und erleidet durch die Erkenntnis der dogmatischen Verwechselung materialer Wahrheit und Wissenschaft mit der Kodifizierbarkeit lediglich formaler Logik keinerlei Modi- fikation. Dann würde der Vorwurf dieser Verwechselung und des Versuchs, metaphysische Ergebnisse aus bloßen Schlußfolgerungen zu gewinnen, nicht zu richten sein gegen die Lehre von der Lückenlosigkeit des gerade darum für Er- füllungen im Speziellen in unendlicher Aufgegebenheit offenen normativen Sy- stems, wie es durch „eine Rechtsordnung" dargestellt wird. Uebrigens fällt auch wohl dem Stagiriten der von H. gerügte Irrtum nicht zur Last1). Mag man aber auch immerhin bezüglich solcher Inzidenzpunkte der H.schen Untersuchung die Darstellung vielleicht noch ergänzen und berichtigen können, dies ändert nichts an der großen. Bedeutung, die dem Werk als Ganzem zukommt — und wir müssen dankbar bekennen und anerkennen, daß der Verf. die Gabe besitzt, einen positiven Eechtsstoff nach jeder Eichtung hin, d. h. so- wohl im rechtsgeschichtlich-philologischen wie im juristisch-systematischen Sinne restlos zu meistern und darüber hinaus zu allgemeinster Besinnung über die tief liegenden Problemzusammenhänge vorzudringen. So konnte er sich das Ver- dienst erwerben, der Wissenschaft, wo sie am problemreichsten und unweg- samsten uns entgegentritt, festes Land und sicheren Boden erobert zu haben. Berlin-Halensee. Dr. Albert Pagel. Israel, Walter, Zur wissenschaftlichen Fortbildung 4des So- zialismus. Eine erkenntnistheoretische Studie. Verlag Gesellschaft und Erziehung. Berlin-Fichtenau. 1921. 33 S. Diese Schrift des sich selbst zur „Marburger Schule" zählenden Autors sucht eine kritische Grundlegung des wissenschaftlichen Sozialismus zu geben. Gemäß den Kantischen Fragen nach der Möglichkeit von Mathematik, Natur- wissenschaft und Metaphysik fragt Israel nach der Möglichkeit des Sozialismus als Wissenschaft. Hierbei nimmt er den Sozialismus nicht etwa in parteipoli- tischem Sinne bezw. als bloße Wirtschaftsordnung, sondern in seiner allge- meinsten sittlich-kulturellen Bedeutung. Sozialismus ist für ihn die Idee der sittlichen Gesellschaft, wissenschaftlicher Sozialismus die wissenschaftliche Lehre von dieser Idee und ihrer Durchführung. Das Kriterium für die Wissenschaft- lichkeit des Sozialismus sieht der Verfasser in der Beziehung auf das geschicht- 1) Aristoteles lehrt vielmehr in der Nikom. Ethik gerade umgekehrt, daß der auf den Durchschnitt der Fälle (inl Ttluarov) zugeschnittene Spruch des Gesetzgebers steter Berichtigung und Ergänzung im Sinne der „Billigkeit" (rö iitMxsg) fähig und bedürftig ist. 14* 212 Besprechungen (Israel — Fränkel — Kaufmann). liehe Lehen der Menschheit, während ihm zufolge der utopische Sozialismus dieser Beziehung ermangelt. Die sozialistische Idee ist für Israel die Hypo- thesis, welche das auf Erkenntnis der sittlichen Gestaltung der Gesellschaft ausgehende Denken an die historische Wirklichkeit heranbringt und durch diese verifizieren läßt. Damit tritt in den Mittelpunkt der Begriff der geschichtlichen Kontinuität; die ständige Wahrung dieser wird so zur fundamentalen metho- dischen Maxime des wissenschaftlichen Sozialismus. Zudem ist sich Israel durchaus darüber im klaren, daß die Idee des Sozialismus — wie jedwede Idee — eine unendliche Aufgabe ist, etwas, was immer wieder erstrebt werden soll, aber nie voll und ganz zu erreichen ist. Berlin-Wilmersdorf. Dr. Kurt Sternberg. Fränkel, Richard, Der Sinn des Kechts. Langensalza. 1921. Wendt u. Klauwell. „Die Bücher der Zeit" Nr. 20. 32 S. Eine volkstümliche Darlegung über des Kechtes Wesen und Werden, die dem Stande der Wissenschaft ungefähr entspricht und zur Belehrung und An- regung des Laien nicht ungeeignet ist. Berlin. Dr. Albert Pagel. Kaufmann, Erich, o. ö. Professor an der Universität Bonn, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung über die Bezie- hungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft. Tübingen. 1921. J. C. B. Mohr. 102 S. 8°. Verf., dessen z. T. vorzügliche, jedenfalls aber stets eindringende und fördernde Untersuchungen zur allgemeinen Rechtslehre und insbesondere zur Staats- und Völkerrechtstheorio wenigstens dem juristisch orientierten Leser bereits bekannt sind, sucht sich in dieser Arbeit durch Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus in der Rechtsphilosophie den Weg zu systematischem Neuaufbau zu ebnen. Die Arbeit ist Paul Hensel gewidmet, dem der Verf. nach seiner Mitteilung seine ersten, philosophischen Anregungen verdankt — wie denn Kaufmann bekennt, daß er in seinen philosophischen Bestrebungen vom Neukantianismus ausgegangen sei, jedoch alsbald das Unbefriedigende dieser Philosophie empfunden habe. Er äußert sich darüber auf S. VI folgendermaßen: „Der metaphysikfreie, abstrakte Formalismus und der transzendentale Ratio- nalismus und Intellektualismus, der die neukantische Philosophie charakterisiert, hätte mich zwar als Juristen auf ihm verwandte Erscheinungen der damals herrschenden rechtswissenschaftlichen Methodik führen können. Aber auf der einen Seite hatte das bewußt entstofflichende, von dem Anschaubaren und Er- lebbaren entfernende Denken der Neukantianer, das über die ethischen, poli- tischen, sozialen und kulturellen Probleme der Gegenwart hinweg nach den reinen Formen des transzendentalen Denkens strebt, in mir einen ungeheuren Anschauungs- und Stoffhunger erweckt, der mich in die Gefilde der rechts- und staatswissenschaftlichen, geschichtlichen und politischen Forschung und Praxis trieb, vermutlich letztlich aus einem — freilich dem neukantischen ent- gegengesetzten — philosophischen Bedürfnis: wer philosophiert, muß auch mög- lichst viel wissen, gesehen, erlebt haben, über was er philosophieren kann; sonst wird die Philosophie zu einer unfruchtbaren Spezialwissensehaft, die selbst- genugsam, aber unbeeinflußt und nicht beeinflussend, ein kathederhaftes Schatten- dasein im letzten verstaubten Winkel der universitas literarum und der Zeit führt. Und auf der anderen Seite glaubte ich, die Unfruchtbarkeit der herrschen- den rechtswissenschaftlichen Methodik, je mehr ich mich mit den Problemen des sozialen, politischen und geschichtlichen Lebens beschäftigte, um so klarer erkennen zu müssen. Die sog. rein juristische Methode hatte die Rechtswissen- schaft in eine ähnliche, von den Realitäten des gesellschaftlichen und politischen Lebens isolierte unfruchtbare Selbstgenügsamkeit geführt, unter deren wissen- schaftlichen und soziologischen Auswirkungen wir heute zu leiden haben." Verf. sucht die Rückkehr zu Kant als einen Akt der Rezeption darzu- stellen, bei der das Beste von Kants Philosophie sich verflüchtigt habe. Dieser Besprechungen (Kaufmann). 213 Gedanke ist eines der leitenden Motive der Schrift des Verfassers. Kaufmann beklagt, daß unserer Zeit eine echte Metaphysik fehle. Der Neukantianismus sei weder willens noch fähig, eine solche zu schaffen. Er habe durch das er- kenntnistheoretische Vorurteil der Wissenschaft eine Bahn gewiesen, die zum Kelativi8mus und Empirismus führen müsse. Zwar sei es nicht möglich, die großartige Metaphysik Kants, seine Lehre von der noumenalen Sphäre wieder zu neuem Leben zu erwecken, in der der Philosoph Sittlichkeit und Recht fest verankert habe. Aber es gehe doch nicht an, auf jeden metaphysischen Halt zu verzichten und, anstatt dem wahren Sein der Dinge auf den Grund zu gehen, die logisch gebotene Art und Weise der Stellungnahme zu den Dingen als das angeblich Wesentliche zu betonen, um das wirklich Wesentliche in nachträglicher Hinzufügung zu den methodischen Postulaten schlecht und recht irgendwie in Beziehung zu setzen. Die Folge dieser Einseitigkeit sei eine «inseitig normative Rechtsbetrachtung mit ihrer destruktiven Tendenz gegen- über den irrationalen Mächten, den Realitäten, denen man mit dem Versuche, sie in bloße rechtliche Relationen aufzulösen, Gewalt antue. Dieser Versuch sei nicht minder willkürlich wie das unphilosophische Beginnen derjenigen, die lediglich kausale Zusammenhänge anerkennen wollen. Es sei eben ein Grund- fehler, die gesamte Wirklichkeit in eine einzige Dimension projizieren zu wollen. Das Recht dürfe weder allein als Macht noch als bloße Norm, sondern es müsse im Sinne von Norm und Macht zugleich verstanden werden. Nur so sei eine allseitige Erkenntnis möglich. Entscheidende Sachverhalte wie Staat, Vertrag usw. seien nicht bald soziologische, bald juristische, sondern mit sich identi- sche Tatbestände, welche nicht die Soziologie oder Jurisprudenz, jede in ihrer Weise verschieden, erzeuge. Daher könne wohl vorläufig und hypothetisch von einem bestimmten Gesichtspunkte aus an die Erscheinungen der sozialen Welt herangetreten werden. Aber bei solchen vorläufigen Bestimmungen dürfe es nicht bleiben. Gegen die Stammler sehe Lehre erhebt Verf. den Vorwurf, daß Stammler der den ,, Stoff" gestaltenden Norm die bloße „Form" untergeschoben und hier- durch sowohl das Recht wie die Wirtschaft „denaturiert" habe. Der Stammler- sche Begriff des Rechts und die Stammlerschen „Kategorien" seien — wie Binder dargetan habe — „empirische Allgemeinbegriffe". Das „soziale Ideal" sei 1. ein lediglich negatives, 2. ein bloß moralisches Prinzip. Sein Gesamt- urteil über Stammler faßt der Verf. S. 20 dahin zusammen: „Es sind allerlei disieeta membra des Kantischen Bauwerks aus ihren tektonischen Zusammen- hängen herausgerissen, beschnitten, behauen und transformiert, und dann ist aus ihnen ein ganz neues Gebäude errichtet worden, das nicht auf festen Funda- menten ruht, sondern in den luftleeren Raum hineingebaut ist." Kaufmann hat wenigstens die Lehre Stammlers vom sozialen Ideal bereits früher in der Schrift: „Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus usw." S. 149 mit denselben Gründen wie in der gegenwärtigen Schrift abzuweisen gesucht. Wir sind der Meinung, daß Kaufmanns Kritik in diesem Punkte doch sicherlich zu scharf ist, da Stammler ja tatsächlich (freilich im Widerspruch mit seinem logisch-methodologischen Ausgangspunkt) sich nicht mit einem bloß negativen Kriterium oder gar einer bloßen Methode begnügt, auch einen durchaus nicht bloß für das Innenleben der Einzelperson brauch- baren Grundsatz aufstellt, sondern im Gegenteil in den Sätzen des Achtens und Teilnehmens eminent soziale Inhalte zur Geltung bringt. Ueberhaupt wird der Verf. Stammler insofern nicht ganz gerecht, als Kaufmann übersieht, daß bei Stammler ein Kern unverlierbar richtiger Grundeinsichten vorhanden ist, deren Preisgabe nach der Ueberzeugung des Referenten einen Rückschritt der Rechtsphilosophie bedeuten würde. Es ist nicht möglich, dies im Rahmen einer kurzen Besprechung beweisend auszuführen. Kaufmann wendet sich sodann — S. 20, 21 ff. — dem „radikalsten Ver- such, auf neukantischer Grundlage den reinen Rechtsformalismus durchzu- führen", nämlich den Arbeiten Kelsens zu. Verf. zeigt hier, daß mit Kelsens „reinem Sollen" nicht auszulangen ist. Kelsen kommt, wie Kaufmann ausführt, auf dem Wege verfehlter Abstraktionstheorie zu einem „inhaltsleeren Allge- 214 Besprechungen (Kaufmann). meinbegriff" (S. 21). Verf. zeigt, zu welchen Konsequenzen die „Eindiraensiona- litiit" bloß normativer Betrachtung des öffentlichen Rechts bei Kelsen führe, der den eigenartigen Versuch mache, seinem metaphysischen Logizismus durch Hin- zuziehung des Mach sehen Prinzips der Denkökonomie den empirischen Stoff anzupassen, um schließlich anzuerkennen, daß das Völkerrecht „zwar nicht jede faktische Macht als Kechtsmacht zu etablieren bemüht ist, aber doch nur eine bestimmte faktische Macht als Rechtsmacht gelten lassen will." Dies zeige, daß ohne soziologischen Unterbau die Rechtslehre ihren Halt verliere. Als Verdienst Kelsen s erkennt Verf. an, „daß er alle jene Umkippungen aus dem bloß Formalen in die empirischen Substruktionen schonungslos und mit einer kritischen Schärfe, die ihresgleichen in unserer juristischen Literatur nicht hat, daß er alle die ,Halbwahrheiten' als solche erkannt und aufgedeckt hat." Kaufmann nennt ihn den „Meister des Rechtsformalismus, der die anderen meistert" (S. 79). „Der Unterschied von Kelsen und den anderen besteht nur darin, daß diese bereits in den unteren Regionen ohne erkennbaren Grund bald hier, bald da, bald mehr, bald weniger, systemlos, ins bloß Faktische umkippen, während Kelsen das nur auf der letzten und obersten Stufe tut" (S. 80). Eingehende Erörterungen widmet der Verf. (S. 35 ff.) der südwestdeutschen Philosophenschule. Er charakterisiert ihre Bedeutung für die Jurisprudenz und stellt den gewaltigen Einfluß dar, den die Schule in methodologischer Hinsicht auf die Rechtswissenschaft unserer Tage geübt hat. Verf. sucht zu zeigen, daß auch die südwestdeutsche Schule einen Abfall von Kant bedeute. Damit wäre sachlich über den Wert oder Unwert der Leistung dieser Schule freilich nichts gesagt. Es ist für jede Philosophie, die als Wissenschaft wird auftreten können, selbstverständlich, daß sie an Kant anknüpfen muß. Aber es ist ebenso selbst- verständlich, daß wir bei Kant nicht stehen bleiben können. Gibt man zu, daß der wahre Kant mit dem historischen Kant nicht schlechthin identisch gesetzt zu werden braucht, so ist nicht bewiesen, daß durch Preisgabe der Dingansich- lehre und der metaphysischen Auflösung der dritten Antinomie der wahre Kant aufgegeben sei. Es wäre also eine tiefergehende Erörterung darüber erforderlich, inwieweit die Kantische Lehre, als systematische Potenz genommen, trotz der angedeuteten durchgreifenden Veränderungen gegenüber dem historischen Kant zum Aufbau einer neuen Philosophie zu führen und deren Gehalt zu bilden vermöchte. Daß für Kant die erkenntniskritische Aufgabe nur die allerdings entscheidende Vorbereitung zu einer Metaphysik darstellen sollte, ist freilich unbezweifelbar. Aber es fragt sich, ob die metaphysische Position, zu der Kant selbst gelangt ist, und ob gerade die Ausführung der erkenntniskritischen Vor- bereitung, die für den historischen Kant charakteristisch ist, nicht einer erheb- lichen Umgestaltung fähig und bedürftig sei, die um des kritischen Grund- gedankens willen in seiner Gegensätzlichkeit zum relativistischen Empirismus wie zum rationalistischen Dogmatismus anderseits, der mit Hilfe bloß formaler Logik von beliebigen (dogmatischen) Prämissen aus Beliebiges zu beweisen ver- mag, dennoch den Namen der Kantischen Philosophie durchaus zu rechtfertigen vermöchte. Jedenfalls kann man sich in einem Punkte mit dem Verf. einig er- klären: die Herabsetzung der Philosophie zur bloßen Erkenntnislehre, ja zu einer bloßen Methode ist von dem unsererseits betonten kritischen Grundge- danken himmelweit verschieden. Sie ist nicht nur unkantisch, sondern auch sachlich unzulässig. Es wäre nun die Aufgabe, diesem Punkt in allgemein- philosophischer Untersuchung nachzugehen. Bedeutsame Ansätze hierzu liegen in der modernen Phaenomenologie Husserls vor. Ferner wären anderseits Rehmkes Ueberlegungen heranzuziehen. Indes hat sich der Verf. in der vor- liegenden Schrift, wie er expressis verbis S. VII und VIII hervorhebt, nicht die Aufgabe gestellt, eine eigene positive Darlegung zu geben, wenn auch seinem kritischen Unternehmen selbstverständlich der eigene positive Standpunkt des Verf. als Voraussetzung zugrunde gelegt ist — eine fruchtbare Kritik kann ja überhaupt niemals bloß negativ sein, sie bedarf allemal der eigenen Einsicht des Kritikers in die Sache selber. Aber der Verf; hat sich in dieser Beziehung zunächst geflissentlich Zurückhaltung auferlegen wollen. So begnügt er sich damit, das seiner Meinung nach Fragmentarische und Lückenhafte auch der süd- Besprechungen (Kaufmann — Kelsen). 215 westdeutschen Gesamtansieht andeutungsweise aufzuzeigen. Hieran schließt sich eine kurze Würdigung der reehtsphilosophisehen Darlegungen Binders, der nach eigenem Zeugnis der südwestdeutschen Schule zugerechnet sein will. Auch ihm gegenüber hebt der Verf. in beachtlicher Weise hervor, daß Binder für seine Rechtslehre die Kantische Philosophie nicht in Anspruch nehmen dürfe (S. 48 ff). Ferner versucht der Verf. seine eigene Lehre, die heftige Bekämpfung in der Literatur gefunden hat, gegen das Mißverständnis in Schutz zu nehmen, als hang cpSQÖfisva dö&L §6xcivcu, xa 8s ßgccddxsQOv slg xohvavxlov (p£QS6&ca, xa 8s %axxov slg xa itQoriyov[isva. Si aliquibus latis pluribus inaequali celeritate simul transportetur in eas- dem partes et oculus, quae quidem oculo aequali celeritate feruntur, videbuntur stare, tardiora vero in contrarium ferri, celeriora vero in praecedentia. (2) 'Edv xivav ysqops'vnv 8iatpaCvr\xaC xi pjjj cpe'QOfisvov, 86£si xb yt,r\ cpsgd- fisvov stg xa Ö7tio&sv cpiQsad'ai' Si aliquibus latis appareat aliquid, quod non feratur, videbitur illud non latum retrorsum ferri. Das heißt zusammengefaßt: was einem Beobachter, der sich als bewegt be- trachtet, als ruhend erscheint, erscheint demselben Beobachter, sofern er sich als ruhend betrachtet, als rückläufig bewegt. Damit ist das Prinzip der geometrischen Vertauschbarkeit'der Bewegungszustände von Bezugssystem und Bezugskörper zum ersten Mal deutlich ausgesprochen. Ich verdanke den Hinweis auf diese interessante Stelle einer Arbeit des belgischen Forschers PaulMansion, Note sur le caractere giometrique de Van- cienne astronomie, die in der Festschrift zum 70. Geburtstag Moritz Cantors 1899 enthalten ist. Vgl. daselbst S. 280 Anm. 6. 2) Corollarium V (a. a. 0. p. 18) : Corporum dato spatio inclusorum iidem sunt motus inter se, sive spatium illud quiescat, sive moveatur idem uniformiter in directum absque motu circulari. 26* 392 Heinrich Scholz, und seinen Konsequenzen genügenden Bezugssystems vom indi- viduellen Ermessen des urteilenden Subjektes zum Ausdruck bringt, so zieht es nur die Konsequenz aus der Tatsache, daß solche Sy- steme in Hinsicht auf ihren Bewegungszustand nicht von sich aus, sondern nur mit Hilfe realer Bezugskörper beurteilt werden können, da der Ablauf des Naturgeschehens in ihnen für eine solche Be- urteilung nichts abwirft. Es versteht sich, daß man diese wichtige Tatsache auch als Identität s- oder Invarianz phänomen formulieren kann. Etwa so : die Gesetze, nach denen sich die Bewegungsvorgänge abwickeln, sind in allen gleichförmig-gradlinig gegen einander bewegten Sy- stemen (allen sogenannten Galilei-Systemen) identisch dieselben. Das einzige, was sich beim Übergang von einem solchen System zu einem andern von anderem Bewegungszustande ändert, ist der Gesamtbetrag der Geschwindigkeit; und zwar ändert er sich um eine additive Konstante mit positivem oder negativem Vorzeichen. Unverändert bleiben hingegen die Bewegungsformen als solche; ja selbst die Geschwindigkeitsbeträge der Beschleunigungen ändern sich nicht. Nennt man die Gleichungen, die allgemein den Über- gang von einem Galilei-System zu einem andern vermitteln, Galilei- Transformationen, so sind die Differentialgleichungen der Mechanik als solche gegen Galilei-Transformationen stets invariant. Analytisch ausgedrückt : wenn die Kraftkomponenten eines frei beweglichen Massenpunktes P(X, Y, Z) in einem beliebig vorgege- benen System S den Gleichungen genügen: ~r d*x _, d2y „ d2z X = M1F' ¥=mW z=müf' so ändert sich an diesen Gleichungen nichts, wenn der Massenpunkt P auf ein beliebiges zweites System S' bezogen wird, in dem seine Koordinaten lauten: x' = x — ut, y" = y — vt, z' = z — wt\ vorausgesetzt, daß u, v, w Konstanten sind1). 1) Beweis. Setzt man die Werte von x', y', z' in die Gleichungen der Kraft- komponenten ein, so erhält man x -m{ *« + dp ) z -m\-d^-rs^r Zur Analysie des Relativitätsbegriffs. 393 Wir mußten diese einfachsten Formeln hier anschreiben, weil sich allein mit ihrer Hilfe eine Frage beantworten läßt, die wohl schon jedem selbstdenkenden Anfänger, der die analytischen Aus- drücke nicht kennt, und vielleicht nicht nur diesem, zu schaffen gemacht hat. Invarianz ist, logisch betrachtet, doch wohl das Gegen- teil von Relativität? Wie kann eine Wissenschaft, die wegen ihrer logischen Strenge als Muster geschätzt wird, ein Prinzip als Rela- tivitätsprinzip auszeichnen, dessen Inhalt das Invarianzphänomen ist? Liegt hier nicht schon an der Schwelle der Analysis eine merkwürdige Unklarheit vor? Hierauf ist Folgendes zu erwidern. Vom Standpunkt der „reinen" Logik ist diese Ausdrucks weise in der Tat nicht zu recht- fertigen. Denn, logisch betrachtet, ist das Invarianzphänomen nicht der Inhalt, sondern vielmehr die Grundlage des Relativitätsprinzips. Weil die Naturvorgänge sich in Hinsicht auf ihre Gesetzlichkeit in allen gleichförmig-gradlinig gegeneinander bewegten Bezugs- systemen identisch abspielen, darum ist das Urteil über den Be- wegungszustand aller derartigen Systeme relativ oder arbiträr (nämlich abhängig von der Wahl eines realen Bezugskörpers, der willkürlich so gewählt werden kann, daß er gegen die beurteilten Systeme entweder ruht oder eine translatorische Bewegung voll- führt). Der Philosoph darf in diesem Falle wohl fragen, ob es nicht zweckmäßiger gewesen wäre, jene Grundlage des Relativitätsprinzips auch begrifflich von ihm zu unterscheiden und etwa im Abschluß an Newtons Formulierung als mechanisches Identitäts- gesetz auszuzeichnen1). Er darf es mit demselben Rechte, mit dem er die Frage stellen darf, ob „Differentialquotient" ein logisch zweck- mäßiger Ausdruck ist für den Grenzwert eines Differenzenquotienten, der seinen Quotientencharakter vor dem Vollzug des Grenzüberganges abgestreift hat, oder ob die übliche Einteilung der Mechanik in Statik Nun ist aber ' = u und — = 0 (wegen u = const.), folglich — —-— = 0. Dasselbe gilt von (vt) und (wt). Folglich ist X = m~w> Y = m~dh Z = m1^' Die Kraftkomponenten bleiben mithin beim Übergang von S zu Sf unter Voraussetzung der Konstanz von w, v, w invariant. 1) Siehe oben S. 391 Anm. 2: Corporum dato spatio inclusorum iidem sunt motus mter se usf. 394 Heinrich Scholz, und Dynamik nicht durch eine bessere ersetzt werden konnte, die die Begriffe der Kinematik und Dynamik zu Oberbegriffen erhebt und die Dynamik selbst in Statik und Kinetik gliedert *). Allein es wird wohl richtiger sein, sich durch Eindringen in die Grundlagen des klassischen Relativitätsprinzips mit der zunächst paradoxen Gestalt seiner Formulierung zu befreunden, als im Namen der Philosophie Begriffe zu bilden, die der Psysiker nicht braucht, und die dem Laien nicht weiter helfen, da er sie in der For- schung nicht antrifft. Denn diese Formulierung verliert ihren paradoxen Charakter auf der Stelle, sobald man ihren analytischen Ursprung erkannt hat. Analytisch läßt sich das Relativitätsprinzip gar nicht anders ausdrücken, als durch drei Gleichungen, welche besagen: Wenn zwei gleichförmig-gradlinig gegen einander bewegte Systeme S und S' gegeben sind und die Komponenten X, Y, Z einer in S wir- kenden Kraft K beim Übergang zu S' in die Komponenten X', Y*, Z' der Kraft K' übergehen, so ist X' = X, Y'= Y'}Z' = Z, also auch K'= K. Der große Schritt, den Einstein getan hat, besteht bekannt- lich in der radikalen Verallgemeinerung dieses klassischen Rela- tivitätsprinzips. Er fällt mit der grundsätzlichen Relativierung aller realen Bewegungen zusammen und führt zu einem Ergebnis, das sich so formulieren läßt: (1) Jede reale Bewegung ist eine Bewegung gegen einen re- alen Bezugskörper. (2) Folglich hat jedes Urteil über reale Bewegungen die Exi- stenz realer Bezugskörper zur Voraussetzung. (3) Die Wahl des Bezugskörpers ist arbiträr, das Verhältnis seines Bewegungszustandes zu dem des Urkörpers jederzeit um- kehrbar, mithin die Beurteilung desselben grundsätzlich relativ. Diese drei Sätze haben vor andern, an sich genau so berech- tigten Formulierungen den Vorzug, daß sie den inneren Zusammen- hang zwischen dem objektivistischen Relativitätsfaktor und der subjektivistischen Relativitätskomponente unmittelbar hervortreten lassen. Denn wenn keine Bewegung durch sich ks eiber als Be- 1) Sehr bemerkenswerte Ansätze zu einer solchen verbesserten Gliederung finden sich in Marcolongos schöner Theoretischer Mechanik; deutsch von H» E. Timerding. 2 Bde. 1911 und 12. Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 395 wegung erkannt werden kann, wenn jede eines Bezugskörpers be- darf, so folgt mit Notwendigkeit, daß die Wahl des Bezugs- körpers, folglich auch die Interpretation der Bewegungsverhältnisse dem persönlichen Ermessen anheimgestellt ist. Selbstverständlich waltet dabei die Voraussetzung ob, daß gezeigt werden kann, in welchem Sinne das Naturgeschehen und mit ihm die Gleichungen der theoretischen Physik einer Auffassung fähig sind, die gegen jede Standpunktsverschiebung invariant ist. Die ungemeine Gedankenarbeit, die an dieser entscheidenden Stelle einsetzen mußte, kann hier, wo uns nur der Relativitäts- begriff interessiert, auch nicht einmal andeutungsweise analysiert werden. Einen authentischen Hinweis auf die Bedeutung, die dem Invarianzproblem zukommt, kann man in der Tatsache erblicken, daß Hermann Minkowski schon 1908, als erst die spezielle Re- lativitätslehre existierte, den Vorschlag -gemacht hat, an die Stelle des Ausdrucks „Relativitätspostulat" den kräftigeren und bezeich- nenderen Ausdruck „Postulat der absoluten Welt" zu setzen1). Aber wir kehren zum Relativitätsbegriff zurück. Sofern im Zusammenhang der Relativitätslehre von einer Relativierung des Raumes zu sprechen ist — des Raumes und nicht der Längen- maße, deren Anwendung das Dasein des Raumes voraussetzt — , ist es wieder der objektivistische Relativitätsbegriff New- tons, der hier allein in Frage kommt. Unter der Relativität des Raumes hat man also die Abhängigkeit des realen, d. i. des meß- baren Raumes — denn nur der meßbare Raum ist physikalisch real — vom Dasein materieller Bezugskörper zu verstehen. Durch sie allein wird die Deutung der Zentrifugalkräfte als Gravitations- wirkungen ermöglicht, und damit die Vertauschbarkeit der Begriffe Trägheit und Schwere, die in der allgemeinen Relativitätslehre eine so große Rolle spielt. Was bedeutet nun schließlich die Relativität, die aus der Re- lativierung der Gleichzeitigkeit und ihren denknotwendigen Konsequenzen, der Kontraktion der Längen- und der Di- latationderZeitmaße, hervorgeht ? Sie bedeutet die Abhän- gigkeit dieser drei Dinge vom jeweiligen Bewegungszustande des urteilenden Beobachters. Es läßt sich leicht zeigen, wie auch diese Bedeutung mit dem objektivistischen Relativitätsbegriff zu- sammenhängt. Ein Bezugskörper kann nicht existieren ohne einen 1) Lorentz, Einstein, Minkowski, Das Relativitätsprinzip. *1922 S. 60. 396 Heinrich Scholz, Bewegungszustand. Es tritt also in dieser kinematologischen Wendung, wie wir sie kurz nennen können, nur eine besonders hervorzuhebende Komponente des objektivistischen Relativitäts- begriffs hervor, die in diesem eigentlich schon analytisch enthalten ist. Wir können aber um der Deutlichkeit willen die Abhängigkeit vom Dasein eines realen Bezugskörpers als den ontologischen Faktor des objektivistischen Relativitätsbegriffs auszeichnen. Die Relativität der Zeit als solcher ist mit der Relativität der Zeitmessung identisch. Auch hier wiederholt sich das Axiom, daß nur die gemessene und meßbare Zeit im physikalischen Sinne real ist. In diesem Sinne aber ist sie es wirklich. Folglich besteht ihre Relativität in ihrer Abhängigkeit von dem Bewegungs- zustande des jeweiligen Bezugssystems, während Newtons Relati- vitätsbegriff hier lediglich die Existenz periodischer Bewegungs- vorgänge voraussetzt. Was endlich die durch die spezielle Relativitätslehre an- gebahnte, in der allgemeinen vollzogene Zusammenfassung von Raum, Zeit und Materie betrifft, so dürfen wir uns hier mit zwei Bemerkungen begnügen. Die erste betrifft das Objekt dieser Zusammenfassung. Daß wirklich Raum und Materie zu einem unzertrennlichen G-ebilde zusammengefaßt werden, ergibt sich aus dem relativistischen Raumbegriff, wie er prinzipiell von Newton ge- prägt und als Gegenstück des absolutistischen, von der modernen Relativitätslehre verworfenen Raumbegriffs aufgestellt worden ist. Der Ausdruck „Verschmelzung von Raum und Zeit" entstammt hin- gegen einem mathematischen Sprachgebrauch, den man besser nicht übernehmen wird. Gemeint ist bekanntlich die Zusammenfassung der drei räumlichen Koordinaten eines Ereignisses mit seiner zeit- lichen Koordinate in der Minkowskischen Weltlinie. Man wird diesen Sachverhalt deutlicher ausdrücken, wenn man von einer konse- quenten Verschmelzung der räumlichen und zeitlichen Bestim- mungsstücke eines Ereignisses spricht1). 1) Die berühmten und oft zitierten Worte Minkowskis: „Von Stund an sollen Raum und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren" sind so zu interpre- tieren: „Von Stund an sollen alle Einzelaussagen über den räumlichen oder zeit- lichen Abstand zweier Ereignisse zu wissenschaftlicher Bedeutungslosigkeit herab- sinken, und nur noch eine konsequente Verknüpfung beider Arten von Aussagen durch den Begriff des raumzeitlichen Weltabstandes soll statthaft sein". An irgend etwas Mystisches wird bei dem Wort ,Union' wohl niemand denken, der das Minkowskische Hyperboloid studiert hat. Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 397 Unsere zweite Bemerkung gilt der Bedeutung, die man dem Relativitätsbegriff an dieser Stelle zuzuschreiben hat. Re- lativität ist hier gleichbedeutend mit wechselseitiger Ab- hängigkeit, also mit Korrelativität. Wir fassen zusammen. Der für die moderne Relativitätslehre charakteristische Relativitätsbegriff, in seinen Fundamenten von Newton geschaffen , besteht aus einem objektivistischen und einem subjektivistischen Faktor. Als objektivistisches Prinzip zerfällt er in eine ontologische und eine kinemato- logische Komponente, je nachdem er die Abhängigkeit von der Existenz eines realen Bezugskörpers oder neben dieser aus- drücklich die Abhängigkeit von seinem Bewegungszustande zum Ausdruck bringt. Der ontologische Relativitätscharakter kommt nach der verallgemeinerten Relativitätslehre allen Bewe- gungen überhaupt, ferner dem physikalischen Räume zu, in dem sich die realen Bewegungen abspielen. Die Relativität der Gleich- zeitigkeit, des Zeitverlaufs, sowie der Zeit- und Längenmaße ist kinematologischer Art. Ebenso die der Masse und Energie, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Aus diesem objektivistischen Relativitätsbegriff läßt sich der subjektivistische herleiten , der die Abhängigkeit vom Er- messen des urteilenden Beobachters ausspricht; und zwar auf dem Wege über das Invarianzphänomen. Weil alle Bewegungs Vor- gänge so aufgefaßt werden können, daß ein Standpunkts Wechsel ihre Gesetzlichkeit nicht affiziert, so hängen alle Bewegungs- urteile von der arbiträren Wahl eines Bezugskörpers ab 1). 1) Es ist heute wieder lehrreich zu sehen, wie unter den Hauptstößen, die einst Copernicus gegen die Aristotelische Physik geführt hat, das Relativitäts- prinzip hervortritt. „Omnis quae videtur secundum locum mutatio aut est propter spectatae rei motum aut videntis aut certe disparem utriusque mutationem" (I, 5). Natürlich fehlt diesem Trumpf noch das ganze Gewicht einer Kenntnis der Phä- nomene, um derentwillen Newton hernach eine absolutistische Physik gefordert hat. Ganz im Newtonschen Sinne drückt sich hingegen Ptolemaeus aus. Nur ist es nicht die Newtonsche, sondern selbstverständlich die Aristotelische Physik, um derentwillen er den radikalen Relativismus der antiken Kopernikaner verwirft. AsXri&s ccbxovg, Zxi x&v filv nsgl xa äoxgcc cpccivofisvcov %vey,ev ovdhv ccv l'cag xcoXvoi ncixci ys xr\v ccitXovaxegccv imßoXi}v roütf ovxtog £%sivt catb 8s x&v negl 7](i&s ccbxo'bg %al x&v iv &sql aviinxcoficixav xcci ndvv "kv yeXoidxccxov ötpfteiri xb xoiovxov (Syntaxis math. I 7 ; ed. Heiberg, p. 24). Unter den neueren Physikern ist wohl Huygens der erste konsequente Relativist gewesen (vgl. L. L a n g e , Die geschichtliche Entwicklung des Bewegungs- 398 Heinrich Scholz, Zur Analysis des Relativitätsbegriffe. Aber wie man seinen Standpunkt auch wählen möge : die Bewegungs- gesetze als solche lassen sich stets so formulieren, daß sie von dieser Wahl nicht betroffen werden. Dieses Invarianz ergebnis ist für die abschließende Beurteilung der ganzen Relativitätslehre von so entscheidender Wichtigkeit, daß man eben so gut von einer Invarianztheorie wie von einer Relativitätslehre sprechen könnte. Der innere Zusammenhang von Relativität und Invarianz macht sich hier noch einmal geltend. Man kann diesen Zusammenhang doppelt ausdrücken. Entweder man sagt: die prinzipielle Darstellbarkeit des gesamten Natur- geschehens in Invarianten ist die Grundlage der relativistischen Physik; oder: der grundsätzliche Ausdruck alles Naturgeschehens in Invarianten ist das Ziel der umfassenden Relativierungsprozesse, denen die neue Physik ihren Namen verdankt. Beides ist im Grunde dasselbe. Es versteht sich, daß diese begriffliche Analysis himmelweit entfernt davon ist, den philosophischen G-ehalt der Relativitätslehre erleuchten zu wollen. Nach der grundlegenden Arbeit, die Moritz Schlick, Hans Reichenbach und Ernst Cassirer in dieser Hin- sicht geleistet haben, wird man entscheidende Fortschritte jetzt vor allem von der Axiomatisierung der Relativitätslehre erwarten dürfen, die Hans Reichenbach eingeleitet hat. In diesen Prozeß irgendwie eingreifen zu wollen, liegt der vorstehenden Analysis gänzlich fern. Sie will lediglich der Klärung des Relativitätsbegriffs dienen und einerseits die Modalitäten desselben im Bereich der physikalischen Relativitätslehre aufhellen, andrerseits die Beziehungen des physika- lischen Relativitätsbegriffs zur philosophischen Relativitätskategorie auf einen möglichst bestimmten Ausdruck bringen. Das Ziel wäre erreicht, wenn sich der Eindruck erzeugte, daß dies ohne Inanspruch- nahme scholastischer Distinktionen und Vorurteile gelungen ist. begriffs 1886 S. 72 ff. ; dazu die sehr interessanten Dokumente, die A. Schouten im Jahresbericht der deutschen Mathematiker- Vereinigung, 29. Bd. 1920 S. 136 ff. unter dem Titel: „Die relative und absolute Bewegung bei Huygens" aus dessen Nachlaß veröffentlicht hat. Indessen ist sein konsequenter Relativismus selbst- verständlich nicht über die Stufe eines kritischen Anti - Absolutismus hinausge- kommen, so wenig wie derjenige Berkeleys. Den entscheidenden Schritt, die Identifizierung von Trägheit und Gravitation, hat keiner dieser „Vorläufer" auch nur von fern ins Auge gefaßt. Auch nicht Ernst Mach, dessen ganzen Rela- tivismus man überhaupt nicht mehr allzu ernst nehmen wird, wenn man die zwar ehrliche, aber schroffe Absage an die Relativitätslehre in der Vorrede seiner nachgelassenen Optik gelesen hat. Mythus und Kultur. Von Arthur JLiebert, Berlin. „Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen und überall steckt noch etwas Anderes dahinter" (Goethe, Ge- spräch mit dem Kanzler von Müller vom 8. Juni 1821). . „Nicht nur unsere Kunst und Dichtung, unser ganzes Vorstellungsleben, Denken und Keden könnte den Schatz von Mythen, der uns mit dem Glauben des klassischen Altertums, der Germanen, der Kelten, der ganzen Re- ligions- und Phantasiewelt des Mittelalters überliefert ist, nicht mehr entbehren". (FriedrichTheodor Vi seh er, Kritische Gänge; herausg. von Robert Vischer ; 4. Band S. 430.) — Inhalt. Seite Einleitung 399—401 I. Die allgemeine Bedeutung des Mythus überhaupt für die Kultur . 401—414 II. Typische Sondermythen auf einzelnen geschichtlichen Kulturstufen 415—429 III. Unsere Zeit und das Problem des Mythus 429—445 Einleitung1. G-erade für eine Hans Vaihinger, dem Philosophen der Fiktion und dem gegenwärtigen Führer der Als Ob-Lehre, ge- widmete Festschrift dürfte ein Beitrag nicht nnangemessen sein, der sich grundsätzlich mit dem Problem des Mythus beschäftigt. Zwar wird keine eingehendere Untersuchung die tiefen, bis in das Prinzipielle hinabreichenden Unterschiede außer Acht lassen oder übersehen dürfen, die zwischen Fiktion und Mythus obwalten. Auf der anderen Seite besteht zwischen der Fiktion im Sinne Vai- hingen und dem Mythus aber insofern eine gewisse, unverkenn- bare Gemeinschaft, als sie beide zwar aus nicht bloß theoretischen Absichten des menschlichen Geistes entspringen, auf nicht bloß theoretischen Funktionen und bloß wissenschaftlich-begriffsmäßigen 400 Arthur Liebert, Leistungen des Bewußtseins beruhen, beide trotzdem bestimmte Begriffselemente und Erkenntnisformen in sich tragen und den An- spruch erheben, als eine eigentümliche „Erkenntnis" zu gelten. Ihre gemeinsame Wurzel ist die produktive Einbildungskraft, die je nach Wunsch und Erforderlichkeit sich gewisser wissenschaft- licher Begriffe und Erkenntniswerte bedient. Gemeinsam ist ihnen ihre außerordentlich bedeutungsvolle weltanschauliche Rolle inner- halb der menschlichen Kultur und Gesellschaft, die über alle von der engeren und strengeren Wissenschaft beherrschte Zone des Lebens hinausreicht, auch das Gebiet der Kunst und der Religion in sich umfaßt, und die den Abschluß ihrer Aufgabe und den Sinn ihres Spieles in der Errichtung eines aus den verschiedenartigsten geistigen Tendenzen zusammengewobenen Weltbildes findet. Die folgenden Ausführungen wollen keinen Beitrag zur Psy- chologie oder zur Philosophie des Mythus darstellen. Nach jener Richtung ist bereits höchst Wertvolles geleistet worden. Hinge- wiesen sei auf den 2. Band von Wilhelm Wundts „Völkerpsycho- logie", der im besonderen die psychologische Begründung und Ab- leitung von < Mythus und Religion > unternimmt, und auf Konstantin Oesterreichs „Religionspsychologie". Was die Philosophie des Mythus anlangt, so darf hier auf diejenigen Werke der spekula- tiven Ästhetik verwiesen werden, die ihre Aufmerksamkeit dem Begriff und dem Phaenomen des Symbols zuwenden, wie das z. B. bei Schelling und in der Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer der Fall ist. Vischer hat außerdem seinen „Kritischen Gängen" ein fesselndes Kapitel über „Das Symbol" eingereiht. Schließlich sei noch die vortreffliche Schrift von Johannes Volkelt: „Der Sym- bolbegriff in der neuesten Ästhetik" (1876) erwähnt. Der Zweck der folgenden Darlegungen ist vielmehr der, die eigentümliche, oft entscheidungsvolle, stets ungemein charakteristische Stellung des Mythus innerhalb der geschichtlich-gesellschaftlichen Kultur zum mindesten anzudeuten. Etwa im Sinne einer etwas genaueren Ausführung des unserer Untersuchung vorangestellten Wortes von Fr. Th. Vischer oder jenes Satzes von Friedrich Nietzsche in der < Geburt der Tragoedie> : „Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab" (W. I, S. 160). Was unserer wissenschaftlichen Literatur fehlt, das ist eine umfassende Kulturgeschichte des Mythus, die den Wandel und die Abwandlung des Grundmythus Mythus und Kultur. 401 durch die Entwicklung des europäischen Geisteslebens verfolgt, die ferner die geschichtlichen Motive und Voraussetzungen für diese Abwandlung aufzeigt und endlich die Rolle beleuchtet, die der in der »Enge einer historischen Wirklichkeit" (Nietzsche) ent- standene besondere Mythus für die betreffende geschichtliche Le- bensstufe besitzt. In drei gedrängten Kapiteln sei nun von dem „Los des Mythus" auf Erden unter besonderer Berücksichtigung der eigentümlichen Beziehung unserer Zeit zu dem Problem des Mythus gehandelt. Gerade in dieser Beziehung nämlich ruht und offenbart sich eine der entscheidenden Voraussetzungen für die schwere geistige Krisis, in der wir uns gegenwärtig befinden. Die allgemeine Bedeutung des Mythus überhaupt für die Kultur. Der ganzen äußerlichen Mannigfaltigkeit der europäischen Kulturentwicklung entspricht ein ihr gemäßer, in ungemeiner Folgerichtigkeit verlaufender Zusammenhang von Werken der Kunst, Gedankensystemen, Schöpfungen des religiösen, politischen, rechtlichen, wissenschaftlichen Bewußtseins. Und man begreift die konkreten Geschehnisse und den empirischen Gang der Kultur erst dann, wenn man die Voraussetzungen und den Sinn jener ideellen Hervorbringungen zu erfassen und zu würdigen vermag. Einen eigentümlichen, in seiner Wichtigkeit kaum hoch genug zu veranschlagenden Ausdruck dieser Arbeit der geschichtlichen Ver- nunft stellen die verschiedenen Mythen dar, die in den mannig- fachsten Ausprägungen den Verlauf, das Auf und Ab unserer ge- schichtlichen Entwicklung begleiten. Wenn für diese Entwicklung etwas notwendig und geeignet ist, ihr zur inneren Rechtfertigung, zur Festigung ihres Wellenspieles zu dienen, dann sind es die in ihr auftretenden, durch sie bedingten und dann auf sie wieder zu- rückwirkenden Mythen. Was in ihnen seinen Niederschlag findet, und was sie wiederspiegeln, das sind die tiefsten Hoffnungen, Sehnsüchte, Gläubigkeiten und Überzeugungen, das sind die cha- rakteristischen Begabungen, Neigungen, Forderungen und Erkennt- nisse eines bestimmten geschichtlichen Lebenskreises. Wem sich die Voraussetzungen, der Sinn und der Wert der Mythen er- schließen, dem offenbaren sich die wesenhaften Gründe aller ge- schichtlichen Leistungen. Denn sowohl das, was eine Zeit oder 402 Arthur Liebert, ein Geschlecht will, worauf die Anspannung gerichtet ist, was dem Wollen als Grundlage dient, nicht zuletzt auch das, was als Schwäche und Unzulänglichkeit empfunden oder erkannt wird, er- klingt aus den Mythen mit vernehmlicher Stimme. Es entspricht einem unmittelbaren, elementaren menschlichen Bedürfnis, die Nei- gungen und Wünsche, die Interessen und Erwartungen der Seele zu einem Idealgemälde zu verbinden und zu verdichten und diesem in der Form einer naiven und unbewußten Hypostasierung und Objektivierung irgend eine Realität, meistens in der Gestalt einer geschichtlichen Lebenslage, zu verleihen. Man glaubt das, was einem fehlt, aber was man erstrebt, in irgend einer anderen Zeit, bei irgend einem Volk in fruchtbarer Tatsächlichkeit zu erblicken. So bildete sich Nietzsche, der so bitter unter dem „chaotischen Durcheinander aller Stile" der Deutschen seiner Tage litt, den Mythus von der „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebens- äußerungen eines Volkes". Er nannte diese Form der Einheit „Kultur" und schuf den weiteren Mythus, daß die Griechen diese Einheit, also Kultur, erreicht hätten. Auch darin ein Schüler Goethes, eines der größten Mythenschöpfer aller Zeiten. Unbe- kümmert um die strengeren Ergebnisse der philologischen und historisch-kritischen Erforschung der griechischen und hellenisti- schen Welt gestalteten sie den so außerordentlich wirkungsvollen Mythus vom Hellenismus und vom klassischen Griechentum. Sie ersannen ihn aus dem Bedürfnis heraus, die ihnen vorschwebende Kulturidee zur geschichtlichen Wirklichkeit zu erheben und ihre geschichtliche Möglichkeit darzutun. Der tiefste Sinn des Mythus beruht auf dem Streben nach einer idealen Ergänzung und Vollendung unseres Wesens und Schicksals. Kein Mensch, dem nicht alle Spannkraft, Gläubigkeit, alle Fähigkeit zu einer konstruktiven Deutung der geschichtlichen Welt abhanden gekommen ist, vermag auf die Dauer die Ein- spannung in den Umkreis des Bloß- Sachlichen zu ertragen und sich an der konkreten Gegenständlichkeit des ihn umgebenden Lebenszusammenhanges genügen zu lassen. Denn man will für sein Dasein nickt nur äußere Fülle und Abwechselung, sondern auch innere Tiefe, nicht nur die Form des Gesetzes, sondern auch sinnhafte Begründetheit und Endgültigkeit haben. Wir wollen in ihm nicht nur Wechsel, sondern auch Gehalt, nicht nur Notwen- digkeit, sondern in allem Ablauf und Tun auch Wert. Wir hegen darnach deshalb Verlangen, weil wir immer auch des „Gegenteils" Mythus und Kultur. 403 bedürftig und begierig sind und nur in der Verbindung von Re- lativität und Absolutheit, nur in der Synthese des Empirisch- Diesseitigen mit seinem symbolhaften Anschluß an ein Unbedingtes, ganz gleich wie dieses aufgefaßt, ausgedeutet, anerkannt werden mag, das Ganze des Lebens erblicken und nur in einem solchen Ganzen überhaupt des Lebens froh und gewiß werden können. Die ewige Dialektik der Kultur prägt sich in der synthetisch- an- tithetischen Verwebung von Notwendigkeit und Freiheit, Erschei- nung und Idee, Endlichkeiten und Unendlichkeiten, wechselnden und jeweiligen Inhalten und ewigen Formen, wechselnden und je- weiligen Formen und ewigen Inhalten aus. Aus der Welt des Geschichtlich-Tatsächlichen nährt unser Geist seine Unruhe; denn diese "Welt ist kein Ganzes, und sie ermangelt ferner des sinn- haften Erfülltseins. Über den Geist Europas wäre nicht jene Über- bewegtheit und Aufgewühltheit gekommen, hätte er nicht in allzu energischer und allzu einseitiger Weise sich nur auf Tatsächlich- keiten eingestellt. Der Beziehung auf das Bloß-Tatsächliche ent- keimt die Problematik, wenn auch die Gewinnung und Bewahrung des Empirischen und die Herrschaft über das Erfahrungsmäßig- Gegenständliche eine der Hauptaufgaben aller Kultur ist und bleibt. Aber diese Problematik muß überwunden werden, weil das Empirische und Gegebene, das Endliche und Konkret-Notwendige nur die eine Seite in der Universalität des Lebens ist, weil es seine Hinausführung zu einem Absoluten innerlich verlangt. Denn wo von einer Einheit und Gesetzlichkeit der Erscheinungen ge- sprochen, wo nach einer- solchen Einheit und Gesetzlichkeit gesucht wird — und auf welchem Gebiet des geschichtlichen Lebens könnte ein derartiges Suchen und Forschen unterlassen oder unterbunden werden? — da wird das Gegebene an ein Ewiges angeknüpft, da vollzieht sich die Erhebung zum Reich des Absoluten. Welche Gestalt aber auch immer diese, unter jedem Betracht gebotene Er- hebung aufweisen mag, stets und unweigerlich erfolgt sie in der Form und unter der Voraussetzung eines Mythus. Das soll keines- wegs heißen, daß das Absolute zu einem Mythus gestempelt oder nur als ein Mythus angesehen würde. Geschähe dies, so würde man ja aus dem Relativismus nicht hinauskommen, dem man doch gerade durch die Bildung jenes Mythus entrinnen will. Jene für alle Kultur schicksalshafte Wendung des Geisteslebens bedeutet vielmehr, daß man sich des Absoluten in der Form des Mythus wieder bemächtigt. Denn der Mythus ist in allen Kulturen der 404 Arthur Liebert, Weg, auf dem der Menschengeist zum Absoluten emporsteigt. Er mythologisiert also so wenig das Absolute, daß dieses geradezu seine Voraussetzung darstellt, daß seine Realität die Bedingung aller Mythen, daß der Wahrheits- und Geltungswert und daß der Sinn aller Mythen und das menschliche Suchen nach ihnen von der Realität des Absoluten abhängig ist. Nur ein in einem extrem- einseitigen und doktrinären Empirismus und Positivismus befan- genes Zeitalter oder Geschlecht verwässert und verkennt die Idee des Absoluten und verkleinert sie zu einer subjektiven Glaubens- vorstellung oder Einbildung, die durch den Fortschritt der Auf- klärung und Intellektualität angeblich aus der Welt geschafft werden würde. Aber auch umgekehrt ist nicht einem sich in starker Gläubigkeit bewegenden Zeitalter oder Geschlecht die Pflege und Bewahrung des Mythus ausschließlich vorbehalten, als besitze es ihn als ein unantastbar eigentümliches Vorbehaltsgut. Denn alle Züge und Schichten, alle Richtungen und Gestalten der Kultur sind vom Mythus erfüllt und umrankt, und es ist ein- fach ein Vorurteil oder ein Mißverständnis, seine Existenz gewissen Stufen und Abschnitten der geschichtlichen Entwicklung abzu- sprechen. Ohne Mythus verliert eine Kultur eine ihr wesentliche Bedingung, weil ihr dadurch der so notwendige Weg der Her- stellung des Verhältnisses zu einem Absoluten fehlen würde. Auch der Rationalismus hat in sich einen deutlich erkennbaren Mythus. So kann man dem Nietzsche der ersten und dritten Periode seiner philosophischen Entwicklung nicht recht geben, dem der ,Sokra- tismus' als Verkörperung einer blutlosen, negierend und zweifel- süchtig gerichteten Aufklärerei erschien, und der behauptete, der abstrakt geleitete Mensch, die abstrakte Erziehung, die ab- strakte Sitte, das abstrakte Recht, der abstrakte Staat ermangelten des Mythus. Und man kann ebensowenig Friedr. Theodor Vischer in seiner Behauptung zustimmen: „Kritik ist der Tod alles My- thus" (Kritische Gänge, 3. Band S. 34, herausg. von Robert Vischer). Denn durch die Kritik wird nicht aller und jeder Mythus ver- nichtet, sondern nur eine bestimmte Ausprägung und Erscheinung desselben. Die Kritik selber, sofern sie nur irgendwie schöpferisch ist, also einen bestimmten wissenschaftlichen Gesichtspunkt in me- thodischer Folgerichtigkeit durchführt und zu dem Fortschritt der menschlichen Erkenntnis und Einsicht beiträgt, m. a. W. : positive Arbeit leistet, beruht ebenfalls auf einem Mythus und betätigt sich in dem Rahmen eines solchen. So stimme ich durchaus Ernst Mythus und Kultur. 405 Bertram zu, der in seinem eindrucksvollen Werk: «Nietzsche, Versuch einer Mythologie > sagt: „Selbst in sehr bewußten, ana- lytisch gerichteten Zeiten, in Perioden sogenannter Allgemeinbil- dung, wird die Legende (die B. ganz im Sinne unseres Begriffes Mythus gebraucht) nicht ausgeschaltet, ja nicht einmal zurückge- drängt. Die zunehmende Bewußtheit, die Selbstkontrolle, das phi- lologische Wissen um die tatsächlichen Lebensumstände einer großen Erscheinung, all das hat nur einen recht schmalen Einfluß auf die Entstehung der Legende. Weder hemmend noch fördernd ist dieser Einfluß wesentlich. Der überwache und überwachende Intellekt hat, wo ein Mythus sich durchsetzen will, auch heute nicht anders als früher seine unverrückbaren Schranken" (S. 3). Auch in der ,Kritik' verbirgt sich ein Mythus. Er hat die Grestalt der unbedingten Überzeugung von der Greltung und dem Wert der Wissenschaft, von der Kulturbedeutung der" Erkenntnis. Und diese Überzeugung gelangt in der wissenschaftlichen Kritik zu theoretischem Ausdruck. Daß die Wissenschaft eine solche Bedeutung hat, ist, wenn man sich von der banalen Feststellung ihrer äußeren Erfolge und von dem empirischen Hinweis auf ihren unvergleichlichen Siegeszug fernhält, rein begriffsmäßig nicht be- weisbar. Hier äußert sich vielmehr die mythenbildende Kraft eines Postulates, das sein Eecht aus der Idee der sittlichen Be- stimmung des Menschen, aus dem G-edanken, daß die wahre Natur des Menschen im Eeiche der Intelligibilität liegt, zieht. Das Ein- treten des 18. Jahrhunderts für das Werk der Aufklärung und für die Ersetzung der dogmatischen, auf Offenbarung sich be- rufenden Gläubigkeit durch die Vernunftreligion und Vernunft- theologie beruhte auf keinem geringeren Mythus als die Geistes- verfassung und das ganze System der mittelalterlichen Katholizität. Hier wie dort waren Voraussetzungen im Spiel, die ihr Recht und ihr Ansehen auch durch keinerlei Nützlichkeitserwägungen be- glaubigen lassen. Läßt^ es sich doch mit nichten in endgültiger und einwandfreier Entscheidung ausmachen, daß die Aufklärung bzw. die Vertretung uud Beibehaltung der mittelalterlich-kirch- lichen G-esinnung und Stimmung „nützlich" waren oder sind. Auch an diesem Punkt leuchtet die theoretische Unzulänglichkeit, ja Ambiguität aller pragmatistisch - utilitaristischen Beweisführung ohne weiteres ein. Gesinnung, G-eistesart, Wertungen, theoretisches und prak- tisches Verhalten einer Zeit oder eines Lebenskreises, eines Ge- Kantstudien. XXVII. 27 406 Arthur Liebert, schlechtes oder eines einzelnen Menschen stehen ihrem letzten Sinn nach jenseits der Möglichkeit einer rein begriffsmäßigen Begrün- dung und Ableitung. Sie sind eben in ein System mythischer Voraussetzungen eingebettet, die darin ihr Wesen haben und ihre Kraft darin auswirken, daß sie dem ganzen äußeren und inneren Wollen und Tun die Sicherung der Unbedingtheit gewähren. Durch sie wird die empirische Gegebenheit der Lebenszustände und Le- bensbetätigungen verankert in einem Zusammenhang, dessen Struk- tur erhaben ist über die Zufälligkeiten des geschichtlichen Wandels, weil seine Gesetze den Charakter von Sinnbeziehungen oder Sinn- bezogenheiten der äußeren Lebenserscheinungen auf irgendeinen als unbedingt gültig anerkannten oder geglaubten Wert besitzen. Selbst ein in der Stimmung des Relativismus und Skeptizismus auf- gehendes Zeitalter hat in der Hypothesis der Geltung des Re- lativismus und Skeptizismus eine Anknüpfung an ein Unbedingtes. (Der Begriff der Hypothesis in platonischem Sinne verstanden, wie er in der Philosophie der Gegenwart besonders von den Marbur- gern, hier in erster Linie von Hermann Cohen und Natorp, her- ausgearbeitet und vertreten wird.) Darin bekundet sich der grund- sätzliche und unverwischbare Unterschied desjenigen Zusammen- hanges, den wir Geschichte nennen, gegenüber allen Bezügen na- turhaften Seins, daß jede seiner Stufen und Begebenheiten, daß jeder seiner Zustände und jede in ihm auftretende Person sich nicht restlos darin erschöpft und ausspricht, daß sie bloß da ist und wirkt. Sie hat vielmehr eine immanente Beziehung auf einen Sinn oder ein Ziel, deren Erfassung und Feststellung nicht sowohl eine Tat der Erkenntnis als vielmehr eine Aufgabe mehr oder minder konstruktiver Deutung ist. Die Einsicht darin, daß die empirische Geschichte in jedem ihrer Momente und Elemente, sofern diese wirklich von historischer Zuständigkeit sind, auf einen Zusammen- hang hinweisen und hinarbeiten, den wir einmal der Kürze halber als einen intelligibelen bezeichnen wollen, verdanken wir bekannt- lich der spekulativ-idealistischen Geschichtsphilosophie. Deren Wesen besteht darin, daß sie den sinnhaften, absoluten Hinter- grund alles Empirischen und Peripheren in der Geschichte in me- thodischer Konstruktion gedeutet hat. Diese konstruktive, speku- lative Einstellung war es, der es gelang, über die empirisch-histo- rische Erkenntnis der Geschichte hinauszugehen und die Geschichte zur Idee zu erheben und damit erstmalig die Kultur als Idee zu sehen und in ihrem ideellen Gehalt zu entwickeln. Mythus und Kultur. 407 Dieses Aufgraben des Absoluten in allem Relativen, dieses Er- blicken eines ewigen Sinnes in allen Zeitlichkeiten ist seinem Prinzip und Wesen nach nichts anderes als jene Fälligkeit und Funktion, die wir gewöhnlich als ein Vorrecht und als eine Eigen- tümlichkeit mythologisch gerichteter Zeitalter anzusprechen pflegen. Jedoch selbst ein G-eschlecht, das einem vollkommenen Positivismus nnd Naturalismus verfallen ist, und das die Aufgabe und Kraft der menschlichen Erkenntnis auf die Feststellung der Gesetzmäßig- keit der Erscheinungen beschränkt wähnt, hat in der notwendig vorauszusetzenden Geltung der Gesetzlichkeit seinen Mythus. Deshalb kann nicht der religiöse Glaube für sich den Vorzug und die Besonderheit in Anspruch nehmen, daß er allein ein Anrecht auf den Mythus besäße. Was ihn auszeichnet, ist nur eine spe- zifische Form des Mythus, vielleicht eine solche von der größten Inhaltlichkeit und Innigkeit und darum begabt mit dem stärksten Antrieb zur Erlösung, zur Weltüberwindung. Überall da, wo sich innerhalb des geschichtlichen Lebens eine Beziehung zu einem, in diesem Leben nicht ganz eingebetteten und sich ihm nicht restlos ausliefernden Sinnhaft-Absoluten eröffnet, stehen wir vor der Wirksamkeit eines Mythus. Und da sich diese Durchbrechungen der empirischen Lebenszone an hunderttausend Ecken zeigen, da die Dialektik und Paradoxie der Kultur in einer unaufhörlichen Transzendierung ihrer Bestandteile und Vorgänge besteht, worauf besonders Georg Simmel und Heinrich Rickert aufmerksam ge- macht haben, bekundet sich in zahllosen Fällen und in allen Schichten und Bewegungen der Kultur die schöpferische und un- vermeidliche Leistung des Mythus. Man muß ihn geradezu als eine für alle Kultur wesentlich bestimmende Bedingung bezeichnen ; und keine Philosophie der Kultur oder im philosophischen Geiste gehaltene Geschichte der Kultur kann an dieser konstitutiven Be- deutung des Mythus vorübergehen. So läßt sich in Zusammenfassung der bis jetzt gebotenen Aus- führungen als Ergebnis aussprechen: Überall da machen sich das Auftreten und die Betätigung eines Mythus geltend, wo die Re- lativität und die geschichtliche Gebundenheit eines Glaubens-, Vorstellungs-, Gedankenkreises überschritten wird, wo irgendein Bezirk der Kultur, über das Empirische seines Bestandes und An- sehens hinausgreifend, nach seinen ewigen Vernunftbedingungen als den Prinzipien seiner Phaenomenalität fragt, wo er sich zur Unbedingtheit erhebt. Der geschichtlich am häufigsten zu be- 27* 408 Arthur Liebert, obachtende Prozeß dieses Unbedingtwerdens oder auch nur dieses Verlangens nach Unbedingtheit hat die Form, daß ein einzelnes Kulturgebiet, sagen wir die Philosophie oder die Religion, über das ursprüngliche Feld seiner Entstehung und Geltung hinaus zur Herrschaft über die ganze geistige Ebene und Tiefe einer Zeit strebt, sich in die Stellung der Allgemeinheit und Allgemein- gültigkeit einschiebt und nun alle übrigen Tendenzen, Arbeiten, Einrichtungen der Zeit mit seinem Wesen erfüllt, sie gleichsam umklammert. Der Akt der Annahme und Anerkennung solcher Grundbedingungen, denen metaphysische Geltung innewohnt, dient allem empirischen Gebahren und Verhalten zur Voraussetzung : er hat durchaus konstruktiv-mythische Bedeutung und stellt eine völlig autonome Geistestat dar. Die sich in ihm und mittels seiner vollziehende prinzipielle Wendung des Lebens ist mit Hilfe der Wissenschaft nicht weiter erklärbar. Wir stehen hier vor einer durchaus spontanen Freiheitshandlung, die allein, wie die idealisti- sche Philosophie uns gelehrt hat, die Erscheinungen des Lebens zur Hohe des Wertes und der Würde steigert und ohne deren Vollzug nicht einmal von einem Seienden mit Vernunft und Sinn gesprochen werden kann. Diese Wendung kann religiösen Cha- rakter haben und zu einem religiös gearteten Mythus führen, braucht es aber mit nichten. Sie kann ebensogut einen ethischen, aesthetischen, politischen, intellektuell-wissenschaftlichen Charakter aufweisen und hat einen solchen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung oft genug aufgewiesen und dann eine Verabsolutierung und Verewigung der sittlichen, der künstlerischen, der staatlichen, der wissenschaftlichen Prinzipien gezeitigt. Der metaphysische Sinn, der in dieser durch den Mythus sich vollziehenden Wendung des Lebens ruht, und um dessentwillen das Leben zur Schöpfung eines Mythus greift, läßt sich auch durch folgende Überlegung klarstellen oder zum mindesten umschreiben. Der übliche Ablauf der geschichtlichen Bewegung verstrickt Menschen und Zeiten immer unerbittlicher in das Netz empirischen Geschehens, starrer, seelenloser Konventionen, formaler Bindungen, hingenommener Größen und Autoritäten, deren Recht und Aner- kennung schließlich nur auf der äußeren Dauer ihres Daseins und nur auf einer durch Gewohnheit gestützten Tradition gegründet scheinen. Mit einem starken Wort: Das Reich der Schatten und die Gesetze der Schattenwelt breiten sich immer mehr aus. Alle Mythus und Kultur. 409 geschichtlichen Geltungen scheinen alsdann ihr Ansehen und ihre Bürgschaft lediglich aus der Tatsächlichkeit des Umstandes zu ziehen, daß sie unter bestimmten historischen Bedingungen ent- standen sind und damit einem bestimmten historischen Zusammen- hang angehören. Aus der Tatsache, daß sie geworden sind und einen Teil des geschichtlichen Bestandes darstellen, suchen sie ihren "Wert abzuleiten und zu beglaubigen. Da jedoch keine Tatsächlichkeit einen Wert, eine Bedeutung zu schaffen imstande ist, und mag sie einen noch so großen histori- schen Raum einnehmen, so gerät das geschichtliche Leben, wenn es einmal keiner anderen Leitung unterstellt ist als den empirischen Gesetzen seines konkreten Daseins und Dahingetriebenwerdens, in einen schließlich blut- und seelenlosen Relativismus ; es wird zu nichts anderm als zur bloßen „ Geschichte ". Denn das alsdann herrschende Gesetz kennt und umfaßt nichts anderes als Erschei- nungen. Die nackten Gegebenheiten in ihrem Vorhandensein und Wirken rücken in ein Scheinrecht ein, und- alle Geltung ver- äußerlicht sich zu dem leeren Charakter eines in reiner Macht verankerten Seins, das sittliche, ästhetische, religiöse, metaphy- sische Sinnbeziehungen und alle Begründungen in einem Absoluten nicht duldet oder geradezu verschmähen zu dürfen glaubt. Man kann diese Bewegung des geschichtlichen Lebens, die in tausend Fällen zu beobachten ist, als den Weg der Verendlichung und Empirisierung einer Kultur oder einer Periode bezeichnen: Die wesenhaften Rechtsgründe der geschichtlichen Arbeit geraten mehr und mehr in Vergessenheit, höchstens daß versucht wird, die Be- strebungen und Errungenschaften der Geschichte durch einen mehr oder minder banalen Pragmatismus zu beglaubigen. Das Leben erhält einen stetig zunehmenden Zug an Unwirklichkeit und Un- wesentlichkeit, es beginnt, gleichsam in der Luft zu schweben ; die Momente seiner Wirklichkeit erstarren und veräußerlichen sich zu selbstgenugsamen Faktizitäten und zu bloß-zeitlichen Stellen in einem empirischen Zusammenhang. Damit aber büßt es seine Substanz ein. Denn die Substanz des geschichtlichen Lebens besteht in dessen Beziehung auf das Absolute. Nur in dieser Beziehung gewinnt und bewahrt es seinen Gehalt ; nur aus seiner Beziehung zu dem wahrhaft Wirklichen ge- winnt und bewahrt es selber eine Wirklichkeit. Die ihm aus seinem notwendig zu postulierenden Sinn gestellte Aufgabe besteht demnach in dem unnachlaßlichen und unermüdlichen Bestreben, die 410 Arthur Lieber t, ihm ständig drohende Relativierung um jeden Preis fernzuhalten bezw. zu überwinden. Es ist das der beständige gigantische Kampf der Geschichte gegen die Vergewaltigung durch leere Schatten und Formen, damit ihr ideeller Gehalt, damit ihre Idee, damit ihre Vernunft nicht unterdrückt, nicht erdrosselt werde. Diese im- manent geforderte Erhebung zu seinem Sinn, zu seiner Vernunft kann das Leben jedoch auf keinem anderen und keinem sichereren Wege erreichen als dadurch, daß es eine seiner empirischen Ge- stalten und Erscheinungsformen aus ihrer bloß zeitlichen Ver- klammerung und Tatsächlichkeit befreit und es zur Unbedingtheit steigert. Das kann das eine Mal die Religion, das andere Mal die Kunst, ein drittes Mal die Philosophie, ein viertes Mal die Wissenschaft usw. sein bezw. durch diese geschehen. Diese Steigerung eines Kulturgebietes, einer Gesinnungsweise, eines Betätigungskreises zur Unbedingtheit vollzieht sich nämlich alle Male dann, wenn wieder die Entdeckung gemacht und ein Verständnis dafür wieder gewonnen ist, daß sich die betreffende Lebensform auf der Ewigkeit vernünftiger Prinzipien gründet, also mehr ist als das lockere Ergebnis historischer Entwicklungen und Konventionen, mehr ist als der Ausdruck menschlicher Wünsche und Bedürfnisse, wenn also alles Psychologische und Anthropolo- gische, das ihr in noch so auffälliger Auflagerung anhaften mag, als ein zeitlicher Zusatz erkannt wird. Geschieht das, und dieses Geschehen ist ebenso notwendig, wie in zahlreichen Fällen nach- weisbar, dann pflegt das betreffende Kulturgebiet seinen ursprüng- lichen Herkunfts- und Geltungskreis zu überschreiten, seinen Cha- rakter als Sonderfach abzustreifen, die Züge seines Wesens zur Allgemeinherrschaft über den ganzen Bereich einer Kultur zu bringen. So tritt z. B. zu bestimmten Zeiten die ganze Fülle des geschichtlichen Lebens unter das Licht der Religion, die dann das maßgebende Prinzip für alle Bestrebungen und Leistungen wird. Wir kennen auch Zeiten, die der Philosophie oder außer ihr der Wissenschaft diese überragende Stellung und Geltung einräumten. Steht doch fast die ganze Weite des 17. und 18. Jahrhunderts so- wohl der Gesinnung als der theoretischen und praktischen Ein- stellung nach unter dem bestimmenden Einfluß des Rationalismus, der in den mathematischen Naturwissenschaften und den konstruk- tiven Systemen von Descartes und Leibniz seinen höchsten Aus- druck fand und eine im nahezu uneingeschränkten Sinne tyran- nische Macht ausübte. Was sich hier begab, war nichts weniger Mythus und Kultur. 411 als eine zwar grandiose, aber doch auch wieder gewaltsame Ra- tionalisierung und Verwissenschaftlichung des ganzen geschicht- lichen Lebens in allen dessen Formen und Zweigen, ein Vorgang von ungeheuerer Tragweite und Folgewichtigkeit, der seine nach- haltige Auswirkung bis in die Gegenwart erstreckt. — Wenn man nun den metaphysischen Sinn einer solchen inneren und äußeren Potenzierung eines Sondergebietes zur normgebenden Größe und zum Regulativ für eine ganze geschichtliche Periode zu erfassen und zu deuten sucht, so wird man unschwer gewahr, daß sich in dem Prozeß dieser Wertsteigerung die Schöpfung einer Weltanschauung und die Gewinnung eines Weltbildes vollziehen, mag es sich dabei in dem einen Falle um eine mehr religiös, im andern um eine mehr wissenschaftlich - rationalistisch, vielleicht speziell naturwissenschaftlich geartete Weltanschauung handeln. Wesen und Sinn dieses Prozesses aber, von dessen Verlauf und Gelingen fast ausnahmslos das Schicksal seiner ganzen Zeit und aller in dieser tätigen Geschlechter abhängt, bestehen nun eben in der Erreichung und in der Konstruktion einer Absolutheit, sei es, daß es die der Religion, sei es, daß es die der Wissenschaft oder der Kunst oder der Philosophie ist, wodurch inmitten des geschichtlichen Gewirres und seiner gleichmacherisch-empirischen Tendenz ein intelligibler Halt und Maßstab aufgerichtet, d. h. der Weg zur Unbedingtheit aufgewiesen, angebahnt oder unter Um- ständen auch schon beschritten wird. Die Bildung einer Weltan- schauung besitzt ihre wohl wichtigste sachliche Voraussetzung in der Anknüpfung an ein besonderes Wertgebiet, das nun die so- wohl in intensiver als in extensiver Beziehung möglichst größte Ausweitung und Stärkung erfährt. So hat die naturalistisch-kos- mologische Weltanschauung ihre Voraussetzung zum Hauptteil in der Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Für den Piatonismus stellt die Mathematik eine der wesentlichen grundlegenden Funk- tionen dar. Diejenige Weltanschauung, die wir Klassizismus und Hellenismus nennen, ruht auf einer humanistisch gefärbten Ästhetik, die romantische Weltanschauung auf der Absoluterklärung der Kunst bezw. der Verbindung von Kunst und Religion, die histo- rische Weltansicht, wie sie besonders im 19. Jahrhundert hervor- getreten ist, auf der Übersteigerung der Geisteswissenschaften; der Rationalismus, einer der macht- und bedeutungsvollsten Typen der Weltanschauung überhaupt, auf der Verabsolutierung der ma- thematisch-mechanischen Naturwissenschaft und ihrer Methodik. 412 Arthur Liebert, Hat man doch — übrigens in zutreffender Weise — die mechanistische Weltansicht geradezu die Religion jener Zeit genannt, ebenso wie — nicht ohne ironisierenden Unterton — das Systeme de la Na- tur e von Holbach als „Bibel" des Atheismus und Materialismus bezeichnet wurde. Diese Wendung zur Weltanschauung ist in sich, ist in ihrer Bedeutung ein intelligibler Vorgang, der also nicht psychologisch verstanden, nicht anthropologisch oder subjektivistisch aufgefaßt werden darf, mag er sich auch innerhalb der menschlichen Seele vollziehen. Denn wo anders sollte er denn vonstatten gehen? Aber nicht das Wo, Wie und Wann, sondern der Sinn ist auch hier maßgebend. Dieser Sinn besteht darin und wirkt sich stets dahin aus, daß jene Wendung von der Absicht, von der Zielein- stellung auf Erfassung der Intelligibilität, auf Gewinnung eines sinnhaft-absoluten Wertes als des wahrhaft Wirklichen erfüllt ist. Indem aber inmitten der Empirie des geschichtlichen Lebens dieser Zug zur Geltung gelangt, indem das Geschichtliche die Steigerung zum Metaphysischen erfährt, wird das Empirische und Alltägliche, wird die Erscheinung und das Durchschnittliche überwachsen und durchtränkt, vom Bloß-Geschichtlichen erlöst und zu geschichtlicher Bedeutsamkeit erhoben durch die Kraft des Mythus, wobei es nebensächlich ist, ob derselbe in den traditionellen Formen eines solchen auftritt oder nicht. Seine vergleichsweise wichtigste und interessanteste Verwirk- lichung erlebt eine Zeit oder ein Geschlecht jedoch immer dann, wenn sich der Mut und die Begabung zur Metaphysik zeigen und es zur Schöpfung einer konstruktiven Metaphysik kommt. Wie denn auch umgekehrt eine Zeit geistig verarmt und dem seelischen und sittlichen Zusammenbruch rettungslos entgegentreibt, wenn jene Schöpfung auf die Dauer ausbleibt oder alle auf sie gerich- teten Bemühungen mißachtet bezw. als ein vergnügliches, aber aussichtsloses Spiel hingestellt werden. Metaphysikfreie oder meta- physikfeindliche Zeiten sind unfruchtbar im höheren Sinne dieses Begriffes; das Merkmal geistiger Fadheit ist ihnen unverwischbar aufgeprägt. Denn sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sich der Geist nicht zur Freiheit, nicht zum Absoluten durchzukämpfen vermag, daß ihn die Bürde der Tatsachen allzu stark bedrückt und fesselt, um in diesen nur Symbole eines Ewigen zu erblicken. Prägt sich im Mythus ganz allgemein die Wendung des Geistes zum Absoluten aus, so ersteht eine Metaphysik dann, wenn diese Mythus und Kultur. 413 Wendung sich des Mittels des Gedankens, also der Form der Er- kenntnis und des Begriffes bedient. So stellt die Metaphysik den speziellen theoretischen Versuch der Erfassung des Absoluten dar ; sie ist m. a. W. der begriffsmäßige, in theoretischer Entwicklung und in systematischer Methode durchgeführte Ausdruck des Mythus ; also keineswegs seine volle, restlose Darstellung und Umsetzung. Sie ist von ihm und aus seiner ungeheueren Fülle nur das, was in die Gestalt des systematisch gefaßten Gedankens eingeht, was von seinem Sinn und Inhalt sich mit den Werkzeugen methodisch und begrifflich geleiteter und geregelter Deutung und Konstruk- tion aussagen, einfangen läßt. Daneben bleibt die Möglichkeit anders gerichteter Einstellungen zum Inhalt und Zweck des My- thus offen, jener Einstellungen, die in der Kunst, in den Einzel- wissenschaften, in der Religion, in der wahren Sittlichkeit, in den höchsten Formen der Liebe, der Freundschaft, der Verehrung, der Pietät, der wertschaffenden Arbeit ihren objektiven Niederschlag und ihre befreiende Verwirklichung finden. In ihnen allen ist die Kraft des Mythus wirksam u. z. in jenem, in den vorangehenden Zeilen entwickelten Sinne: Überwindung der empirisch-psycholo- gischen Gegenständlichkeit einer Handlung oder eines Vorganges durch die Anknüpfung an ein Absolutes, wodurch jene Handlung oder jener Vorgang über ihre empirische Tatsächlichkeit hinaus- weisen und den Wert von Symbolen gewinnen. Ohne die trans- zendierende Wirksamkeit des Mythus bleiben wir rettungslos der Zone der bloßen Erscheinungen verfallen, gibt es keine Erhebung zum Reiche der Ideen. So ist also auch der Mythus selber nicht als ein subjektiv- empirisches Vorstellungsgebilde aufzufassen, dem man mit der Betrachtungsweise der üblichen, naturwissenschaftlich orientierten Psychologie nahekommen könnte. Es gilt vielmehr, ihn als dasjenige Sinngebilde zu begreifen, in dem die intelligibele Freiheit als Urtat des Menschen ihre allgemeinste Bekundung ausübt. Und als diese allgemeinste Bekundung ist er nun in allen besonderen Sinngefügen der Kultur wirksam, gleichsam ihrer aller Grundzug, der es ihnen ermöglicht, mehr als nur empirische Voll- züge in dem Bewußtsein der Menschen zu sein. Daß die Idee der Freiheit in die Sphäre irgendeiner empirischen Betätigung ein- strahlt und in dieser eine metaphysische Wendung hervorruft, beruht auf der Funktion des Inbegriffes jener konstruktiven Sinn- deutungen des Lebens, den wir Mythus nennen. 414 Arthur Liebert, Die theoretische Spezialform jener konstruktiven Spekulation ist die Metaphysik. An dieser Stelle sei Abstand davon genommen, dem Verhältnis zwischen Mythus und Metaphysik genauer nach- zugehen. Durchschaut man aber dieses Verhältnis, dann erledigt sich auch der alte Streit über die Eigentümlichkeit des Geltungs- charakters der Metaphysik, zugleich auch der über die Frage, ob Metaphysik Wissenschaft sei oder nicht. Wenn wir hier durchaus dafür eintreten, daß zwischen Mythus und Metaphysik eine imma- nente Beziehung obwalte, so ist nicht die Meinung, daß die Meta- physik ein Mythus sei. Sie ist mehr, und sie ist weniger. Mehr : Den allgemeinen Transzendierungen, die sich im Mythus begeben, verleiht sie die systematische Gedankenform, die begriffsmäßige Einkleidung; ohne sie würde der Mythus nicht zu theoretischer, vernünftiger Gestaltung gelangen. Weniger: Die Metaphysik ist nur eine der möglichen Vernunftformen des Mythus, der überhaupt alles Historische zu einem symbolischen Bild verklärt u. z. da- durch, daß er es in das Reich der Idee erhebt oder von der Idee als dem Absoluten aus begründet. So ist denn auch der ewige Sinn des Mythus nur aus der einen oder der andern der ihm mög- lichen und gewährten symbolischen Verkörperungen zu begreifen, die seine historischen und historisch bedingten Objektivationen darstellen, während er selber sich in keiner von ihnen erledigt. Man muß die schöpferische Geistes einstellung und Geistesmacht begreifen, die in dem Begriff des Mythus zusammengefaßt wird; man muß verstehen, was sie für die menschliche Geschichte und das menschliche Leben bedeuten, und man braucht dann nicht mehr bänglich zu erwägen, ob zu ihrer Bezeichnung das Wort Mythus mit Recht gewählt ist. Wenn nach der tiefsinnigen Auffassung und Deutung Hegels der Mythus das Anschauen des Weltgeheim- nisses in der Form der Person ist, so bedarf es nur der vollstän- digen Durchführung dieses 'personalistischen' Gedankenzuges, wozu in der Philosophie des deutschen Idealismus die wertvollsten Hand- haben und Richtlinien geboten werden (in der Gegenwart in erster Linie von William Stern), um den Begriff des Mythus ganz in dem in dem vorliegenden Zusammenhang entwickelten und ver- tretenen Sinn zu verstehen. (Vgl. auch weiter unten S. 437.) Mythus und Kultur. 415 II. Typische Sondermythen auf einzelnen geschichtlichen Kultur- stufen. Der auf Verabsolutierung eingestellte und auf das Absolute hinzielende Prozeß der Mythologisierung der Kultur nimmt nun nämlich teil, an dem dialektischen und antinomischen Schicksal aller schöpferischen und im metaphysischen Sinne spontanen und auto- nomen Funktionen. D. h. : Auch er vermag seine volle Freiheit nicht uneingeschränkt zu betätigen, sondern er erfährt eine Abwandlung und Einengung durch die besonderen Verhältnisse und Strukturen der an ihm interessierten Zeiten, Geschlechter, Menschen. Man sieht das ewige Bild des Mythus stets gleichsam gefärbt durch eine bestimmte geschichtliche Brille; man historisiert und konkre- tisiert es und sucht es jeweiligen Forderungen, Lebensstimmungen, Zweckvorstellungen, Zeitempfindungen und Zeitströmungen anzu- gleichen, sogar es durch diese beeinflussen zu lassen und von ihnen abhängig zu machen. Auf diese Weise entstehen jene Sonderformen des Mythus, die für bestimmte geschichtliche Lagen und Verhältnisse so sehr charakteristisch sind, daß sie geradezu einen Wesensbestandteil dieser Lagen und Verhältnisse darstellen und herangezogen und genau berücksichtigt werden müssen, soll eine innere Erfassung der betreffenden historischen Perioden und ihrer Vertreter gelingen. Die in Ausführung von Andeutungen Nietzsches und besonders Diltheys in Angriff genommenen, sehr wertvollen und aussichts- reichen Bemühungen um die Entwicklung einer Struktur- und Typenpsychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften — hier wäre in vorderster Linie Eduard Sprangers Werk : „Lebensformen" zu nennen — muß es sich angelegen sein lassen, die maßgebenden Hauptarten der Mythen zu studieren, weil gerade ihre Erfassung ungemein geeignet ist, unser historisches Verständnis zu fördern. In den Hauptmythen der Kultur liegen charakteristische Verdich- tungen typisch-menschlicher Einstellungen zur Wirklichkeit "vor, die oft wie mit einem Blitz die Grundverfassung ganzer Zeitab- schnitte und Generationen erhellen. — * a) Einen interessanten Beleg für die Richtigkeit dieser Behaup- tungen bietet der in den mannigfachsten Gestalten und Abwand- lungen immer wieder auftretende Mythus von Piaton und vom Piatonismus. Fast regelmäßig macht sich auf hervorstechenden 416 Arthur Liebert, Stufen der abendländischen Greistesgeschichte eine bestimmte Aus- prägung dieses Mythus geltend. So wird gewöhnlich angenommen, seit der durch Cosimo von Medici bewirkten Gründung der Pla- tonischen Akademie zu Florenz datiere die vertiefte Erneuerung der Kenntnis und des Studiums der Philosophie Piatos. Tatsächlich aber haben wir hier, wie ich an anderer Stelle darzutun versucht habe, eine legendarische Zurechtmachung der eigenen Lebensstim- mung und Weltanschauung unter der Führung und dem bestim- menden Einfluß eines Symbols vor uns, dem man einzelne, an Piaton anklingende Züge lieh. Die besondere Lage und Geistesverfas- sung der Renaissance verlangte nach einer Heiligenfigur und nach einer Philosophengestalt, die möglichst stark von dem im Mittel- alter als unbedingten Meister verehrten Aristoteles abwich, zu- gleich aber gewisse Möglichkeiten und Voraussetzungen gab, um als Vertreter und Verkörperer der eigenen Gedanken und Gefühle zu erscheinen. Der Prozeß der Deutung und Umdeutung Piatos und dessen Angleichung an den Ideen- und Erlebniskreis der Re- naissance floß aus einer tiefen mythologisierenden Quelle. Und das auf diesem Wege entstandene Gemälde entsprach nicht sowohl der Philosophie Piatos als vielmehr einem dynamischen und emana- tistischen Pantheismus, der viel mehr von Plotin und aus der Mystik des Neuplatonismus stammte als aus dem Geiste des Schöpfers die Ideenlehre. Denn in dem Bilde dieses neuplatonisch umstilisierten Piaton waren z. B. die Beziehungen der Ideenlehre zur Mathematik und die Bedeutung derselben als Wissenschaftslehre bis auf den letzten Grund getilgt. Umgekehrt zeigte die Formung, die in den letzten Jahrzehnten mit Piaton etwa von der Marburger Schule vorgenommen wurde, eine wiederum aus konstruktiver Deu- tung erfolgende Interpretation, die den Mythus von Piaton als dem Erkenntnis theoretiker und dem Vorläufer der kritisch- trans- zendentalen Logik schuf, also gleichsam nach der der Renaissance- auffassung entgegengesetzten Seite gerichtet ist, wie sie in der Hauptsache Paul Natorp in seinem bekannten Piatonbuch entwickelt. Welche von beiden Auffassungen und Darstellungen ist im Recht? Wenn wir antworten: beide, so geschieht das nicht in der Meinung, daß sich nun durch ihre Vereinigung ein adäquates Bild des ,ganzen' Piaton herstellen ließe. Sie haben beide Recht, weil sie die Auslegung unter Heranziehung der aus ihrer Zeit oder aus ihrem besonderen, ihnen zugehörigen Gedanken- und Lebenskreise hervorgehenden Auffassungs- und Interessenrichtungen vornehmen. Mythus und Kultur. 417 Diese methodische Einseitigkeit ist natürlich einem in methodischen Dingen geradezu vorbildlichen Kopfe wie Hermann Cohen durch- aus bewußt. Sagt er doch in seiner Schrift: «Piatos Ideenlehre und die Mathematik> : „Denn das ist ja eine füglich anerkannte Sache, daß es in letzter Instanz kein anderes zureichend objektives Kriterium gibt für die Beurteilung des Echten, des Reifen, des Hauptsächlichen, ja beinahe muß man sagen, des ernsthaft Ge- meinten in Piaton, als die eigene wissenschaftliche Subjektivität, als die erkenntnistheoretische Einsicht, über die ein jeglicher zu verfügen hat" (S. 6). (Vgl. auch den wertvollen Aufsatz von Julius Stenzel, Zum Problem der Philosophiegeschichte j Kant- Studien Band XXVI, Heft 3—4 S. 416 ff.). Demgemäß also wäre auch die Vereinigung der verschiedenen Interpretationsformen ein Akt systematischer Deutung, der der Eigenart einer vornehmlich synkretistischen Denkart entsprechen würde. Von einer Platon-Legende reden, heißt also nicht etwa, die Existenz Piatons in Abrede stellen, ebenso wenig die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der philosophischen Leistung Piatons bezweifeln. Die geisteswissenschaftliche Hermeneutik, dieses bei- nahe wichtigste Kapitel einer theoretischen Grundlegung der Ge- schichtswissenschaft, zeigt, daß es eine Reihe wissenschaftlich ein- ander gleichberechtigter Formen und Typen der Auffassung und Auslegung gibt, und daß das ,Recht' und die Objektivität einer jeden in der inneren Folgerichtigkeit und in der methodischen Strenge des in ihr sich erfüllenden Bildes begründet sind. — Die ewige Aktualität der ganz großen Geister der Weltge- schichte prägt sich darin aus, daß jedes Zeitalter und jedes Ge- schlecht sie nach seinen Bedürfnissen sich zurechtlegen kann. Es entdeckt an ihnen irgendwelche Momente, die zu seinem Wesen eine besondere fesselnde Beziehung haben, und die es nun in umdeu- tender Vereinseitigung aus der Gesamtheit des Originals heraus- löst. Das im praktischen und wissenschaftlichen Leben unendlich häufig geübte Verfahren der Auslegung dient den sehr starken mythologisierenden Neigungen der menschlichen Natur und unter- steht in weitem Umfange der mythologisierenden Phantasie. Außer Piaton sind es von den Philosophen im wesentlichen wohl in erster Linie noch Spinoza und Kant, deren Leistung in die Form des Mythus eingegangen ist. Lediglich auf diese Weise gedieh ihr Werk zu seiner außerordentlichen geschichtlichen und weltanschaulichen Wirksamkeit. Wenn Georg Simmel seine Dar- 418 Arthur Liebert, Stellung der Philosophie Kants mit der Erklärung einleitet: „Die Absicht dieses Buches ist keine philosophie-geschichtliche, sondern eine rein philosophische. Es gilt ausschließlich, diejenigen Kern- gedanken, mit denen Kant ein neues Weltbild gegründet hat, in das zeitlose Inventar des philosophischen Besitzes einzustellen", so erwächst hier ein aus der antihistoristisch gerichteten Einstel- lung Simmeis und einer in ihm sich verkörpernden ganzen Zeit- strömung gestaltetes Kant-Bild. Diesem eignet unter den Voraus- setzungen seines Greformtwerdens sachlich und sinnhaft derselbe Wahrheitswert wie etwa einem Werk über Kant, bei dessen Ab- fassung die Philologie und die historische Kritik Pate gestanden haben. Aus der Relativität und konkreten Gegenständlichkeit der geschichtlichen Urkunden, wie uns solche in den einzelnen Werken Kants vorliegen, soll dasjenige, was an der kritischen Philosophie den Charakter absoluter Bedeutsamkeit trägt, herausgeschält werden. Es könnte diesem Beginnen entgegengehalten werden: Ist das denn überhaupt möglich und durchführbar? Kann jene , Absolutheit' ein für allemal einwandfrei und eindeutig festgestellt werden? Was der Simmelschen Auslegung als absolut gilt, kann von einem anderen Standpunkt aus oder einer anderen Interessen- und Zeitrichtung als verhältnismäßig äußerlich und zufällig er- scheinen. Diese Einwände berühren aber nicht das Wesen der Sache. Denn das Kant-Bild Simmeis stellt erstens keine Abschrift einer geschichtlichen Wirklichkeit dar, obwohl es als solche auch bereits eine synthetische Formung bedeuten würde, d. h. eine Über- windung des mit allen Zügen der Relativität behafteten Stoffes als einer in gewissen geschichtlichen Büchern niedergelegten, unter bestimmten individuellen und geschichtlichen Umständen ins Leben getretenen Tatsache durch die zeitlosen Kategorien und Methoden der wissenschaftlichen Erkenntnis. Zweitens erschließt sich in jener Interpretation eine Gestalt des Denkens, die deshalb ewig ist, weil nicht das, was sie ihrem empirischen Bestand nach ist und als was sie erscheint, an ihr geschätzt und beachtet wird, sondern weil sich für jene Auslegung in ihr die Vernunft des Absoluten und das Absolute der Vernunft in eine der ihnen möglichen Strah- lungen spiegelt. Es interessiert keineswegs lediglich der Tatbestand der Lehre Kants selber, der schon wegen seiner unvergleichlich verwickelten Struktur, wegen der Mannigfaltigkeit seiner syste- matischen und geschichtlichen Voraussetzungen und Motive von sich aus eine Vielheit von Deutungen erlaubt, ja geradezu fordert, Mythus und Kultur. 419 sondern mit dieser Möglichkeit verschwistert sich jene Fülle her- meneutisch zulässiger Standpunkte, die ein Ausdruck der Ver- schiedenartigkeit des Weltgefühls der an der Auslegung beteiligten Zeiten und Menschen ist. Und indem diese Verschiedenartigkeiten in die Formen des Be- griffes eingehen, erwachsen die Mythen von Kant und seiner Philosophie. Die Entstehung der zahlreichen Kantischen Schulen erklärt sich nicht nur daraus, daß aus dem höchst verschlungenen Bau des Kantischen Systems von diesem die eine, von einem an- dern eine andere Tendenz und Linienführung herausgelesen und herausgehoben und zur Entwicklung gebracht wurde, sondern der Geist der Arbeit an Kant und die Versuche der Fortbildung der kritischen Philosophie unterstanden und unterstehen zugleich eigen- tümlichen Gesichtspunkten und Betrachtungsweisen, die sich aus der wissenschaftlichen Bildung, der metaphysischen Gesinnung, der Zugehörigkeit zu bestimmten Zweigen und Forschungsrichtungen der Wissenschaft, aus der Persönlichkeit und Begabungsart des betreffenden Interpreten und Fortbilders ergeben. Die Weiter- führung der Philosophie Kants im 19. Jahrhundert verfolgen, heißt nicht nur, den in jener Philosophie gelegenen sachlichen Tendenzen nachgehen und die systematische und historische Ausbreitung der- selben zu dem riesigen Geflecht verschiedenartigster, dennoch durch ihre gemeinsame Beziehung auf Kant untereinander verbundener philosophischer Systeme darstellen, sondern zugleich auf fast die gesamte Fülle von Gedankenmotiven, Überzeugungen, religiösen Glaubensformen, wissenschaftlichen und metaphysischen Stand- punkten, ja selbst von politischen Bewegungen und Parteien Bezug nehmen, die im Laufe der genannten Zeit hervorgetreten ist. Von allen diesen Standpunkten aus hat man es unternommen, sich mit Kant auseinanderzusetzen, sei es in zustimmender, sei es in bekämpfender oder ablehnender Hinsicht. Und in dem Prozeß dieser nach Zahl wie Qualität außerordentlich reichen Auseinander- setzungen hat sich eine ganze Reihe der merkwürdigsten Kant- Bilder und Kant-Mythen herauskristallisiert. Es wäre eine nicht nur reizvolle, sondern auch wichtige kultur- und philosophiege- schichtliche Aufgabe, einmal unter diesem Gesichtspunkt die ver- schiedenen Auslegungsarten des Kritizismus, ihre inneren Voraus- setzungen, ihren Wert und das Maß ihrer Fort- bezw. Umbildung der Philosophie Kants zu beleuchten. — 420 Arthur Liebert, b) Neben denjenigen Mythen, die sich um einzelne Persönlich- keiten ranken und die Schöpfungen derselben aus dem Fluß der geschichtlichen Endlichkeit und Gregebenheit herausheben, stehen solche, in denen ein ganzer Kulturkreis zur Legende geformt wurde. Die vergleichsweise wichtigste und am reichsten ausge- stattete Legende ist diejenige vom klassischen Griechen- tum und vom Hellenismus. Oft ist das Schicksal ganzer Zeiten und hochstehender Individuen gerade von diesem Mythus bestimmt worden (Hölderlin), an dem man der kulturschöpferischen und kulturtragenden Funktion des Mythus überhaupt so recht ge- wahr zu werden vermag. Nicht handelt es sich hier um eine be- wußtfalsche Auffassung der Antike, die durch eine nüchtern-kri- tische Nachprüfung richtiggestellt wäre oder richtiggestellt werden könnte, sondern, wie Hermann Diels sich ausdrückt, um eine „op- timistische Verklärung, mit dem unser Neuhumanismus die antike Welt betrachtete" (Hermann Diels, Der antike Pessimismus S. 4). Dieser idealisierten Auffassung hat Friedrich Schiller den ge- hobensten Ausdruck mit den Worten verliehen: Da ihr noch die schöne Welt regieret, An der Freude leichtem Grängelband Selige Greschlechter noch geführet, Schöne Wesen aus dem Fabelland; Ach, da euer Wonnedienst noch glänzte, Wie ganz anders war es da! Da man deine Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia. (Die Grötter Griechenlands) Es ist nicht schwer zu erkennen, was dem Zeitalter des Humanismus oder dem des Neuhumanismus, was Winckelmann, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt jene zum Ideal umge- schaffene und zum Ideal verklärte Welt, die sie Griechentum nannten, bedeutete. Sie erschauten in einer Phantasiewirklichkeit das als erreicht und bewährt, was ihnen als Sinn und Gehalt des Lebens galt, und zwar sowohl in Hinsicht auf die Gesinnung als auch in Bezug auf die Form. Wilhelm von Humboldt hatte das Ziel der Erziehung zur Hu- manität mit den berühmten Worten umschrieben: „Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt — ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und Mythus und Kultur. 421 unerläßliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes — Mannigfaltigkeit der Situa- tionen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einför- mige Lagen versetzt, bildet sich minder aus". Die Idee dieser Erziehung sieht er bei den Griechen verwirklicht1). Zwar weiß er natürlich, daß das, was er von dem Charakter der Griechen sagt, „unmöglich von einer ganzen Nation in allen ihren einzelnen Individuen buchstäblich wahr sein kann". Dennoch gilt der Ge- danke als Richtschnur: „Die griechische Vorwelt dient uns zu einem Ideal". Denn was sie uns als erreicht, als möglich zeigt, das ist die „schöne Einheit des Gemüts". Uns Moderne quält „das Mißverhältnis zwischen innerem und äußerem Dasein — die Grie- chen dagegen „verdienen schlechtweg das Ideal zu heißen, weil ... der vorherrschende Zug in ihrem Geist, ja der, welchen man immer wählen würde, wenn man nur einen einzigen anzuführen hätte, Achtung und Freude an Ebenmaß und Gleichgewicht ist, auch das Edelste und Erhabenste nur da aufnehmen zu wollen, wo es mit einem Ganzen zusammenstimmt . . . sie kannten nicht das Umtreiben in Gedanken und Empfindungen, hinter denen jeder Ausdruck zurückbleibt". Und wie bis ins einzelne gehend Hum- boldt sich diesen Griechen-Mythus ausmalt, und wie sehr er in ihm lebte, erhellt nicht nur aus den Anweisungen, die er für das Studium der Griechen erteilt, sondern auch aus der Überlegung, die er anstellt, um die den Griechen nachgesagte Ablehnung alles Maßlosen zu begründen. Der „Widerwille gegen das Un verhältnis- mäßige entsprang aber bei den Griechen nicht eigentlich aus einem oft nur von Schwäche und Verweichlichung zeugenden Abscheu vor dem übermäßig Hervorragenden oder dem sich von der ge- wöhnlichen Natur Entfernenden, sondern unmittelbar aus dem Be- dürfnis, überall auf das höchste Leben zu dringen, das nur aus der Übereinstimmung quillt, die nichts ausschließt, und aus dem tiefen Gefühl der Natur, die durchgängiger Organismus ist." Das ist ein Mythus in reinster Gestalt, den Humboldt kennzeichnet: „Die Empfindungen, mit welchen wir auf die Alten zurücksehen, sind denjenigen ähnlich, welche der Anblick der schönen Natur 1) Vgl. außer Eduard Sprangers Werken: „Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens" und „Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee" auch Paul Hensels Aufsatz: „Wilhelm von Humboldt", Kant-Studien Bd. XXIII, ; 1918, Heft 2—3 S. 174 ff. Kantetadien. XX VII. 28 422 Arthur Liebe rt, überhaupt ... in uns erweckt. Es ist eine vollendete Form, die sich uns zur Nachbildung darbietet, und wir empfinden es lebhaft, daß der Wert alles Gehalts, den wir zu erwerben oder besitzen vermöchten, nur auf der Möglichkeit beruht, ihn zu einer ähnlichen zu vereinen". Die Idee der humanistischen Bildung, die Idee der Entfaltung aller Kräfte und ihrer harmonischen Verwebung zur Einheit einer Vollgestalt war die gedanklich-sittliche Grundlage jenes Mythus. Das bestimmende Motiv für seine bildhafte Durch- führung aber war die Aussicht, den Wert und das Recht dieser Idee durch die Aufweisung ihrer geschichtlichen Wirklichkeit zu erhärten. Mochte man auch zu dem Zugeständnis oder der Ein- schränkung sich gedrängt sehen, daß „auch der Begriff des Ideals es notwendig mit sich bringt, daß sich die Idee der Möglichkeit ihres Erscheinens unterwerfe". Trotzdem hebt Humboldt die außer- ordentliche pädagogische Bedeutung dieses Mythus mit den starken Worten hervor: „Wer, wie der Grieche, mit Schönheit der Formen genährt, und so enthusiastisch, wie er, für Schönheit und vor- züglich auch für sinnliche gestimmt ist, der muß endlich gegen die moralische Disproportion ein gleich feines Gefühl besitzen als gegen die physische. Aus allem Gesagten ist also eine große Tendenz der Griechen, den Menschen in der möglichsten Vielseitig- keit auszubilden, unleugbar". „Der gefühlvolle Kenner (!) des Alter- tums, der die harmonische Ausbildung aller Kräfte, die edle Frei- heit der Gesinnungen, die Entfernung von allen niedrigen Be- schäftigungen, den edlen Müssiggang und die hohe Schätzung des inneren Menschen unter den Griechen mit hohem Erstaunen be- wundert, wird nicht ohne Scham und Niedergeschlagenheit bemerken, daß unter uns fast jeder nur einzelne Anlagen einseitig entwickelt, daß die Freiheit des Geistes mancherlei Fesseln erduldet, daß eine mühselige Geschäftigkeit einen großen Teil unseres Lebens hinweg- nimmt und die innere Ausbildung nicht selten der äußeren Wirk- samkeit nachgesetzt wird." Welche Abstriche die historische und philologische Einzelforschung an diesem Gemälde vornehmen mochte, unberührt davon bleibt seine ausschlaggebende, geradezu kultur- sch äffende Wichtigkeit, die darin zum Ausdruck gelangt, daß es mit seiner Hilfe Humboldt möglich wurde, nicht nur seiner Sehn- sucht und seinen sittlichen und 'künstlerischen Forderungen eine lebendige, wirkungsvolle Gestalt zu geben, sondern er gewann dadurch die Grundlage für seine Erziehungspläne und seine pä- dagogischen Reformbestrebungen. Ihm selber und seinem Kreise Mythus und Kultur. 423 mußten das Recht und die Notwendigkeit seiner pädagogischen Ideen und Maßnahmen umsomehr einleuchten, je mehr er ihnen in dem Griechen - Mythus Fleisch und Blut zu verleihen vermochte und in diesem Mythus die Wirklichkeit eines Ideals beglaubigte. Dieser Mythus versinnlichte und sprach aus, was man kurz die absolute Gestalt und den absoluten Sinn aller menschlichen Bildung — unter den Bedingungen, die der Geist des Neuhumanismus diesem Begriff der Bildung gab — nennen darf. Denn dieser Sinn gipfelte in der griechischen Kalokagathie, die eine innere Verbindung dar- stellt „edler, großer, eines Freien wahrhaft würdiger Gesinnungen in der Seele und dieser lebendige Ausdruck derselben in der Sitt- lichkeit der Bildung und der Grazie der Bewegungen des Körpers" und „die sich bei keinem Volke wieder in dem hohen Grade findet" wie bei den Griechen *). * c) Während sich in dem Bildungs-Mythus des Neuhuma- nismus eine bezeichnende Verwebung ethischer und ästhetischer Züge äußert und die Eigentümlichkeit dieses Mythus und das Gre- heimnis seines Ansehens und seines Einflusses auf dieser Verwebung beruhen, vollzieht sich die Verabsolutierung ausschließlich ästheti- scher Momente in dem Mythus von der Kunst, den dann die Ro- mantik schafft. Ihr ist nicht ein philosophisches System, auch nicht der Wert sittlicher Harmonie und harmonischer Sittlichkeit das Ewige und Unbedingte, das Vollkommene und Erlösende, das allem Leben erst seinen Sinn und Gehalt schenkt, und auf das hin alle Erscheinungen projiziert werden müssen, soll ihnen Charakter und Wert zufließen: diese Rolle und Kraft ist vielmehr der Kunst eigen. Sie übt eine durchaus mythische Funktion, wie sich denn in dieser Wertungsart der Kunst die kulturschöpferische Leistung des Mythus in ästhetischer Sonderausprägung bekundet. „Die Kunst", so heißt es in Wackenroders , „schmelzt das Geistige und Un- 1) An dem Mythus vom Griechentum läßt sich als an einem hervorragenden Sonderfall die geradezu ungemeine Bedeutung studieren und erkennen, die der Mythus überhaupt innerhalb der menschlichen Gesellschaft und für dieselbe besitzt. Es bedarf in dieser Beziehung nur eines kurzen Hinweises darauf, daß Wilhelm von Humboldt zu den Schöpfern des humanistischen Gymnasiums gehört. Ist doch durch dieses der Mythus vom Griechentum für ungezählte Geschlechter zu einer entscheidenden pädagogischen Wertform, ja zur Substanz ihres sittlichen Wesens und zum Halt für ihre ganze Gesinnung und Lebensführung geworden. 28* 424 Arthur Liebert, sinnliche auf eine so rührende und bewundernswürdige Weise in die sichtbaren Gestalten hinein, daß unser ganzes Wesen und alles, was an uns ist, von Grund auf bewegt und erschüttert wird". Und weiter in demselben Zusammenhang: „Die Kunst . . . schließt uns die Schätze in der menschlichen Brust auf, richtet unsern Blick in unser Inneres und zeigt uns das Unsichtbare, ich meine alles, was edel, groß und göttlich ist, in menschlicher Ge- stalt . . . Die Kunst stellt uns die höchste menschliche Vollendung dar". In dem nur wenige Seiten umfassenden Aufsatz: , der die Steigerung der Kunst zum sinndeutenden und erlösenden Mythus in aller Stärke ausdrückt, heißt es geradezu : „Alles, was vollendet ist, das heißt, was Kunst ist, ist ewig und unvergänglich ... ein vollendetes Kunstwerk trägt die Ewigkeit in sich selbst ... In der Vollendung der Kunst sehen wir am reinsten und schönsten das geträumte Bild eines Paradieses, einer unvermischten Seligkeit ... In sich selbst trägt die Gegenwart der Kunst ihre Ewigkeit und bedarf der^Zukunft nicht, denn Ewigkeit bezeichnet nur Vollendung". Die Kunst hebt uns, unser irdisches Dasein über Tod und Vergänglichkeit hinaus, da sie „in sich keine Bedingungen kennt, und ihr Ganzes keine Teile hat . . . Laßt uns darum unser Leben in ein Kunstwerk verwandeln, und wir dürfen kühnlich behaupten, daß wir dann schon irdisch un- sterblich sind" *). Diese Aufgabe und diese Funktion eignen aber deshalb der Kunst, weil sie es ist, in der der Atem und die Kraft des Kos- mos, des Ewigen glühen, weil sie es ist, in der der Weltgeist sich auswirkt. Das ist der Grundgedanke und das Dogma dieses ästhetischen Idealismus im Gegensatz zu dem ethischen Idealismus, der in dem guten Willen, in der praktischen Vernunft den Aus- druck des Absoluten erblickt. „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk", sagt Friedrich Schlegel. Wir haben somit nicht die Ansicht der Aufklärung vor uns, die den Bau des Weltalls allerdings in Analogie zu einem Kunstwerk, aber einem solchen mechanischer Struktur vorstellte und in diesem Sinne Gott als Weltarchitekten und Weltmechaniker 1) Ob und in welchem Sinne auf die romantische Verabsolutierung der Kunst Schillers Kunsttheorie eingewirkt hat, die besonders in den ästhetischen Briefen zur Größe einer Metaphysik der Kunst aufwuchs, mag hier unerörtert bleiben. Mythus und Kultur. 425 dachte. Indem nämlich die Aufklärung überall in der Welt Zweck- mäßigkeiten und planvolle Zurichtungen fand, führte der Gedanke der mechanischen Gesetzmäßigkeit zur Vorstellung, das All sei ein aus der Vernunfttätigkeit Gottes hervorgegangenes Kunstwerk. Es war m. a. W. der Begriff der formalen Ordnung, der das Ver- bindungsglied zur Herstellung jener Analogie darbot. Die Ro- mantik dagegen sah im Kunstwerk darum ein Symbol des Kosmos, des Alls, weil ihr nichts Anderes zur Versinnlichung des Unend- lichen genügen konnte. An die Stelle der formalen Zweckordnung des Gesetzes trat der romantische Begriff des Unendlichen im Sinne unerschöpflicher Tiefe und Fülle, die die Romantik ungleich mehr reizten und ihr ungleich viel mehr sagten als alle gesetzliche Strenge und Ordnung. So definiert Wilhelm Schlegel in seinen grundlegenden Berliner Vorlesungen: «Über schöne Literatur und Kunst> das Schöne als die symbolische Darstellung des Unend- lichen. Auch in diesem entscheidenden Punkt Schüler und Nach- folger Schellings, der in seinem «System des transzendentalen Idealismus» in dem Kapitel über die Deduktion der Hauptsätze der Philosophie der Kunst (6. Hauptabschnitt) von dem Künstler gesagt hatte, er „scheint, so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, was das eigentlich Objektive in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn von allen andern Menschen absondert und ihn Dinge auszusprechen und dar- zustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist". „Der Grundcharakter des Kunstwerks ist eine bewußtlose Unendlichkeit (Synthesis von Natur und Frei- heit). Der Künstler scheint in seinem Werk außer dem, was er mit offenbarer Absicht darein gelegt hat, instinktmäßig gleichsam eine Unendlichkeit dargestellt zu haben, welche ganz zu entwickeln kein endlicher Verstand fähig ist: Um uns nur durch Ein Beispiel deutlich zu machen, so ist die griechische Mythologie, von der es unleugbar ist, daß sie einen unendlichen Sinn und Symbole für alle Ideen in sich schließt *), unter einem Volk und auf eine Weise entstanden, welche beide eine durchgängige Absichtlichkeit in der Erfindung und in der Harmonie, mit der alles zu Einem großen Ganzen vereinigt ist, unmöglich annehmen lassen. So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, in dem jecles, als ob eine Unendlichkeit 1) Auf diese Weise hätte ein Vertreter der neuhumanistischen Interpretation den Sinn der griechischen Mythologie kaum ausgelegt. 426 Arthur Liebert, von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künst- ler selbst gelegen habe oder aber bloß im Kunstwerk liege". Und wenige Seiten später: „Es ist nichts im Kunstwerk, was nicht ein Unendliches unmittelbar oder wenigstens im Reflex darstellt". — * d) Indem die mythische Verabsolutierung der Kunst seitens der Romantik durch das Bedürfnis nach einem Symbol für das Erlebnis überrationaler Tiefe entsteht, ist nun auch der zweite große, für sie charakteristische Mythus gegeben, der von der Religion. Wären für die Romantik die Grenzen zwischen Kunst und Religion nicht so fließend, ginge nicht durch die Ver- mittelung der Idee der Unendlichkeit ein G-ebiet notwendig und organisch in das andere über, so könnte man im Zweifel sein, welcher Mythus, der der Kunst oder der der Religion, von tieferer Bedeutung für sie sei. Jedenfalls hat ihr Mythus von der Kunst entschieden religiöse Färbung und ihr Mythus von der Religion künstlerische Färbung. So wird es verständlich, daß trotz und neben aller Verabsolutierung der Kunst und der Lobpreisung ihres Unendlichkeits- und Ewigkeitscharakters Wilhelm Schlegel in den Vorlesungen < Über dramatische Kunst und Literatur > sagen kann: „Die Religion ist die Wurzel des menschlichen Daseins. Wäre es dem Menschen möglich, alle Religion, auch die unbewußte und un- willkürliche zu verleugnen, so würde er ganz Oberfläche werden und kein Inneres mehr haben. Wenn dieses Zentrum verrückt wird, so muß sich folglich darnach die gesamte Wirklichkeit der Gemüts- und Geisteskräfte anders bestimmen". Und in den Friedrich Schlegels heißt es (Athenäum III, 1) : „Die Re- ligion ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Mensch- heit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und Höchste, das schlechthin Ursprüngliche". Ferner ebenda: „Die Idee der Gottheit ist die Idee aller Ideen". Die reine, sozusagen ungemischte und ungebrochene Heraus- stellung der Absolutheit der Religion gelang innerhalb des Kreises der Romantiker im Grunde jedoch nur dem einen Schleiermacher, der bezeichnenderweise von sich bekannte, daß er zur Kunst noch weniger ein eigentliches Vefhältnis habe als zur Natur (Haym, Die Romantische Schule, 2. Aufl., S. 459). Denn was in dem merk- würdigen Fragment von Novalis: < Die Christenheit oder Europa> an religiösen Stimmungen und Ideen vorhanden ist, ist bis in seine Mythus und Kultur. 427 Glaubens Voraussetzungen hinein von Schleiermachers Reden ab- hängig. Doch erübrigt es sich, an dieser Stelle auf Schleiermachers Verhältnis zur Religion und auf die absolute Bedeutung einzu- gehen, die sie für ihn hatte. (Ebenso bleibt hier natürlich seine religionsphilosophische und religionspsychologische Leistung uner- wähnt.) Er gehört in die Reihe jener ausschließlichen und unbe- dingten Naturen, deren Leben, wie das z. B. bei Mose, Jesus, Mo- hammed, Franz von Assisi, Luther der Fall war, bis in die ein- zelnen, auch unwichtigen Züge und Handlungen hinein, die aber dadurch alle Unwesentlichkeit verloren, von einem geradezu persön- lichen Verhältnis zum Ewigen erfüllt, durch ein unmittelbares Be- sitzergreifen und Gewißsein des Absoluten gekennzeichnet ist. Bei ihnen ist das Transzendieren zum Absoluten so sehr das Alpha und Omega ihres Seins, es stellt einen so unaufhörlichen und dabei unantastbar sicheren Prozeß dar, daß hier, vergleichsweise stärker als bei den Absolutisten des Logos oder der Bildungsidee oder der Kunst, die Grenze zwischen Erscheinung und Idee wie auf- gehoben ist und der Symbolcharakter und Gleichniswert alles Seienden bereits wieder als eine Seinsgestalt hervortritt und sich zu geschichtlicher Wirklichkeit formt. In ihnen wird die Religion und die religiöse Absolutheit gleichsam Fleisch und Blut. Sie wan- deln in einer Sphäre, die ebenso jenseits der Zone der Erscheinungen und bereits im Reiche der Erfüllung als auch sozusagen diesseits alles Jenseits liegt. Die Zweifel, von denen sie heimgesucht werden, ruhen auf dem Grunde der Gewißheit ; ihre endliche Existenz weiß sich mit unerschütterlicher Sicherheit, so oft auch sie vor dem Sturz in das Nichts zu stehen scheinen, bereits in aller ihrer Em- pirie im Unbedingten geborgen. Aber dieses Wissen ist kein intellektueller Vorgang, sondern eine persönliche Seligkeit; jede Verrichtung, auch die äußerlichste, hat bei ihnen den Sinn einer Kulthandlung und erhebt sich zur Bedeutung eines Gleichnisses und Mythus. Deshalb ist es auch kein Zufall oder Wunder, daß es gerade ihr Leben und ihr Schicksal sind, die so leicht und so gern in das Licht des Mythus und der Legende gerückt werden und so schnell und bequem den Charakter des Mythus und der Legende annehmen. Überhaupt ruht der Sinn jeder geschichtlichen Leistung, wie schon oben angedeutet wurde, in der Übersteigerung des geschichtlichen Bestandes zur Intelligibilität irgendeines Wertes. Diese Über- steigerung läßt sich an sich auch an dem Philosophen-Mythus, an 428 Arthur Liebert, dem humanistisch -ethisch -ästhetischen Bildnngs - Mythus, an dem Mythus der Kunst erkennen. Die aber in sich absolute Form dieser auf Verabsolutierung gerichteten Lebenssteigerung verwirklicht sich doch erst im Leben der Religion, da in diesem alle Dissonanzen und Antinomien des Seins zu einer im Prinzip restlosen Über- windung gebracht werden. Das ist das Wunder, das der Religion erreichbar ist, erreichbar sowohl in der Subjektivität des religiösen Gefühls, als auch im Gebet und in der Objektivität der Glaubens- gemeinschaft. Wenn nach dem Johannes - Evangelium der Logos Fleisch, also Erscheinung ward, wenn sich das Wunder der Offen- barung begibt — und ohne „Offenbarung" gibt es keine Religion und kann es keine geben — dann vollzieht sich der mystische Ausgleich zwischen dem Ewigen und dem Endlichen, dann findet dieses seinen Eingang und seine Versöhnung in jenem. Darin bekundet sich nun die Paradoxie des religiösen Mythus : Auf der einen Seite übt er die stärkste, die endgültige Über- windung aller irdischen Unzulänglichkeiten; man denke an den Mythus der Trans substantiation oder an die im Gesinnungskreis der Mystik vertretene Deifikation. Aber andererseits macht er sich zugleich, indem nach ihm das Göttliche eine endliche Gestalt annimmt und im irdischen Gewand erscheint, damit entbehrlich, ja er wird dadurch geradezu hinfällig. Er ist der stärkste und dauerndste und zugleich der am unbedingtesten, radikalsten über- windliche und ausschaltbare Mythus. Indem er lehrt und zeigt, daß die ewige Wahrheit, daß die Idee Wirklichkeit wird und in die Erscheinung eingeht, löscht er die Grundantinomie alles Seien- den aus, die doch die Voraussetzung für seine Entstehung und für sein Anerkanntwerden darstellt. Er ruht einerseits auf der rück- haltlosen und rücksichtslosen Hervorhebung des Gegensatzes zwi- schen dem Irdischen und dem Unvergänglichen. Darin ist das eine Moment seines gewaltigen Reizes und Einflusses begründet. Er führt in tausendfältiger Ausmalung die Verweslichung des Menschen und die Unverweslichkeit des Göttlichen vor Augen. Da- durch schreckt er das Gewissen, die Angst, die Hoffnung auf. Zu- gleich läßt er andererseits alles Sterben vergehen und trägt alle „ver- lorenen Kinder" mit feurigen Armen zur Ewigkeit empor. Dadurch beruhigt er die Sorgen, tilgt er die Ängste und schafft sich eine ungleich größere Gefolgschaft als durch alle Betonung der empi- rischen und der metaphysischen Zwiespältigkeiten und Antinomien. Er ist aus allen diesen Gründen ohne Frage der lebendigste, der ein- Mythus und Kultur. 429 drucksvollste, der wuchtigste Mythus, eine Gestalt von unerhörter kulturschöpferischer Macht. Das läßt sich aus seinem Begriff a priori deduzieren ; das läßt sich auch rein erfahrungsgemäß durch zahllose Beispiele der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit belegen. Will man die unermeßliche Bedeutung begreifen, die der Idee des Abso- luten für alle Formen und Zweige der geschichtlichen Kultur eignet, so bietet sich kaum ein ergiebigerer Untersuchungsgegenstand dar als der religiöse Mythus. Und es wird verständlich, daß er gerade dann sich meldet, wenn eine Zeit ganz tief, sozusagen rettungslos an den Relativismus sich verloren und die Beziehung zum Ab- soluten völlig preisgegeben zu haben scheint. Nur muß man im- stande sein, sein Wesen auch dann zu erkennen und seine Funktion auch dann zu würdigen, falls er in solchen scheinbar abgeirrten, weil scheinbar ganz unmetaphysisch gewordenen Zeitaltern in grotesken Gestalten auftritt, die wie eine Fratze des Religiösen aussehen. Im Gebiet des Ethischen bleibt die Antinomie zwischen Sinn- lichkeit und Sittlichkeit, Bindung und Freiheit in irgendeiner Form dauernd akut, so sehr, daß diese Antinomie geradezu als konsti- tutive Bedingung des Ethischen bezeichnet werden muß. In der Religion jedoch wird sie „aufgehoben". Wie das möglich ist, vermag keines Menschen Geist zu enträtseln: wir stehen hier vor der vollendeten Kraft des Mythus selbst. Was wir zu erkennen ver- mögen, ist nur die Tatsache, daß jene Aufhebung möglich ist, und daß sie sich oft begeben hat. Aber gerade diese Aufhebung ist es, in der die Autonomie der Religion besteht und die erlö- sende Kraft des religiösen Mythus zutage tritt. In dieser Auto- nomie aber betätigt sich in Verbindung mit der Erlösungsfunktion das, was wir die Realität und Wahrheit der Religion zu nennen pflegen. III. Unsere Zeit und das Problem des Mythus. Verfügt nun auch unsere Zeit über einen für sie charakte- ristischen oder überhaupt über einen Mythus? Auf Grund der vorstehenden Ausführungen, die die Unent- behrlichkeit des Mythus für jede Kulturperiode, sogar für jeden Lebenszusammenhang darzutun und die inneren Bedingungen für diese Unentbehrlichkeit aufzudecken versuchten, müßte das der Fall sein. Wie könnte sonst die Gegenwart vor dem Richterstuhl 430 Arthur Liebert, der Geschichte bestehen? Ja, wie wäre es sonst möglich, ihr Wesen zu erfassen und über sie eine Erkenntnis auszusprechen, ganz gleich in welchem Geiste dies geschähe, und ob man ihr den Aufstieg oder den Untergang prophezeie? Denn jede einzelne in ihr auftretende Erscheinung und Erscheinungsgruppe läßt sich, je nach der Gesinnungsweise und dem Temperament des Deutenden, nach dieser oder jener Richtung auslegen. Inbezug auf das Ein- zelne bleibt der Willkür der Interpretation ein ziemlich erheblicher Spielraum. Nicht aber inbezug auf die Ganzheit, auf die innere Totalität. Diese innere Totalität erschließt sich jedoch dann, wenn es gelingt, denjenigen Grundmythus zu bestimmen, an dem sich die Gesamtstruktur unserer Zeit in all der Fülle ihres Wollens und Ringens, ihrer Unfertigkeiten und ihrer Leistungen, ihres Plauens und ihres Vollbringens erleuchtet. — a) Nun scheint aber nichts ausgemachter, nichts sicherer zu sein als die Behauptung, daß unserer Zeit ein solcher, sie kenn- zeichnender Mythus fehle. Mögen, so könnte eingewendet werden, die Geschichtsphilosophen noch so sehr die Notwendigkeit und die kulturschöpferische Bedeutung des Mythus betonen, sogar nach- gewiesen zu haben glauben (vgl. die Einleitung und das 1. Kapitel dieser Abhandlung), trotzdem könne man nicht umhin, einzuräumen, daß alle Bemühungen, einen solchen Mythus in der Gegenwart auf- zufinden, ergebnislos bleiben würden. Zwei Gründe ließen sich zur Stützung dieser Behauptung bei- bringen. Erstens dulde die immer mehr zunehmende Aufklärung und die doch zu außerordentlicher Höhe emporgestiegene Aus- bildung der Kritik das Fortbestehen eines Mythus einfach nicht. Jeder von uns sei von der modernen geisteswissenschaftlichen Schulung unmittelbar oder mittelbar berührt. Ist deren Haupt- arbeit und Hauptabsicht aber nicht darauf gerichtet, und zwar mit dem größten Erfolge, die Mehrzahl der sogenannten histori- schen „ Wahrheiten a als Sagen und Mythen abzutun, oft ohne auch nur den leisesten Versuch zu unternehmen, ihren Sinn und damit ihr Recht aufzuhellen ? In der Wissenschaft und in der durch sie veranlaßten, nahezu uferlosen Rationalisierung unseres ganzen Geisteslebens haben wir uns, allerdings in unabweisbarer Zwangs- läufigkeit, den Erb- und Erzfeind des Mythus herangezogen. Des- halb müßte man Fr. Th. Vischer zustimmen, der da erklärt: „Der Tod eines Mythus ist nur die in die Majorität eingedrungene Ein- sicht, daß es eben ein Mythus ist" (Kritische Gänge, 3. Bd. Mythus und Kultur. 431 S. 31 f.). Das Begreifen beseitige den Mythus, da es alles jenseits des Pormalen und Begrifflichen Liegende grundsätzlich in den Kreis des Begriffs hineinzieht. Welche paradoxen Folgen er- gaben sich daraus, daß David Friedrich Strauß in seinem < Leben Jesu> (1835) die Berichte über Jesu als „Mythen" entschleierte! Denn dadurch, daß jene Erzählungen als Mythen erkannt und durchschaut wurden, wurden alle geheimnisvolle Realität und die Realität des Geheimnisses, die nur so lange bestehen, als sie in ihrem Mythus- Sein von der Kritik und dem Intellekt nicht be- rührt werden, dem Wissen und dem Wissenden ausgeliefert. Damit jedoch verblaßte und zerstob ihr „Mythus". Der Mythus ist eine natürliche und organische Äußerung des religiösen Bewußtseins; es lebt in ihm und mit ihm. Für das wissenschaftliche Bewußt- sein ist er ein Untersuchungsgegenstand, wie deren es für dasselbe zahllose gibt, und denen allen es in kritischer Neutralität gegen- übersteht. Indem es den Mythus in diese wertfreie Zone der sachlichen Untersuchung hineinzieht, ihn hinsichtlich seiner Ent- stehung und Entwicklung und hinsichtlich der Umstände seines ästhetischen und literarischen Geformtwerdens ins Auge faßt, ihn mit Glossarien und Kommentaren begleitet, raubt es ihm bei diesem Vorgang seiner intellektuellen Durchdringung gerade die- jenigen Momente, wegen deren er dem religiösen Bewußtsein so wert ist. Während das religiöse Bewußtsein sich in einem Mythus verklärt, sucht das wissenschaftliche ihn zu erklären. Während die mythenbildende und für Mythen begabte und empfängliche Phantasie in der Realität des Mythus sich darstellt, streben wir „ aufgeklärte ", durch einen ungeheueren Intellektualisierungsprozeß hindurchge- gangene Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts darnach, uns diese Form der Realität durch gelehrte Forschung zu verdeutlichen. Wir tun das mit den Mitteln derjenigen Wissenschaft, die in diesen Zeiten zu so starker Ausbildung und so hohem Ansehen gekommen ist, der Psychologie. Dadurch aber werden die Objektivität und die Realität auch des Mythus in Verbindung mit der menschlichen Subjektivität gebracht und von dieser abhängig gemacht. Von hier aus erscheint der Mythus als eine willkürliche, biologisch und utilitaristisch begründete Schöpfung subjektiven Beliebens, als eine Fiktion. Diese Erkenntnis seines Wesens, so könnten die Ver- treter dieser kurz angedeuteten positivistisch -naturwissenschaft- lichen Beweisführung abschließend sagen, hat. sich in unwidersteh- licher Ausbreitung der Allgemeinheit mitgeteilt, die in ihrer Geistes- 432 Arthur Liebert, Verfassung nun in das Zeitalter des Positivismus eingetreten sei, um mit Auguste Comte zu sprechen. Im engsten Zusammenhang mit dieser, unter naturwissenschaft- licher Führung vollzogenen Rationalisierung des modernen Zeit- bewußtseins steht nun, so könnte weiter eingewendet werden, der zweite Gegengrund gegen die Möglichkeit eines Mythus für unsere Tage. Der Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung hat uns die gesamte Wirklichkeit immer mehr als eine nach festen Ge- setzen aufgebaute Einheit erkennen gelehrt, die — ihrer erkennt- nistheoretischen Begründung nach — in den kategorialen Formen des Verstandes ihre Voraussetzungen habe. Der Begriff der Ge- setzlichkeit sei das Losungswort für alles wissenschaftliche Ver- fahren geworden, ganz gleich, welche Unterscheidungen nun inner- halb dieses Begriffes als notwendig befunden und vorgenommen werden. Ist aber alles Sein in diesen undurchbrechbaren Gesetzes- rahmen eingespannt, verläuft es in strengen Ordnungen und nach allgemeinen, über alles Subjektive erhabenen Prinzipien, wie kann dann noch Raum, noch Anknüpfung für einen Mythus vorhanden sein? Für eine solche Anknüpfung müßte eine persönliche, mensch- liche, gemütvoll gefärbte Beziehung vorliegen. Wie sachlich, wie unpersönlich hat sich aber das Verhältnis des Menschen zur Wirk- lichkeit unter der Leitung des allmächtigen naturwissenschaftlichen Rationalismus gestaltet ! Zu Allgemeinheiten, zu gesetzlichen Zu- sammenhängen tritt man in das begriffliche Verhältnis der Er- kenntnis. Verehren, lieben läßt sich nur Persönliches, wie denn auch umgekehrt Verehrung, Liebe ein Ausfluß und Ausdruck un- serer Persönlichkeit sind und nicht eines in der Zone der abstrakten Unpersönlichkeit sich bewegenden, nur begrifflich eingestellten Bewußtseins. Man verfolge das charakteristische Umschlagen von Spinozas Rationalismus, der übrigens von Anfang an mit erheb- lichen Gefühlsmomenten erfüllt war, in eine fast schwärmerische Stimmung gegenüber der „Natur", jemehr nämlich ihm diese zu „Gott" wird. „Der Mythus ist gläubige Personifikation" heißt es treffend bei Friedrich Theodor Vischer (Kritische Gänge, 4. Band S. 426). Indem jedoch das europäische Geistesleben — allerdings mit einer Folgerichtigkeit und Strenge, denen man seine Aner- kennung nicht vorenthalten wird — sich mit Theorien durch- setzte, mit Begrifflichkeiten durchtränkte, nahm nicht nur die Stärke und Unmittelbarkeit des Glaubens ab, sondern auch alle Mythus und Kultur. 433 personifizierenden Neigungen müssen von nun an als Rückständig- keiten und Rückartungen erscheinen. Ferner: Die Ermattung des religiösen Glaubens in Europa stehe nicht nur in Verbindung mit dem Anwachsen der Kritik und des Rationalismus, sondern auch mit dem symptomatischen Vorgang der Entpersönlichung der Wirklichkeit. Formen, Begriffe, Sche- mata seien über uns Herr geworden, mußten es. Dieser Entwicklung könnten wir uns nicht mehr entziehen ; wir müssen einfach mit ihr rechnen und uns über sie klar werden. Dabei machte es fast gar- nichts aus, ob die Wissenschaft uns anweise, die Wirklichkeit im mechanistisch-mathematischen oder im vitalistisch-dynamischen Sinne aufzufassen. Als Theorien seien sie nämlich beide durchaus Gegner jeder unmittelbaren und jeder mythisch gearteten Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit; sie verwehren eine personifizierende Anschauung und ein persönlich gestaltetes Verhältnis zu ihr in jeder Hinsicht. Damit müßten wir uns eben abfinden, soweit wir Anspruch darauf machen, an der modernen Einstellung und Arbeit des Geistes teilzunehmen. Möge auch. Hermann Lotze noch so sehr im Recht sein mit der tiefsinnigen Überzeugung: „Der Sehnsucht des Gemütes, das Höchste, was ihm zu ahnen gestattet ist, als Wirklichkeit zu fassen, kann keine andere Gestalt seines Daseins als die der Persönlichkeit genügen oder nur in Frage kommen" (Mikrokosmus, 3. Band S. 563), wir seien nun doch einmal dahin gelangt, uns zu entwöhnen, das Unendliche unter den Bedingungen der Persönlichkeit zu sehen. Ergebe sich aber als unserer Weisheit letzter Schluß die Ein- sicht von der in sich geschlossenen einheitlichen Gesetzlichkeit und gesetzlichen Einheit alles Wirklichen, von seiner eindeutigen Be- stimmtheit und Begrenzung durch ein Gefüge fester Begriffsformen, so entfalle die Möglichkeit eines Mythus darum, weil die Möglich- keit einer idealen Ergänzung nach der Richtung einer jenseits des Gewebes von Kausalitäten wirkenden Absolutheit entfalle. Weil wir zu lernen gezwungen wurden, daß das Dasein sich aus sich selber nährt und sich in seinen eigenen Gesetzen befriedigt. Weil wir in unserer Gesinnung und in unserem Denken nun einmal so vertatsächlicht und historisiert sind, daß jeder Schritt zur Ewig- keit eine Flucht ins Traumland bedeutet, das doch nur der eigent- lich längst überwundenen metaphysischen Spekulation erreichbar wäre. Mit der Überwindung der Metaphysik sei aber zugleich, so meint man, aller Mythus zur Verabschiedung gebracht worden. 434 Arthur Liebert, Die für das moderne Bewußtsein maßgebende Begrenzung des Denkens und Handelns auf das Reich gegenständlicher Erfahrung, und zwar eine Begrenzung, die in dem erkenntnistheoretischen Phaenomenalismus als der herrschenden Richtung und Überzeugung in der Erkenntnistheorie ihre prinzipielle Begründung gefunden habe, könne die Erhebung zum Reiche der Ideen nur als ein fik- tives Verhalten gelten und in den Ideen selber nur Fiktionen er- blicken lassen. Übrigens sei es nur eine andere Ausdrucksweise für dieselbe Entscheidung, wenn Friedrich Albert Lange die Me- taphysik als „Begriffsdichtung" ansieht und angesehen wissen will. Denn auch er will mit dieser Bezeichnung nur besagen, daß dem Absohiten nicht die Eignung selbständiger Objektivität zukomme, sondern daß dieses nur ein durch das menschliche Triebsystem be- dingtes subjektives Gebilde von biologisch bestimmter Struktur sei. Stärker aber und radikaler könne man doch vom Mythus sich nicht lossagen als durch die naturwissenschaftliche Auffassung aller Erscheinungen, einschließlich der Biologie, Anthropologie, Psycho- logie, m. a. W. als durch eine ausgesprochen positivistische Geistes- haltung und durch eine positivistische Erkenntnisweise. Indem diese aber an die Stelle der Spekulation traten, haben sie mit aller Spekulation auch allen Mythus aus dem Kreis moderner Bewußt- seinstätigkeit entfernt. b) Diese Beweisführung ist nun keineswegs ausreichend, um die theoretische Unmöglichkeit und sachliche Überlebtheit des Mythus darzutun. Der moderne Positivismus vermag nämlich darum die Zulassung des Mythus nicht auszuschalten, weil er selber — eine Form des Mythus ist. Auch er arbeitet, ob in metaphysischer und in erkenntnistheoretischer Hinsicht mit begründetem Recht, bleibe dahingestellt, mit einer Absolutheit, u. zw. in doppeltem Sinne. Erstens gilt ihm die Tatsache als solche, sei das eine naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich charakterisierte, so wie sie als Erscheinung im gesetzlich geregelten Verband empi- rischen Ablaufs bzw. Gegebenseins nachweisbar ist, als ein Letztes und Unableitbares. Sie ist ihm das Grundelement zur Weltkon- struktion, zugleich das Ziel, auf dessen Erfassung seine wissen- schaftlichen Unternehmungen gerichtet sind. Damit jedoch tritt sie in das Licht des Mythus, gewinnt sie mythisches Ansehen. Das muß auch der Vertreter des Positivismus einräumen, so para- dox dieses Zugeständnis aus seinem Munde klingen mag. Mythus und Kultur. 435 Die Form aber für seine Weltkonstruktion ist ihm das Natur- gesetz. Welche Bedeutung dieses innerhalb des positivistischen Gedankenkreises besitzt, bedarf nicht längerer Ausführungen. Es ist, mit einem Wort, neben der Absolutheit der Tatsache der zweite Ausdruck der Absolutheit. Die ihm zugesprochene unbedingte Geltung hat sich in der Herrschaft des theoretischen Geistes in der europäischen Kultur ihre kräftigste, unzweideutige Bekundung verschafft. Will man jene Geltung jedoch noch deduzieren, und fragt man nach ihrer endgültigen Stütze, so findet sich im letzten Grunde für sie doch keine andere Gewähr als jener nicht weiter ableitbare geistige Typ, den wir als den abendländischen Rationalis- mus zu bezeichnen, und als dessen höchsten legitimen Nieder- schlag wir die Mathematik und die mathematische Naturwissen- schaft zu betrachten pflegen. So erscheinen diese als Symbole des Gesetzesgedankens. Dieser Gesetzesgedanke ist ihre logische und transzendentale Bedingung. Indem er aber im Verein mit der immer mehr zunehmenden Aus- breitung der mathematischen und der mechanistischen Erkenntnis- form zu immer vollerer und stärkerer Anwendung und zu der denkbar umfassendsten systematischen Durchbildung und Durch- setzung gedieh, weitete und vertiefte er sich zu der entscheidenden Konstruktionsform, über die der zu nahezu uneingeschränkter An- erkennung emporsteigende * Rationalismus verfügte. Vergrößerte sich nun im Laufe der neuzeitlichen Entwicklung dessen Macht mehr und mehr, so war es eben der Gesetzesgedanke, der ihm als Mittel dieser Machtausdehnung diente. Dieser Gedanke kleidete sich in die verschiedenartigsten Ansdrucksweisen ; er wurde das formale, konstruktive Organ, dessen Verfeinerung gleichbedeutend wurde mit dem Fortschritt der menschlichen Erkenntnis und mit der Schöpfung neuer theoretischer Systeme. So wuchs er, das ist keine Frage, zu einem Mythus empor, der Zeiten und Völker mit seinem Bann umfing und zum guten Teil noch umfängt. Diese auch den Faktoren des Positivismus innewohnende my- thische Bedeutung ist es , auf der in letzter Linie dessen unver- kennbar großen theoretischen und praktischen Leistungen und dessen Einfluß und Stellung beruhen. Dadurch daß den Tatsachen auf der einen Seite und den Gesetzesbeziehungen auf der andern die Unbedingtheit zugesprochen wurde, konnte der Positivismus unter bestimmten Bedingungen des europäischen Lebens den Charakter und die Geltung eines allgemeinen Systems und die Bedeutung 436 Arthur Liebert, einer Weltanschauung erreichen. So wenig verwehrt der Positi- vismus einem Mythus die Möglichkeit oder die Existenz, daß er selber auf einem solchen beruht und in seiner geistesgeschichtlichen Rolle eine spezifische Ausprägung des Mythus vertritt. Das er- hellt nicht nur aus der kurz angedeuteten eigentümlich absoluti- stischen Geltung, die seine Faktoren beanspruchen bezw. besitzen, sondern auch aus dem zur Höhe eines Dogmas gesteigerten An- sehen, das er eine Zeitlang genoß. Daß aber ein Dogma allemal die Verkörperung eines Mythus darstellt, bedarf keines eingehen- deren Nachweises. — c) Ferner aber ist für die geistige und seelische Lage, in der wir uns befinden, offensichtlich nichts bezeichnender als der Um- stand der Loslösung von diesem Positivismus, mag er in der Spiel- art des naturwissenschaftlichen oder des geisteswissenschaftlichen Positivismus oder mag er in der allgemeinen Form einer Weltan- schauung auftreten oder aufgetreten sein. Die eigentümliche Krisis der Gegenwart beruht zum mindesten in einer ausschlaggebenden Beziehung darauf, daß wir uns von einem geistigen Verhalten und einer wissenschaftlichen Erkenntnis- und Behandlungsart freizu- machen streben, die viele Jahrzehnte eine außerordentliche Macht ausgeübt hat, und die etwa seit Hegels und Goethes Tode zur herrschenden Gedanken- und Bildungsform geworden war. Es würde hier zu weit führen, wenn die Gründe für diese Abkehr vom Positivismus und für seinen notwendigen Ersatz durch eine andere Gestalt des geistigen Lebens ausführlicher erörtert werden würden. Versuche der verschiedensten Art und von sehr ver- schiedenartigem Wert liegen vor. Und wenn auch nicht wenige derselben zu einem bisweilen schmerzlichen Lächeln nötigen oder sogar eine entschiedene Abfertigung und Ablehnung erheischen, so bleibt dennoch das innere Bedürfnis nach einer anderen Einstel- lung zum Leben, das in ihnen als eine ihrer Voraussetzungen wirksam ist, ernsterer Berücksichtigung würdig. Ist die Abkehr vom Positivismus ein Motiv und ein Symptom — neben manchen anderen — für die geistige Krisis der Gegen- wart, so besteht das zweite Motiv und Symptom nicht sowohl in dem Erreichen und Besitz einer neuen geistigen Lebensform, als vielmehr in dem schicksalshaften Suchen nach ihr, in der Erwar- tung ihrer. Man pflegt dieses Suchen als das Verlangen nach einer Metaphysik zusammenzufassen. Doch das ist nicht ganz zu- Mythus und Kultur. 437 treffend, weil der Tatbestand nicht in ausreichendem Maße damit umspannt wird. Nicht als wenn jenes Verlangen nach einer Meta- physik auch nur im geringsten geleugnet oder verkannt werden sollte. Sind doch die Anzeichen für eine Wendung des Geistes in der Richtung nach einer Metaphysik zu auffällig, zu stark und zu zahlreich, und so manche Bemühungen dahin haben ein zu großes Gewicht und sind von zu hohem theoretischen Wert und gedank- lichen Reiz, als daß sie eindruckslos bleiben und leichthin ge- nommen werden dürften. Aber jene Hinweise auf die zunehmende Teilnahme für die Metaphysik, auf die Erkenntnis ihrer Notwen- digkeit und auf die Versuche zu ihrer Erneuerung berücksichtigen nur die eine, gleichsam die intellektuelle Seite jenes allgemeinen Bedürfnisses und Suchens. Es ist schon richtig, daß uns kaum etwas nötiger ist, daß unser Schicksal kaum etwas gebieterischer fordert als eine von konstruktivem Geist erfüllte Metaphysik, als eine spekulative Deutung der Erscheinungen. Denn das Zeitalter des Positivismus hat unter allen Umständen das Verdienst, daß es uns kraft seiner Methode in den Besitz eines ungeheueren, fast unübersehbaren Reichtums an Einzelwissen, Einzelkenntnissen, von Tatsachen gesetzt hat. Doch nunmehr handelt es sich nicht nur darum, diese Fülle zu gedanklichen Einheiten zusammenzufassen, sondern auch den Sinn dieser Welt von Tatsachen deutend zu er- fassen. Damit jedoch ist Platz geschaffen für die neue Metaphysik, und eine der wichtigsten Aufgaben aller metaphysischen Unter- nehmungen ist wiederum anerkannt und erneuert. In dem Prozeß dieser Deutung gewinnt der endliche Geist ein Verhältnis zum Absoluten. Denn in ihm wird keine empi- rische, keine kausale Ableitung der Tatsachen aus gesetzlich be- stimmten Ursachen vorgenommen. Ein solches Verfahren würde uns im Reiche der Erscheinungen zurückhalten und selber im positi- vistischen Fahrwasser verbleiben. Sondern sein Wesen ist ein da- von völlig verschiedenes und zwar in dreifacher Beziehung: er- stens soll die vernünftige Einheit der Tatsachen logisch erfaßt, es soll diese Einheit in der Form der Konstruktion erkannt werden; zweitens soll der Wert dieses Gefüges unter dem Gesichtspunkt einer höchsten Idee bestimmt werden, wobei natürlich keinerlei Utilitarismus irgendein Wort verstattet ist ; drittens endlich muß der Sinn dieser Einheit und dieses Wertes gedeutet werden. Viel- leicht läßt sich zur genaueren Klärung dieser Aufgabe davon sprechen, daß es sich darum handele, allem Seienden unter Vor- Kantstudien XXVft. 29 438 Arthur Liebert, aussetzung seiner immanenten Vernünftigkeit, d. h. des Waltens eines Allgeistes ein bestimmtes Schicksal zuzusprechen. Wenn nun die Durchführung dieser dreifachen, doch in sich einheitlichen Auf- gabe die Gestalt des Begriffes und der methodischen Regelung annimmt, so befinden wir uns grundsätzlich im Arbeitsbereich der Metaphysik. Diese stellt diejenige Geisteshaltung in dem Verhält- nis zum Absoluten dar, die ausgesprochenermaßen die Form der Erkenntnis trägt. Wir erwägen hier, wie ohne weiteres ersicht- lich ist, nicht die wissenschaftliche Möglichkeit, nicht den Geltungs- wert dieser Erkenntnisform, sondern wir weisen nur darauf hin, daß diejenige Form der Beziehung zum Absoluten, die sich theo- retischer Mittel und der Gestalt des Gedankens bedient, innerhalb der menschlichen Kultur als Metaphysik auftritt. Und die außer- ordentliche Wichtigkeit der Metaphysik für unsere Zeit erhellt nun eben daraus, daß sie uns überhaupt von dem Druck der nichts- sagenden Tatsächlichkeiten und aus der Verstrickung in die kau- salen Endlichkeiten befreit und in jedem Falle eine, wenn auch nur einseitige Beziehung zur Welt der Ideen herstellt. Nun war bereits oben S. 414 dargetan worden, daß alle Meta- physik auf dem Grund eines Mythus ruht. In ihr spricht sich ein Mythus aus, dem sie die spezifisch systematische Form verleiht. Der Mythus selber ist hingegen die überhaupt allgemeinste Gesinnungs- richtung des endlichen Geistes inbezug auf das Unendliche, ein umfassendes Verhalten, das z. B. auch in den Objektivationen der Kunst und der Religion seine geschichtliche Wirklichkeit, seine Sonderausprägungen besitzt. Diese allgemeinste Gesinnungsrich- tung muß sich dann bemerkbar zu machen und zur Auswirkung zu gelangen suchen, wenn erstens ein Überdruß an der zu ausge- dehnt gewordenen und schließlich keine neuen Fruchtbarkeiten zeitigenden positivistischen Geisteshaltung eintritt, zweitens die errungene Fülle an Tatsächlichkeiten eine so große Hohe erreicht hat, daß alle auf sie verwendeten Bemühungen zum mindesten zur Hälfte dann nutzlos zu werden drohen, sobald das Verbot er- geht, diese ganze schwere Arbeit nach ihrem Sinn zu befragen und sie aus einem dem Leben überlegenen Wert und Zweck zu rechtfertigen. Bloße Tatsachen sind, von einem höheren Stand- punkt aus gesehen, an sich belanglos, selbst diejenige Tatsache, auf die der moderne Biologismus einen so nachdrücklichen Ton zu legen pflegt, der Wille zum Leben. Denn wir erfassen und ge- nießen nirgendwo einen „Sinn" des Lebens, wenn wir über seinen Mythus und Kultur. 439 Bestand und sein erscheinungsmäßiges Gregebensein nicht hinaus- zugehen vermögen. — d) Diese innerlichste wurzelhafte Erhebung über die Nichtigkeit eines Bestandes, dieses tiefste Freiwerden von allen äußeren kau- salen Gebundenheiten, diese reinste Überwindung aller empirischen Determiniertheit vollzieht sich nun ohne Zweifel in den Formen und Erlebnissen religiösen Charakters. Daß dem so ist, ergibt sich- sowohl aus der Idee der Religion, in der der endliche Geist die größte, soweit ihm überhaupt mögliche Annäherung an das Schlechthinnige erreicht, als auch aus zahlreichen Fällen der ge- schichtlichen Entwicklung. Nirgends sonst werden wir so gewiß, daß alle Erscheinungen nur Symbole sind, also nirgends sonst bleibt die Erscheinung als solche, als wesenloser Schein, so weit hinter uns als im Reiche und vor dem Richterstuhl der Religion. Daraus aber folgt, daß je mehr ein Zeitalter sich dem Posi- tivismus verschrieben sah und Jahrzehnte hindurch in seinem Geiste tätig war, es gerade nach der Religion die stärkste Sehn- sucht verspüren muß, vorausgesetzt, daß in ihm nicht alles Be- dürfnis nach dem Absoluten und alle Fähigkeiten, in irgendeine Beziehung zu ihm zu gelangen, erloschen sind. Regen sich aber in unseren Tagen nicht diese Bedürfnisse und Fähigkeiten u. z. mit charakteristischer Entschiedenheit? Geht nicht durch unsere Zeit ein bis zur Verehrung erhöhtes Interesse — für den Orient ? Diese Teilnahme erschöpft sich ihrem tieferen Sinn nach nicht in dem ästhetischen Genuß an der orientalischen Kunst oder in der intellektuellen Freude an den Leistungen des Orients auf dem Ge- biete der Metaphysik. Sondern aus einem unmittelbaren meta- physischen Verlangen sucht und fragt die Gegenwart nach dem Geist des Orients. Der einzelne Europäer, der sich mit persischer, indischer, chinesischer Kunst, mit der Philosophie der Veden, der Religion und Lebensweisheit Buddhas beschäftigt, weiß in der Regel kaum etwas von dem metaphysischen Grund und Sinn seiner Neigung, seiner Tätigkeit. Und doch tragen die orientalischen Farben und Formen, Gedichte und Bildnisse, Gestalten und Lebens- auffassungen, die Predigten . und Weisungen morgenländischer Denker für uns Abendländer die Bedeutung wegbahnender Sym- bole. Was nämlich dem Neuhumanisten und Klassi- zisten sein Hellas und sein Griechenland, was dem Renaissancemenschen sein Piaton, was dem Roman- 29* 440 Arthur Liebert, tiker das Mittelalter, die gotischen Dome und das ganze Wesen der Katholizität war, das ist für uns Heutige in beträchtlichem Maße derOrient, in erster Linie der indische Orient. Nicht sein geographisches, ethnographisches, geschichtliches Sein, wie dieses sich im Spiegel der kritischen Forschung darstellt, weckt und unterhält unsere Stimmung und Teilnahme für ihn, sondern es handelt sich bei dieser Beziehung zu ihm um etwas Anderes. Dieses Andere soll nicht sowohl der Erweiterung unseres wissenschaftlichen Horizontes, nicht der Mehrung unserer Kenntnisse, dem Verlangen nach in- tellektuellem Aufschluß über merkwürdige Völker und merkwür- dige Einrichtungen und Gewohnheiten dienen, als vielmehr dem Bedürfnis nach Erfüllung und Vollendung unseres Seins, nach Ver- tiefung und Sicherung unseres Schicksals, das während der Herr- schaft des Positivismus und Relativismus zu einem halt- und wert- losen Moment in einem halt- und wertlosen Werden zu zerfallen drohte. Deshalb kann man diesem Ruf nach dem Orient auch nicht da- durch Einhalt gebieten oder seine Unangebrachtheit damit belegen wollen, daß man auf die tiefe, unüberbrückbare Wesensverschieden- heit zwischen Abend- und Morgenland hinweist. Etwa als ob wir die Vertreter eines unentwegten Aktivismus und einer in immer neuen Errungenschaften sich entladenden aktiven Spontaneität seien, während dem Orient nur Ruhe, Ergebung, Verzicht, Quietismus als Ideale vorschwebten. Wir wissen- jetzt, daß eine solche Gegen- überstellung unter den genannten Gesichtspunkten dem Tatbestand ganz einfach widerspricht. Ich lasse hier einem Sachkenner das Wort. Nachdem Leopold Ziegler in seinem Buche: gefordert hat, daß man „zuvörderst alle die ungefügen und grobschlächtigen Schlagworte vergessen haben muß, mit wel- chen seit Jahrhunderten jeder Europäer dumm geprügelt wird, der in Gesellschaft den Begriff Buddhismus zu erwähnen sich ge- traut" (S. 18), und nachdem er einige andere Mißverständnisse richtiggestellt hat, so das, daß der Buddhismus die Religion des Pessimismus sei, fährt er fort (S. 20): „Man hat in dem Buddhis- mus schlecht und recht eine der geschichtlichen Spielarten des aus der Mystik aller Zeiten und Völker fließenden Quietismus zu er- blicken sich gewöhnt, und wird jetzt, angesichts dieses Buddho, überraschend inne, daß Gotama von der Person des dem Orden verpflichteten bhiMu eine unausgesetzte Höchstanspannung und Mythus und Kultur. 441 Höchststeigerung sämtlicher Kräfte des Leibes und des Geistes und der Seele fordert; eine Höchstanspannung und -Steigerung, die, wenn sie auch nicht geradezu Arbeit im Sinn des europäi- schen Berufsmenschen zu nennen ist, doch auch erst recht nicht als Ruhe oder gar als Müssiggang, am ehesten vielleicht noch als ,tätige Muße' bezeichnet werden darf, und die zu ihrem Teil den Mönch, dem es bitter ernst ist, ausschließlich Tag und Nacht be- ansprucht, bis jeder Rest von Kraft für andere Lebensäußerungen aufgezehrt ist. > Wohlan denn, ihr Mönche: unermüdlich mögt ihr da kämpfen«, — das ist die Summe der Gebote, das ist das Gebot aller Gebote, in welches der Buddho selbst im Augenblick der Erlöschung die gesamte Lehre knapp und einprägsam zusammen- faßt. Und abermals untersteh' ich mich zu behaupten, daß so kein Quietismus und nicht einmal die Mystik an und für sich sprechen würde!" Und dennoch darf man sagen, daß wir einen Schuß Quietismus recht gut gebrauchen könnten, nicht zur Beförderung unseres Selbst in das Nichts tatenloser Ruhe, sondern im Sinne von Beruhigung, um ein Verhältnis zu uns und zu den anderen Menschen zu ge- winnen, das nicht das Kainszeichen qualvoller Ungeschlossenheit und pragmatistischer Wetterwendigkeit trägt. Wir müßten nach einer Einstellung zu der Welt der Erscheinungen streben, die sich nicht verzehrt in atemloser Dialektik, und die nicht jede tiefere sinnhafte Beziehung zu uns selber und zu den anderen ausschließt oder zerstört. Wer die Krisis der Gegenwart wirklich mit allem Ernst durch- leidet und ihre eigentümliche Beschaffenheit durchschaut, der wird nicht nur das Bedürfnis nach einem erlösenden Mythus erkennen, sondern auch verstehen, wieso die Sehnsucht nach dem Absoluten ihre Erfüllung gerade in der Wendung unseres Geisteslebens zum Orient zu finden meint. Denn der neue Mythus, der im Werden begriffen ist, trägt orientalisches Gepräge: Es ist der Orient, vornehmlich in seiner indischen Gestalt, der als My- thus vor unseren Blicken emporsteigt; es ist ein Mythus, der sich in die Form und in das Wesen des asiatischen Orients kleidet. — e) Warum aber muß es gerade der Orient sein, der uns als Symbol des Absoluten gilt, gleichsam als dessen geschichtliche Verkörperung? Weshalb nicht Hellas oder die Gestalt eines Phi- losophen? Weil weder die Kunst noch die Wissenschaft noch die 442 Arthur Liebert, Philosophie diejenige Versinnlichungsform des Absoluten darstellen, die wir eben heute so nötig haben. Unser Verlangen nach dem Absoluten und die in uns jetzt wirkende Notwendigkeit eines Ver- hältnisses zu einem in jeder Hinsicht Wesentlichen sind gleichbe- deutend mit der Notwendigkeit der Religion. Der Orient aber ist das uralte Schöpferland und der geheiligte Heimatboden der Religion. Und weil er das ist, ward er das Land der Weisheit und der menschlichen Vollendung. Man beachte doch, daß das, was wir in Europa und in unserer Mitte an religiösen und religiös verankerten metaphysischen Systemen besitzen, letzten Endes aus dem Orient stammt. Und man sollte einmal dem Einfluß nach- geben, den der orientalische Geist, wie immer er bei dem einzelnen europäischen Denker wirksam sein mag, auf die Ausbildung der verschiedenen Formen und Typen der Metaphysik ausgeübt hat. Die orientalische Form der Geisteshaltung gehört ohne Frage mit zu den konstitutiven Bedingungen für die Entwicklung ge- wisser metaphysischer Systeme, sowie für die eigentümliche Art ihrer Geltung. Spinozas einzig- und eigenartige Stellung im euro- päischen Geistesleben beruht im tiefsten Grunde auf der charak- teristischen Bestimmtheit, mit der jene Form in seiner Metaphysik zum Ausdruck gelangt. Man kann fast jeden Einzelzug seines Systems aus den Schöpfungen seiner Vorgänger ableiten, in ihm Beziehungen zur Stoa, Abhängigkeiten von Giordano Bruno, Des- cartes, Hobbes nachweisen: seine Originalität beruht auf der Ein- stellung zu allen diesen Einzelheiten, eigentlich darauf, daß alle jene Abhängigkeiten und Entlehnungen, und deren Zahl ist nicht gering, doch für das Ganze des Systems nebensächlich sind. Wo nämlich gibt es innerhalb der Ideenwelt Europas einen Denker, der so unmittelbar, gleichsam so unbedenklich, so jenseits aller Dialektik, so unumwunden, so wirklich ganz dogmatisch auf das Sein, auf die Substanz gerichtet war, diese nicht erst auf dem Wege irgendeiner Begründung oder Erschließung erkenntnistheo- retischer, psychologischer, ethischer Natur näher zu führen und ihrer gewiß zu werden brauchte. Das Sein der Substanz steht bei ihm da, wie aus der Pistole geschossen, um einen von Hegel inbezug auf Schelling gebrauchten Ausdruck hier auf Spinozas On- tologismus anzuwenden. Vom allerersten Atemhauch und Schritt an sind wir in Spinozas Ethik in der Sicherheit des Seins, der keine Vermittelung von irgendeinem außerhalb der Substanz lie- genden Ableitungspunkt vorgelagert ist. Spinozas Sein ist in der Mythus und Kultur. 443 Tat über jeglichen Bezug zu irgendeinem Werden in jeder Hin- sicht erhaben. Man wird kaum einen anderen abendländischen Philosophen treffen, der den Gedanken des Seins so primär, so absolut, so deduktionslos, so unkritisch, so unkantisch, so gänzlich naiv, so in sich geschlossen gedacht hat wie Spinoza. Um einen solchen zu finden muß man schon nach dem Orient sich wenden. Europas Geist und Sehnsucht kreisen gleichsam unermüdlich um das Absolute, ohne sich seiner je in voller Tiefe bemächtigen zu können. Wir leben in dem Prozeß des ewigen Werdens. Hat doch Goethe sogar den Gedanken eines > werdenden Gesetzes < ge- formt, den Gundolf mit Recht als einen ungeheuren bezeichnet (Gundolf, Goethe, S. 563). Ungeheuer aber ist er, dem sich zahl- lose ähnliche an die Seite stellen ließen, besonders aus der Samm- lung „Gott und Welt", nicht nur wegen seiner spekulativen Kühn- heit, ja Verwegenheit, sondern als überwältigende Zusammenfas- sung der für Europas Gesinnung charakteristischen Auffassungs- und Bewertungs weise des Seienden. Der Sinn des Werdens ist das Suchen nach dem Absoluten. Und keinen Mythus haben die vergangenen Jahrzehnte, also die der Vorrangstellung des Histo- rismus und des Relativismus, in denen der Begriff der Entwick- lung der leitende und bestimmende Gesichtspunkt für alle Unter- nehmungen des Geisteslebens war, stärker und umfassender, ein- heitlicher und folgerichtiger ausgebildet als den Mythus vom ewigen Werden. Des Orientalen, des religiösen Menschen Wesen dagegen ruht stets im Absoluten. Er nimmt die Welt der Erfahrung niemals so schwer und so ernst, daß er darüber ihren Charakter als bloße Erscheinung vergessen, ihre Unwesentlichkeit übersehen würde. Während sich der Europäer mit ihrer Problematik herumschlägt und ihr schon damit einen entschiedenen Wert zubilligt, steht der Orientale, steht der religiöse Mensch jenseits dieser Problematik, steht er im Sein, richtet er sich auf das Wesen der Dinge. Für den Sinn dieser Leistung und dieses Verhaltens dürfte aber keine Bezeichnung angemessener sein als die, daß hier der andere ty- pische Mythus zur Entwicklung gelangt ist, der Mythus vom ewigen Sein. Sollte das nicht der neue Mythus sein, den wir suchen und gebrauchen, nachdem wir den Mythus vom ewigen Werden nach allen Richtungen und in allen denkbaren Abstufungen ausgebildet und selber in dem Gedanken des unaufhörlichen Werdens und 444 Arthur Liebert, seiner unabschließbaren Entwicklung uns selber nahezu restlos ver- loren haben? Wie aber lassen sich Wesen und Sinn dieses Mythus vom ewigen Sein genauer verdeutlichen ? Wohl durch nichts besser als durch die Ideen von Gott und von Natur. So sind zwei, aber untereinander eng verbundene Formen der Ausprägung und Entfaltung jenes Mythus gegeben: denMythus von Gott und den Mythus von der Natur. Sie beide, zusammengefaßt und in spekulativer Deutung durchgeführt, zeitigen die W e n d u n g zur Religion, d.h. zu dem größten, hinreißendsten Mythus der Kultur. — Wie nun unter den allgemeinen Eigentümlichkeiten des euro- päischen Geistes und unter den Besonderheiten unserer gegenwär- tigen Lage ein solcher Mythus in konkreter Gestalt sich entfalten und zu umgreifender Wirksamkeit gelangen könnte, das läßt sich in eindeutiger und einwandfreier Weise nicht ausmachen. Keinen Augenblick können die Ungeheuern Schwierigkeiten verkannt werden, die der Geburt und der Durchsetzung des notwendig gewordenen neuen religiösen Mythus in der heutigen Weltlage im Wege stehen. Wie wird sich seine Auseinandersetzung mit dem verwissenschaft- lichten Greist unserer Kultur, d. h. sein Verhältnis zum „Logos" gestalten? „Ohne Logos kann eine große religiöse Lebenswelt ebensowenig bestehen wie ohne Mythos", sagt Ernst Troeltsch, der der Spannung zwischen Denken und Leben, Systematik und Geschichte, Logos und Mythos, wie überhaupt der religiösen Pro- blematik unserer Tage tiefstgreifende Überlegungen gewidmet hat (vgl. u. a. die grundlegende Abhandlung < Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie >; abgedruckt in Gesammelte Schriften, 2. Band : «Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik > S. 805 ff.). Ferner : Welche Momente werden in den neuen Mythus aus dem Christentum einfließen, und welche Rolle wird und kann überhaupt bei seiner Entstehung und Verbreitung das Christentum spielen ? Die Zukunft des Christentums, Art und Grad seiner Beteiligung an der werdenden Kultur sind in den letzten Jahren mit begreiflicher Lebhaftigkeit erörtert worden. Aber sowohl hier als bei der zuerst aufgeworfenen Frage läßt sich mit rein wissenschaftlichen Mitteln eine Entscheidung nicht fällen (so auch Troeltsch, u. a. S. 824). Alle derartigen Erörte- rungen würden wie eine Voraussage der Zukunft erscheinen. Erstens aber kann die Vorherbestimmung zukünftigen Geschehens Mythus und Kultur. 445 nicht als eine wissenschaftlich mögliche oder zulässige Aufgabe gelten. Zweitens würde das Genie, das uns den erhofften reli- giösen Mythus brächte, alle Voraussagen, mögen sie noch so um- sichtig vorgenommen sein, über den Haufen werfen, weil es aus Tiefen des Lebens und Erlebens schöpft, die jenseits der wissen- schaftlichen Erfassung liegen. Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie1). Von Paul Tillich, Berlin. Es ist meine Pflicht, die Paradoxie in der Formulierung meines Themas zu begründen. „Paradox" kann den Sinn von „geistreich" haben, dann beruht die Paradoxie auf der widerspruchsvoll zwei- deutigen Wortform und gehört in die ästhetische Sphäre. Sie kann auch dialektisch sein. Dann beruht sie auf dem Zusammen- stoß zweier widerspruchsvoller, aber in sich notwendiger Gedanken- reihen, und gehört in die logische Sphäre. In beiden Fällen liegt die Paradoxie im Subjekt, einmal in der Willkür der künstlerischen Phantasie , das anderemal in der Notwendigkeit der logischen Konstitution. Nun aber gibt es einen Punkt, wo Paradoxie nicht im Subjekt, sondern durchaus im Objekt begründet ist, wo Para- doxie zur Aussage ebenso notwendig gehört , wie Widerspruchs- losigkeit zu jeder erfahrungswissenschaftlichen Aussage : Der Punkt, in dem das Unbedingte zum Objekt wird. Denn daß es das wird, ist ja eben die Urparadoxie, da es als Unbedingtes seinem Wesen nach jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt steht. Para- doxie ist also die notwendige Form jeder Aussage über das Un- bedingte. Die ästhetische wie die logische Paradoxie ist grund- sätzlich auflösbar, beide stellen eine Aufgabe, sei es an den Witz, sei es an das Denken. Die Paradoxie des Unbedingten ist nicht auflösbar. Sie stellt eine Aufgabe an das Schauen. Das scheint die philosophische Aussage über das Unbedingte zu einer religiösen zu machen. Dazu ist zu bemerken: Religions- philosophie, die außerhalb der religiösen Wirklichkeit steht, ist so sinnwidrig, wie Ästhetik, die außerhalb der künstlerischen Wirk- 1) Die folgenden Ausführungen stellen die Ausarbeitung eines in der Ber- liner Abteüung der Kant-Gesellschaft am 25. Jan. 1922 gehaltenen Vortrages dar. \ \ Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs usw. 447 lichkeit steht, denn beides hieße; Über einen Gegenstand reden, dessen einzige Gegebenheitsform unzugänglich bliebe. Dabei kann die Berührung mit der Sache die Form des schärfsten Gegensatzes annehmen, wenn dieser Gegensatz nur aus der Sache selbst stammt. So hatte Nietzsche ein Recht, Gott zu bekämpfen, denn er tat es im Namen des Gottes, der durch ihn sprach, während Strauß kein Recht dazu hatte, denn durch ihn sprach das Menschliche, allzu Menschliche. Es ist darum sachlich begründet , wenn ich auf die geistige Gemeinschaft hinweise, in der ich mich in den folgenden Gedanken mit Männern des religiösen Wortes, wie Barth und Go- garten befinde. Es war überraschend für mich, zu sehen, wie ohne gegenseitige Beeinflussung das unbedingte „Ja" zum Unbe- dingten in dem religionsphilosophischen, wie in dem religiösen Denken zu der prinzipiell gleichen Stellung geführt hat. Dennoch sind die folgenden Gedankengänge ganz aus sich heraus zu ver- stehen; sie sind Philosophie und sie sollen nichts sein als Philo- sophie. Die Paradoxie aller letzten Aussagen über das Unbedingte hindert nicht die Rationalität und Notwendigkeit der Begründungs- zusammenhänge, aus denen diese Paradoxie hervorwächst. Es steht zu beweisen, daß der Begriff der Religion in sich selbst eine Paradoxie enthält. „Religion" ist der Begriff einer Sache, die eben durch diesen Begriff zerstört wird. Und doch ist er unvermeidlich; es käme also darauf an, ihn so zu verwenden, daß er einem höheren Begriff untergeordnet wird, der ihm seine zerstörende Kraft nimmt. Das aber ist der Begriff des Unbe- dingten. Es wird nun freilich infolge der inneren Dialektik des Religionsbegriffs eine gewisse Zweideutigkeit unvermeidlich sein, insofern das eine Mal der Begriff neutral, orientierend gebraucht wird, das andere Mal prägnant, polemisch. Dem ist nicht abzu- helfen, denn jeder etwa nea geschaffene Begriff würde der gleichen Dialektik anheimfallen, der Zusammenhang muß entscheiden, was gemeint ist. Wir sprechen I) Von dem Protest der Religion gegen den Religionsbegriff. II) Von der Herrschaft des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. III) Von der Überwindung des Reli- gionsbegriffs. IV) Von der Dialektik der Autonomie. 448 Paul Tillich, I. Der Protest der Religion gegen den Religionsbegriff. Es sind vier Einwände, die die Religion gegen den Religions- begriff erhebt. 1. Er macht die Gottesgewißheit relativ gegenüber der Ichgewißheit. 2. Er macht Gott relativ gegenüber der Welt. 3. Er macht die Religion relativ gegenüber der Kultur. 4. Er macht die Offenbarung relativ gegenüber der Religionsgeschichte. Insgesamt : Durch ihn wird das Unbedingte gegründet auf das Be- dingte, es wird selbst bedingt, d. h. zerstört. 1. Die Gewißheit des Unbedingten ist unbedingt. Wo aber der Religionsbegriff das Denken leitet, soll es eine Gewißheit geben, die grundlegender ist als die des Unbedingten : — Die Gewißheit des Ich. Die Selbstgewißheit des Subjekts soll vor der Gottesge- wißheit stehen. Vom Gottesbewußtsein losgelöst soll das Ich sich selbst erfassen. — Aber auch die Ichgewißheit ist kein Fundament unbedingter Gewißheit. Sie wird von einem Traumschleier über- deckt, wenn die Außenwelt, auf die sie bezogen ist, sich in Schein auflöst. Mit dem Objekt wankt auch das Subjekt. Das Unbe- dingte aber steht jenseits von Subjekt und Objekt. Nur wo das Ich als Stätte der Selbsterfassung des Unbedingten gemeint ist, nimmt es teil an der unbedingten Gewißheit, sei es des absoluten Lebens, wie bei Augustin, sei es der absoluten Form, wie bei Car- tesius. Immer aber ist das Unbedingte das Begründende, das Ich das Medium und das Begründete. Wo es anders ist, wo das Ich sich loslöst, entsteht zwar — Religion, aber das Ich verliert mit Gott zuletzt auch sich selbst. 2. Mit der Gewißheit des Unbedingten geht auch die Wirk- lichkeit des Unbedingten verloren. Die Religion ruht als Funktion des Bedingten in der Welt des Bedingten. Und sie geht von dieser ihrer Welt aus, um zum Unbedingten zu gelangen. Sie hat einen selbstgenügsamen Weltbegriff, der nur an seinen Rändern einer Ergänzung bedarf. Und so wird Gott zu einem Korrelat der Welt, dadurch aber selbst Welt. Und das wahre Unbedingte liegt jenseits von diesem Gott und der Welt. Es entsteht ein Gott unter Gott ; der Gott des Deismus. — Oder der Weltbegriff bedarf keiner Ergänzung ; das Universum ist in sich vollendet und Gott identisch mit ihm, die Totalität, die Synthesis aller endlichen Formen, das Universum des Bedingten, das aber niemals das Un- bedingte sein kann, der Gott des Pantheismus. — Wo der Welt- Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 449 begriff ohne Gott fertig ist, da ist Gott ein bloßer Name, den man um der Religion willen ausspricht, den man aber auch weg- lassen kann, ganz gleich, ob das Universum Geist oder Materie genannt wird. 3. Der Geist des Religionsbegriffs vernichtet Gottes gewißheit und Gottes Wirklichkeit, und er vernichtet die Religion selbst. „Religion" ist eine Funktion des menschlichen Geistes. Sie bleibt es auch, wenn man sie (mit Scholz) zu einer Schöpfung Gottes im Menschen macht. Denn zum mindesten muß der menschliche Geist die funktionelle Möglichkeit zur Religion haben, und mehr ist ja so wie so nicht gemeint. Sie steht also neben den übrigen Geistesfunktionen. Aber wo? Zuerst suchte sie ihre Heimat in einer anderen, der praktischen ; aber die autonome Ethik ist fertig ohne sie, löst sie in sich auf oder schickt sie weiter; zu der theo- retischen; aber die autonome Philosophie braucht sie nicht, stellt sie unter sich als Vorstufe, als Übergang, löst sie in sich auf und schickt sie weiter, zum Gefühl; aber Gefühl begleitet jede Funk- tion; also ein bestimmtes Gefühl; etwa für das Univerum; aber damit ist es nicht mehr die Funktion, sondern der Gegenstand, der die Religion bestimmt. So wird der Heimatlosen eine eigne Stätte gesucht, eine Provinz im Geistesleben (Schleiermacher) ein religiöses „Apriori" (Tröltsch) die höchste Aktklasse (Scheler); und so ist man ethisch, wissenschaftlich, ästhetisch, politisch und ist auch religiös. Das Unbedingte steht neben dem Bedingten; aber die Religion gestattet nicht, daß man auch religiös ist, sie gestattet überhaupt nicht, daß man „religiös" ist. Sie erträgt keine Nebenordnung, auch nicht in der Form einer Rangordnung, wo sie an erster Stelle steht. Sie ist ein verzehrendes Feuer gegen alle autonomen Geistesfunktionen, und wer ein religiöses Apriori sucht, der muß wissen, daß damit alle anderen Apriori's im Abgrund versinken. Davon aber weiß der Religionsbegriff nichts. 4. Wie der Religionsbegriff die Unbedingtheit des Glaubens in die Relativität der Geistesfunktionen auflöst, so löst er die Unbedingtheit der Offenbarung in das Werden und Wandeln der Religions- und Kulturgeschichte auf; die Religion als Allgemein- begriff ist indifferent gegen den Offenbarungsanspruch jeder Re- ligion. Absolute Religion ist hölzernes Eisen ; war das Christentum Religion geworden , so war es seiner Absolutheit a priori ent- kleidet. Und Tröltsch tat recht daran, das a posteriori festzu- 450 Paul Tillich, stellen. Der Glaube gibt das Prädikat „Religion" höchstens der- jenigen Religion, die das Heil nicht bringt, der falschen Religion. Es ist ein herabsetzendes Wort nnd bezeichnet das Minderwertige in der Religion, daß sie im Subjekt stecken bleibt, daß sie lediglich Intention auf Gott hin ist, daß sie Gott nicht hat, weil Gott sich in ihr nicht gegeben hat. Und dieses Wort der Herabsetzung wird nun zu dem Fundament, auf das die Offenbarung sich gründen soll — und doch nicht gründen kann. Denn entweder wird Offen- barung zur Mitteilung eines Wissens, das der autonome Geist auch sonst gefunden hätte. Sie löst sich auf in Rationalismus mit gelegentlicher Nachhilfe supranaturaler Art, oder sie wird Geistes- geschichte und löst sich auf in] die Bedingtheiten des Kulturpro- zesses. Ist Offenbarung ein „religiöser" Begriff, so ist sie über- haupt kein Begriff mehr. Das ist der Widerspruch der Religion gegen den Geist des Religionsbegriffs. Sehen wir zu, wie sich die bisherige Religions- philosophie dazu gestellt hat. II. Die Herrschaft des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. Die Religionsphilosophie ist im Abendland in drei Perioden verlaufen: die rationale, die kritische und die intuitive. Die em- piristische Religionsphilosophie geht neben allen drei Perioden einher, kann aber hier außer Acht bleiben, da sie konsequenter- weise nur über die Verwirklichung der Religion im seelischen und geschichtlichen Leben, nicht über sie selbst etwas aussagen kann. Sobald sie es versucht, macht sie Anleihen bei einer der anderen Methoden. 1. Die rationale Periode ist die der unbewußten Herrschaft des Religionsbegriffes, die kritische die seiner bewußten Herrschaft und die phänomenologische die seiner schwindenden Herrschaft. In der Philosophie der Renaissance ist das Weltbewußtsein noch ein- geschlossen in ein mystisches oder ekstatisches Gottesbewußtsein. Es gibt keine Welt abgesehen von Gott, wie es freilich im Unter- schied vom Mittelalter keinen Gott abgesehen von der Welt gibt. Der Unterschied von Natur und Übernatur ist aufgehoben. Die Natur ist übernatürlich ; das Übernatürliche Natur. Aber das war ein Übergang. — Die mathematische Naturwissenschaft seit Galilei bannte das Übernatürliche. Die Natur wird rein gegenständlich, rein rational, rein technisch, sie wird außergöttlich. Es wird Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 451 möglich, einen Weltbegriff ohne Grottesbegriff zu vollziehen. Da- mit aber ist der Herrschaft des Religionsbegriffs freie Bahn ge- schaffen. Sie zeigt sich sofort am Ausgangspunkt der ganzen Entwicklung, bei Cartesius. Das Ich ist die Gewißheitsgrundlage ; vom Ich wird auf Gott geschlossen. Nicht das ist das Verhängnis- volle, daß in der Selbstgewißheit des Ich das Prinzip aller Ratio- nalität gefunden wird: darin ist ja die Unbedingtheit der logi- schen Form enthalten, die als Unbedingtheit Heiligkeitsqualität in sich birgt. Aber daß nicht das Unbedingte daraus entnommen wird, um in ihm Gott zu erfassen, sondern das Rationale, um mit ihm G-ott zu deduzieren, das zeigt die Veränderung der ganzen Lage, z. B. gegenüber Augustin. Sie kommt zu voller Deutlichkeit erst in der Aufklärungsphilosophie, die mit Hilfe der technisch-gegen- ständlichen Kategorie Ursache und Zweck Gott aus der Welt er- schließen will. Die Gottesgewißheit soll ruhen auf der Weltge- wißheit und der Kraft des logischen Schlusses. Das ist Herrschaft des Religiosbegriffs ; freilich in verhüllter Form, da überhaupt noch von Gott und nicht von Religion die Rede ist. Kant hat richtig gesehen, daß ohne ontologischen Beweis dieses Ziel unerreichbar ist. Aber der ontologische Weg war versperrt ; er ist nur da möglich, wo das Bewußtsein in unmittelbarer Ein- heit mit dem Unbedingten steht, er ist dann kein logischer Schluß vom Denken] aufs Sein des Unbedingten, der natürlich unmöglich ist, sondern er ist der Ausdruck für die unbedingte Gewißheit, die das Unbedingte allem Bedingten gegenüber hat, insofern es jenseits des Gegensatzes von Denken und Sein steht. Mit der Verselbständigung des Weltbewußtseins, mit dem Auseinanderfallen von Denken und Sein, mit der Vergegenständlichung Gottes wird dieser Ausdruck einer realen Bewußtseinslage zu einem Syllogis- mus, dessen Prämisse nicht zutrifft. So wurde die Kritik des on- tologischen Beweises das Fazit der Geistesentwicklung vom Mittel- alter zur Neuzeit, vom Gottesbewußtsein zum autonomen Welt- bewußtsein ; und sie wurde zugleich das Ende der rationalen Periode. Der verhüllten Aufhebung der Gottesgewißheit entspricht die verhüllte Aufhebung der Gottes Wirklichkeit. Gott wird im Welt- bild fast aller Philosophen dieser Periode das zentrale Moment der Weltkonstruktion: der Träger der Weitharmonie, der geniale Uhrmacher des kosmischen Systems, der Vermittler von Subjekt und Objekt, immer technisch, immer gegenständlich, ein Ding auch wenn er der Ort der Ideen oder das Jenseits von Denken und 452 Paul Tillich, Ausdehnung genannt wird. Denn auch das Denken ist durch den Determinismus der vorherbestimmten Harmonie dinghaft geworden. Der Gott, der die Welt ergänzen soll, ist Welt und nicht Gott. Allein Spinozas religiöse Tiefe überwindet diese Gottes unwürdigen Begriffe und weist in die folgende Periode ; er selbst aber bleibt überwunden von dem dinghaften Weltbegriff seiner Zeit, durch den Gott gerade bei ihm zum absoluten Ding wird. Er enthüllt die Tendenz des Religionsbegriffs und mit Recht empfand ihn seine Zeit als ihre eigentliche Gefahr. Auch die Unbedingtheit der Religion gegenüber der Kultur ist in verhüllter Weise aufgehoben. Das „colere et intelligere Deuma steht neben den „colere et intelligere a von Welt und Men- schen. Wie Gott neben der Welt steht, steht die Religion neben Wissenschaft und Politik, neben Kunst und Sittlichkeit. Auch hier bleibt die zerstörende Konsequenz des Religionsbegriffs ver- hüllt. Man erkennt die Welt — und auch Gott; man hat den Staat — und auch die Kirche, man hat die Kunst — und auch den Kultus. Die Religion ist noch überall, aber sie ist überall ein Teil, und hat ihre Allgegenwart verloren. Dieselbe Verhül- lung im vierten Punkt. Die Absolutheit der Offenbarungs Wahr- heit tritt auf als Absolutheit der Vernunftreligion. D. h. die Offenbarung ist ein Kapitel der Metaphysik geworden, hineinge- zogen in die Dialektik des Widerlegens und Begründens. So lange trotz alier Widersprüche der Glaube an die absolute Vernunft herrschte, blieb die Konsequenz des Religionsbegriffs verhüllt. Als die Vernunft geschichtlich wurde, ward die Vernunftreligion zur Religionsgeschichte . 2. In der kritischen Periode brechen die relativistischen Kon- sequenzen des Religionsbegriffs offen hervor. Die Gottesgewißheit verliert ihren theoretischen Sinn. Der moralische Gottesbeweis kann seinem wahren Gehalt nach nichts anderes leisten, als der sittlichen Autonomie die Weihe des Unbedingten zu geben: Alle Versuche aber, philosophischer und theologischer Kantianer, aus ihm mit ethischen Postulaten eine theoretische Existenz Gottes herauszuholen, sind vergeblich. Der Neukantianismus hat darin die klare Konsequenz der kritischen Grundlage gezogen. Und es ist das religionsphilosophische Verdienst der „Philosophie des Ais- Ob", diesen theoretisch existierenden Gott, der mit ethischen Postu- laten erwiesen werden soll, als Fiktion durchschaut zu haben. — Eür die idealistischen Kantianer kommt eine Gottesgewißheit, ab- Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 453 gesehen von der Weltgewißheit nicht in Frage. Die Religion ist eine besondere Art des Welterlebens, die; entweder in der Philo- sophie aufgehoben ist, wie bei Hegel oder eine dauernde eigentüm- liche Bedeutung hat, wie bei Schleiermacher. Am deutlichsten ist die Wirkung des Religionsbegriffs da, wo nominalistisches Denken einen gegenständlichen Weltbegriff überhaupt nicht kennt, wie bei Simmel, und demgemäß die Religion ausschließlich ins Subjekt ge- legt wird: die Religion ein Rythmus, eine Färbung der Seele, ein Ausdruck ihrer metaphysischen Bedeutsamkeit. Also eine Weihe nicht der gegenständlichen Welt, wie im Realismus, sondern des subjektiven Lebens. Der Religionsbegriff, der vom Ich zu Gott führen wollte, ist zum Ich zurückgesunken. In der Fassung des Gottesgedankens senkt sich die drohende Wolke der vergangenen Periode, des Spinozismus nieder, seiner Dinghaftigkeit durch den idealistischen Ausgangspunkt entkleidet. Es gibt keinen Gott mehr abgesehen von der Welt. Der Deismus wird zum Pantheismus. Gott ist die Weltidee, die Form der Formen, die letzte Synthesis, die als Realität oder unendliche Auf- gabe gedacht wird; er ist die Welt sub specie aeternitatis. Da- durch ist wieder die Einheit von Gott und Welt hergestellt, aber nicht, wie in der Renaissance von Gott aus, der die Welt in sich aufgenommen, sondern von der Welt aus, die Gott in sich aufge- nommen hat. Darum ist hier die gegenständlich-wissenschaftliche Begriffsbildung der Durchgang zu Gott. Der Weltbegriff schafft den Gottesbegriff und hält ihn in Abhängigkeit von. sich. So ist es im Idealismus, so weiterhin : Der Gottesbegriff bleibt abhängig vom Weltbegriff: er geht mit ihm die materialistischen, volunta- ristischen, naturalistischen, positivistischen Wege, also die Uner- füllbarkeit der romantischen Sehnsucht offenbarend, von der Welt- form zu Gott zu kommen, eine neue Unmittelbarkeit, eine neue ontologische Geisteslage von der wissenschaftlichen Welterfassung her zu erreichen. Und wieder ist es die „Philosophie des Als-Ob", die in klarer Erkenntnis der Sachlage die Entwurzelung durch- schaut hat, die den Gottesbegriff in dem Augenblick treffen muß, wo er zu einer abgeleiteten Wirklichkeit herabgedrückt ist, anstatt das Urgegebene selbst zu sein. Daraus ergibt sich nur auch das Verhalten der kritischen Periode zu dem dritten Punkt: Entsprechend dem Pantheismus geht die Religion über in Kultur. Sie wird einer der Geistesfunk- tionen angehängt, und es bleibt nicht aus, daß sie sich in diese Kantetudien XXVII. 30 454 Paul Tillich, auflöst. Der Erfolg in der geistigen Lage des Jahrhunderts ist deutlich sichtbar: In einzelnen von Hegel abhängigen Denkern und in der von Hegel-Marx bestimmten Arbeiterschaft nimmt die Wissenschaft die Stelle der Religion ein, in den ethisch-bürgerlich bestimmten Kreisen tritt die Moral in die Lücke, in den Schichten der höchsten Bildung die Kunst. Die Versuche, der Religion eine Sonderfunktion zu retten, mißlingen, weil ihre Absolutheit eine Relativisierung nicht verträgt, weil die geforderte religiöse Funk- tion genau so in Kultur umschlagen muß, wie der geforderte deistische Gott in "Welt. Es ist freilich nicht zu verkennen, daß auf diese Weise die Kultur religiöse Weihe erhält; aber diese Färbung erhält sie nachträglich; sie kann auch fehlen und fehlt, sobald der Weltbegriff aus idealistischen in materialistische und voluntaristische Fassungen übergegangen ist. Der Sieg der historischen Vernunft im Idealismus bedeutet auch den Sieg der Religionsgeschichte in dieser Periode. Sie war durchaus als Offenbarungsgeschichte gemeint, natürlich nicht im supranaturalen, aber im immanent-geistesgeschichtlichen Sinn ; es ist Gott selbst, der in ihr zum Selbstbewußtsein im Endlichen kommt ; es sind die Weltpotenzen, die der Reihe nach in der Mythologie und Offenbarung sich kundgeben. — Mit dem Zerbrechen der idea- listischen Voraussetzung wird die Offenbarungsgeschichte ein Stück menschlicher Geistesgeschichte, dessen Sinn es ist, sich in Kultur- geschichte aufzulösen. Auch hier der völlige Sieg des Religions- begriffes. — Die kritische Periode ist konsequenter als die ratio- nale; das ist ihr Vorzug; sie enthüllt die religionszerstörenden Folgen des Religionsbegriffes, aber sie leistet auch etwas Positives. Sie ist eine machtvolle Reaktion gegen die gegenständliche Ent- leerung und Entheiligung der Welt. Diese Reaktion bleibt zwar romantisch und ästhetisch und schlägt wieder in ihr Gegenteil um ; denn das zerstörte religiöse Bewußtsein kann nicht durch Wille einzelner, sondern nur durch Schicksale von Völkern und Massen wiedergewonnen werden. Aber die romantische Religionsphilo- sophie gibt dennoch die Brücke und schafft Formen, über die wieder der neue Geist ontologischen Gottesbewußtseins sich er- gießen könnte. Welt, Kultur, Geschichte haben Heiligkeitsqualitäten, können sie haben, aber brauchen sie nicht zu haben. Wie aber, wenn die Ordnung umgekehrt würde; wenn es hieße: Müssen sie haben: wenn vor allem das Religiöse Unbedingtheit und Gewißheit hätte und Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 455 die Welt und die Kultur und die Geschichte zeitliche, zweifel- hafte, zu überwindende Profanisierungen des Heiligen wären ? Mit dieser Frage wenden wir uns der dritten, intuitiven Periode zu. 3. Sie beginnt mit der Jahrhundertwende; nicht nur durch die im engeren Sinne phänomenologische Philosophie, sondern durch die allgemeine Bewegung des Geisteslebens hinweg von der gegen- ständlich-technischen zu einer urständlich-intuitiven Welterfassung. Es ist schwerer über sie etwas zu sagen, da sie erst in Entfaltung begriffen ist ; aber es ist doch schon möglich, sie in den weitesten Umrissen zu erschauen. Für die Religionsphilosophie hat sie die Bedeutung, gegen die Herrschaft des Religionsbegriffs bewußt an- zugehen. Es scheint sich eine neue ontologische Geisteslage an- zubahnen. Die Erfassung des Numinösen durch Otto als einer alle Gegenstandsformen durchbrechenden Wirklichkeit, die Erhe- bung des Heiligkeitswertes über die übrigen Wertstufen durch Scheler, die völlige Trennung des religiösen von dem theoretischen Existentialurteil durch Scholz liegen in dieser Richtung. Wir stellen nun die Frage, wieweit gelingt es hier, den Geist des Re- ligionsbegriffs zu bannen? Scheler wie Scholz wollen die funktionelle Begründung der Religion mit Energie überwinden, Scheler, indem er dem religiösen Objekt die primäre Gewißheit gegenüber dem religiösen Akt zu- schreibt und die Gottesfrage vor der Religionsfrage erledigt, Scholz, indem er die Auffassung der Religion als autonomer Geistesschöp- fung bestreitet und in dem Satze „Gott ist" das erste Wesens- merkmal der Religion sieht. Es könnte eingewandt werden, daß damit eine Wiederkehr der rationalen Methode droht; aber die Gefahr besteht in Wirklichkeit nicht. Nicht mit Hülfe von Syl- logismen soll aus einem feststehenden Weltbegriff Gott erschlossen werden, sondern ohne Berücksichtigung der Welt soll seine Wirk- lichkeit erschaut werden. — Um die Scheidung dieses Anschauens von der reflektiv-gegenständlichen Welterkenntnis hervorzuheben, baut Scheler die Wirklichkeitserfassung in Stufen auf: die wissen- schaftliche, die metaphysische und die religiöse Erkenntnis. Zweifellos ist damit eine Überwindung sowohl der rationalen wie der kriti- schen Methode angebahnt. Aber doch nicht erreicht. Denn es ist nicht deutlich, wie sich die Stufen zu einander verhalten. Welche Schwierigkeiten hier vorliegen, zeigt Scheler, wenn er die Meta- physik mit einem sacrificium intellectus sich selbst aufheben läßt, zu Gunsten der Religion. Damit ist das Gottesbewußtsein ab- 30* 456 Paul Tillich, hängig gemacht von einem sich selbst vernichtenden Weltbewußt- sein; die Gottesgewißheit lebt vom Opfer der Weltgewißheit; die Gotteswirklichkeit vom Opfer der Welt Wirklichkeit. Aber dieses Opfer bringt die Welt. Gott lebt vom Opfer und er schwindet, wenn der autonome Geist das Opfer weigert. Der aber muß es weigern, um nicht durch theoretische Urteile, die fremder Quelle entspringen, in sich zweispaltig zu werden. Der protestantische .Religionsphilosoph Scholz fordert nicht ein sacrificium intellectus, sondern er sucht dem Intellect die Glaub- würdigkeit der Religion zu beweisen. Er setzt also ein Bewußt- sein voraus, für das die Glaubwürdigkeit bewiesen werden müßte. Dieses Bewußtsein aber ist das der sittlichen Persönlichkeit. An der ethischen Qualität der Offenbarungsträger hat sich das Ver- trauen auf die Wahrheit ihrer Offenbarung zu entzünden. Wer sieht hier nicht den ins Persönliche transponierten moralischen Gottesbeweis, der dem Protestantismus so tief im Blut sitzt? — In beiden Fällen ist die Weltgewißheit und die Weltwirklichkeit als das Grundlegende beibehalten gegenüber der Gottesgewißheit und Gotteswirklichkeit, einmal als Stufe, das andere Mal als Kri- terium. Erreicht ist nur ein doppeltes. Gott wird weder er- schlossen, wie in der rationalen, noch in die Welt hineingezogen, wie in der kritischen Periode. Auch in den beiden anderen Punkten, Religion und Kultur, Offenbarung und Geschichte, hilft sich Scheler durch den Stufen- gedanken: die religiösen Werte sind die höchsten in der Wert- reihe; Heiligkeitswerte stehen noch über Persönlichkeits werten. Und innerhalb der Heiligkeits werte steht wieder die im Christus gegebene Gotteswirklichkeit an erster Stelle über Propheten und Heiligen: die Religion der höchste Kulturwert, die christliche Religion der höchste Heiligkeitswert. — Offenbar herrscht auch hier noch der Religionsbegriff. Die Stufenreihe läßt die höhere Stufe auf die niederen gegründet sein im Sinne des Bildes, wie im Sinne der Sache, die es veranschaulichen soll; es bleibt ein Denken von unten, ein Emporsteigen; aber es gibt keine Stufen, die zum Unbedingten führen; die höchste wie die niedrigste ist von dem Unbedingten gleich weit entfernt. Bei Scholz tritt auch hier an Stelle der Stufenlehre, deren katholisch- mittelalterlicher Ursprung ja deutlich ist, die ethisch- kulturelle Persönlichkeitsidee, deren protestantische Wurzel offen liegt: die Religion ist eine dem übrigen Geistesleben gegenüber Die Überwindung des Eeligionsbegriffs in der Keligionsphilosophie. 457 selbständige Sache, die da sein, aber auch fehlen kann; ist sie aber da, so ist das Maß ihrer Wertung die Erlebbarkeit durch den Kulturmenschen der Gegenwart, d. h. durch die geistig-ethisch geformte Persönlichkeit. An. erlebbaren Religionen aber kommen schließlich nur drei in Betracht ; das Christentum, der Pantheismus, die Mystik. — Es widerspricht nun schlechterdings der Unbedingt- heit des Unbedingten, daß es in seiner Art und seinem Maß ab- hängig gemacht wird von dem Maß einer bestimmten geistig-ethi- schen Persönlichkeits- oder Kulturlage. All diese Gedanken ent- stammen noch einem Denken, das nicht auf das Unbedingte, son- dern Bedingte sieht, um an ihm das Unbedingte zu messen. Sie haben den Geist des Religionsbegriffes nicht bannen können. — Aber ist er überhaupt zu bannen? Oder ist es das Verhängnis der Religionsphilosophie, ihm verfallen zu sein? Ist es das Ver- hängnis der menschlichen Geschichte, daß es nur eines in ihr geben kann, Religion oder Religionsphilosophie? in. Die Überwindung des Religionsbegriffs. Der entscheidende Einwand, den wir gegen die bisherige Re- ligionsphilosophie erhoben, ist der, daß sie das Unbedingte auf das Bedingte gründet entweder durch Nebenordnung oder, da diese unerträglich ist, durch Auflösung des Unbedingten in das Bedingte. Eine Religionsphilosophie, die dem Wesen des Unbedingten gerecht werden will, muß das Unbedingte in allem Bedingten erfassen, als das, was sich selbst und das Bedingte begründet. Das Bedingte ist das Medium, in dem und durch das hindurch das Unbedingte erfaßt wird. Zu diesem Medium gehört auch das erkennende Sub- jekt. Auch dieses tritt in keiner Weise als begründend auf, son- dern nur als der Ort, in dem das Unbedingte im Bedingten offenbar wird. Daraus folgt, daß der Sinn jeder Aussage über das Unbe- dingte prinzipiell unterschieden sein muß von dem Sinn jeder Aussage über Bedingtes. Da aber jede Aussage als solche in dem Schema von Subjekt und Objekt, also in den Formen des Bedingten verläuft, so muß die Aussage über das Unbedingte diese Formen zwar benutzen, aber doch so, daß ihr Unzulängliches offenbar wird, d. h. sie muß die Form der systematischen Paradoxie tragen. 1. Die Selbstgewißheit des Ich ist unter der Herrschaft des Religionsbegriffs begründend für die Gottesgewißheit. Nun aber ist in der Selbstgewißheit des Ich ein Doppeltes enthalten: Das 458 Paul Tillich, Unbedingte einer Realitätserfassung, die jenseits von Subjekt und Objekt liegt und das Teilhaben des subjektiven Ich an diesem Unbedingt- Wirklichen, auf dem es ruht. Das Ich ist das Medium der unbedingten Realitätserfassung; und es nimmt als Medium teil an der Gewißheit dessen, was es vermittelt ; aber es nimmt nur als Medium teil; es ist nicht das Tragende, sondern das Ge- tragene. — Es besteht nun für das Ich die Möglichkeit , seine Selbstgewißheit so zu erleben, daß die unbedingte Realitätsbezie- hung, die darin enthalten ist, im Vordergrund steht: die a priori religiöse Art der Selbsterfassung ; es besteht andererseits die Mög- lichkeit, seine Selbstgewißheit so zu erleben, daß die Beziehung auf das Sein des Ich im Vordergrund steht, die a priori unreligiöse Art der Selbsterfassung; im ersten Fall dringt das Ich gleichsam durch die Form ■ seiner Bewußtheit hindurch, zu dem Realität s- grund, auf dem es ruht, im zweiten Fall bleibt dieser Untergrund zwar wirksam — ohne ihn gäbe es keine Selbstgewißheit — aber er wird nicht angetastet; das Ich bleibt in seiner Losgelöstheit, in der Bewußtseinsform. Kann man diese zweite Stellung auch mit Recht unreligiös nennen, so doch nur, insofern die Intention in Betracht kommt, nicht soweit es sich um den Erfolg handelt. Ein der Substanz nach unreligiöses Bewußtsein gibt es nicht, wohl aber der Intention nach. In jeder Ich-Erfassung ist die Beziehung auf das Unbedingte als Realitätsgrund enthalten; aber nicht in jeder ist sie gemeint; danach unterscheiden sich die beiden Lagen des Bewußtseins. Die Aussage, daß in der Selbstgewißheit die Gewißheit des Unbedingten erfaßt wird, ist paradox; denn sie hat die Form des Theoretischen und ist doch dem Theoretischen schlechterdings fremd. Wenn gesagt wird, daß Ich erfasse in sich das Unbedingte als Grund seiner Selbstgewißheit, so ist in der Form dieser Aussage der Gegensatz von Subjekt und Objekt enthalten; aber der Ge- halt dieser Aussage steht dem gerade entgegen: das Unbedingte ist nicht Objekt, es ist auch nicht Subjekt, sondern es ist die Voraussetzung jedes möglichen Gegensatzes von Subjekt und Ob- jekt. Darum steht die Erfassung des Unbedingten auch vor jedem theoretischen Urteil. Und ist in Grund und Folgen unabhängig von aller theoretischen Gewißheit. Ob der Geist die religiöse oder unreligiöse Intention in sich trägt, ist theoretisch indifferent, da das Unbedingte zwar das Tragende auch alles theoretischen Ur- teils ist, selbst als absolute Voraussetzung aber niemals Gegenstand Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 459 der Theorie sein kann. Wird es das doch — und es muß es ja werden, da sonst überhaupt nichts ausgesagt werden könnte — so hat diese Aussage notwendig paradoxe Form : Grottesgewißheit ist die in der Selbstgewißheit des Ich enthaltene und sie begründende Gewißheit des Unbedingten. Damit ist die Gottesgewißheit schlechter- dings unabhängig von jeder anderen vorausgesetzten Gewißheit. Das Ich und seine Religion steht unter dem Unbedingten; es ist erst möglich durch das Unbedingte. Es gibt deswegen überhaupt keine Gewißheit, in der nicht die Gottesgewißheit implicite ent- halten wäre; aber ob sie auch explicite enthalten ist, das macht den entscheidenden religiösen Unterschied aus. Objektiv ist jedes Bewußtsein Gott-gebunden, aber subjektiv kann das Bewußtein Gott-los sein. J Es gibt also keinen Weg vom Ich zu Gott ; aber es gibt — der Richtung, nicht der Substanz nach — einen Weg von Gott weg zum Ich. Ist dieser Weg einmal beschritten, so gibt es auf ihm freilich kein Zurück: Nur der Durchbruch des im Ich- Bewußtsein enthaltenen Grundes durch die autonome Bewußtseins- form befreit von dem Zwang der Gottesferne ; die Religion nennt diesen Durchbruch Gnade. Sie weiß, daß kein theoretisches Hin- weisen auf das aller Theorie zu Grunde Liegende das Unbedingte im Bewußtsein lebendig machen kann; denn die Theorie hat das Unbedingte als Objekt, also als das, was es nicht ist. 2.- Die Weltwirklichkeit begründet unter der Herrschaft des Religionsbegriffs die Gotteswirklichkeit. Nun steht jedes Wirk- liche in den Formen der Gegenständlichkeit, zu denen auch die Existenz gehört; zugleich aber ist durch jedes Wirkliche erfaßbar ein Unbedingt- Wirkliches , das nicht in den Formen der Gegen- stände steht, also auch keine Existenz hat. Wo der Geist sich so auf die Welt und ihren Inhalt richtet, daß er das Moment der Unbedingtheit, das in allem enthalten ist, ins Bewußtsein erhebt, da ist er auf Gott gerichtet. Dieses Moment der unbedingten Wirklichkeit in allem Bedingt- Wirklichen, ist das, was tragend ist in jedem Ding; es ist seine Seienswurzel, seine Ernsthaftigkeit, seine Unergründlichkeit, seine Heiligkeit. Es ist sein Realitäts- gehalt im Unterschied von seiner zufälligen Form. Jedes gegenständliche Denken ist hier streng auszuschließen. Es ist nicht von einem Gegenstand neben den Dingen, oder über den Dingen oder in den Dingen die Rede ; es ist überhaupt von keinem Gegenständlichen, sondern von dem Urständlichen schlecht- hin die Rede, dem was aller Form, auch der Existenz enthoben 460 Paul Tillich, ist. Aber auch hier gilt, daß jede Aussage gegenständliche Form hat, und darum nur als gebrochene, paradoxe Aussage wahr ist. So ist die Aussage „Gott ist" der Form nach eine theoretische Aussage und keine Stufenordnung kann das ändern; es ist die Einreihung Gottes in die Gegenstands weit ; aber diese Einordnung ist Gottlosigkeit. Ist die Aussage „Gott ist" auch dem Gehalt nach theoretisch, so vernichtet sie die Gottheit Gottes. Ist sie aber als Paradoxie gemeint, so ist der notwendige Ausdruck für die Bejahung des Unbedingten; denn es ist nicht möglich, sich anders auf das Unbedingte zu richten als durch Vergegenständ- lichkeit. — Damit ist Deismus und Pantheismus überwunden. Der Deismus, der nicht nur eine Zeit-Richtung, sondern ein Element ist in jeder Gottes Vorstellung, das Moment der Vergegenständlichung. Verendlichung Gottes, das überall auftritt, wo der paradoxe Sinn des göttlichen Seins nicht mehr erfaßt wird; und des Pan- theismus, der das Unbedingte mit der universalen Dingform, der Welt, gleichsetzt, weil das Unbedingte durch jedes Wirkliche hin- durch erfaßbar ist, der aber dann doch bei einer Gegenstandsform, der universalen, stehen bleibt, und nicht sieht, daß das Unbedingte der Totalität so fern ist, wie der Einzelheit. Es ist Platz für einen Theismus, der nichts gemein hat mit dem üblichen kirchlichen Semi-Deismus, sondern der nur sagt, daß das Unbedingte — das Unbedingte ist. Auch für diese Haltung gibt es keine theoretische Notwendig- keit. Es ist möglich, sich auf das System des Bedingten zu richten und es in seiner Selbstheit zu bejahen, wie das autonome Ich. Es ist möglich, sich von der Beziehung auf das Unbedingt- Wirkliche, das allem innewohnt, abzuwenden zu der Existenz und der Form des Gegenständlichen ; denn jedes Ding in der Welt hat die Form der Existenz und des Objektiven. Es ist das möglich ohne theoretische Bedenken, denn das Unbedingte ist nie und nirgends ein theoretisches Streitobjekt; man kann von der Theorie weder dafür noch dagegen Partei nehmen ; es begibt sich nicht in die Kampfarena der Existential-Urteile, der Fragen nach Dasein oder Nichtsein. Ist man aber einmal unter Verzicht auf die Gotteswirklichkeit zu einer Weltwirklichkeit gekommen, die der Absicht nach — der Substanz nach ist es es unmöglich — außer- göttlich ist, so gibt es keinen Weg zur Gotteswirklichkeit zurück. Denn Gott ist entweder der Anfang oder er ist nicht. Die Überwindung des Keligionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 461 3. Die Religion wird unter der Herrschaft des Keligionsbegriffs aus der Kultur begründet, entweder als einzelne Kulturfunktion oder als Synthesis der Kulturfunktionen. Das ist durchaus analog der deistischen und pantheistischen Grottesauffassung. Nun gibt es aber eine Funktion des Geistes, die weder neben dem andern steht noch ihre Einheit ist, sondern in ihnen und durch sie hin- durch zum Ausdruck kommt: die Funktion der Unbedingtheit ; sie ist die Wurzelfunktion, diejenige, in der der Geist durch alle seine Formen hindurchbricht bis auf seinen Grund. Sie ist deswegen auch keine Geistesform und kann nur durch Paradoxie Funktion genannt werden. Phänomenologisch gesprochen : es gibt eine Akt- klasse, die aus einer Tiefe stammt, in welcher der Gegensatz von Akt zu Akt aufgehoben ist, und die infolgedessen nur durch Brechung im Medium des Bewußtseins zu eigenen Akten kommen kann. Ihrem "Wesen nach aber ist sie nichts anderes als die Be- ziehung auf das Unbedingte, die jedem Akt innewohnt. — Es gibt also keine besondere religiöse Funktion neben der logischen, ästhe- tischen, ethischen, sozialen ; sie ist auch nicht in einer oder in der Einheit aller enthalten, sondern sie ist der Durchbruch durch jede und die Realität, die unbedingte Bedeutung einer jeden. Die Kultur ist das Medium des Unbedingten im Geistesleben, wie die Dinge das Medium des Unbedingten in der Welt sind. Damit ist aufs Nachdrücklichste bestritten, daß durch die Re- ligion ein neuer Wert in das System der Werte eingeführt ist. Es gibt keine Heiligkeits werte, sondern das Heilige ist das, was den Werten den Wert gibt, die Unbedingtheit ihres Geltens, die Absolutheit ihrer Realitätsbeziehung. — Es ist die Religionsphilo- sophie also nie und nimmer eine Ergänzung der Geistes- oder Wertphilosophie. Auch an diesem Punkte tritt das Unbedingte nicht in die Diskussion der Bedingtheiten. Die Heiligkeitsqua- lität, die Unbedingtheitsfunktion kann fehlen, ohne daß das System der Werte im Mindesten verändert wird ; sie kann fehlen, freilich nur der Intention, auch hier wie überall — nicht der Substanz nach; denn fehlte .sie, wäre das Denken wahrheits- und das Anschauen wesenlos, das Handeln ziel- und die Gemein- schaft seelenlos. Aber sie braucht nicht gemeint zu sein. Der Geist kann sich richten auf die Autonomie seiner Funktionen, deren Realitätswurzel er nicht anführt, deren Form er durchsetzt. Der Geist kann autonome Kultur schaffen, mit einem autonomen Ich, in einem autonomen Universum. Damit aber hat er sich den 462 Paul Tillich, Weg zu Gott versperrt. Auf dem Boden der autonomen Kultur gibt es höchstens — Religion. Hier ist nun der Ort, die Dialektik des Religionsbegriffs zu völliger Durchsichtigkeit zu bringen: Sobald das Bewußtsein sich auf das Unbedingte richtet, entsteht die Doppelheit von Akt und Gegenstand. Nun ist der religiöse Akt aber kein besonderer; er ist nur in den übrigen Akten wirklich. Er muß diesen also eine Formung geben, an der die religiöse Qualität sichtbar ist. Diese Formung ist die Parodoxie, d. h. zugleich die Bejahung und Ver- neinung der autonomen Form. Das religiöse Denken, Anschauen ist also ein Denken, ein Anschauen, das die autonomen Formen des Denkens und Anschauens zugleich benutzt und zerbricht. Das G-leiche gilt von den sittlichen und sozialen Formen. Das Erkennen unter der Gegenwart des Unbedingten ist In- spiration. Das Anschauen ist Mj'sterium, das Handeln Gnade, die Gemeinschaft Reich Gottes. Alles das sind paradoxe Begriffe, d.h. solche, die sofort ihren Sinn verlieren, wenn sie gegenständ- lich gemacht werden; Inspiration als eine übernatürliche Art der Erkenntnisvermittlung ist ein einfacher Widerspruch. Mysterium im Sinne einer materiell-realen Gegenwart, das Unbedingte im Be- dingten ist eine sinnlose Aussage ; die Gnade als übernatürliche Kraftmitteilung ist ein ethischer Nonsens und das Reich Gottes als reale Größe eine Utopie mechanistischen Denkens. An Stelle des Parodox ist der Supranaturalismus getreten ; d. h. der Versuch, ein Bedingtes unbedingt zu machen. Dem Supranaturalismus aber entspricht immer der Naturalismus, d. h. der Versuch, das Unbe- dingte überhaupt auszuschalten. Und doch kann die Religion nicht anders, als mit diesen Be- griffen arbeiten; sie muß vergegenständlichen, um aussagen zu können; daß sie aussagen will, ist ihre Heiligkeit; daß sie gegen- ständlich aussagen muß, ist ihre Profanheit. Gerechtfertigt ist sie nur da, wo sie diese ihre Dialektik durchschaut und dem Un- bedingten allein die Ehre gibt. — Wo sie es nicht tut, führt sie das Unbedingte in die Niederung und die Kampfarena des Be- dingten herab, in der es notwendig unterliegen muß : Es wird eine Kultur, die die Beziehung auf das Unbedingte verloren hat, ein Denken, das nichts mehr weiß von Inspiration als dem Durch- bruch der unbedingten Realität, ein Anschauen, das nichts mehr weiß vom Mysterium des Grundes in den Formen der Dinge, ein Handeln, das ohne Gnade dem Gesetz verfallen ist, eine Gemein- Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 463 schaft, die fern ist von dem Durchbrechen der unbedingten Liebe — das anf der einen Seite; und eine Religion, die aus all diesen Begriffen supranaturale Gesetze, Objektivierungen der Paradoxie, Verendlichungen des Unbedingten gemacht hat: das ist der Zu- stand des Geistes unter der Herrschaft des Religionsbegriffs. — Erlösung der Religion vom Verhängnis der Objektivierung, Er- lösung der Kultur vom Verhängnis der Profanisierung, Durchbruch des Unbedingten durch alle Arten der Relativisierung, das ist Sieg über den Geist des Religionsbegriffs. 4. Unter der Herrschaft des Religionsbegriffs gründet sich die Offenbarung auf das autonome Geistesleben, sei es im Sinne einer offenbarten Vernunftreligion, sei es im Sinne der Religionsge- schichte. Dadurch wird die absolute Tat Gottes zu einer rela- tiven Entwicklung des religiösen Geistes. Die Religion aber will nicht Religion, auch nicht absolute Religion, sondern sie will Er- lösung, Offenbarung, Heil, Wiedergeburt, Leben, Vollendung, sie will das unbedingt Reale, sie will Gott. Und sie nennt wahre Religion die, in welcher Gott sich gibt, und falsche die, in welcher er vergeblich gesucht wird. — Der Religionsbegriff aber kann der- artige Unterschiede nicht anerkennen, auch nicht in der verhüllten Form von erlebbarer und nichterlebbarer Religion. Der Religions- begriff macht gleich, bringt Göttliches und Menschliches auf eine Ebene. — Nun aber ist es selbst schon eine Wirkung des Reli- gionsbegriffs, selbst schon eine Bedingtmachung des Unbedingten, wenn eine bestimmte Religion unbedingt gesetzt, mit der gött- lichen Offenbarung gleich gestellt wird. Jede Religion ist als Religion relativ, denn jede Religion ist Vergegenständlichung des Unbedingten. Aber jede Religion kann als Offenbarung absolut sein; denn Offenbarung ist das Durchbrechen des Unbedingten in seiner Unbedingtheit. Jede Religion ist insoweit absolut, als sie Offenbarung ist, d. h. insoweit als das Unbedingte in ihr als Un- bedingtes herantritt im Gegensatz zu allem Relativen, was ihr als Religion zukommt. Es ist nun aber die Eigenschaft jeder lebendigen Religion, daß sie eine ständige Opposition gegen das Religiöse in ihr in sich trägt. Der Protest gegen die Vergegenständlichung ist der Pulsschlag der Religion. Erst wo er fehlt, ist nichts Absolutes mehr in ihr, ist sie ganz Religion, ganz Menschliches geworden. — Es sind aber drei Formen, in denen sich der typische Protest der lebendigen Religion gegen ihre Vergegenständlichung als Re- 464 Paul Tillich, ligion erhebt: die Mystik, die Prädestination, die Gnade. Die Mystik durchschaut den paradoxen Sinn aller Aussagen über das Unbedingte. Sie sucht die Einheit mit dem absolut Gegenständ- lichen, dem Abgrund, dem Überseienden, dem reinen „Nichts". Sie weiß auch, daß diese Einheit nur vom Unbedingten her ge- schaffen werden kann, sie weiß, daß sie Gnade ist. — Aber sie bereitet sich doch vor, der Gnade würdig zu werden und sie be- nutzt dazu die Formen der Religion und schafft selbst Formen. Sie verläßt den Boden der Religion nicht. Das ist ihre Grenze. — Die Prädestination überläßt alles Handeln zum Heil des Ein- zelnen und der Menschheit Gott. Weder Kirche noch Religion sind Bedingungen der Erwählung und des Reiches Gottes, sie sind höchstens ihre Gott-geordnete Vermittlung; dadurch sinkt ihre Bedeutung dahin und da der göttliche Ratschluß im Verborgenen geschieht, so ist alles religiöse Handeln und Vorstellen des Men- schen entwertet, und kommt bald dem Punkt nahe, wo es ganz aufhört und übergeht in profanes, kulturelles Handeln ; das ist die Gefahr, wenn das Religiöse ganz ins Verborgene und Absolute gestellt wird. — Die konkrete Gnade (von Gnade lebt ja auch Mystik und Prädestination) stellt das Heil gleichfalls schlechter- dings in das Unbedingte ; aber nicht in seinen Abgrund und nicht in seinen verborgenen Willen, sondern in seine konkrete geschicht- liche Selbstmitteilung. Es fällt von hier aus ein starkes Ja auf die kirchlich-religiösen Medien, auf Offenbarungsmittler und Offen- barungsmittel, auf Gebet und lebendige Gemeinschaft mit Gott. Hier ist der Abweg fast unvermeidlich, daß diese Medien ins Ab- solute erhoben und aus der Offenbarung der Gnade Religion der Gnadenmittel wird. Jede der drei Formen, in denen innerhalb der Religion die Religion überwunden wird, haben also die gleiche Dialektik wie die Religion selbst, sie können sich an Stelle Gottes setzen. Es ist deswegen auch falsch, diese Formen zur absoluten Religion zu machen, Sie sind Ausdrucksformen für das absolute Element jeder lebendigen Religion, aber sie werden selbst relativ, sobald sie Re- ligionsformen werden. Die absolute Religion geht durch alle Religionen hindurch; die wahre Religion ist überall da, wo das Unbedingte als Unbedingtes bejaht und die Religion vor ihm ver- nichtet wird. Wo das geschieht, ist im Allgemeinen verborgen. Offenbar wird es dann und wann in Form der großen mystischen oder pro- Die Überwindung des Religionsbegriifs in der Religionsphilosophie. 465 phetischen Reaktionen gegen die bloße Religion. Das Maß, in dem eine Religion zu solchen Reaktionen fähig ist, entscheidet über ihren relativen Rang. Absolute Religion ist niemals ein gegenständliches Faktum, sondern ein jeweils lebendiger Durch- bruch des Unbedingten. Den Beweis der Absolutheit führt Gott selbst, indem er den Absolutheitsanspruch einer Religion zerbricht, nicht durch Skepsis und Religionsgeschichte, sondern durch die Offenbarung seiner Unbedingtheit, vor der alle Religion nichts ist. Es ist also auch hier das Unbedingte das Tragende, das Han- deln Gottes die Substanz der Religion, ohne die sie nicht sein kann; aber sie kann sich von ihr abwenden; sie kann mit und ohne Bewußtsein diese Substanz unangerührt lassen und sich ihrer eigenen autonomen Form zuwenden. Sie kann autonome, selbst- genügsame, Gott-ferne Religion werden, und den Götzendienst dadurch vollenden, daß sie sich absolute Religion nennt. Damit sind die vier Vorwürfe der Religion gegen die Reli- gionsphilosophie in ihrem Rechte anerkannt; aber es ist nicht die Folgerung daraus gezogen, daß um der Religion willen die Reli- gionsphilosophie sich selbst aufgeben müßte, sondern es ist der Versuch gemacht, eine Religionsphilosophie auf die Forderungen zu gründen, die in jenen Vorwürfen enthalten sind, d. h. eine Religionsphilosophie, die nicht vom Bedingten, sondern vom Un- bedingten, die nicht von der Religion, sondern von Gott ausgeht. An dem Gelingen oder Mißlingen nicht dieses meines, aber eines solchen Versuches überhaupt hängt das Schicksal der Religions- philosophie und damit der Stellung des Geisteslebens zur Religion. Wir stehen vor der Alternative: Entweder Aufhebung der Re- ligion durch die Kultur, oder Durchbrechen des Unbedingt- Wirk- lichen als des Grundes oder der Realität aller Kultur in all ihren Funktionen. Die Art, wie innerhalb der Wissenschaft sich dieser Durchbruch vollziehen könnte, sollten die ausgesprochenen Ge- danken andeuten. Was das Ziel betrifft, so kann es für mich keinen Zweifel geben; was die Form betrifft, so ist sie ein Ver- such, und nicht mehr. IV. Die Dialektik der Autonomie. Alles Gesagte hat im Grunde das Ziel, einer Bewußt- seinslage den Weg zu bereiten, in der die Selbstgewißheit des Bedingten zerbrochen ist vor der Gewißheit und Wirklichkeit 466 Paul Tillich, des Unbedingten. Nicht die Lösung eines theoretischen Problems war mir die Hauptsache, sondern die Aufweisung einer Geisteslage, auf die meiner Überzeugung nach schicksalsmäßig die Geistesbe- wegung hindrängt. Um so mehr ist es meine Pflicht, Rechenschaft zu geben über die Denkmittel, die zur Anwendung gekommen sind. Es ist aber ein Doppeltes, was dabei herauszustellen ist, eine be- stimmte Methode und eine bestimmte Geschichtsphilosophie, eine logische und eine metaphysische Voraussetzung. 1. Die Methode, die am schärfsten in der Analyse der Selbst- gewißheit, aber auch an den anderen Punkten zur Anwendung gebracht ist, kann als kritisch-intuitive Methode angesprochen werden. Sie geht davon aus, daß sowohl die kritische, wie die intuitive Methode in Absonderung unfähig zur Lösung des reli- gions- und damit kulturphilos optischen Zentralproblems ist: der Frage nach dem Sinn oder besser der Realität, der unbedingten Ernsthaftigkeit des Geistes und durch ihn hindurch die Wirklich- keit überhaupt. — Die kritische Methode nicht, weil es ihr unter keinen Umständen möglich ist, über die Formen der Gegebenheit hinauszukommen zu dem Gegebenen selbst. Die intuitive Methode nicht, weil sie über der Versenkung in jedes mögliche Gegebene die Form der Gegebenheit überhaupt außer Acht lassen muß. Die kritische Methode kommt nicht zum „Was" der Dinge, die intui- tive nicht zu ihrem „daß". Die kritische Methode verliert über dem Problem der Realität die Realität selbst. Sie wird Forma- lismus ; die intuitive verliert über der Anschauung des Wirklichen das Problem der Realität ; sie wird Romantik und Reaktion. Das Problem des Unbedingten aber ist der Punkt, wo der Unterschied von Existenz und Wesen aufgehoben und damit das Nebeneinander der Methode unmöglich ist. Hier ist gebieterisch eine Methode gefordert, in der beide eins sind; „kritisch-intuitiv" das ist eine Forderung ; und wenn sie ganz erfüllt ist, wird auch der adäquate Name geboren sein. Es scheint mir aber in Folgendem ihr Wesen zu bestehen: Sie ruht auf dem Boden der kritischen Methode; sie geht aus von den Funktionen des Geistes als den Formen aller Gegebenheit. Aber sie wendet sich auf sich selbst zurück und sieht, daß alle diese Formen mehr als leere Formen nur dadurch sind, daß sie erfüllt sind mit dem Gehalt eines Unbedingt-Wirk- lichen, das jeder Einzelform, wie der Totalität aller Formen un- erfaßbar ist. Das in Allem Sinngebende ist nicht selbst ein Sinn, auch nicht die Gesamtheit, auch nicht die Unendlichkeit des Sinnes ; Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 467 das in Allem Reale ist nicht selbst ein Reales, auch nicht die Ge- samtheit, auch nicht die Unendlichkeit des Realen. Das zu sehen aber ist nicht mehr Sache der Kritik, sondern der Intuition; wo die Kritik ihre Grenzbegriffe, d. h. die Dokumente ihrer Begrenzt- heit setzt, da schaut die Intuition das Unbedingt-Wirkliche, das freilich für sie nicht jenseits der Grenzpfähle, sondern mitten im Lande der Kritik die Realitätswurzel darbietet, von der alle Kritik lebt. Es ist die Methode des Paradox, der ständigen Durch- brechung und Aufhebung der Form zu Grünsten des Wirklichen in ihr. Nicht Formlosigkeit, nicht fremde Formherrschaft darf die kritische Form durchbrechen ; das wäre Verzicht auf Methode, d.h. auf Philosophie; sondern bei vollem Ja zur autonomen, kri- tischen Form soll der Gehalt des Unbedingten hervorbrechen und zerbrechen, nicht formlos, sondern paradox. Leben in dieser höchsten Spannung ist Leben aus Gott. Anschauen dieser unendlichen Pa- radoxie ist Denken über Gott, und wenn es methodisch wird, Re- ligionsphilosophie oder Theologie. Niemand freilich kann metho- disch zu dieser Methode gezwungen werden, wie er zur bloß kri- tischen Methode gezwungen werden kann ; es ist möglich zu leben und zu denken, ohne die Wurzel zu sehen, aus der man lebt und denkt, es ist möglich, das Unbedingte zum Grenzbegriff, zum Ideal- begriff und dgl. zu machen, es in die Peripherie zu schieben und in der Autonomie der bloßen Form zu bleiben. Es ist möglich, aber es ist in seinen Konsequenzen Selbstzerstörung, und das führt zum zweiten, der Geschichtsphilosophie. 2. Theonom möchte ich eine Geisteslage nennen, in welcher alle Formen des geistigen Lebens Ausdruck des in ihnen durch- brechenden Unbedingt- Wirklichen sind. Es sind Formen, also Ge- setze, v6\hoi darum theonom. Aber es sind Formen, deren Sinn nicht in ihnen selbst liegt, es sind Gesetze, die das alles Gesetz Durchbrechende fassen; darum theonom. In gewissen Perioden z. B. des abendländischen Mittelalters war diese Geisteslage an- nähernd verwirklicht. Sobald eine Periode der Theonomie ihrem Ende zugeht, sucht sie die Formen, die einmal der adäquate Aus- druck ihres Gehaltes waren, zu konservieren; diese Formen aber sind leer geworden; werden sie mit Gewalt aufrecht erhalten, so entsteht Heteronomie. Heteronomie geht immer von der Religion aus, die Gott verloren hat, die bloße Religion geworden ist. Im Gegensatz zu Heteronomie wächst die Autonomie. Autonomie ist immer der Rückschlag gegen die Autonomie der bloßen Religion, 468 Paul Tillich, die alle Kultur unter ihre Heteronomie bringen will. Autonomie der Religion gegen Gott schafft Autonomie der Kultur gegen die Religion. Der Ausgang des Mittelalters ist typisch für diese G-eisteslage. Die autonome Kultur ist im Recht gegen die Reli- gion; es ist das Recht der logischen Form gegen eine ehemals paradoxe, dann ihres Sinnes beraubte Form, die nun als einfacher Widersinn das Logische vergewaltigen will. Hier ist der Sieg der autonomen Form, im Logischen wie im Ästhetischen, im Recht- lichen wie im Ethischen von vornherein entschieden. Und dieser Sieg bedeutet Einsicht in die gegenständlichen Formen der Dinge, bedeutet exakte Wissenschaft, bedeutet technisch-rationale Welt- beherrschung. Aber der Sieg ist teuer erkauft. Das Recht der Autonomie gegenüber der Heteronomie wird zum Unrecht gegenüber der Theo- nomie, denn die autonome Form ist Gesetz. Mit dem Gesetz kann man technisieren und rationalisieren, aber unter dem Gesetz kann man nicht leben. Wo das Unbedingte in keiner anderen Weise erfaßt wird, als in der unbedingten Geltung der logischen oder ethischen oder ästhetischen Form, da tötet es das Leben ; denn da ist es der Richter, der jede einzelne Form verurteilt, weil sie das Gesetz nicht erfüllt, weil sie die Bedingtheit des Unbedingten nicht erreicht. Darum muß jede autonome Periode zerbrechen: Sie kann mit ihrer formalen Unbedingtheit alles Lebendige töten und rationalisieren; aber sie kann nicht einen einzigen Lebens- inhalt schaffen. Sie verliert die Wahrheit und bleibt in der leeren Form der Identität, sie verliert die Persönlichkeit und bleibt in der leeren Form des „Du sollst u. Sie verliert die Schönheit und bleibt in der leeren Form der Synthesis: sie verliert die Gemein- schaft und bleibt in der leeren Form der Gleichheit. Alles ver- zweifelte Ringen aber um die Erfüllung dieser Formen im Logi- schen wie im Ethischen, im Denken, wie im Handeln ist nur der Ausdruck für die Tragik der Autonomie. Dieses Ringen ist von überwältigender Größe und diese Tragik von erschütternder Tiefe. Es sind die Zeiten der großen indivi- duellen Kulturschöpfungen; aber das Ende ist das Schwanken zwischen anspruchsvollem Rationalismus und verzweifelnder Skepsis im Logischen, und zwischen Pharisäismus und Gesetzlosigkeit im Ethischen. Die Autonomie bricht auseinander in Nomismus und Antinomismus. Lebensfähig bleiben nur diejenigen, welche sich den großen Spannungen des Geistes entziehen und die autonome Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Keligionsphilosophie. 469 Form benutzen zu Technik und Taktik in Wissenschaft und "Wirt- schaft, in Politik und Kunst. Sie haben ihren Lohn dahin. Der Lohn aber des Geistes, der ausharrt, ist das Durchbrechen des Unbedingten durch alle Formen, nicht als Gesetz, sondern als Gnade, als Schiksal, als unmittelbare überwältigende Wirklichkeit — wie es z. B. der Antike beschieden war, in der Doppelform der neuplatonischen Mystik auf logischem und des Christentums auf ethischem Boden. Das Thema der Geistesgeschichte ist der Kampf von Theo- nomie und Autonomie. Die Theonomie ist sieghaft, solange sie lebendiger Durchbruch ist, solange die Paradoxie als Paradoxie erlebt wird. Sie ist aber dem Verhängnis verfallen, immer wieder aus dem lebendigen Paradox einen objektiven Widerspruch machen zu müssen; dann steigt aus dem Kampf gegen ihre Heteronomie die Autonomie der Form sieghaft empor, um schließlich ihrem eignen Verhängnis, der Auflösung entgegenzugehen. Das ist nicht bloß im Nacheinander gemeint. In jedem Augenblick der Geistes- geschichte tobt dieser Kampf. Aber der Sieg und die Niederlage des einen oder anderen gibt auch ein Nacheinander, eine Geschichts- philosophie nicht nur des Querschnitts, sondern auch des Längs- schnitts. Wir haben das Ringen beider in der Religionsphilosophie be- trachtet; sie ist der Ort, wo der Kampf am deutlichsten sichtbar ist. Sie ist selbst in ihrer Entwicklung ein Teil dieses Kampfes. Nur weil ihr die autonome Entwicklung die Formen gegeben hat, kann sie Philosophie sein; nur wo ihr die Theonomie den Gehalt, die — Wurzelung im Unbedingten gibt, kann sie Religions-Philo- sophie sein. Sie kann es aber nur, wenn sie sich der Herrschaft des Begriffs entzieht, der das typische Symbol der autonomen, Gott abgewandten Periode ist, des Begriffs der Religion, wenn sie einsieht, daß nicht die Religion der Anfang und das Ende und die Mitte in allem ist, sondern Gott, und daß jede Religion und jede Reli- gionsphilosophie Gott verlieren, wenn sie sich nicht auf den Boden des Wortes stellen: Impossibile est, sine deo discere deum. Gott wird nur erkannt aus Gott. Kantstudien XXVII. 31 Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie, Von Emil Utitz - Rostock. Vaihinger zufolge dient die künstlerische Fiktion dem Zwecke „gewisse erhebende oder sonst wichtige Empfindungen in uns zu wecken. u Sie ist demnach gleich der wissenschaftlichen „nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung höherer Zwecke." Wir dürfen vielleicht sagen : die Struktur des Kunstwerks ist eine te- leologische, denn sein Sinn erfüllt sich in einem bestimmten geistigen Verhalten, dem — gegenständlich — eine bestimmte Gestaltung entspricht. (Vergl. meine „Grundlegung der allgemeinen Kunst- wissenschaft" 1914 und 1920) Nach drei Richtungen könnte man darnach Bedeutung und Grenzen der künstlerischen Fiktion zu erforschen trachten: für das Schaffen des Künstlers, für die ob- jektive Formung des Kunstwerks, für das künstlerische Genießen. Wie weit die rein tatsächliche Wertung der Kunst Fiktionen ir- gendwelcher Art beeinflussen, scheidet hier aus, weil diese Frage mehr kulturpsychologisch interessant ist, als kunstphilosophisch oder kunstpsychologisch. Daß wir innerhalb der Kunst weithin Fiktionen — in Vaihin- gen Auffassung — begegnen, entzieht sich jedem Zweifel. Bäume und Häuser auf einem Gemälde sind doch keine „wirklichen" Bäume oder Häuser ; eine Marmorstatue ist doch kein „wirklicher" Mensch usw. Der Schauspieler ist doch kein „wirklicher" König, und er stirbt auf den Brettern der Bühne keinen „wirklichen" Tod. Man hat darum häufig von dem „Scheincharakter" des Aesthetischen und Künstlerischen gesprochen. Daraus folgt aber gewiß nicht, daß wir den „Schein" einfach für gewöhnliche Wirklichkeit hin- nehmen sollen; denn gerade dadurch ginge der Kunstcharakter völlig verloren. Diese Frage ist in der wissenschaftlichen Litera- tur der letzten Jahrzehnte lebhaft erörtert worden. Da ich selbst Emil Utitz, Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 471 eingehend zu ihr Stellung genommen habe, darf ich mich wohl auf wenige "Worte beschränken. Die äussersten Extreme sind : der eine sieht — von vorwiegend stofflichen Interessen geleitet — den nackten Menschen im Marmor, „als ob" er lebend wäre. Der andere zeigt sich lediglich formal gefesselt ; er beobachtet nur, wie der Marmor behandelt ist. Das Gegenständliche tritt zurück; es wirkt bloß als Träger formaler Werte. Zwischen diesen Stand- punkten (dem des völlig Ungebildeten und künstlerisch Blinden und jenem des virtuosen Artistentums) pendelt nun die Eeichweite jener Einstellungen, die den gemeinten Sinn aus der Gestaltung heraus erleben ; in ihr beschlossen. Sie bewegen sich in der Wirk- lichkeitssphäre der Kunst, machen ihre „Fiktion" mit. Ich bin gewohnt, hierbei von der „Seins-Schicht" des Kunstwerkes zu sprechen. Für die Lehre vom angemessenen künstlerischen Ver- halten ergeben sich daraus ganze Reihen phänomenologischer und psychologischer Probleme. Es liegt mir fern, ihnen — im Rahmen dieser Abhandlung — nachzugehen. Ich will vielmehr ein einziges Beispiel — und auch das nicht erschöpfend — analysie- ren, um an seiner Hand einige für die Gesamtheit der Kunst we- senhafte Sachverhalte einsichtig zu machen, die zu der Frage der künstlerischen Fiktionen in enger Beziehung stehen. Nirgends tritt das Fiktive in der Kunst dem denkenden Be- wußtsein (nicht etwa dem schlicht erlebenden) stärker entgegen als im Theater. Handlungen rollen vorüber ; Menschen lachen und leiden, ringen und straucheln, heiraten und sterben; und es sind bloß eingelernte Rollen, aufeinander in zäher Probenarbeit abge- stimmt. Die Menschen sind Schauspieler, die eben zur Schau spielen. Die aufgehende Sonne ist elektrisches Licht; das wogen- de Meer, der krachende Donner — lauter Fiktionen. Ein Blick in die technische Apparatur entschminkt gleichsam den Glanz dieser Welt ; wir müssen jene zu „vergessen" suchen, solange wir mitfüh- lende Zuschauer sind. Sonst achten wir nur auf den szenischen und organisatorischen Betrieb, bewundern vielleicht sein vollendetes und reibungsloses Funktionieren ; aber das eigentliche Theaterstück entzieht sich uns dabei. „Vergessen" wir jedoch wirklich, verlieren wir auch das Theaterstück. Denn die Bühne wird zur realen Welt. Ist hier nun alles ein dichtes Gewebe von Fiktionen (man könnte sagen : von Fiktionen verschiedener Ordnung, die sich über- 31* 472 Emil TJtitz, einander bauen), dem wir uns anzuvertrauen haben oder das wir tunlichst übersehen sollen; oder liegen die Verhältnisse ver- wickelter? Wie steht der Schauspieler zu seiner Rolle? (Vgl. meine „Psychologie der Simulation" 1918 und „die Kultur der Gegen- wart" 1921). Die Ansicht ist heute verlassen, daß er völlig in seiner Rolle versinkt, daß also eine restlose Verwandlung in eine andere Person stattfindet. Er glaubt nicht ein wirklicher König oder ein wirklicher Mörder zu sein, sondern verharrt in seiner Rolle. Nach zwei Seiten kann er aus der Rolle „herausfallen" : etwas reizt ihn zum Lachen, und er gibt dieser Regung nach. Sie gehört nicht zur dramatischen Aufgabe. Die Gestaltung wird — vielleicht nur für einen Augenblick — unterbrochen. Oder: das Publikum hustet, wird unruhig, verärgert; der Mime nervös. Seine ängstliche Zerfahrenheit hemmt das „Spiel", wider- streitende Züge schleichen ein. In diesen Fällen schiebt sich die nackte Wirklichkeit vor. Die andere — viel seltenere — Gefahr ist das Echtwerden der Rolle: sie packt ihren Vertreter so, daß er ihrer Gewalt unterliegt. Das leidenschaftliche Toben steigert sich zu unverständlichem Schreien, ungezügelten Bewegungen; die Rücksicht auf Mitspieler und Publikum zerreißt. Das Stichwort setzt aus. Manchmal glättet sich diese Verwirrung gleich; in Ausnahmefällen hält sie an : erschwert das Spiel oder macht es unmöglich. Auch hier drängt nackte Wirklichkeit vor, aber solche ganz anderer Art. Bei den ersten Beispielen stört die Fernstel- lung zur Rolle; bei den letzten die Identifizierung mit ihr. Vor weiterer Betrachtung gebe ich zunächst noch eine ein- fache Beobachtung aus angrenzendem Gebiet: wird ein Redner in einer Trauerversammlung selbst von tiefem Schmerz übermannt, versiegt der Fluß der Worte; das wunderbare Instrument der Sprache gehorcht nicht mehr; ein Würgen, Schluchzen und Ver- stummen. — Vor uns steht ein leidender Mensch; wir sind die verlegenen oder mitleidigen Zeugen seiner Ergriffenheit; aber dieser Mensch ist dann gewiß unfähig, die Trauer zu gestalten mit den Mitteln der Rede; mit der dunkelnden Untermalung seiner Stimme, mit dem langsam getragenen Rhythmus der Worte, mit der gedämpften Glut sprachlicher Bilder usw. Zur höchsten schöpfe- rischen Leistung taugt weder jener, der den Stürmen der Affekte unterliegt, noch auch der Teilnahmslose ; bloß der glücklich Begabte, dem Rührung und Begeisterung Form seines Werkes werden, der Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 473 sie bändigt in die Darstellung seines Vortrages. Man sagt bis- weilen: der „ Künstler u spiele mit seinem „Herzblut". Beides muß da sein : Erlebnis und Gestaltung ; nur die Akzente verschieben sich in verschiedenen Fällen. Der Romane „spielt" mehr: der Germane hat mehr „Herzblut". Jenen bedräut die Gefahr der leeren, weit ausladenden Geste, diesen eine dumpfe, verschlossene Inner- lichkeit. Zwischen diesen beiden Polen treibt die Kunst des Mimen. Sie ist weder Verstecken in einer Rolle wie unter einer Tarn- kappe (dieser falsche Naturalismus des Verwandlungskünstlers), noch das Illuminieren einer Rolle mit Effekten gleich Knallbonbons (dieser dekorative Apparat des Virtuosentums) ; jene Wege rühren nicht an das Geheimnis mimischer Kunst. Wie der Dichter seine Er- schütterungen hineinführt in die objektivierende Konstellation sugge- stiver Worte, und in diesem Erleben und Können — das Erleben wird durch das Können möglich; und das Erleben entsiegelt das Können — sein Künstlertum wurzelt; so macht die passende Rolle dem Schauspieler die Bahn frei, um Ichseiten auszuwirken durch Prägung jener Gestalt. Es sind also „wirkliche" Ichquali- täten, die hier zum Durchbruch gelangen, so wirklich wie das hohe C des Sängers oder das silberne Kichern der Operetten- diva. * * * Wir beachten vorerst ein Extrem: der Schauspieler rezitiert bloß seine Rolle, er „verkörpert" sie nicht. Er trägt nur die Worte vor, ist lediglich Sprecher. Die theatralische Gestaltung fehlt. Auch hierbei stoßen wir noch auf grundsätzliche Unter- schiede: das Interesse verankert sich im Rhetorischen; es soll klar vorgebracht werden, wechselnd im Rhythmus, anschwellend und abklingend. Man fahndet nach rednerischen Effektmöglich- keiten und wählt die Stoffe, die jenen entgegenkommen. Nicht ihre geistige Wesenheit steht in Frage, vielmehr ihre Verwert- barkeit für virtuose Sprachtechnik. Man könnte meinen, es handle sich um Studien für Vortragskunst, aber es wären doch äußerliche Studien: sie loten nicht in die Tiefe, sondern „verzie- ren* die Oberfläche. Der Zuhörer soll — von den Effekten ge- blendet und überrumpelt — das Können bewundern. Die Rolle ist Fiktion — ihr Träger nimmt sie nicht ernst, das Publikum darf dies auch nicht — aber diese Fiktion ist das Mittel, das jene Künsteleien gestattet. Wie auch bisweilen in der Wissenschaft Annahmen gemacht werden, um aus ihnen ein blitzendes Feuer- 474 Emil Utitz, werk von Geistreichelei herauszuschlagen; eine intellektuelle Spielerei, zuchtlos und unfruchtbar. Und nun der andere Fall: den Vortragenden packt der geistige Gehalt der Worte; er wühlt sich in ihn ein. Gleich einer Explosion schleudert er die Rede hinaus; oder die Satze schleppen sich mühsam, weil ungestaltetes Bleigewicht an ihnen lastet. Der Sprecher lebt innere Spannung und Erschütterung aus, indem er die Worte sich abringt, oder sie ihm entsprudeln. Nennt man da die Rolle eine Fiktion, scheint die Bedeutung verschoben: denn jetzt ist die „Rolle" nicht mehr fast gleichgültiger Anlaß, aber immer noch Mittel, um jenes Er- leben auszulösen und dem Hörer den Eindruck zu gewähren, einen bestimmten Inhalt in dieser persönlich zugespitztesten Form aufzunehmen. Auf das Wort Form lege ich Nachdruck, weil da Differenzen sich erschließen : der Redner ist vom Inhalt ergriffen ; nun kann er ihn entweder chaotisch abstoßen, oder gestalten. Der erste Vorgang steht außerhalb der Kunst; der zweite gehört ihr an. Mischtypen verknüpfen in allmählicher Abwandlung den einen mit dem anderen. Ich zeige ein Beispiel : ein junger Mann ist von politischen Sorgen geängstigt, von politischen Hoffnungen bewegt ; da findet er einen Aufruf, in dem all das klar formuliert ist, was ihn bedrängt; er liest seinen Gefährten diesen Aufruf vor; Wort für Wort möchte er ihnen einhämmern; die Gedanken schreit er heraus, daß die Stimme überkippt ; vieles wird undeutlich, weil er ein fieberndes Tempo anschlägt, dem seine Sprachgeläufigkeit nicht folgt usw. Wir merken keine Spur „Künstelei", alles unver- dorben, echt; wir genießen vielleicht aesthetisch diese Persönlich- keitsoffenbarung ; aber der Inhalt der Rolle bleibt ungeformt. Er strebt auch kein künstlerisches Erlebnis an ; glaubt er doch heilige Wahrheit zu verkünden, die zu Taten aneifern soll. Bedient er sich überhaupt künstlerischer Gestaltung — soweit er hierzu fähig ist — erscheint sie lediglich als Hilfsmittel, das eigentlich unmerklich zu bleiben hat. Der Fromme genießt ja auch nicht den Gottesdienst aesthetisch, sondern eben religiös. Je stärker das Aesthetische vordrängt, um so mehr verblaßt das echt Religiöse. Nur als ancilla theologiae hat jenes hier Daseinsrecht. Nun kann aber das gleiche Manifest nur künstlerisch vorgetragen werden, wenn es auch selten dazu besondere Eignung besitzen wird. Dann verrückt sich der Schwerpunkt auf die Gestaltung ; und der Hörer schließt sich auf für die Art, wie ein geistiger Gehalt seinem Fühlen entgegengebracht wird; ein Gehalt, der nicht mehr von Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 475 der Form abzulösen ist, sondern von ihr her Sinngebung empfängt. Denn nicht mehr handelt es sich um das gedruckte Manifest, das irgendwie nachdrücklich verbreitet wird, sondern um das so und nicht anders gesprochene, das in dieser Seinsschicht begriffen, er- lebt und beurteilt werden muß. Ich darf vielleicht an die Poesie der Pubertätsjahre erinnern oder an die der Bräutigamszeit. Drängende Spannungen heischen Entladung; und da ihnen jede andere versperrt ist, flüchten sie in die Kunst. Aber diese Kunstwelle ebbt bald ab; rückschauend schämen sich ihrer viele. Die Kunst ist da bloß ein „Notausgang". Es wäre jedoch völlig falsch, diese Auffassung auch für den „echten" Künstler gelten zu lassen. Gewiß; auch ihn bewegt Un- ruhe ; allein diese Unruhe befriedet nur das Kunstwerk, die künst- lerische Tat, nichts anderes. Warum aber ? weil das Erleben — so- weit es überhaupt künstlerische Sphären ergreift und nicht le- diglich der bürgerlichen Existenz angehört — schon angelegt ist auf künstlerische Reifung. Es ist nicht auf der einen Seite ein Erleben und auf der anderen die künstlerische Form, in die es hineingeschüttet oder hineingepreßt wird, vielmehr eine Bewußt- seinsstruktur, deren Funktionieren nur in diesen Formen abläuft, sonst gehemmt und zerstört wird. Dieses Erleben kann sich nur auswirken, indem es im Kunstwerk sich objektiviert. Solange dies nicht erfolgt, brennt Unruhe, peinigt Ungenügen. (Vgl. die ein- gehenden Untersuchungen über das Schaffen des Künstlers im zweiten Bande meiner „Grundlegung der allgemeinen Kunst- wissenschaft"). Ein Beispiel soll diesen Sachverhalt beleuchten: ein Tanzfest. Der gewöhnliche Mensch gibt sich dem Vergnügen der Ballnacht hin, verliebt sich vielleicht; und den Alltag umsonnt eine schöne Erinnerung, bis sie verlöscht, oder die angeknüpften Beziehungen erfahren ihre Fortsetzung. Der Künstler — soweit er gewöhn- licher Mensch ist — kann in genau gleicher Weise sich verhalten ; aber eben nicht als Künstler. Da packt ihn vielleicht der farbige Zusammenklang ; er erspäht den Schicksalszug einer Geste, die nackt sich enthüllt; aus dem Treiben löst sich ihm eine Melodie, in der Jugend lacht und Sehnsucht schluchzt, und in deren Rhyth- mus das ganze Treiben schwingt. Oder er ist bloß von gärender Unruhe ergriffen, aus der dann jener zündende Funke entspringt, vielleicht längst nach verklungenem Feste. Diese künstlerische Sinn- gebung wächst also von Anfang an auf einem Boden, der gar 476 Emil Utitz, keinen Weg in „wirkliches" Handeln nnd Tun gestattet. Denn die Tat, in der jene Erlebnisse ihre Erfüllung gewinnen, zu der sie emporwachsen und reifen, kann nur das Kunstwerk sein; sie sind gleichsam schon von Geburt aus zu eben diesem Schicksale be- stimmt. Keine andere Äußerung schüfe hier Befreiung; denn sie steckt nicht in dem Abwälzen des Erlebnisses an andere. Es ist überhaupt ausgeschlossen, daß diese Abwälzung gelingt; denn sie verharrte doch im Stofflichen. Die Loslösung, die jetzt in Frage steht, hängt von der formalen Kristallisation ab, daß eben die Aus- druckskraft einer Geste ganz Bild, ganz "Wortleib wird, daß dieses Erlebnis zur reinen Gestalt sich klärt. Was der Künstler einem anderen mitzuteilen vermag, ist bloß die Absicht einer Gestaltung ; die Angst, sie nicht vollziehen zu können, die Beseligung ihrer Verwirklichung. Aber all dies ist peripherer Schaum, der ans Ufer schlägt, nicht Wellenbewegung des Meeres. Nicht als Zwei- heit haben wir „Objektivieren" und „Gestalten" zu denken; sondern dieses Gestalten wird durch das Objektivieren möglich, und das Objektivieren durch das Gestalten. Immer wieder habe ich nachdrücklich betont, daß wir das Wesen des Künstlertums nicht in einer einzelnen Eigenschaft zu suchen haben, sondern in der Angelegtheit seiner ganzen Persön- lichkeit auf die spezifische Art der Gestaltung. Der Künstler kann sich eben gar nicht anders ausleben als in dieser Weise; keine andere glättet seine Spannungen. Will man hier von Fik- tion sprechen, muß man jeden Charakter als Fiktion betrachten, auch den des Handelnden, der von Tat zu Tat schreitet. Sicher- lich darf man die Konzeption des Charakterbegriffes als eine Fik- tion bezeichnen, um die eigentliche Teleologie einer seelischen Totalität zu deuten. Aber sie selbst ist ein Gewebe von psy- chischen Realvorgängen; also auch das künstlerische Schaffen. Es ist jedoch — eine solche Argumentation wäre möglich — auf Fiktionen gerichtet; diese setzen es erst gleichsam in Bewegung. Denn ringt nicht der Musiker darum, Gestalten von Tönen so zu bauen, daß Leidenschaft in ihnen braust und Sehnsucht weint ; der Maler darum, durch Linien und Farben auf Leinwand oder Holz eine gegenständliche Welt vorzuzaubern ; der Schauspieler eine Rolle so anzulegen, daß der Eindruck entsteht, hier schreite ein König oder hier ducke sich ein feiger Mörder. Nach zwei Seiten hin könnte die Berechtigung solcher Fiktionen verteidigt werden : in Rücksicht auf den Kunstbetrachter — davon war bereits die Zur „Als-Ob-Theorie in der Kunstphilosophie. 477 Rede — und im Hinblick auf den Künstler selbst, weil sie eben die Form seines Lebens ermöglicht. Es ist dann leicht, Vergleiche heranzuziehen : zu jenen, die ihr Dasein auf die Fiktion gründen, geliebt, geachtet, bewundert zu sein, oder auf die Fiktion, un- schuldig zu leiden usw. Bis weit ins Pathologische hinein zeigt sich diese Auffassung abwandlungsfähig. Und nun lassen sich beide Seiten verknüpfen: dem Auswirken und Entfalten eines Charakters korrespondiert die Leistung für eine Gemeinschaft. Auf beiden Seiten stehen also Werte; und die seltsame Verknüp- fung soll einer Fiktion vorbehalten sein. Man könnte weiter differenzieren: manche Eigentümlichkeiten des Kunstwerks ver- danken ihr Sein oder So- sein lediglich den individuellen Bedürf- nissen des Künstlers; sie sind nicht "Wirkungsfaktoren; andere wieder scheinen lediglich dieser Absicht entsprungen. Erstere sind Schlacken, deren restfreie Gestaltung nicht geglückt ist, letz- tere äußerliche Mache, Routine, Berechnung. Es eröffnet sich also eine reich verzweigte Problematik — hier nur dürr und kurz skizziert — und trotzdem genügt sie nicht, die Bedeutung der künstlerischen Fiktion wahrhaft zu erfassen. Wir kehren darum auf einem Umwege zu unserem „Beispiel" zurück und nähern uns ihm von einer anderen Seite. Verstellung — Simulation — ist bewußte Vorspiegelung nicht vorhandener Sachverhalte. Der kleine Schuljunge, der besorgt — weil völlig unvorbereitet — das „Aufgerufenwerden" durch den Lehrer ahnt, schützt Kopfschmerzen vor. Weit entfernt davon, Kopfschmerzen wirklich zu haben, bedient er sich bloß dieser List in dem für ihn entscheidenden Kampfe ums Dasein, dessen tiefere Bedeutung er vielleicht mißversteht. Er wählt die Darstellung des Kopfschmerzes, weil sie relativ leicht eindrucksvoll arrangier- bar und ein schlagender Gegenbeweis schwer zu führen ist. Hat er sein Ziel erreicht — wird er etwa von dem Lehrer zur Er- holung auf eine Weile in den Schulgarten beurlaubt — meldet er vielleicht durch fröhliche Grimassen seinen Kollegen die Sieger- freude. Die Rolle, die er spielte, war also ganz eine Maske; es fiel ihm in keiner Weise ein, sich mit ihr zu identifizieren; nach Bedarf wird diese Maske vorgebunden und abgelegt. Ein anderer Typus von Kindern „braucht" nicht — um es grob zu sagen — diese Maske. Die Furcht daranzukommen — obwohl die Lek- 478 Emil Utitz, tion nicht gelernt ist — jagt ihnen tatsächlich den rettenden Kopfschmerz ein. Sie pochen dann auf ihr „gutes* Recht, wenn sie wehleidig ihre Beschwerden äußern. Das nähere Studium psy- chogener Symptome und hysterischer Mechanismen beleuchtet grell diese jedem Psychiater bekannten Erscheinungen. Ob hier nun im Einzelfall mangelndes Gesundheitsgewissen mitspielt, ein mehr oder minder bewußter "Wunsch — ach, würde ich doch erkranken! — kommt in diesem Zusammenhange weiter nicht in Betracht. Denn aufschlußreicher sind für uns gewisse Mischformen, in denen die Verstellung — die Fiktion — zwar nicht erlischt, aber keineswegs ständig durch den antreibenden Willen wachgehalten werden muß, sondern eher „triebartig" und „wie von selbst" aus einer be- stimmten inneren und äußeren Konstellation sich entwickelt. Der Schuljunge in seinem vorgetäuschten Kopfschmerz kann jede Be- wegung, jede Geste genau kontrollieren und auf Grund scharfer Überlegung tunlichst zweckmäßig und wirksam ausführen. Dazu gehört Energie. Lockert sich die Spannung, wird das Benehmen falsch; der Betreffende verrät sich leicht. Es ist ja auch aus der Graphologie geläufig, daß eine absichtliche Verstellung der Schrift im Schreiben abklingt, und immer neue Willensvorstöße müssen helfend und korrigierend eingreifen. Noch ein weiterer Umstand ist bekannt: die Reichweite solcher Simulation begrenzt das Wissen. Wo es versagt — meist bei „Nebensachen", die darum besonders charakteristisch sind — wird das Gesamtbild verzerrt; und da hakt der Verdacht ein. Die Rolle, die hierbei vorgeführt wird, ist an sich dem Betreffenden fremd; und er bleibt stets in Ge- fahr, daß sie ihm entgleitet. Spielt er sie öfter, wird sie ein- gelernt; er wird sicherer, und die Anstrengung geringer. Aber über das durch Berechnung und Willen Erreichbare kommt er nicht hinaus. Glücklicher — in dieser Hinsicht — ist nun eine andere Veranlagung; der Schuljunge — durch die Situation be- drängt — ergreift das schützende Mittel des Kopfschmerzes, mimt jedoch den Patienten, ohue sich immer innerlich dessen versichern zu müssen, was er in jedem Augenblick zu tun oder zu lassen hat. Er spielt die Rolle gleichsam aus sich heraus, indem er sich in ihre Möglichkeiten einlebt. Nicht nur die Aussicht, der Prüfung zu entrinnen oder den Lehrer zu betrügen, leitet ihn, sondern die Freude an der Rolle selbst. Indem er sie nun nicht von außen, sondern von innen ergreift, sie „liegt" ihm eben, braucht er sich Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 479 auch bloß ihrer Führung zu überlassen. Er muß gar nicht viel arrangieren; er gehorcht ihren Antrieben und Anweisungen. Deutlicher wird dies durch ein weiteres Beispiel: wir kennen die häufigen Wirkungen der Verkleidungen auf Maskenfesten. Der elegante Student wird zum Strolch, wenn er dessen Grewand anlegt, die vornehme Dame zur Dirne, das Stubenmädchen zur Gräfin. Dabei muß es sich keineswegs um eine vollendete, den gewiegten Kenner auf die Dauer täuschende Darstellung jener Rollen handeln; wir achten an dieser Stelle lediglich darauf, daß der als Strolch mas- kierte Student oder die als Kokotte verkleidete vornehme Dame nicht unaufhörlich ihre Handlungen vorsätzlich zu regeln haben. Dank einer einzigen durch die Änderung des Gewandes und durch die besonderen Umstände bedingten Einstellung erfolgt der Sprung in das andere „Leben". Wie der gebildete Student sich nicht bei jeglicher Gelegenheit die Frage vorlegen muß : „wie handelt da der wohlerzogene Student?", sondern er handelt als wohlerzogener Student; so handelt er jetzt als Strolch. Und das gleiche gilt von der eleganten Dame. Ähnlichen Erscheinungen begegnen wir oft auch in anderen Lebenslagen: Jeder, der z. B. den Betrieb in den Familienbädern unserer Seekurorte kennt, weiß, mit welch völliger Ungeniertheit sich auch „sehr anständige" Frauen und Mädchen im bloßen Trikot bewegen, also in einem Kostüm, das höchstens mit dem von Nackttänzerinnen zu vergleichen ist. Mit dem Badeanzug hat man sich förmlich einen neuen Menschen an- gezogen, der sich dieser neuen Situation völlig anpaßt, so daß auch die Regungen des Schamgefühls ausbleiben, die unter anderen Umständen gewiß zutage treten. Der entrüstete Ruf einer Mutter zu ihrer halbwüchsigen Tochter, die das erste Mal das Bad be- sucht: „Schämst du dich nicht, daß du dich schämst!" ist be- zeichnend : du sollst dich schämen, weil du nicht besser die richtige Einstellung findest. Darum scheuen auch so viele, als Arzt je- manden heranzuziehen, mit dem sie gesellschaftlich verbunden sind ; es erschwert die eigentümliche Einstellung des Patienten, weil eine andere, geläufigere, erst unterdrückt werden muß. Die Aoisicht, jede Simulation fuße auf einem Nachleben, läßt stets nach der Vorlage fahnden. Die Verstellung soll die Kopie liefern, mag dabei das Original mehr oder minder hell dem Be- wußtsein vorschweben, sei es auch nur in der unanschaulichen Form einer „Aufgabe". Es ist der gleiche Fehler wie die An- nahme, künstlerisches Schaffen sei immer nur ein Ausführen der 480 Emil Utitz, in der Phantasie konzipierten Bilder, und die formende Tätigkeit sei ein Nachbilden, ein Streben nach Konkretisierung des innerlich fertig vorliegenden Originals. Jedenfalls ist diese Auffassung ge- eignet, den Blick für jene Simulationen zu versperren, die ich als „auslebende" bezeichne. Es wird nicht irgend etwas nachge- ahmt, nachgebildet, nacherlebt, nachgefühlt usw. ; sondern die Ge- staltung wächst frei aus ihren eigenen Bedingungen heraus. Die eine Kokotte spielende Dame muß nicht den Erfahrungen folgen, die sie an Kokotten gemacht hat; sie gibt sich Neigungen und Trieben ihres Wesens hin, befreit geradezu gewisse Seiten ihres Seins. Natürlich werden Erfahrungen auf die Verhaltungsweisen abfärben, diese modifizieren usw. Wir müssen immer wieder be- tonen, das Wirklichkeit oft verknüpft, wo Theorie zu sondern hat. Doch ohne jene Sonderungen verstehen wir nicht die Wirklichkeit. Die erstaunte Frage: „woher kann das der Simulant, er hat doch Ahnliches nie gesehen?" beantwortet sich oft leicht, wenn wir nicht die gewagtesten Vermutungen aushecken, einer vermeintlich durchgängigen Abbildtheorie zu Ehren, sondern uns der beschei- denen Einsicht vergewissern, daß hier innere Anlagen sich aus- wirkend entfalten. Oft spinnt sich ein im einzelnen unentwirr- bares Netz, dessen Fäden gezogen sind aus Begabung, Neigung, Trieb, Erfahrung und äußerem Anlaß. Vergessen aber jene verkleideten Studenten oder Damen völlig ihren wahren Stand, daß eigentlich die Simulation verschwindet ? Vor allem ist in jedem Augenblick die Möglichkeit gegeben, die Rolle abzuwerfen und in die „Wirklichkeit" zurückzukehren. Es kommt plötzlich eine wichtige Nachricht, und trotz Kostüm und Maske ist das Alltagsleben sofort ' da. Das Spiel wird abgeschüttelt ; oder es endet mit dem Glockenschlag, mit dem Abschluß des Festes. Die Betreffenden haben es in der Hand, zu beginnen, wann sie wollen, und nach Belieben aufzuhören. Oft führen sie auch ihre Rolle nicht allen gegenüber durch, so z.B. nicht bei nahen Verwandten, Bekannten, denen Ehrfurcht gezollt wird, oder solchen, die keinen „Spaß" verstehen. Da bleiben sie die „Alten". Eben- sowenig wie der Mime in den Pausen seiner Rolle im allgemeinen hinter der Kulisse weiterspielt, es sei denn zum Scherz. Auch wissen die Beteiligten meist ganz genau, wie weit sie gehen dürfen, wie weit ihre Maskenfreiheit sie deckt. Werden auch die Grenzen nicht eng gezogen, sie werden doch mehr oder minder beachtet; denn Aufhebung der Spielregel beendet das Spiel. Die Rolle des Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 481 Lumpen führt nur selten zu „wirklichen" Gemeinheiten, die ge- spielte Kokotte gibt sich nicht jedem für Greld hin. Es ist klar, wie hier allenthalben die Pforten zum Pathologischen sich öffnen. Mancher findet den Weg aus der Simulation nicht mehr zurück: das „Spiel" beherrscht ihn, erfüllt ihn, er identifiziert sich völlig mit demselben, oder er hat die Macht verloren, es zu beenden. Als äußerste Extreme stehen vor uns: die Simulation, deren jeden Schritt das kontrollierende Bewußtsein überwacht, das niemals die Aufgabentendenz verliert; und jene Fälle, wo das Bewußtsein der Simulation immer mehr einschläft. Aber es sind Extreme, zwischen denen unzählige Zwischenstufen vermitteln. Der Student, der den Lumpen auf dem Maskenfest mimt, die Dame, welche die Kokotte spielt, das Nähmädchen, welches die Prinzessin darstellt, der kleine Verkäufer, der den reichen und blasierten Lebemann kopiert, oder auch der Maler, der in der Tracht Botticellis sich gefällt, sie folgen alle vielleicht einer ge- heimen, tiefer oder oberflächlicher verborgenen Sehnsucht, oder auch einem mit Liebe gehegten Ideal. Sie wissen, daß sie spielen, aber die Rolle ist ihnen nicht entgegengesetzt, feindlich, nicht einmal innerlich fremd. Sie leben sich nach einer Richtung hin aus, kosten eine Möglichkeit des Seins, die der Alltagsbetrieb sperrt. Ohne den Rollencharakter ganz abzustreifen, ohne das Bewußtsein der Maskierung völlig einzubüßen, können sie doch empfinden — ob mit Recht oder Unrecht kommt da gar nicht in Frage — daß gerade dies ihr eigentlicher Sinn ist, daß sie im ge- wöhnlichen Leben an falscher Stelle stehen und sich verstecken müssen usw. In tieferer Bedeutung erscheint ihnen dann die Si- mulation als echteres Verhalten; und sie können doch dabei der Simulation bewußt bleiben. Diese Sehnsüchte schweifen — wenn man so sagen darf — sowohl nach „oben", wie nach „unten". Der Bürger möchte König sein, der König ungekannt durch die Menge dahingehen, Freuden und Leiden einfachen bürgerlichen Seins durchkostend. Die Sehnsucht nach der Maske — die oft nur eine Sehnsucht ist, die Maske fallen zu lassen — gewinnt Hintergründe und Ausblicke in dunkle Schichten der Seele. Selbst den engen Philister, der im Kino sich erhitzt, bedrängen Sehnsüchte nach Fülle und Buntheit des Lebens, die der Alltag nicht gewährt; und der Philister weicht doch den grellen und großen Ereignissen aus, er will den umfriedeten Winkel, und die Grluten der Leidenschaft nur im Theater, nur im Roman. So können auch Student und 482 Emil Utitz, Dame, Nähmädchen und Verkäufer mit ihrer Simulation spielen. Es sind gewünschte Lebensmöglichkeiten, auf Zeit und Kündigung ; passend für den Sonntag, lächerlich für den Montag. Es liegt nahe, die ganzen eigentlichen Simulationsvorgänge als periphere Erlebnisse aufzufassen, wenn wir auf das Moment der absichtlichen Vorspiegelung achten. Das Zentrale; z. B. der Willen zur Simulation, der sie strafft, spannt, vorwärtsschiebt, das Be- gehren, zu täuschen, die Lust an der anscheinend glücklichen Si- mulation; ist offenbar — wenn auch in innigem Zusammenhang mit der Simulation — doch außerhalb, nicht in sie eingebettet. Mit dem simulierten Kopfschmerz identifiziere ich mich nicht, ebensowenig mit der geheuchelten, schmeichlerischen Freundlichkeit^ wie mit der gespielten Trunkenheit. Der periphere Charakter dieser Erlebnisse ist unbestreitbar. Und man darf wohl sagen : er ist für die ganz reine Simulation auch bezeichnend. Aber denken wir nun an das Ladenmädchen, das am Feiertag die elegante Dame von Welt mimt, an den Kellner, der „ Ausgang" hat und nun den vol- lendeten Edelmann markiert ! Es sind vielleicht tiefste Sehnsüchte, geheimste Wünsche, geliebteste Ideale, die hier eine — wenn auch groteske und tragikomische — Verwirklichung gewinnen; also Regungen, die aus dem Zentrum der Persönlichkeit herrühren und die nur der Alltag zurückdämmt, die Zensur unterbindet, wenn wir uns eines psychoanalytischen Terminus bedienen wollen. Das Ladenmädchen und der Kellner empfinden ihre Maskierung als echtere — sagen wir — sein sollendere Wirklichkeit, im Ver- hältnis zu der das kärgliche und demütigende Aschenbrödeldasein am Wochentag verblaßt, wie ein schlimmer Halbtraum. Sie passen auf, ob der Trug gelingt ; und das Gelingen ist ihnen neuer Beweis nicht nur für die Güte ihrer Simulation, sondern für die Legiti- mität ihrer Wünsche, für die in einem höheren Sinne geltende Wahrheit der Simulation. Auch hier kann und wird — wenn wir von den Abzweigungen ins Pathologische absehen — ein Grund- gefühl gegeben sein, daß „man" nicht „tatsächlich" Gräfin oder Graf sei, ein schmerzlich — süßes Grundgefühl vielleicht; schmerz- lich, weil das Spiel nur Spiel, und süß, weil in dem Spiel Ver- heißungen aufglühen, Ahnungen einer hohen Sendung, verlockende Perspektiven eines Lebens in großem Stil. In dieser Simulations- form wirken sich jedenfalls echte Ichseiten aus, und darum be- zeichnen wir sie auch als zentrale Simulation. Das hat an sich nichts zu tun mit der Fähigkeit zur begrenzten oder allgemeinen Zur „Als-Ob- Theorie" in der Kunstphilosophie. 483 Simulation. Wer alle Rollen meistert, muß noch nicht sein „Herz- blut" in sie vergießen. Sie können alle peripher sein. Nicht jene Fähigkeit steht da in Frage, sondern die Stellung des Ich in und zur Simulation. Faßt man ihre Gebilde als Fiktionen auf, handelt es sich erstens um Fiktionen verschiedener Art und zweitens ver- schiedenen Grades. Der Sinn der Fiktion verschiebt sich, je nach- dem sie zweckvolle Täuschung ausschließlich intendiert oder vor- nehmlich ein Ausleben bestimmter Wesenszüge ermöglicht. Damit wandelt sich aber auch ihr Charakter. Ist er dort in Reinkultur gegeben, kann er hier die mannigfachsten Komplikationen erfahren, bis zur Selbstvernichtung. Eine allgemeine Psychologie der Fik- tionen, die diese differentiellen Ergebnisse in umfassendere Zu- sammenhänge einzubauen vermöchte, ist noch nicht geschrieben. Diese meiner „Psychologie der Simulation" entlehnten Be- trachtungen gilt es für die Erkenntnis mimischer Kunst zu ver- werten und darüber hinaus für die der Kunstgesamtheit. Doch scheinen mir die meisten Analogien so selbstverständlich, daß wir es uns wohl ersparen dürfen, sie im einzelnen auszumalen. Ein Hauptpunkt ist die Stellung zur Rolle. Zeigt sich die Rolle fremd, bloß als Erfüllung von außen gesetzter Aufgabe zu be- stimmten — wiederum — äußeren Zwecken, betätigen sich an ihr lediglich Wille, Wirkungsabsicht, Ehrgeiz, Technik usw. Verstand und Energie übernehmen die Führung; fleißigstes Studium sorgt für möglichst tadellose Gestaltung. Das Akademische herrscht vor oder das dem Effekt zugewandt Yirtuosistische. Aus keinem ursprünglichen Erlebnis wächst das „Spiel" ; aber vielleicht ent- faltet sich hohes Können ; vielleicht packt der herbe Ernst straffer Disziplin und unsäglicher Arbeit ; oder es blendet der Instinkt für das Ausnutzen jeglicher Eindrucksmöglichkeit. Zu all dem gehört Begabung; und doch bleibt derartige Kunst an der Oberfläche: die Nacktheit des Fiktiven ernüchtert. Die Rolle verharrt durch- aus in der Sphäre der Fiktion ; sie wird aufgeputzt, hergerichtet, drapiert, instrumentiert usw. „Dahinter" steht der Mensch, der sich eben darum bemüht. Die scharfe Zweiheit liegt offen zutage. Man unterschätze aber nicht die Bedeutung solcher Kunst, die in formaler Hinsicht Vollkommenes zu leisten vermag. Wie viel auch an ihr — in ihren besten Vertretern — rein errechnet und ausgeklügelt erscheint, so rechnen und klügeln kann nur jemand, 484 Emil Utitz, dem eben ein starkes Talent diese Betätigungen gestattet. Grad gehen die Rechnungen nicht auf; die Klügeleien stimmen nicht ganz ; Unklarheiten, Verschwommenheiten schleichen sich ein ; es fehlen letzte Prägnanz, künstlerische Ökonomie und Durchsichtig- keit. Das „Menschliche" der Rolle kommt wenig in Betracht, umso stärker das Artistische; im guten und Übeln Sinne. Das Arti- stische verletzt, wenn etwa ordinäre, eitle Tendenzen aus ihm hervorlugen, schleuderhafte Mache oder mangelndes Können sich verraten. Es wird geadelt durch vornehme Weisheit, ausgeglichene, reife Beherrschung usw. Diese Qualitäten beziehen wir nun na- türlich nicht auf die Rolle, sondern ganz auf ihren Träger. Wir nennen bloß die Rolle „dankbar", die dem Artistischen fruchtbare Aufgaben zuweist; und wir rühmen es besonders, wenn einer an sich undankbaren Rolle doch starke Wirkungen abgerungen werden. Die nun in jenen Träger projizierten Eigenschaften halten wir nicht für Fiktion; wir glauben: der Schauspieler hat sie „wirk- lich". Meist geben wir uns aber keine Rechenschaft darüber, was dieses „wirklich" hier bedeutet. Der Schauspieler kann ja der nachlässigste Mensch sein, aber von stärkstem Verantwortlichkeits- gefühl, wo es sich um seine Kunst handelt. Er ist etwa ferner dumm im gewöhnlichen Verstände des Wortes, aber überraschend klug, wenn er an seiner Rolle arbeitet. Und : wiederum alle bürger- liche Intelligenz schützt und feit ihn nicht vor absurdesten Tor- heiten in künstlerischer Hinsicht. Was ist nun das „Wirkliche" ? Manchmal beides, wie auch der strenge, hartherzige Beamte da- heim in Güte und Milde fast zerfließen kann. Man muß nur das charakterologische Problem tief genug fassen, um diesen Ver- ästelungen und dem bunten Wechselspiel ihrer Beziehungen nach- zuspüren. Bisweilen wird die strenge Hartherzigkeit nur einem Panzer gleichen, um nicht den Regungen der milden Grüte aus- geliefert zu sein, wie ja auch bisweilen unverschämte Lüge nur innere Scham und Keuschheit deckt. Und sie bilden dann die tiefste Schicht, das andere erscheint übergelagert. Aber um die artistischen Eigenschaften steht es doch anders: künstlerische Weisheit ist keine Maske, die sich allgemeine Dummheit vorhält. Künstlerischer, unverdrossener Fleiß ist kein Mäntelchen, das Faul- heit um sich drapiert. Ebenso wenig muß aber künstlerische Un- vornehmheit Zeichen dafür sein, daß der Betreffende sonst niedrig und gemein ist. Gewiß kann man künstlerische Qualitäten simu- lieren; der Kenner wird auf die Dauer selten getäuscht, mag Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 485 auch dem Schwindel der Tag Beifall klatschen. Im Schützengraben hört die Mnt- Simulation gewöhnlich bald auf; bei vielen schon bei der Musterung. Jedenfalls wird sie gemeinhin leicht durch- schaut. Auch das Kunstschaffen ist so ein Ernstfall, bei dem das Unechte seinen fehlenden Gehalt schwer zu verbergen vermag. Ein Wort wird zum Verräter; eine falsche Geste; eine zu kurze oder zu lange Pause. All das Gesagte gilt nun wieder nicht allein von der Kunst des Mimen, sondern von jeglicher Kunst. Es ist ein vom einzelnen Kunstzweig ganz unabhängiger Typus : gekenn- zeichnet durch seine Stellung zur „Bolle", zum Gegenstand. Uns zeigte sich noch ein zweiter Typus : jener, wo der Simu- lant echte Ich-Seiten in der Rolle durchlebt, wo sie Mittel — unter Umständen unersetzliches und unersetzbares Mittel — wird, um jenen Ich-Seiten die ihnen angemessene Auswirkung zu schaffen. Vergessen wir nicht — denn es erscheint mir sehr wichtig — daß auch in den eben erörterten Fällen echte Ich-Seiten sich betätigten : aber „an" der Rolle, nicht „in" der Rolle. Ich brauche wohl nicht eingehend gegen den Vorwurf mich zu verteidigen, daß ich über- scharf trenne, wo die Wirklichkeit zart in unzähligen Schattie- rungen verbindet. Die polaren Unterschiede sind' unverwischbar; und auch für die Übergänge schulen wir den Blick, wenn wir die ganzen Skalen gleichsam durchspielen. Gewiß ist die Rolle der Gräfin dem Stubenmädchen eine Fiktion, aber ihr ganzes Bedürfnis nach Vornehmheit, Eleganz, Weltgeltung usw. vermag sie in diese Rolle hineinzulegen; sie spielt diese Rolle und spielt doch gleich- sam sich selbst, oder wenigstens eine Richtung ihrer selbst. Die Rolle ist ihr auf den „Leib" geschrieben; „aus ihrer Seele" heraus, wie man wohl zu sagen pflegt. Von dem so gearteten Schau- pieler sprechen wir jetzt: eine innere Verwandtschaft erhellt ihm intuitiv die Rolle; von innen her wird sie ergriffen; aus seiner Persönlichkeit wächst sie dann hervor. Ohne Studium geht das nicht reibungslos ; das Studium dient nur dazu, die ganzen inneren Spannungen in die Formung der Rolle aufzulösen und damit zu befreien. Es ist nun kein feilendes Arbeiten an der Rolle, sondern wieder in der Rolle, auf daß jener Zusammenklang voll harmonisch sich entfalte. Der Mime würde ersticken oder verbrennen, wäre es ihm versagt, seine verschiedenen Ich-Seiten auszuströmen in seine Rollen. Denn sie allein ermöglichen jenes Ausströmen. Und Kantstudien XXYU. 32 486 Emil Utitz, der Schauspieler braucht eben bestimmte Rollen, sei es nur solche einer gewissen Art, sei es bunt verschiedene. Immer wird er sie dieser seiner Bestimmung gemäß anlegen. Denn er verschwindet nicht in ihnen, gerade weil er und kein anderer sich in ihnen aus- wirkt. Ein anderer täte das nicht in genau gleicher Weise, weil er eben eine andere menschliche und künstlerische Persönlichkeit ist; daher auch das Ungenügende bloßer Kopie. Hier sei nur kurz an bereits Ausgeführtes erinnert: das Ausleben in der Rolle ist zugleich künstlerisches Formen ; und dieses Formen ist zugleich jenes Ausleben. Eine Zweiheit — Rolle und Rollenträger — finden wir auch da ; aber sie stellt sich doch wesentlich anders dar. Denn an der Rolle wird von außen gar nichts gemacht; das erschiene in diesem Zusammenhange bloß aufgesetzt, aufgeleimt. Einheitlich ist sie von einem ursprünglichen Erleben durchtränkt, das sie bis ins letzte Detail hinein durchglüht. Doch dieses wird Offenbarung jener Innerlichkeit. Wäre es dies nicht, bliebe es Fremdkörper; tote Stelle, die unbewältigt verharrte. Wobei hier ununtersucht bleiben mag, ob im Einzelfalle Dichter oder Schauspieler die Schuld tragen. Was ist nun aber jene Innerlichkeit, dieses ursprüngliche Erlebnis, das durch Intuition — wenigstens meistens — die Aus- drucksqualität der Rolle bestimmt? Sagen wir: das Verlangen nach keuscher, spröder Liebe. Aber der Schauspieler kann im Alltag brutal und zynisch sein. Oder: die heroische Leidenschaft opferbereiten Mutes. Aber der Mime kann wieder ein erbärmlicher Angsthase sein. Zweifellos haben wir nicht das Recht, dem Hel- dentenor etwa alle jene Eigenschaften anzudichten, die er auf der Bühne verkörpert. Jene Sehnsüchte müssen jedoch in ihm schlum- mern; sie werden durch die Rolle geschürt und entfacht und ver- brennen in ihr. Wir denken dabei an keine wilde Feuersbrunst, vielmehr an eine reine Flamme. Denn die Rolle, die sie nährt, bändigt sie zugleich ; vorausgesetzt, daß es um echte Künstlerschaft sich handelt. Es sind doch Wesensseiten, die im gewöhnlichen Leben keinen Abfluß finden, oder bloß verzerrten und perver- tierten; und die in der Kunst ihre volle Ausstrahlung gewinnen. Das macht zugleich die Stellung vieler Mimen zum Leben so ko- misch oder tragikomisch. Sie nehmen das Leben immer wieder als „Rolle", aber die richtigen Stich worte bleiben aus. Dadurch werden die Rollen falsch. Sie spielen etwa — vielleicht sogar — „echtes" Mitleid, statt einfach zu helfen. Denn ihr Charakter lebt sich in jenem Spiel aus ; die Tat ist ihm weniger wichtig, sie kann Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 487 schließlich auch fortfallen. Auf dem künstlerischen Durchfühlen und Durchgestalten rnht der Nachdruck. Darum muß auch Hel- dentum einer Rolle nicht zum „wirklichen" Heldentum anfeuern; es wird in der Rolle erledigt, verspritzt da sein Feuer. Nachher kommt vielleicht der aufgeschlagene Rockkragen, der vor Erkäl- tung schützt, der warme Grog und die Sorge um das Honorar. Sicherlich kann herbe Keuschheit im Leben auch im „Spiele" sich zeigen; aber der Fall braucht nicht so einfach zu liegen. Ja, manchmal stimmt er sogar bedenklich. "Wer nur sich selbst gibt, und dessen Selbst wenige Seiten hat, dessen Rollenfach wird meist sehr beschränkt sein, vielleicht eingeengt auf eine einzige Rolle. Die anderen geraten matt und blaß und werden nur artistisch bezwungen. Tieferes klingt bloß an, wenn jene eine Seite berührt wird. Wieder andere haben gegen aufquellende Schamhaftigkeit anzukämpfen, wenn eine Rolle zu stark in G-eheimbezirke ihres Ich eingreift. Sie fühlen sich ungehemmter und freier, soweit zwar Ich-Seiten angeschlagen werden, aber diese letzte Selbstent- hüllung nicht in Frage kommt. In der Skizzierung weiterer Typen will ich hier nicht fort- fahren : sie differenzieren sich wieder durch die Stellung zur Rolle, nach ihrem Echtheitsgrade, nach ihrer Fiktionsstufe. Zweifellos: sie alle tun so, „als ob" sie Könige oder Verbrecher wären, ver- zweifelnde Liebende oder leidenschaftliche Hasser. Diese Fiktion bleibt gewahrt ; sie verschwindet nicht. Aber der königliche Edel- mut, seine Herrschsucht, sein Machthunger, dann wieder die jeg- liche umfriedete Gesellschaft befehdende Rachsucht, die Verderben säet, das Aufrauschen seelischer Gluten; sie sind nicht bloß von der Rolle vorgeschrieben, sondern drängen auch aus dem Rollen- träger hervor, und sie verschmelzen ineinander: die Rolle gleicht sich ihrem Träger an, und wieder umgekehrt. Nicht nur äußeren Geboten — die Verstand, Erfahrung und Energie diktieren — folgt der Schauspieler, sondern inneren Antrieben, weil Möglich- keiten seines Seins sich hier erfüllen. Weitere Fragen knüpfen an: welchen Schichten entstammen diese Seinsmöglichkeiten? wer- den sie nur Wirklichkeit in der Kunst, oder decken sie sich mit dem Verhalten im Leben? Und wo verankert sich die tiefste Schicht ? Gibt es doch Mimen, für die allein die Kunst den echten Ernstfall bedeutetf das „Leben" nur etwas Wirres, Dumpfes, eigent- lich Gewichtsloses. Sie sind ganz Berufsmenschen, und was außer- halb des Berufes liegt, erscheint als das nicht Wahre. Ihr tiefstes 32* 488 Emil TJtitz, Wesen : das ist die Rolle und die Art, wie sie die Rolle meistern. Alles andere zählt wenig mit. Problematisch bleibt, ob nicht künstlerische Erfüllung unter dieser menschlichen Aushöhlung lei- det, ob nicht alle Gefühle, Leidenschaften, Affekte nur artistischen Oberflächencharakter empfangen, ob nicht darum Unechtes, Fik- tives — weil nicht genügend seelisch Unterbautes — einschleichen. Die Erscheinung des Literaten ist bekannt, aber ebenso die des verknöcherten Beamten, denen schließlich das schlicht-Menschliche immer ferner rückt. So entsteht beamtenhafte Artistik. Doch müssen wir es uns wieder versagen, diesen Problemen nachzugehen. Wir fassen vielmehr einen anderen Typus ins Auge, der ganz gegenteilige Eigenschaften zeigt, und damit trennen wir uns nun völlig von der Simulation, die bisher die Vergleichsflächen bot. Der Mime bringt jetzt seine ,, wirkliche" Persönlichkeit mit in die Rolle; und diese ist bloß ein Mittel, daß diese Persönlichkeit zur Geltung kommt: einerseits für das Publikum und andererseits für den Künstler selbst, der sich so auslebt, wie ein anderer im beflügelnden Gespräch oder im geschäftlichen Tatendrang. Auf niedrigster Stufe handelt es sich allein um körperliche Vorzüge: die schönen Beine einer Tänzerin, um ihren gelenkig-sehnigen Körper, weiter aber um die Anmut ihrer Bewegungen usw. Diese Realwerte werden zur Schau gestellt und in einer ihnen angemessenen Weise. Schon die Kostümierung verfolgt diesen Zweck. Es liegt mir fern, ihn irgendwie herabzusetzen. Die Bewunderung schönen Menschentums ist gewiß nicht unberechtigt ; von sehr naheliegenden Entgleisungen dürfen wir hier absehen. Aber dieses schöne Menschentum kann auch in einer inneren Fröhlichkeit bestehen, die alles mitreißt. Und sie tollt sich nun auf der Bühne aus. Der Zuschauer atmet beglückt. Ein andermal ist es die herbe Männlichkeit, die einfach packt. In diesen Fällen ist die Rolle — in sich Fiktion — will- kommene Gelegenheit, jene Menschlichkeit kennen zu lernen; diese strömt ihre Fülle durch die Rolle aus, keineswegs immer in die Rolle. Ein „Zu-viela an Kunst würde hier nur verschleiern, über- decken, Schwerpunkt verschieben. Die Kunst ist da gleichsam heimlich am Werk ; sie fehlt sicherlich nicht. Der schönste Körper — im obigen Beispiel — bliebe steif, ungelenk; fehlte ihm das Könnerische des Tanzes. Dieses ganze Können frommt dabei letzt- lich dem Ziele, gerade jene Schönheit ihrer höchsten Entfaltung entgegenzuführen. Hier — wo am meisten Naturgegebenes ist — tritt das Fiktive der Rolle ebenso scharf hervor wie bei jenem Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 489 Typus, der die Rolle von außen formt behufs stärkster Effekt- ausnutzung. Die äußersten Gegensätze treffen aufeinander an diesem kritischen Punkte. Ist die Persönlichkeit nur ein wenig unbedeutend oder unsympathisch, wird ihre Verherrlichung durch die Rolle unangenehm, oft widerlich. Sie hat kein Recht dazu, sich selbst auszutrumpfen. Der Widerstand versteift sich, mischt gar Eitelkeit sich ein. Und — zum zweiten — versagt nur ein wenig die Technik, wird jene Instrumentation der Rolle schwülstig, peinlich, uninteressant. Weil eben in diesen Fällen die Rolle selbst wenig bedeutet, entscheiden die anderen Faktoren. Hier muß am ehesten ein Fiktionalismus anknüpfen. Wie gründlich er auf künst- lerischem Felde mißverstanden wurde, beweist deutlich die Tat- sache, daß all diese Fragen ihm mehr oder minder fremd blieben. Was aber nicht Schuld Vaihingers ist sondern derer, die seine Formeln auf kunstphilosophisches oder aesthetisches Gebiet an- wandten, ohne genügende Analyse der überaus komplizierten Ver- hältnisse. Wir versuchten diese Problemverwicklungen an der Hand eines Beispiels zu beleuchten, ohne der Fülle der möglichen Aspekte gerecht werden zu wollen. Eine Übertragung unserer Ergebnisse auf die Gesamtheit der Kunst begegnet keinen Schwierigkeiten. Selbstverständlich dürfte man nicht einfach überpflanzen, sondern bei Wahrung des Prinzipiellen der Eigengesetzlichkeit der ver- schiedenen Bedingungen zu genügen trachten. Hiermit erschlössen sich zugleich wohl wichtige Einsichten in das Strukturgefüge der einzelnen Künste. Nur auf einige Andeutungen muß ich mich hier beschränken. Die gemalte Landschaft ist gewiß eine Fiktion: die Häuser, Bäume, das Meer, die untergehende Sonne, der Wind, der über die Felder streicht. Real sind: Rahmen, Leinwand, Farbmaterial, Der Rahmen rundet nicht nur das Bild, sondern sein mattes Leuchten hat Eigenwert; ebenso der körnig-feste Malgrund oder die sinnliche Leuchtkraft des Kolorits. Stärker tritt dieses Natur- gegebene — im Gegensatz zum Fiktiven — hervor etwa im Holz- schnitt, bei kostbarem Pergament, auf das Silberstift zarte Linien zieht, im Kunstgewerbe, das mit Gold, Silber und Edelsteinen ar- beitet. Diese Materialien werden ihrer höchsten Steigerung ent- gegengeführt, der stärksten Entfaltung ihrer Wirkungsmöglich- 490 Emil Utitx, keiten. Wie auch in der Dichtung Worte und Wortfolgen klang- lichen und rhythmischen Eigenwert gewinnen. Entscheidendes Gewicht fällt auf jene Qualitäten nur bei einem bestimmten Kunst- typus; aber gleichgültig werden sie nie. Marmor, Bronze, Holz usw. sind eben Persönlichkeiten, die einmal mehr, das anderemal weniger zur Geltung gelangen , doch stets abfärben. Auch der Schauspieler verschwindet niemals in seiner Rolle, denn damit verschwände ja seine Kunst. Diese Analogie liegt also offen zu- tage, aber auch die anderen sind unschwer zu entdecken. Für den Maler kann die Landschaft oder ein Akt nur erwünschte Gelegen- heit schaffen, seine technischen, perspektivischen, kompositioneilen Kräfte zu erproben und vorzuführen; ebenso für den Dichter ein Stoff, an dem er sich in solcher Weise betätigt. Auch hier — wo die Gefahr hohlen und spielerischen Artistentums in unmittelbare Nähe gerückt ist — darf man nicht ohne weiteres absprechen: sehr hohes, edles Können vermag sich zu offenbaren, zäher Eifer, leidenschaftlicher Arbeitsdrang, manchmal sogar eine fast heilige Liebe zur künstlerischen Sache. Es werden meist jene Motive gewählt, die in diesem Sinne dankbar sind; oft in sich völlig un- scheinbar und uninteressant, weil der Anreiz stärker ist, etwas aus ihnen zu „machen". Man will auch nicht, daß die Motive an sich wirken, nein die Wirkung soll ganz allein der künstlerischen Arbeit entstammen. Nur ihr gebührt der Dank. Nun aber ge- denken wir kurz der Fälle, wo das Motiv — die „Rolle", um den Vergleich fortzuspinnen — den Künstler packt, erfüllt. Dieses sein Erleben schmilzt in den Stoff ein. Das einfachste Beispiel liefert die Stimmungslandschaft oder ein ausdrucksbeladener Kopf. Auch hier bleibt die Fiktion ; sie wird nicht aufgehoben, aber ver- geistigt oder beseelt. Sie wird Träger dieser Werte; sie sind in ihr beschlossen und sprechen, klingen, tönen aus ihr. Alles tech- nische Mühen dient nun diesem Ziele. Und ähnlich wie im Falle des Schauspielers verlegen wir jene Erlebenswerte nicht nur in das Bild, sondern lassen sie aus dem Erleben des Künstlers ent- springen. Wir „wiederholen" gleichsam — wie manche meinen — sein Erleben, wenn wir das Kunstwerk genießen. Diese Wieder- holungstheorie ist fraglos falsch; denn wir erleben doch nicht die. Studien des Künstlers nach, seine Qualen und Beglückungen, seine Unruhe und seine Entspannungen. Auch die ursprüngliche Intui- tion ist uns nicht unmittelbar gegeben, sondern bloß die ins Werk Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 491 ausgereifte und in ihm objektivierte. Nur auf Pfaden nicht immer sicherer Rekonstruktion dringen wir zu jenem Kern vor. Von diesem Auswirken „in" der Rolle — der Melancholie des Herbstabends, der Heiterkeit des Frühlings, die peripher bleiben, treffen sie nicht auf Ich-Seiten, durch deren künstlerische Entfal- tung das Bild hervorwächst, sei es in mehr objektiver oder sub- jektiver Akzentuierung — scheiden wir wieder das Auswirken „durch" die Rolle. In der gemalten Landschaft rast der Maler „seine" Leidenschaft aus; die Felder sind wie gepeitscht; Bäume züngeln wie Flammen; jeder Pinselstrich ist wie Aufruhr, Auf- schrei. Dieser Sturm, der da hinfegt, ist ein Sturm des „Herzens", seelische Erschütterung, die sich nur kraft dieses Mediums mani- festiert. In einem anderen Falle ist es etwa die ruhige, abgeklärte Weisheit, welche die ganze Erzählung durchfließt und ihr Bedeu- tungsschwere verleiht. In einem dritten ist es das erschütternde Ringen um Wahrheit, das sittliche Pathos, die religiöse Glut, welche die Formung des Stoffes durchleuchten. Der „Stoff" allein wiegt leicht ; er ist ja auch nur die Fiktion, die jene Offenbarungen ermöglicht. Sonst werden sie nicht „ offen" -bart, und die Gesetz- lichkeit der Gestaltung erstickt in einem brodelnden Chaos. So haben wir auch hier jene drei Grundstellungen zur Rolle, zum Stoff, die sich mannigfach differenzieren und verschlingen: das Formen „an" der Rolle, „in" und „durch" die Rolle. Davon hängt es ab, wie weit die Rolle fertig übernommen, wie weit sie erst erzeugt wird. All diesen Verschiedenheiten entspricht der Fiktionsgrad der Rolle, ihr Sinn. Achteten wir bisher in erster Linie auf den Künstler, ist doch ohne längere Erwägung klar — schlechthin evident — daß diese Unterschiede die objektive Gegenständlichkeit des Kunstwerks wesentlich bestimmen. Täten sie dies nicht, hätten wir sie schwerlich auffinden können. Zum Künstler gelangen wir immer vom Kunstwerk geführt. Seine Ge- staltung gibt erst sichere Leitung. Ihre genaue Analyse liefert demnach einen weiteren Beitrag zum Fiktionalismus in der Kunst. Diese Umorientierung unserer Betrachtung wollen wir aber an dieser Stelle nicht vornehmen, denn sie liegt grundsätzlich klar. Auch ein Vergleich mit den „Weltanschauungen der Malerei", wie sie Hermann Nohl entwickelt, würde uns zu weit abführen, wenn auch sehr interessante Parallelen enthüllen. 492 Emil Utitz, Wir kehren zu unserem „Beispiel" zurück, um uns an ihm noch ein Problem einsichtig zu machen, das rückwirkend die an- deren belichtet. Wie ist es, wenn ein Schauspieler die Rolle eines ganz abgefeimten, niedrigen Schurken zu mimen hat? Betätigt er sich bloß „an" der Rolle, ergeben sich keine Schwierigkeiten. Sie kann artistische Möglichkeiten erschließen. Kurz, ein Sonder- fall scheint nicht gegeben. Der Mime wahrt die gleiche Fernstel- lung, aus der er auch sonst heraus schafft ; und das Was der Fik- tion entscheidet nicht, nur das Wie ihrer artistischen Ausnutzung. Widersteht dem Schauspieler innerlich die Rolle, wird er — viel- leicht an sich anderem Typus zugehörig — sei es triebartig, sei es verstandesmäßig hier diesen Weg einschlagen und nun mit Rou- tine, Technik, Wirkungsberechnung usw. arbeiten. Die klare Zwei- heit ist da; der Schauspieler und die Rolle. Die abstoßenden Eigenschaften der Rolle wird man nichts in den Schauspieler pro- jizieren, man müßte denn schon sehr naiv sein. Aber nun findet vielleicht auch diese Rolle inneres Entgegenkommen ; eine Wesens- seite des Schauspielers wirkt sich auch hier aus; er lebt also in der Rolle. Gewiß, er muß nicht im gewöhnlichen Leben diese Eigenschaften „wirklich" haben, aber jene Wesensseite ist da, knetet und formt die Rolle, durchglüht und beseelt sie. Da fühlen wir uns leicht abgestoßen, da werden wir empfindlich: es ist „zu echt". Wie wir es auch auf einem Maskenfeste ablehnen, wenn jemand eine „niedrige" Maske „zu echt" darstellt. Daß er dies so echt kann, berührt uns peinlich. Er verrät sich unwillkürlich. Daß er sogar diese Wesensseite hat, das verzeihen wir ihm nicht. In rasender Sinnlichkeit, dämonischer Rachsucht, verzehrendem Machthunger erleben wir kräftige Vitalität ; aber gegen schmutzige Lüsternheit und hartherzigen Greiz lehnen wir uns auf. Hier scheint das Menschliche geschwächt, verdunkelt, fast erloschen. Sicherlich sind wir abhängig von Kulturhöhe, gesellschaftlichem Milieu und individueller Sittlichkeit. Es ist ja auch bekannt, daß Komik — welche die einen zum schallenden Gelächter reizt — andere anwidert. Was die einen komisch finden, erscheint anderen traurig, und es befremdet sie, daß man darüber scherzen kann. Aber: aus heitersten Melodien schluchzt zuweilen geheime Melan- cholie ; aus stolzestem Antlitz sprechen Züge verhaltenen Leidens ; in wildester Grausamkeit weint manchmal Schmerz um vergeudete Güte. Hier bahnen sich dem Mimen neue Pfade : er darf die Rolle nicht entfärben, den Bösewicht nicht abmildern und seine Schärfen Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 493 nicht glätten; aber der innere Zusammenklang erfolgt nicht an den Stellen, wo nur das Negative in Frage steht, sondern wo das Positive schlummert. Von diesem her wird die Gestalt erhellt und durchleuchtet; der Schauspieler lebt dann in der Rolle; aber diese Ich-Seiten wird man ihm wahrlich nicht als persönliches Ver- schulden buchen, sondern als persönliches Verdienst. Natürlich, soweit sie nicht den Eindruck gespreizter Eitelkeit erwecken oder den absichtlicher Mache. Zugleich kann sich aber damit das Spielen „in" der Rolle verschieben zum Spielen „durch" die Rolle. Seine Menschlichkeit interpretiert gleichsam die Rolle. Der „schöne, wertvolle" Mensch spielt den „häßlichen, wertlosen" ; und Schimmer seiner Schönheit und seines Wertes breitet er noch über die Um- nachtung des anderen. Im Organismus des Dramas kann das ein Fehler sein; aber von diesen höchst verwickelten Problemen der Regie, der Inszenierung sei nicht die Rede. Das Niedrige, Ge- meine, Häßliche an sich hat niemals seine Heimatstätte in der Kunst; es ist immer bloß Dissonanz, die sich irgendwie löst in Wohllaut. Nur daß eben im Theater jene Auflösung durch die Gegenspieler oder das ganze Stück kommen kann. Da erwachsen die schwierigsten Aufgaben. Sehr klar — bisweilen mit erschreckender Deutlichkeit — begegnen wir jenen Erscheinungen, wo „in" der Rolle oder „durch" die Rolle minderwertige Seiten sich offenbaren. Sie verlangt etwa „gute Kinderstube", das zwanglos -sichere Benehmen eines Mannes der großen Welt; und sie wird herabgedrückt auf die Stufe klein- bürgerlichen Spießertums mit schlechten, steifen Manieren. Oder sie erfordert triebhafte Leidenschaft, und diese verkehrt sich in geile Frivolität. Was dort Sturm der Natur sein soll, wird hier unappetitliche Verworfenheit. Naivität wandelt sich in schamlose Koketterie. Das sind Gefahren, die nicht nur den Mimen bedrohen, sondern ebenso den Dichter. Er kann dumme Gestalten darstellen, aber er darf nicht dumm darstellen. Er kann ordinäre Personen vorführen, aber er darf nicht ordinär sie vorführen. Wo er dem Abwegigen sich zuwendet, entzündet sich das unerbittliche Streben nach Wahrheit, souveräne Lebensweisheit, nachfühlende Liebe zu allem Menschlichen, selbst wo es in Fratzen uns entgegengrinst, erlösende Komik oder erschütternde Tragik. So zeigt sich gerade auch hier die Bedeutung des Fiktiven „als Mittel zur Erreichung höherer Zwecke", wie Vaihingen sagt. Doch sie selbst sind keine Fiktionen mehr. 494 Emil Utitz, Das Publikum, an das sich all die so verschieden gearteten Kunstwerke wenden, ist eigentlich nicht jenes, das applaudiert oder zischt — das ist bloß psychologisches Ereignis — sondern der „ideale Betrachter", von dem ein „ideales Kunst verhalten" erwartet wird. Dabei handelt es sich gewiß um „Fiktionen", nicht nur weil Kunsterziehung niemals jenes Ziel zu erreichen vermag, vielmehr stets mit Annäherungen sich begnügen muß, und daher hier Seiendes und Sein-sollendes immer auseinanderfallen werden. Nein, der ideale Kunstgenuß (vgl. wieder den ersten Band meiner „Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft" und den Vortrag auf der Hallenser Kant-Tagung 1922) ist eine „heuristi- sche Abstraktion", keineswegs realer Kunstgenuß. "Wie jede Rolle von jedem bedeutenden Schauspieler anders gefaßt wird, dank seiner menschlichen und artistischen Persönlichkeit, dank kultu- reller und nationaler Besonderheiten, und sie zwar immer dasselbe Thema abgibt, das aber in ständig erneuter Variation erklingt; so verschiebt sich auch die Wirkung des Kunstwerkes — ja dieses selbst — je nach dem Menschen, der jene in sich erfüllt. Sein Charakter, sein Milieu, seine kulturelle und nationale Zugehörig- keit, seine sittliche und künstlerische Reife sind da mitbestim- mend. Dieses innere Verhältnis zwischen Kunstwerk und Kunst- genießer — vergleichbar dem zwischen Schauspieler und Rolle — schafft erst lebendige Wechselbeziehung, macht hellsichtig für be- stimmte Qualitäten des Kunstwerkes, während anderen gegenüber Blindheit herrscht. Wissenschaftliche Forschung mag und muß diese subjektiven „Fehlerquellen" abbauen und wegräumen; ihre Aufgabe ist es, sie zu „erklären" aus persönlichen oder irgendwie typischen Faktoren. Aber die nackten Formeln, die sie übrig läßt, sind nur ein Gerippe, gewiß nicht lebendiger Kunstbetrieb und wirklicher Kunstgenuß. Doch ist es durchaus berechtigt, „an- gemessenes" und „nicht angemessenes" Kunstverhalten zu scheiden. Letzteres geht an der Formung des Kunstwerkes und den in ihr beschlossenen, durch sie erzeugten Werten achtlos vorüber; es genießt entweder rein subjektive Reaktionen (z.B. liebe Erinne- rungen an gefühlsumrauschte Landschaften und Situationen) oder das Fiktiv-Stoffliche als Real-Geltendes ; oder es stiftet dem Kunst- werk gegenüber irrige Zusammenhänge. Der angemessene Kunst- genuß quillt aber aus inneren: Zusaramenprall mit dem Kunstwerk ; seine gestalteten Werte werdend riebt — nicht nur gedacht, ge- meint, verstanden — weil verwandte Aufgeschlossenheit sie em- Zur „Als-Ob- Theorie" in der Kunstphilosophie. 495 pfängt. Damit werden sie aber in einer besonderen Weise erlebt ; und diese Besonderheit abstreifen zu wollen, hieße das volle Er- leben entfärben oder gar zerstören. Das ist — man mag dies bewundern oder beklagen — unerläßliche Aufgabe der Wissen- schaft ; denn sie kann mit dem bloßen Erleben sich nicht begnügen. Umso deutlicher wird der Fiktionscharakter des idealen Kunst- genusses: seine reale Unmöglichkeit, die nicht letzte Zielsetzung bedeutet. Ihn umweht Nüchternheit, Kälte, Sachlichkeit der Wis- senschaft. Wer diesem Typus in seinem Kunstverhalten sich nä- hert, dessen Kunstverhalten ist kein voll dahinströmender, aus tiefen Ichquellen rauschender und in sich wieder zurückströmender Kunstgenuß. Hier erglänzt keine Seligkeit und hier wuchtet nicht letzte Erschütterung. So glaube ich, daß wir nach verschiedenen Richtungen hin Bedeutung und Geltung der Fiktionen innerhalb der Kunst und Kunstphilosophie verfolgen konnten, und daß der heuristische Wert solcher Betrachtungsweise wahrlich nicht gering ist. Ihre Vor- züge werden sich erst erweisen, wenn sie nicht in dürrer Pro- grammatik verharrt; sie lädt im Gregenteil dazu ein, in feinsten Differenzierungen die fraglichen Sachverhalte zu schattieren. Doch handelt es sich dabei nicht um Detail, sondern um Grundprobleme von entscheidendem Gewicht. Die Kunstphilosophie hat es bisher verabsäumt, Vaihingers Anregungen aufzugreifen und zu verwerten. Die wenigen Versuche, die unternommen wurden, sind mißglückt und haben der Theorie mehr geschadet als genützt. Ihren posi- tiven Kern herauszustellen — wenn auch nur andeutungsweise — waren Zweck und Ziel dieses Aufsatzes. Realismus und Positivismus. Von Ernst v. Aster, Gießen. Die Erkenntnistheorie, die sich in enger Berührung mit der mathematischen Physik auf der einen Seite, unter Rückgang auf Kantische Ideen auf der anderen Seite in den 90 Jahren des ver- gangenen Jahrhunderts etwa entwickelte, war vorwiegend positi- vistisch und idealistisch. Heute sind wir offenbar in einer nicht unbedeutenden entgegengesetzten, realistischen Strömung, der auch eine Reihe von bedeutenden Physikern nahe steht (Planck u. a.), obgleich die an Mach und Kirchhoff sich knüpfende phänomena- listische Tradition in der Physik keineswegs erloschen ist. In der philosophischen Literatur hat diese realistische Erkenntnistheorie ihre hervorragendsten Vertreter in Volkelt und Külpe gefunden, zugleich spinnen sich Fäden zwischen ihr und der Phänomenologen- schule. Letzteres aus naheliegenden Gründen, obgleich Husserl selbst in der bekannten Abhandlung im 1. Band des phänomeno- gischen Jahrbuchs sich bezüglich der Körperwelt auf Grund einer scharfsinnigen Analyse auf einen idealistischen Standpunkt stellt (der Körper ist wesensgesetzlich auf ein ihn in abschattenden "Wahrnehmungen erfassendes Bewußtsein bezogen): Wenn der Re- alismus möglich sein soll, so muß er voraussetzen, daß es nicht nur „Bewußtseinsinhalte" gibt, sondern auch Gegenstände für ein Bewußtsein; oder daß Bewußtsein, Wissen, nicht ein ab- straktes Merkmal von Inhalten, von Lockeschen Ideen, sondern ein intentionales Bezogensein auf Gegenstände ist, welche Gegenstände danach prinzipiell auch ohne diese Beziehung zu einer solchen Intention als seiend gedacht werden können, während eine „Idee" Lockes oder Berkeleys nicht ohne das Merkmal des bewußt (== Idee)seins denkbar ist. Daß Bewußtsein ein intentionaler Akt ist, ist ja aber die Grundbehauptung der Phänomenologie. Die Absicht der folgenden Ausführungen nun ist es, die Haupt- argumente, in denen die Widerlegung des Phänomenalismus durch Ernst v Aster, Realismus und Positivismus. 497 Volkelt und Külpe zu gipfeln scheint, hervorzuheben und die Frage zn erörtern, ob sie als Widerlegung einer positivistischen Erkennt- nistheorie wirklich zwingend sind. Die These der positivistischen Erkenntnistheorie fasse ich kurz in den Satz zusammen: Jeder Versuch, uns endgiltig und letztlich die Gegenstände, von denen wir überhaupt handeln, die wir denken können, inhaltlich oder sachlich vorzustellen, also sie nicht nur in leeren Worten zu be- zeichnen, endet in der Vorstellung von Inhalten, die wir nur als Inhalte eines individuellen Bewußtseinslebens vorzustellen vermögen. Alle Worte, die nicht solche 'Inhalte bezeichnen, sind bei genauerer Betrachtung „leer", d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände, die sie bezeichnen oder benennen sollen, ist fiktiv. Ich füge jedoch aus- drücklich hinzu, dass der genaue Sinn dieser These sich erst in der folgenden Begründung derselben ergeben muß. In drei Hauptargumenten scheint sich mir die Kritik Volkelts und Külpes zusammenzufassen. Das erste betrifft den Begriff des Gegebenen, den der Positivismus vorauszusetzen genötigt ist. Das, was der Positivist als „gegeben" und damit als im eigent- lichen Sinn existierend annehme und annehmen müsse, sei selbst schon das Resultat einer gedanklichen Verarbeitung und keineswegs die unmittelbare Bewußtseinswirklichkeit, es sei selbst ein Reales, realiter existierende Ideen, die da sind auch ohne daß sie gedacht werden. „Die einzige unbestreitbare Grundlage aller empirischen Wissenschaften ist die Bewußtseinswirklichkeit nur insofern, als sie das Material darstellt, vor dem alle empirische Forschung ausgeht. Für sich allein aber kann sie keine Wissenschaft zustande bringen. Erkenntnis, wie sie schon in den einfachsten Urteilen einer Erfahrungswissenschaft niedergelegt ist, läßt sich nicht rest- los und adäquat auf Bestandteile jener Wirklichkeit zurückführen, sondern hängt nur irgendwie von ihr ab. Die Methoden der For- schung zeigen gleichfalls in ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit, daß sehr verschiedene Operationen eingeschlagen werden, um das Ge- gebene zu einem Besitz der Wissenschaft zu machen. Alle diese Operationen gehören somit auch zu den Grundlagen der empirischen Wissenschaften. Ohne Beobachtung, ohne Schlüsse, ohne Abstraktion und Kombination, ohne Analyse und Kritik sind die Bewußtseins- tatsachen für die Realwissenschaften unverwendbar. Diese Ope- rationen führen alsbald zu Gegenständen." Nebenbei bemerkt : Külpe berührt sich in diesem Gedankengang mit dem Neukantianismus Marburger Richtung. Auch er anerkennt 498 Ernst v. Aster, ja kein Gegebenes im Sinn des Positivismus, sondern nimmt dies „Gregebene" selbst als Produkt eines objektivierenden Erkenntnis- prozesses, an dessen Anfang kein für sich faßbares Gegebenes, sondern ein hypothetisches „Aufgegebenes" steht und der in gerad- liniger Fortsetzung gleichsam vom „gegebenen" „Dies" zum beharr- lichen Ding und weiter zum gültigen Naturgesetz führt. Der obigen Kritik Külpes würde sich also auch der Neukantianismus anschließen, nur daß für ihn „gegebener" Wahrnehmungsinhalt und „reales" Ding nur als Produkte jenes Objektivationsprozesses gedacht werden können (das Denken ein Schaffen von Gegenständen ist), während für Külpe der Realisierungsprozeß ein Reflexionsprozeß ist, der aus der unmittelbaren Erfahrung fixierbare Inhalte heraus- schält, die dann aber als „real" auch unabhängig vom Realisierungs- prozeß selbst gedacht werden. Mit dieser Kritik des Gegebenheitsbegriffes hängt ein zweites Argument eng zusammen, das ich als Kritik des Immanenzgedankens bezeichne. Ist alle Existenz eine Existenz unmittelbar gegebener Inhalte im Bewußtsein und alles Hinaus- gehen des Denkens und Erkennens über diese Inhalte unmöglich, so ist der Solipsismus, ja noch mehr: der Illusionismus in Bezug auf die eigne Erinnerung und Erwartung die notwendige Konse- quenz. Fremdes Bewußtsein, eigne Vergangenheit und Zukunft sind meinem Augenblicksbewußtsein transzendente Realitäten, werden also mit aller Transzendenz zugleich aufgehoben. Endlich das 3. Hauptargument: Das menschliche Denken ist zur Setzung von Realitäten gezwungen, weil ohnedem nur ein zusammenhangloses, lückenhaftes, gesetzloses Chaos als „Wirklich- keit" übrig bliebe. Auch nach dem Realismus soll die Wissen- schaft /Jie Gesetze der „Inhalte" entdecken, aber die Inhalte des Bewußtseins rein als solche genommen sind gar nicht gesetzmäßig, sondern werden es für unser Bewußtsein erst, wenn wir sie in eine sie weit überragende reale Welt gleichsam einbauen.' Der erste Einwand kann und muß zum Anlaß dienen, den Begriff des „Gegebenen" genauer zu fixieren. Wir stellen zu diesem Zweck zunächst das Gegebene dem nur symbolisch, dem nur in Wortbedeutung Gemeinten gegenüber. Ich kann einmal von einem Gegenstand nur sprechen, ihn nur nennen, ein andres Mal ihn selbst vor Augen haben. Ein Gegenstand kann gegenwärtig — selbstgegeben — ohne genannt, er kann genannt ohne gegeben, er kann endlich zugleich genannt und gegeben sein, d. h. das gebrauchte Realismus und Positivismus. 499 Wortsymbol kann sich nennend auf ein „Gregebenes", Selbstgegen- wärtiges beziehen. In dem letzteren Fall ist uns der Anlaß ge- geben, eben das mit dem "Wort (oder der Wortverbindung) x Ge- meinte als „gegeben", oder das „Gegebene" als eben das mit dem Wort x „Gemeinte", als seinen Sinn zu bezeichnen. Bei jedem Wort können und müssen wir nach seiner Bedeutung fragen. Eben diese Frage verlangt letzten Endes, den Gegenstand selbst an die Stelle des ihn vertretenden Symbols zu setzen, verlangt also ein Nebeneinander von Wort und gegebenem Gegenstand, der durch das Wort benannt wird. Umgekehrt: setze ich zu einem Gegebenen ein sprachliches Symbol in diese Beziehung, die das Symbol zum Namen des Gegebenen macht, so ist dieses sprachliche Symbol damit seiner Bedeutung nach für mich ein- deutig festgelegt. Das Gesagte bedarf nun einer doppelten Ergänzung. Ich sehe einmal eine Farbe, ein anderes Mal nenne ich sie nur, ein drittes Mal erinnere ich mich ihrer, erwarte sie, stelle sie vor. Das Erinnerungs- oder Phantasiebild, das ich in diesem Fall vor mir habe, ist wie das Wort etwas, mit dem ein anderes (im Er- innerungsbild das früher Dagewesene) gemeint ist, also ein Symbol, das eine Bedeutung hat, aber es ist kein künstliches und ver- tretendes Symbol, wie das Wort, sondern ein natürliches und dar- stellendes Symbol, ein Symbol, durch das eben damit das Gemeinte nicht nur symbolisch gemeint, sondern „mittelbar gegeben" ist. Diese Bezeichnungen, die ich im Wesentlichen der Erkennt- nistheorie von H. Cornelius entnehme, bedürfen wol keiner näheren Erläuterung. Zweitens: Gegenstände können nur symbolisch ge- meint, sie können unmittelbar und mittelbar gegeben, sie können endlich noch durch ihreRelationen zu anderen Gegen- ständen bestimmt sein. Ich denke einen Gegenstand x, der einem andern, mittelbar oder unmittelbar gegebenen a zeitlich folgt oder ich denke einen Gegenstand x, der einem gegebenen a ähnlich oder von ihm verschieden sein soll. Was ich mir hier be- wußt vergegenwärtige, ist das a mit einer sich an dasselbe schließenden, in einem zweiten Glied Erfüllung ver- langenden Relation, ich meine einen Gegenstand, der diese Relation erfüllen oder zu dem der von dem a ausgehende Relations- schritt führen würde. Dieser letzte Fall steht in gewisser Weise zwischen dem des bloß symbolischen Meinens und dem des mittel- baren Vorstellens. Mittelbar (oder unmittelbar) vorgestellt ist 500 Ernst v. Aster, das a und die Relation, der Schritt, wie ich es eben nannte, um es im Beispiel zu sagen : das sich abheben und in Gegensatz treten und wiederum das sich einfügen und gleichmäßige Fortgleiten des Bewußtseins, das ich erlebe, wenn ich von einem Gegenstand ein- mal zu einem verschiedenen, ein andres Mal zu einem ähnlichen übergehe. Der Gegenstand selbst aber, zu dem dieser Schritt führt, ist nur genannt oder symbolisch gemeint. Die Relationen selbst aber zerfallen wieder in zwei Gruppen, nämlich solche, die zu einem Vorstellen des gedachten Gegenstandes hinführen können und solche, bei denen das nicht der Fall ist. "Weiß ich, der ge- meinte Gegenstand x ist einem mir bekannten a gleich oder doppelt so groß als a (und im übrigen a gleich), so ist mir in dieser Be- stimmung zugleich die Möglichkeit, x vorzustellen oder mir mittel- bar, in einem Phantasiebild zur Gegebenheit zu bringen geboten; dagegen bietet mir die Bestimmung des x als eines dem a zeitlich folgenden oder voraufgehenden keine solche Möglichkeit. "Wir haben also zu unterscheiden : das unmittelbare oder Selbst- gegebensein, das mittelbare (durch ein darstellendes Vorstellungs- bild) Gegebensein eines Gegenstandes, das denkende Bestimmen (durch Relationen) und das nur symbolische Meinen desselben. Die Frage nach dem „"Was" eines Gegenstandes findet sozusagen ihre endgiltig befriedigende Antwort erst im Selbstgegebensein, alle andern Formen der Vergegenwärtigung sind eine Vergegenwärti- gung durch Mittel, also durch Symbole, die schließlich auf ein Selbstgegebenes zurück- (oder vor-) weisen. Ein scharfer und wesentlicher Unterschied aber besteht zwischen denjenigen Mitteln oder Symbolen, die, weil sie den betreffenden Gegenstand direkt (Vorstellungsbild) oder indirekt (Gleichheits-, mathematische Ahnlich- keitsrelation) zur Darstellung bringen, geeignet sind, ihn kennen zu lernen, und denjenigen, die nur auf ihn hinweisen oder ihn vertreten (bloße äußerliche Zusammenhangsrelation, "Wortsymbol). Man kann hier noch die Frage stellen, ob nicht auch der Gegen- stand, den wir nur symbolisch, durch ein "Wort meinen, von uns „gedacht", wenn auch „unanschaulich" gedacht sei. In ganz be- stimmtem Sinn ist das zuzugeben, wir können nämlich den Fall des nur symbolischen Meinens unter den des durch Relationen bestimmenden Denkens einreihen. Der Gegenstand „A" ist dann eben von uns bestimmt als der Gegenstand, der zu dem Wort A in der bekannten Beziehung des durch A benanntseins steht oder als der Gegenstand, dem das Wort A in der "Weise seines Namens Eealismus und Positivismus. 501 (Eigennamens) aufliegt. Es ist indessen ohne weiteres klar, daß die Beziehung, durch die der Gegenstand hier gedacht wird, keine darstellende oder zu einer solchen führende Beziehung ist. Wir wissen bei einem Wort, das wir „sinnvoll", d. h. in der Über- zeugung, daß ihm ein Sinn zukommt, gebrauchen, nicht einmal, ob es einen solchen Gegenstand wirklich gibt. Wir brauchen Worte, glauben einen Sinn damit zu verbinden und merken erst nach- träglich, daß das gebrauchte Wort völlig inhaltsleer für uns war. Dem „Selbstgegebenen" stehen die verschiedenen Formen des „Gemeinten" gegenüber, dem nur Gemeinten die verschiedenen Formen des mittelbar und unmittelbar Gegebenen. Nun gründet in dem Unterschied des Gegebenen und Gemeinten noch eine wichtige Beziehung. Ich stelle etwas vor, dessen Eintritt ich er- warte und jetzt tritt das Erwartete ein und zwar so, wie ich es erwartete. Meine Erwartung „erfüllt" sich. Dann habe ich das Bewußtsein, daß das von mir Erwartete eben dasselbe ist, das ich jetzt wahrnehme, das Bewußtsein einer Identität. Identisch ist das jetzt Selbstgegebene und — nicht mein Vorstellungsbild, aber — das im Vorstellungsbild Gemeinte und eben diese Identität erlebe ich in dem Zusammenfallen, dem zur Deckung kommen der Vor stellungsintention und des selbstgegebenen Gegenstandes. Ebenso: ich suche unter einer Gruppe von Gegenständen einen bestimmten, der einem vorgegebenen Gegenstand gleich sein soll; habe ich ihn gefunden, so habe ich das Bewußtsein, es sei eben derselbe, den ich suche; die intendierende Relation erfüllt sich in jenem Inhalt. Endlich: das Wort fügt sich als Name einem selbstgegebenen Gegenstande an; auch hier besteht Identität, der Gegenstand ist eben dasselbe, wie das im Wort Gemeinte. Iden- tität ist uns da und nur da gegeben, wo wie in allen diesen Fällen eine Intention sich in einem Inhalt erfüllt. Es wird auf diesen Punkt noch zurückzukommen sein. Alle Erkenntnis muß ausgehen vom „Gegebenen" — diese Forderung bedeutet nach dem Ausgeführten nichts andres als : alle Erkenntnis darf nicht ausgehen von Worten, sondern von dem mittelbar oder unmittelbar zur Gegebenheit gebrachten Sinn der Worte. Fassen wir noch einmal zusammen: was ein „gegebener" Tatbestand ist, erkennen wir, wenn wir uns eine gesehene Farbe und Form, einen gehörten Ton, ein erlebtes Gefühl vergegen- wärtigen und auf das Gemeinsame dieser Dinge achten im Unter- Kantstudien. XXVII. 33 502 Ernst v. Aster, schied zu dem Fall, daß wir von den genannten Tatsachen nur sprechen. Diese Festlegung des Begriffs „gegeben" ist ganz analog derjenigen Art, wie wir einen Begriff wie Farbe, oder rot oder süß fixieren (wir haben in dem obigen Hinweis was das Wort „gegeben" bedeuten soll, selbst zur Gregebenheit gebracht). Nicht was Gegebenheit überhaupt bedeutet, sondern nur noch was in einem bestimmten Fall tatsächlich gegeben oder nicht gegeben ist, kann jetzt umstritten sein, oder was dasselbe bedeutet: wie das in einem solchen Fall Gregebene genau zu beschreiben ist. Hier kommt dann die von uns hervorgehobene Frage zur Behandlung, ob wirklich die von uns zur Beschreibung des Gregebenen ge- brauchten Worte in dem Gregebenen selbst zur identischen Er- füllung kommen. Stellt man sich nun die Aufgabe, das in einem bestimmten Augenblick oder Zusammenhang unmittelbar Gregebene zu be- schreiben, so entsteht eine besondere Schwierigkeit, die zu dem ersten Argument Külpes führt. Etwas beschreiben und bestimmen heißt: es „beobachten", „abgrenzen", „vergleichen", kurz jene Tätigkeiten üben, von denen Külpe in der angezogenen Stelle spricht. Wenn ich nun etwa die Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle meines Gesamtbewußtseins in einem bestimmten Augenblick in dieser Weise analysiere : darf ich dann nachträglich behaupten, daß mir im Moment vorher eben das gegeben sei, was mir die nachfolgende Analyse zeigt, und eben so, wie sie es mir zeigt? Hat nicht vielmehr die Analyse selbst das im Bewußtsein Gegebene verändert bezw. setzt nicht die Behauptung, daß das „Gegebene" so und so näher zu bestimmen sei, ein andres an die Stelle des eigentlich „Gegebenen", ist nicht jenes Beschreiben ein „Objekti- vieren" im Sinne des Setzens gedachter Objekte? Darauf ist nun m. M. u. Folgendes zu erwidern. Erstens : Es ist sicherlich unzu- lässig, das Ergebnis einer nachträglichen Analyse ohne Weiteres zur Beschreibung eines vorgängigen gegebenen Tatbestandes zu verwenden. Mir sind zwei Strecken in der Wahrnehmung gegeben, in vergleichender Einstellung geben sie sich mir nachträglich als gleich — dann darf ich darum nicht sagen, daß mir vorher zwei gleiche Strecken gegeben gewesen seien, es sei denn, daß diese Behauptung nur ein andrer Ausdruck dafür ist, es habe sich um zwei Strecken gehandelt, an die sich nachher, unter bestimmten weiteren Bedingungen ein Gleichheitsbewußtsein geheftet habe (auch diese Beschreibung bedarf indessen noch einer näheren, gleich Realismus und Positivismus. 503 zu gebenden Erläuterung). Zweitens: Auf der andern Seite aber ist zu betonen, daß nie ein Inhalt gegeben ist, ohne daß er zu- gleich auch in gewisser Weise von seiner Umgebung abgehoben („unterschieden") und mit ihr verglichen (als ähnlich und gleich erkannt) wäre, genau so wie kein Inhalt gegeben sein kann, ohne mehr oder weniger „einer" und mehr oder weniger ein „Mannig- faltiges" zu sein.^ Einheit und Vielheit, Ähnlichkeit und Ver- schiedenheit sind mit allem Gregebenen mitgegeben, sie sind „Formen" des Gegebenen überhaupt. Man lasse einen Inhalt sich weniger und weniger von seiner Umgebung abheben — was ist die Folge? Er verschwindet in dieser Umgebung, er ist als dieser Inhalt auch gar nicht mehr gegeben. Alles Gregebene ist also innerhalb gewisser Grenzen zugleich ein „Beurteiltes" in diesem ganz bestimmten Sinn des Verglichenen und Unterschiedenen. Das nur Gegebene, „vor" aller Beurteilung, die „reine Empfindung" wäre in der Tat ein hypothetisch Angenommenes, also eben nicht mehr gegeben. Dafür können wir auch sagen: Alles Gegebene ist ein „Objekt", ein „Objektiviertes", wenn wir unter einem Objekt etwas verstehen, das verglichen, unterschieden, in sich bestimmt ist. Aber alles Gegebene ist auch nur mehr oder weniger Objekt: eine gefärbte geometrische Figur, die ich sehe, ist in höherem Grade Bewußtseinsobjekt, d. h. bestimmt sich abgrenzender, durch bestimmte Eelationen mit anderem Gegebenen verknüpfter einheit- licher Inhalt, als etwa ein diffuser Schmerz im Innern unseres Körpers oder gar als ein „Erlebnis" der Freude oder der Trauer. Dem gegebenen Objekt, das sich abgrenzt und schärfer oder weniger scharf abhebt, steht hier gegenüber die fließendePhase eines Ganzen, die in dies Ganze ohne Grenze verläuft und andern „Teilen" dieses Ganzen nicht in der Weise des Gleichen oder Ver- schiedenen gegenübersteht. Dem Wahrgenommensein jenes Objekts unter andern Objekten entspricht das „Erlebtsein" einer solchen Phase eines Erlebnisstroms, eines subjektiven Erlebnisstroms, wie wir nun auch sagen können. Der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven ist aber hier, wie nochmals hervorgehoben sei, kein absoluter, sondern ein fließender und relativer : auch ein Gefühl ist indem es erlebt wird, innerhalb gewisser Grenzen als dieser bestimmte Inhalt erlebt, d. h. verglichen und unterschieden; Sub- jekt und Objekt, das Erlebte und das Wahrgenommene, sind nicht zwei Sphären, sondern zwei Pole des Gegebenen; das nur Objektive wie das nur Subjektive ein Grenzbegriff im Sinne der Neukantianer. 33* 504 Ernst v. Aster, Endlich fügt sich hier nun noch ein dritter Punkt ein. Dürfen wir mit Sinn sagen, daß „derselbe" Inhalt einmal erlebt und einmal wahrgenommen sei? Oder daß er einmal so und einmal anders aufgefaßt und beurteilt sei? Diese Ausdrucksweise hat einen bestimmten Sinn, aber man muß sich über denselben klar sein. Ich erlebe einen bohrenden Zahnschmerz und dann mache ich mir diesen Zahnschmerz gegenständlich, vergleiche, beurteile ihn. Dann muß ich sagen, daß hier das Gregebene im ersten und zweiten Moment ein verschiedenes war. Aber: es hoben sich hier nicht zwei Inhalte scharf gegeneinander ab, wie dann, wenn ich erst einen hohen, dann plötzlich einen tiefen Ton höre, sondern die zwei Inhalte werden als Phasen eines Stromes erlebt, es sind nicht zwei verschiedene, sondern es ist ein sich ver- ändernder Inhalt da. Ein andres Beispiel: ich betrachte ein auf Papier gezeichnetes Quadrat und hebe bald die eine, bald die andre Seite, bald die Fläche besonders „beachtend" hervor, bald sehe ich das Quadrat auf der einen, bald auf der andern Seite „stehend" usw. Dann habe ich das Bewußtsein, daß ich hier nicht mehrere, sondern einen G-egenstand, dasselbe Rechteck sehe, nur in verschiedener Auffassung. Aber ist es nun möglich, irgend einen dieser Inhalte herauszugreifen und von ihm zu sagen, daß er das Rechteck selbst sei, das in den verschiedenen andern Wahr- nehmungen nur gemeint wäre ? Offenbar nicht, das Wahrnehmungs- bild eines Quadrats kann mir ebenso wenig ohne ein bestimmtes „Beachtungsrelief" gegeben sein, wie ein Haus von mir wahr- genommen werden kann, ohne von einem bestimmten Standpunkt und entweder von vorn oder von hinten oder von einer Seite wahrgenommen zu sein. Aber auch wenn ich um das Haus herum- gehe und es betrachte, ist mir nur „ein Objekt" und innerhalb desselben sich wandelnde Phasen, nicht eine Summe von Inhalten gegeben. Kehren wir nun noch einmal zu einem vorher erwähnten Fall zurück : wir sehen eine Figur, in der zwei Strecken enthalten sind — im nächsten Moment erfassen wir, was vorher nicht der Fall war, beide Linien als einander gleich oder die eine als größer usw. Sagen wir nun, es seien hier die ganze Zeit über dieselben zwei gleichen oder ungleichen Linien gegeben gewesen, so bedienen wir uns einer „Begriffsbildung", die über das Gregebene als solches hinausgeht, d. h. wir sprechen von einem Gegenstand, der nicht mehr „gegeben" ist: die dauernd vorhandenen, dauernd im Ver- Realismus und Positivismus. 505 hältnis der Gleichheit oder Ungleichheit stehenden Linien sind nicht gegeben, sondern zur Gregebenheit bringen kann ich nur, wenn ich mich so ausdrücken darf, ihre wechselnden „Beachtungs- erscheinungen", die sich mir als Phasen eines Objektes darstellen, genau so, wie ich mir nicht das Ding, sondern nur seine Erschei- nungen (seine „Abschattungen") von verschiedenen Standpunkten aus zur Gegebenheit bringen kann. Das Quadrat, das auf keiner Seite einseitig steht und doch auf jeder stehen kann, das vier gleiche und je zwei gleichgerichtete Seiten, das vier gleiche rechte Winkel dauernd hat — dies Quadrat ist kein jemals zur Gegeben- heit gebrachter Inhalt, sondern ein „Ding an sich". (Husserl würde nach den Ausführungen seiner „Ideen" diese Analogisierung des objektivierten Wahrnehmungs- oder Empfindungsinhalts mit dem „Ding", der unmittelbar gegebenen Beachtungserscheinung mit der Dingerscheinung freilich ablehnen als phänomenologisch unzutreffend, mir scheint gerade die phänomenologische Analyse durchaus für diese Analogie zu entscheiden.) "Was ist das „Ding"? Nicht die Summe seiner Erschei- nungen, denn wenn ich die Erscheinungen zu einer Summe ge- trennter Summanden mache, habe ich das Ding gerade zerstört. Und ich stelle das „Ding" auch nicht wieder her, wenn ich durch Relationen die getrennten Erscheinungen wieder verknüpfe („ge- setzmäßiger Zusammenhang"). Das Ding „ist" aber auch nicht das eine „Objekt", als dessen Phasen ich seine Erscheinungen erlebe, denn dies Objekt ist ja ein fließendes, in wechselnden Phasen sich veränderndes, ist ein Prozeß, wenn man so will, während das Ding ein Beharrliches, Dauerndes, sich gleich Bleibendes ist. M. a. W. die obige Frage ist unbeantwortbar : das Ding selbst ist kein zur Gegebenheit zu bringendes Gebilde, sondern ein Fictum, es gibt nur das zusammenfassende Wortsymbol, keine ihm ent- sprechende Sache. Wir knüpfen an die Erscheinungen „desselben Dinges" das gleiche Wortsymbol, sprechen von „dem Apfel hier", gleichgiltig ob wir ihn von der einen oder andern Seite sehen oder betasten. Dies gleiche Symbol scheint auf einen identischen Gegenstand hin- zudeuten, an dessen Stelle uns jedoch nie etwas andres, als eine der wechselnden Dingerscheinungen faßbar wird. Mit demselben Wort aber belegen wir jene Erscheinungen, weil und soweit sie mit einander vertauschbar sind oder einander vertreten können. Vertauschbar sind sie, insofern ich von jeder Erscheinung 506 Ernst v. Aster, zu jeder beliebigen andern übergehen kann : ob ich den Apfel von der einen oder andern Seite ansehe, jedesmal wird er sich als hart erweisen, wenn ich das Gesehene mit dem tastenden Finger be- rühre und als süß, wenn ich hineinbeiße. Die Erscheinungen sind vertauschbar hinsichtlich der Fortsetzung, die sie in weiteren Erscheinungen finden, hinsichtlich ihrer diese weiteren Erschei- nungen anzeigenden Funktion; dafür können wir auch sagen: sie sind identisch, soweit sie nur als Träger dieser anzeigenden Funktion, als Symbole des Kommenden erscheinen : wir wissen ja, Identität ist das sich-Treffen der Bedeutungen zweier Symbole in einem Punkt. Wir können uns also nicht das „identische Ding", aber wir können uns die Identität (die identische Bedeutung) der verschiedenen Erscheinungen desselben Dinges zur Gregebenheit bringen. Machen wir uns dieselbe Sachlage noch an einem andern Fall klar. Ich erwarte jetzt, daß morgen etwas Bestimmtes geschehen, sagen wir gutes Wetter sein wird. Ich hege dann die gleiche (dieselbe) Erwartung noch mehrfach im Laufe des Tages. Dann habe ich hier offenbar eine Mehrheit verschiedener Erwartungs- erlebnisse, diese Erwartungserlebnisse aber stellen alle dasselbe zukünftige Geschehen vor und sind insofern identisch, ganz im Sinn des Identitätsbegriffs, den wir festgestellt haben. Sie sind „dieselbe Erwartung". Wollte nun aber Jemand wissen, wie eigentlich diese identische eine „Erwartung" aussieht, die „in" allen jenen Erwartungserlebnissen angeblich „steckt", so wäre diese Frage natürlich sinnlos — genau so sinnlos wie die Frage nach dem „Ding an sich" hinter seinen Erscheinungen. Es gibt nicht diese Erwartung selbst, auch nicht oder gerade nicht als abstraktes Teilmoment jener Erlebnisse, es gibt nur die Erwartungs- erlebnisse (Erwartungsbilder) und ihre Identität, d. h. ihre Be- ziehung auf dasselbe Erwartete. Diese Identität aber läßt uns von derselben Erwartung sprechen und legt dadurch die Fiktion eines für sich existierenden psychischen oder außerpsychischen G-ebildes nahe, das nun wirklich diese Erwartung wäre. Fassen wir das Ergebnis noch einmal speziell mit Rücksicht auf den Külpeschen Einwand zusammen, so können wir sagen : wir dürfen nicht im eigentlichen Sinn behaupten, es seien uns zwei gleiche oder verschiedene Strecken oder Farben etwa ge- geben, sondern nur, es seien uns zwei Strecken als gleich oder „als" verschieden, durch das Grleichheits- bezw. Verschiedenheits- Realismus und Positivismus. 507 bewußtsein an einander gebunden gegeben, dabei ist natürlich auch der weitere Fall möglich, daß zwei Strecken oder Farben gegeben sind, die weder als verschieden sich von einander abheben, noch als gleich jene eigentümliche Einheit bilden, die eben das Wesen der unmittelbar erlebten Gleichheitsrelation ausmacht, es können auch* Linien oder Farben gegeben sein, ohne überhaupt als „zwei" sich dem Bewußtsein darzustellen usw. (obgleich wie wir wissen jeder Inhalt, indem er gegeben, auch von andern unterschieden und auf sie bezogen ist). Das Urteil, das auf Grund hinter- her kommender Vergleichung von „gleichen" oder „verschiedenen" (gleich- usw. seienden) Strecken spricht, die im Moment vorher wahrgenommen gewesen seien, setzt an die Stelle des unmittel- bar Greg ebenen ein „Ding", d.h. beschreibt nicht einfach das Gegebene, sondern bezeichnet (beurteilt) es sprachlich im Hinblick eben auf jene weiteren Gegebenheiten, mit denen es in die Einheit der Dingwahrnehmung sich zusammenfügt. Das Gegebene, von dem wir auszugehen haben, ist in einem individuellen Bewußtsein gegeben, es ist ferner ein jetzt und hier Gregebenes. Auch diese Behauptung, die uns zum zweiten Einwand hinüberführt, bedarf indessen der genaueren Erläuterung. „Ich nehme zwei Farben als gleich wahr" und „ich nehme zwei Farben wahr, die gleich sind" — wir wissen, es sind zwei ver- schiedene Gregebenheiten, auf die in diesen beiden Wendungen hin- gedeutet wird. Das im zweiten Fall Gegebene wird bezeichnet oder beurteilt im Hinblick auf eine zu erwartende weitere Ge- gebenheit, in die es sich unter bekannten Bedingungen („Ver- gleichen", entsprechende Einstellung der Aufmerksamkeit) jederzeit verwandeln kann. Entsprechendes ist zu sagen, wenn wir die Wendungen gegenüberstellen: „ich nehme einen Inhalt als jetzt gegeben (und nicht zu irgend einer andern Zeit) wahr" und „ich nehme einen Inhalt wahr, der tatsächlich jetzt gegeben ist". Oder ebenso: „ich erlebe einen Inhalt als Inhalt meines Bewußtseins (und nicht eines fremden Bewußtseins)" und „ich erlebe einen In- halt der tatsächlich Inhalt meines Bewußtseins ist." Die zweiten Wendungen weisen vordeutend auf eine mögliche Gegebenheit hin, die bei der ersten Wendung als tatsächlich gegeben vorausgesetzt ist. Als jetziger Bewußtseinsinhalt ist mir ein Inhalt nur ge- geben, indem er sich als unmittelbar gegebener von einer mittelbar gegebenen (vorgestellten) Vergangenheit und Zukunft abhebt — der Gegensatz des unmittelbar und mittelbar Gegebenen wurde 508 Ernst v. Aster, weiter oben erörtert. Ebenso nun freilich, wie jeder Inhalt, am überhaupt gegeben zu sein, sich von einer Umgebung abheben, wie jedes Bewußtsein ein Unterscheiden sein muß, so muß auch jeder gegebene Inhalt für das Bewußtsein anheben zu sein, d. h. sich von einer erlebten Vergangenheit abheben, also „als" jetzt erlebt sein. Aber dies Jetzt, als dessen Inhalt er erlebt wird, braucht sich nicht von einer Mannigfaltigkeit bestimmt geordneter Zeit- momente abzuheben, und insofern einem zeitlich bestimmbaren Augenblicke anzugehören. Die objektive Zeit, als kontinuierliche Abfolge auf einander folgender Augenblicke, in der jeder einzelne Inhalt zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, in seiner Zeitbeziehung zu jedem andern Inhalt eindeutig fixiert „existiert" — diese Zeit mit allen „Erlebnissen", oder „Wahrnehmungsinhalten", die sie er- füllen, ist nichts Gegebenes, sondern etwas, das wiederum in die Sphäre der „Dinge" gehört. Es ist sinnvoll und möglich, jedem gegebenen Inhalt gegenüber die Aufgabe zu stellen, ihn in seiner zeitlichen Stellung zu be- stimmen, genau so wie die Aufgabe sinnvoll ist, eine im Gesichts- feld gegebene Form mit allen sonstigen im Gesichtsfeld gegebenen Formen zu vergleichen. Die eine wie die andre Aufgabe aber führt in eine unendliche Reihe von weiteren Gegebenheiten hinein, die aus der ersten hervorwachsen, mit ihr in jener früher charak- terisierten Weise zur Einheit verbunden. Jeder gegebene Inhalt ist zeitlich fixierbar, d. h. es ist möglich, ihn in seiner zeitlichen Folge oder seinem Voraufgehen in Bezug auf andre Inhalte zu erleben, diese dann ihrerseits auch wieder erinnernd oder erwartend in ihre zeitliche Umgebung hineinzustellen und so einen immer umfassenderen Zeitrahmen um den zu bestimmenden Inhalt zu spannen, der schließlich alle Inhalte des betreffenden Bewußtseins- lebens umfassen würde. In Wahrheit bestimmen wir natürlich nie einen Inhalt zeitlich in dieser vollständigen Weise, die voll- ständige Bestimmung würde auch, wie eben hervorgehoben, zu einer unendlichen Aufgabe führen. Die jederzeitige Möglich- keit aber, in ein Urteil über den betreffenden Inhalt gleichsam übersetzt, als „seiende Eigenschaft" desselben gefaßt, führt dazu, ein fingiertes Ding an die Stelle des unmittelbaren Erlebnisses zu setzen. Ein Inhalt kann unmittelbar, er kann aber auch wie wir wissen mittelbar, durch einen Vorstellungsinhalt gegeben sein. Nun kann aber dies mittelbare Gegebensein noch verschiedene Eealismus und Positivismus. 509 Formen annehmen. Auch jeder vorgestellte Inhalt — nicht das unmittelbar gegebene Vorstellungsbild, sondern der mit ihm ge- meinte, erinnerte, phantasierte Inhalt muss in eine wenn auch noch so unbestimmte Umgebung hineingestellt, er muß von dieser Um- gebung unterschieden, abgehoben sein. Ferner aber kann dieser Inhalt mit seiner Umgebung erinnert, erwartet oder „ein- gefühlt" sein, d. h. er kann als eigne Vergangenheit, eigne Zu- kunft oder fremdes Bewußtsein vorgestellt sein. Im Erinnerungs-, Erwartungs- und Einfühlungsbild stellen wir einen Inhalt als im eignen vergangenen oder zukünftigen oder im fremden Bewußt- seinsleben wirklich vor. Was das heißt, kann nur erlebt, nicht weiter erklärt oder verdeutlicht werden und zwar in der Form des Erinnerungs-, Erwartungs- und Einfühlungsbildes erlebt werden. Wer nie ein Erinnerungsbild erlebt hätte, dem würde auch der Begriff der eignen Vergangenheit und ihrer Wirklichkeit völlig unbekannt sein. Es ist nun nicht zu leugnen: in Erinnerung, Erwartung und Einfühlung haben wir das Bewußtsein einer Transzendenz, gehen wir über das unmittelbar Gegebene hinaus. Die „Möglich- keit" dieses Transzendierens ruht auf der Möglichkeit bezw. Tat- sächlichkeit eines „mittelbar Gegebenen". Das aber, was hier vorgestellt und als „wirklich" vorgestellt wird, ist wiederum ein Bewußtseinsinhalt, der in einer Kette oder einem Strom andrer sich abhebt, ein Inhalt, den wir im bisher bereits erörterten Sinn als Inhalt eines individuellen Bewußtseins bestimmen können. Es gibt eben zwei ganz verschiedene Arten der Trans- zendenz: die Transzendenz des vorgestellten Bewußt- seinsinhalts und die des Dinges, der erstere ist mittel- bar gegeben, das letztere nur im vertretenden Symbol gemeint, also fiktiv. Erinnerung, Erwartung und Einfühlung habe ich an andrer Stelle (in meinen „Principien der Erkenntnislehre") als unmittel- bar erlebte (im Gegensatz zu den sprachlich formulierten) Ur- teile bezeichnet. Sie sind Urteile, wenn wir Urteil alles nennen, was wahr oder falsch sein, d. h. „mit einem Gegenstand überein- stimmen oder nicht übereinstimmen" kann. Im Erinnerungs- und Erwartungsbild stelle ich etwas vor — einen Gegenstand — und kann mit Sinn fragen, ob dies Etwas wirklich so war oder sein wird, wie ich es vorstelle. Freilich hebt sich nun aus jenen drei Formen die Erwartung dadurch hervor, daß sie allein (natür- 510 Ernst v. Aster, lieh auch nicht in allen, sondern nur in bestimmten Fällen) auf ihre Wahrheit hin geprüft werden kann: ich kann das sich-Er- füllen oder -Enttäuschen einer Erwartung, das Zusammenfallen von Erwartung und Erwartetem (die Identität beider) erleben. Erinnerung und Einfühlung bleiben auf ihre Wahrheit hin nicht prüfbar und insofern einem — jedoch nur theoretischen — Zweifel ausgesetzt. Alles unmittelbar Gegebene hebt sich ab von einem erinnerten, erwarteten, eingefühlten mittelbar Gegebenen. Es wird eben in diesem sich Abheben oder Unterscheiden zu einem „mir" und „jetzt" Gegebenen. Fassen wir andrerseits alles unmittelbar und mittel- bar Gegebene zusammen, so erhalten wir als „Gegebenes" den Inbegriff der Bewußtseinsinhalte verschiedener Bewußtseinsabläufe. Diese Bewußtseinsabläufe und ihre Inhalte sind aber selbst nur erlebbar von einem bestimmten Punkt (einem „Jetzt") eines bestimmten Bewußtseinslebens aus — von einem unmittelbar gegebenen Icherlebnis aus, für das alle übrigen Inhalte vergangene oder zukünftige Icherlebnisse oder Duerlebnisse sind. Nur in der Centriertheit auf ein Augenblicksich ist das Gegebene faßbar. Anderseits können wir aber jeden vorgestellten Inhalt unter Ab- straktion von der ihn repräsentierenden Vorstellung zum Aus- gängspunkt, zum Augenblicks-ich machen, dann wird alles andre zu einem von hier aus mittelbar Gegebenen. Das Gegebene teilt mit den Formen des Raumes und der Zeit diese Eigentümlichkeit der Centriertheit (der Centriertheit auf ein unmittelbar Gegebenes, für das alles übrige mittelbar gegeben ist, welches mittelbar Ge- gebene aber selbst wieder in allen seinen Teilen zum num. Geg. werden kann — wie jeder Zeitpunkt um bestimmt zu werden, der Beziehung auf ein „ Jetzt" bedarf (einen zeitlichen Koordinaten- Anfangspunkt) , aber auch selbst zum „Jetzt" gemacht werden kann). Genauer ist die Centrierung von Raum und Zeit auf einen Koordinaten- Anfangspunkt, auf ein „Hier" und „Jetzt", das be- liebig verschoben werden kann, ein Stück der Centrierung aller Erfahrungswelt auf ein unmittelbar Gegebenes, auf das gleichfalls beliebig verschiebbare „Augenblicksich" : eben darauf beruht der Nerv der Beweisführung in Kants transzendentaler Ästhetik. Raum und Zeit sind die Formen der Körperwelt, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Existenz, Raum und Zeit aber haben eine un- aufhebbare Beziehung auf jenen Mittelpunkt, der genauer der Standpunkt des erfahrenden Ich ist, also eignet auch der Körper- Realismus und Positivismus. 511 weit diese unaufhebbare Beziehung, ist sie nur als Welt möglicher Erfahrung, bezogen auf ein erfahrendes Ich, denkbar. In der hier gegebenen Darstellung nimmt dieser Gedankengang die folgende Form an: Alles "Wirkliche ist ein Wirkliches in der Zeit — in einem bestimmten Zeitmoment — jeder Zeitmoment erhält seine Stellung durch seine Vergangenheits- und Zukunftsbeziehungen zu einem „Jetzt" — „Vergangenes" und „Zukünftiges" in Beziehung und Gegensatz zu einem „Jetzt" bedeutet: in der Weise der Er- innerung und in der Weise der Erwartung mittelbar Gegebenes sich abhebend von einem unmittelbar Gegebenen. (Für ein Be- wußtsein, das keine Erinnerung besäße, wäre „Vergangenheit" ein ebenso sinnleeres Wort, wie das Wort „rot" für den Farben- blinden). Vielleicht wendet man nun hiergegen ein: das Gesagte gelte für die unmittelbar erlebte, aber eben nicht für die real existierende Zeit. Ich erlebe einen Gegenstand als vergangen heißt: ich er- innere mich seiner — dagegen: der Gegenstand ist vergangen heißt: ihm kommt diese bestimmte Seinsweise zu, die ich als Grund dafür betrachte, daß ich ihn nur in der Weise des Er- innerns zu erleben vermag, die aher nicht mit jenem Erlebtsein zusammenfällt. Der Einwand kann offenbar erweitert werden: das Reale ist der gedachte Grund des Gegebenen und seiner Zusammenhänge. Die reale rote Farbe, die als Eigenschaft des vor mir liegenden Löschblatts wirklich existiert, ist das dem ge- sehenen oder gegebenen Farbquale „zu Grunde liegende", das sich seiner Ähnlichkeit und Verschiedenheit nach zu dem andern realen (den gegebenen Farbquales Grün, Blau usw. zu Grunde liegenden) Farben verhält, wie das gegebene Rot zum gegebenen Blau usw., das überhaupt zu den sonstigen realen Gegenständen in Beziehungen steht, die den Beziehungen der gegebenen Inhalte entsprechen, denen jene Realien zu Grunde liegen. Die „erschlossene" Welt des Realen wäre danach eine Welt, die in ihrem Quäle nicht selbst dem Quäle der Welt des Gegebenen ähnlich oder gleich ist, die aber in den Beziehungen ihrer Bestandteile zu einander den Be- ziehungen der gegebenen Inhalte entspricht und die endlich in dem besonderen Verhältnis des „Grundes" zum „Gegründeten" zur Welt des Gegebenen steht. Hiergegen wäre nun zunächst die Frage zu stellen, was denn das für ein Verhältnis von Grund und Folge sein soll, von dem hier die Rede ist? Für die Worte, die Beziehungen oder Ver- 512 Ernst v. Aster, hältnisse benennen, gilt doch zunächst offenbar dasselbe wie für alle Worte: sie müssen ihren Sinn irgendwie zurGegebenheit bringen, sonst bleibt das Wort leer. Wo und wann erleben wir denjenigen Zusammenhang von „Grund und ,Folge', der Reales" und phänonomenal Gegebenes verknüpfen soll (und der natürlich kein Zusammenhang zeitlicher Folge sein kann) ? Nun, diese Frage ließe sich vielleicht noch beantworten: Von dem phänomenal ge- gebenen Wahrnehmungsinhalt erstreckt sich eine nach Erfüllung gleichsam suchende Relation, die wir unmittelbar erleben — das andre Glied dieser Relation freilich kann nicht gegeben, es kann eben nur als Endglied dieser Relation — als „ Grund" des Wahr- nehmungsinhalts — bestimmt oder gedacht sein. Allein hier ent- steht nun eine tiefere Schwierigkeit: Das „Reale" ist selbst rea- liter Grund der Phänomene, nicht blos phänomenaliter, wir sagen, das Reale sei Grund des Wahrnehmungsphänomens, nicht etwa, es werde als solcher erlebt, das Relationserlebnis ist also nur der im Bewußtsein gegebene Ausgangspunkt, von dem aus wir zur An- nahme eines realen Verhältnisses zwischen dem realen Ding und dem Wahrnehmungsphänomen kommen. Damit aber wiederholt sich hier offenbar genau dieselbe Frage wie oben: Was meinen wir mit der real bestehenden Relation, von der uns die phänomenal gegebene Kunde gibt, mit welchem Recht und Sinn sprechen wir von der ersteren? Soll auch hier das Phänomenale — das phä- nomenale Relationserlebnis — für unser Bewußtsein in einem Re- alen — einer realen Relation — „gründen" ? Dann sind wir offen- bar bei einem unendlichen Regreß angelangt. Und nun noch weiter. Soll der „Grund" der Wahrnehmungs- phänomene nicht in einem ewig unbekannten und unbestimmbaren Ding an sich liegen, soll das Reale irgend eine positive Bedeutung für die Erkenntnis, im Besondren die wissenschaftliche Erkenntnis haben, so müssen wir auf die Realen, wie schon hervorgehoben, die Beziehungen übertragen, die zwischen den entsprechenden Phänomenen bestehen, wir müssen sie also als ähnlich, gleich und verschieden, als einheitlich und mannigfaltige Teile in sich schließend etwa betrachten. Es müssen solche Relationsbegriffe auf sie an- wendbar sein. Was heißt aber „gleich" und „verschieden"? Es sind offenbar Bewußtseinsphänomene, auf die uns diese Worte zurückweisen, Phänomene, von denen schon andeutungsweise ge- sprochen wurde: die „Verschiedenheit" zweier Inhalte erleben wir in ihrem sich von einander Abheben im Ganzen eines Bewußtseins- Realismus und Positivismus. 513 lebens. Und zwar handelt es sich hier, wie wir wissen, nicht nur um Bewußtseinsinhalte beliebiger Art, wie Farben und Töne, son- dern um die Phänomene d e s Bewußtseins, ohne die kein Bewußt- sein vorstellbar ist: alles „Bewußtsein" ist zugleich ein „Unter- scheiden" „eines" Inhalts , der zugleich eine „ Mannigfaltigkeit " enthält und seiner Umgebung als mehr oder weniger ähnlich ge- funden wird. Ohne diese Relationsphänomene, die zugleich den einzelnen Inhalt in ein Bewußtseinsganzes eingliedern, ist kein Be- wußtsein möglich, aber auch jedes Unterscheiden, Zergliedern, Wiedererkennen — alle diese Tatbestände, ohne die die Begriffe der Gleichheit, Verschiedenheit usw. ebenso zu sinnleeren Worten werden , wie der Begriff der Vergangenheit ohne den Tatbestand der Erinnerung — ist nur innerhalb eines Bewußtseinslebens mög- lich. Jene Relationsphänomene sind Konstituentien , wenn man will „Formen" eines Bewußtseins überhaupt und damit auch jedes Bewußtseinsinhalts. So wird auch jeder Gegenstand, an den solche Relationsphänomene sich knüpfen, eben damit als „Bewußtseins- inhalt" in einem Bewußt seinsieben charakterisiert. Es ist möglich, hier noch einen Schritt weiter zu gehen. Jedes Bewußtsein ist Ichbewußtsein — Bewußtsein eines Ich- und Gegen- standsbewußtsein — Bewußtsein von Gegenständen. Oder jedes Bewußtsein hat eine Ich- und eine Gegenstandsseite, einen subjek- tiven und einen objektiven Pol. Es ist Gegenstandsbewußtsein, sofern sich in ihm einheitliche, unterschiedliche Gegenstände ab- zeichnen, Inhalte, die als umschlossene Einheiten einander und der fließenden Bewußtseinseinheit, in der sie sich abheben, „gegenüber stehen," es ist Ichbewußtsein, sofern es eben als fließende Einheit mit kontinuierlich wechselnden Phasen, als ein Bewußtseinsleben (bezw. als Phase desselben) erlebt wird. Nun sind es eben die Relationsphänomene, die die „Gegenstände" zur Abhebung vonein- ander bringen : ohne Verschiedenheits- und Gleichheitserlebnis keine Mannigfaltigkeit von Gegenständen. Aber ohne die verknüpfenden Relationsphänomene würden die Gegenstände sich auch wiederum nicht als Inhalte eines Bewußtseins, als Glieder eines und des- selben Bewußtseinslebens darstellen. So sind die Relationserleb- nisse zugleich wenn auch in verschiedener Weise, die Konstituen- tien des Ich- und des Gegenstandsbewußtseins, sie sind Kantisch gesprochen die Formen der „Einheit der transzendentalen Apper- zeption", die sowohl Gegenstands- wie Icheinheit ist. Dasselbe verknüpfende und scheidende Relationsbewußtsein, das die Summe 514 Ernst v. Aster, der Gegenstände, läßt auch das eine sie denkende Ich in unserm Bewußtsein entstehen. Was bedeutet es nun, wenn wir zwei Inhalten gegenüber nicht nur behaupten, daß an sie sich ein Gleichheits- oder Verschieden- heitsbewußtsein knüpfe , sondern daß sie gleich oder verschieden ;; seien"? Wir betrachten zwei Farben bei Lampenlicht , die „gleich aussehen". Wir behaupten, daß sie „in Wirklichkeit" nicht gleich, sondern verschieden seien. Es ist klar, daß wir uns in dieser Behauptung auf weitere, zukünftige Vergleiche beziehen, erwartend beziehen und zugleich ist klar, daß diese weiteren Ver- gleiche in ihrer Gesamtheit nicht mehr den jetzt und hier ver- glichenen zwei Inhalten, -sondern Dingeinheiten und damit auf kon- tinuierlich sich wandelnden Inhaltsganzen gelten. Diese „Farbe", d. h. das Ding, das ich diese Farbe nenne, sieht in der Dämme- rung grau, in der Nacht schwarz, bei Lampenlicht grün und bei Tageslicht blau aus, sie ist realiter blau im Unterschied zu jener anderen Farbe, die auch in der Dämmerung grau, im Dunkeln schwarz und im Lampenlicht grün erscheint. Und ebenso sind diese beiden Farben verschieden — d. h. es werden sich Bedin- gungen finden lassen, unter denen sie sich dem Vergleich ver- schieden darstellen, obgleich sie wie Jeder weiß, unter andern Be- dingungen gleich erscheinen. Es ist also zweierlei festzuhalten : Wenn wir von zwei Gegen- ständen sagen, sie „seien" gleich oder verschieden, so bezieht sich dieses Urteil nicht auf gegebene Inhalte als solche — diese In- halte können als gleich oder verschieden erlebt werden, aber sie können es nicht sein — sondern auf „Dinge" , die als „dieselben" Dinge unter verschiedenen Bedingungen betrachtet werden, also in einer kontinuierlichen Abfolge wechselnder Inhalte sich dar- stellen können. Diese Dinge selbst als identische Einheiten sind fiktive Gebilde, fingierte Gegenstände, die in unserm Denken oder vielmehr in unserm Sprechen entstehen, indem wir ein ein- heitliches Wort für die wechselnden Erscheinungen setzen, sofern diese selbst sich wechselseitig vertreten können. „Vertreten" aber bedeutet hier allemal : Vertreten in Bezug auf das Kommende, das Zukünftige, das zu Erwartende, als Anzeichen oder Vorzeichen des Kommenden. Als solches Vorzeichen, in dieser symbolischen Bedeutung des Kommenden sind die Erscheinungen „desselben" Dinges identisch und in dieser Identität bezeichnet sie der Ding- name. (Daß dieser Dingname vielfach mit dem Namen der cha- Realismus und Positivismus. 515 rakteristischen Erscheinung gleichlautend ist, wie bei den Farbbe- zeichnungen etwa, bedarf wohl keiner besondren Erklärung). Diese Dinge „sind" gleich und verschieden, das will sagen: ihre Gleich- heit und Verschiedenheit, die wir in unsern Grleichheits- und Ver- schiedenheitserlebnissen erkennen , verhält sich zu diesen Erleb- nissen, wie eben das „Ding" überall sich zur „Erscheinung" ver- hält, sie ist in demselben Sinn eine Fiktion und in demselben Sinn gegründet auf einen Erwartungszusammenhang von Phänomenen, wie das von dem „Ding" gesagt werden kann. — Je*tzt ist es endlich möglich, die letzte noch übrig bleibende Frage zu beantworten. Alles Erkennen stellt sich die Aufgabe, seinen Gegenstand, die „Welt", in seiner Gesetzmäßigkeit zu er- kennen. Nun ist das Gegebene selbst wesentlich zufällig, unzu- sammenhängend (unzusammenhängend im Sinn des durch die Wissen- schaft gesuchten Funktional- und Kausalzusammenhangs, also ab- gesehen von dem unmittelbar erlebten Zusammenhang des Bewußt- seinslebens, in das alles Gregebene als „Phase" oder „Gegenstand" eingebettet ist). Nie wäre es möglich, die gegebenen Inhalte allein in einen geschlossenen Kausalzusammenhang zu bringen. Andrerseits weisen sie unverkennbar hin auf das Bestehen eines solchen Zusammenhangs, der aber im Gegebenen selbst eben nur bruchstückweise sich darstellt, weil die „Welt" im „Gregebenen" nur bruchstückweise uns entgegentritt. Die Argumentation hat etwas Überzeugendes und ist auch in gewisser Weise durchaus richtig. Die Flamme, die ich vor einer Viertelstunde im Ofen sah und die Asche, die ich jetzt in ihm sehe, werden zu Gliedern eines gesetzmäßigen Zusammenhangs erst, indem ich sie durch den Gedanken eines die ganze Zeit hindurch im Ofen brennenden Feuers verknüpfe. Dieses Feuer aber ist eben nicht wahrgenommen, kein Gegebenes, es existierte realiter, ohne gegeben zu sein. Indessen: das was ich hier phantasiemäßig ergänzend hinzufüge, ist gleichwohl ein Inbegriff, eine Kette von Wahrnehmungen, die das zuerst gesehene Feuer und die zu- letzt gesehene Asche zum Ganzen einer kontinuierlichen Ding- erscheinung ergänzen. Diese Wahrnehmungen sind in derselben Weise als zu erwartende vorgestellt, wie die übrigen Erscheinungen eines Dinges, das von einer Seite gesehen vor uns steht. Jene Wahrnehmungen wären zu erwarten gewesen, wenn wir zur rechten Zeit hingesehen hätten, sie sind noch jetzt zu erwarten, nämlich als Erinnerungsbilder im Bewußtsein eines Andern, der 516 Ernst v. Aster, das Feuer in der Zwischenzeit etwa betrachtete. Genauer hegen wir diese Erwartungen nicht ausdrücklich, aber sie sind impliziert sobald wir das brennende Feuer und die Asche als „dasselbe", nämlich dasselbe Ding (denselben dinglichen Vorgang) identifizieren. Wir wissen: zwei gegebene Inhalte als Erscheinungen „desselben Dinges" auf einander beziehen und identifizieren heißt: sie als an- zeigende Symbole derselben Inhalte, also als Ausgangspunkt der- selben Erwartungen (Erwartungen nach vorwärts und nach rück- wärts) sprachlich bezeichnen und identifizieren. So ist also in der Tat die Welt des Gregebenen unzusammenhängend, die des ding- lich Realen funktionell und kausal zusammenhängend, ein Zu- sammenhang, der uns auch tatsächlich durch den fragmentarischen Zusammenhang der gegebenen Wahrnehmnngen nahe gelegt wird, aber dieser Zusammenhang entpuppt sich dann bei genauerem Zu- sehen doch als ein Zusammenhang von Gregebenem, nämlich er- wartetem Gregebenen. Fordert indessen nicht die Gesetzmäßigkeit der Wahrnehmungs- inhalte eine Erklärung? Und kann diese Erklärung nicht nur ge- funden werden in der Bedingtheit der Wahrnehmungen durch eine kausal zusammenhängende dinglich reale Welt? Mir scheint die hier vorliegende Frage und Antwort so wenig sinnvoll zu sein, wie die bekannte „Erklärung", die die Erde auf dem Elefanten, diesen auf der Schildkröte ruhen läßt. Bleiben wir bei der Ge- setzmäßigkeit der Wahrnehmungsinhalte nicht stehen, sondern führen sie auf eine Gesetzmäßigkeit der Dinge zurück, so ist nicht einzusehen, warum nicht auch nach einem weiteren Grunde dieser Gesetzmäßigkeit gefragt werden sollte u. s. f. Allerdings hat es einen guten Sinn, auf die Frage, „ warum u ytiv an jener Stelle erst einen leuchtenden Schein, dann rauchende Asche sahen, zu antworten: „weil" dort ein Feuer brannte, das wir sahen. Die Erklärung, die wir hier geben, hat die Bedeutung, daß sie einfach die hier gegebene Wahrnehmungsfolge als Spezialfall eines allge- meinen Gesetzes anspricht. Der Sinn der Behauptung, das Wahr- genommene „sei" Feuer, ist kein andrer, als der, es sei der Aus- gangspunkt dieser und jener gültiger Erwartungen (Erwartungen- nicht Erwartungserlebnisse: der Unterschied wurde weiter oben genannt und begründet), als deren Erfüllung eben auch der leuch- tende Schein, wie die rauchende Asche angesehen werden kann. — Die vorigen kurzen Ausführungen sollten weder die positivi- stische Erkenntnistheorie beweisen, noch den realistischen Stand- Kealismus und Positivismus. 517 punkt widerlegen. Sie sollte sich nur gegen die oben angeführten Argumente wenden. Die tiefere Entgegensetzung beider Stand- punkte müßte mit der Diskussion des Gegenstandsbegriffs und da- mit zugleich des Bewußtseins auf beiden Seiten einsetzen. Der Standpunkt, von dem der Positivismus hier gefaßt ist, dürfte klar sein. Er ruht auf der Fassung, die H. Cornelius der Erkennt- nistheorie gegeben hat und zugleich auf der Fiktionenlehre H. Yai- hingers. Kantutudien. XXVU. 34 Kant-Gesellschaft. Bericht über die Generalversammlung der Kant- Gesellschaft am 7. und 8. Juni 1922 in Halle a. S, Am Mittwoch, den 7. Juni abends, begann die satzungsmäßige, Ton inländischen und ausländischen Mitgliedern außerordentlich reich besuchte Generalversammlung mit einem zwanglosen Beisammensein im Vereinshaus, Halle, Mittelstraße. — Die geschäftliche Sitzung fand unter Leitung des Vorstandes, des Geh. Oberreg.-Rates Dr. med. h. c. Meyer, Kurators der Universität Halle- Wittenberg, dann am Donnerstag, den 8. Juni in der Aula der Uni- versität statt. Die einzelnen Punkte der Tagesordnung wurden wie folgt erledigt : a) Auf Antrag der Geschäftsführer wurde von der Versammlung für die Jahresrechnung 1920 Entlastung erteilt. Sie war in den Kant- Studien Bd. XXVI, Heft 3—4, S. 513—517 vollständig veröffentlicht und nach Prüfung durch das Kuratorium der Universität Halle- Wittenberg vom Verwaltungsausschuß genehmigt worden. b) Die Jahresrechnung 1921, die ebenfalls schon geprüft und vom Verwaltungsausschuß genehmigt war, wurde nach Verlesung auch von der Versammlung genehmigt; der Geschäftsführung wurde Entlastung erteilt. Sie ist abgedruckt in den Kant-Studien, Band XXVII, Heft 3—4, S. 521—524. C) Die wechselnden Mitglieder des Verwaltungs-Ausschusses: Stammler, Cassirer, Lehmann, Liebert wurden einstimmig wieder- gewählt. An Stelle des verstorbenen Geh. -Rat Gerhard -Halle wurde der Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Abderhalden, o. ö. Professor an der Uni- versität Halle, einstimmig in den Verwaltungsausschuß gewählt. Sodann wurde auf Antrag des stellv. Geschäftsführers Liebert Priv.- Doz. Dr. Ottomar Wichmann- Halle, der Vorsitzende der Hallenser Ortsgruppe der K.-G., einstimmig in den Verwaltungsausschuß gewählt. d) Die beiden Geschäftsführer Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. H. Vai- hinger-Halle und Prof. Dr. A. Liebert-Berlin, werden einstimmig wieder- gewählt. e) Die Erörterung über eine Erweiterung des Verwaltungs- ausschusses wurde von der Tagesordnung abgesetzt. f) Prof. Dr. Liebert berichtete über die Entwicklung der K.G. und der Ortsgruppen: Die Zahl der Mitglieder der K.G. ist in ständigem, sehr lebhaftem Wachstum begriffen. 1920 waren es 2427, 1921 über 3000 und in diesem Kant-Gesellschaft. 519 Jahre werden die 4000 überschritten. Bis zum Tage der Generalversamm- lung sind im Jahre 1922 über 300 neue Jahresmitglieder und 80 neue Förderer eingetreten. So ist die K.G-. die größte philosophische Gesell- schaft der "Welt. Dies dauernde Wachstum der K.G. bezeugt das große, immer noch zunehmende Interesse für die Philosophie. Das zeigt sich auch in der ständig zunehmenden Zahl der Ortsgruppen, über deren Ver- anstaltungen regelmäßig in den Kant-Studien berichtet wird. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Hinsicht die kürzlich erfolgte Gründung der Landesgruppe Holland. (Vgl. den eingehenden Bericht darüber in den Kant-Studien Band XXVII, Heft 1—2, S. 242—243.) g) Auf die Veranstaltungen in Erlangen und die Gründung der Akademie für Philosophie auf dem Burgberg in Erlangen wurde hinge- wiesen. h.) Endlich erfolgte noch eine vorläufige Mitteilung über eine Preis- aufgabe, die voraussichtlich im Herbst dieses Jahres ausgeschrieben werden wird: „Personalistische Strömungen in der Philosophie der Gegen- wart". Preisstifter ist Herr Prof. Dr. Ph. Kohnstamm von der Universität Amsterdam. Näheres vgl. in diesem Heft S. 532 ff. Nach einer kurzen Pause begann dann der zweite, von Prof. Liebert geleitete Teil, der die wissenschaftlichen Mitteilungen und Vorträge umfaßte. i) Als Erstes wurde das Ergebnis derJubiläums-Preisauf- g a b e verkündigt : „Der Einfluß Kants und der von ihm ausgehenden idealistischen Philosophie auf die Männer der Reform- und Erhebungszeit (1806 — 1815)". Von drei eingereichten Arbeiten war eine preisgekrönt worden, deren Verfasser, Studienrat Dr. Wagner-Cöln, anwesend war. Das von den drei Preisrichtern erstattete eingehende Gutachten und die Beschlußfassung über die Zuerteilung des Gesamtpreises an Dr. Wagner sind abgedruckt in diesem Heft der Kant-Studien (Band XXVII, Heft 3 — 4, S. 524 ff.). k) Dann erstattete Studienrat Dr. Schmitt-Königsberg im Auftrage der Ortsgruppe Königsberg der Kantgesellschaft Bericht über die Vorbereitungen der Kantstadt zur Feier von Kants zweihundert jährigem Geburtstag im Jahre 192 4. Es ist beabsichtigt, die StoaKantiana am Dom zu Königsberg, Kants Grabmal, neu herzurichten, sowie in der Universität ein Kantzimmer einzu- richten, das Andenken aller Art an Kant aufnehmen soll. Ferner plant die Ortsgruppe Königsberg der K.G. die Herausgabe eines Sammel- werkes : „K ant im Bilde", das eine möglichst vollständige Sammlung aller Bilder von Kant bieten soll. Die Vorarbeiten dazu sind seit einiger Zeit im Gange; die Ortsgruppe Königsberg bittet um allseitige Unter- stützung ihres Unternehmens. — (Die Kant- Gesellschaft hat diesen Plan durch Ueberweisung von 10000. — Mk. gefördert.) 1) Nach dieser Einleitung erfolgten dann die wissenschaftlichen Vor- träge. Am Vormittag sprachen: 1) Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Ernst Troeltsch-Berlin über: „Die Logik 34* 520 Kant-Gesellschaft. des historischen Entwicklungsbegriffes". (Der Vortrag ist in dem vorlie- genden Heft der Kant- Studien veröffentlicht.) 2) Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Theodor Ziehen-Halle : „Zum Begriff und zur Methode der Geschichtsphilosophie". (Dieser Vortrag wird voraus- sichtlich im ersten Heft des nächsten Jahrganges der Kant -Studien er- scheinen.) An beide Vorträge schloß sich eine äußerst angeregte Aussprache an, bei der Vertreter der verschiedensten philosophischen Richtungen zu Worte kamen. Vor dem Mittagessen wurde auf der Freitreppe der Universität eine vortrefflich gelungene Gruppenaufnahme gemacht. (Das Bild ist gegen Nach- nahme von 50 Mk. zu beziehen von Photograph A. Pieperhoff, Halle, Poststr. 15.) m) Nach dem gemeinsamen Mittagessen sprachen 1) Prof. Dr. Emil Utitz-Rostock „Zur Grundlegung einer allgemeinen Kunstwissenschaft" und 2) Den Schlußvortrag hielt Graf Hermann-Keyserling- Darmstadt über das Thema : „Der Weg des wahren Fort- schritts". Die Ausführungen dieses Vortrages finden sich in größerem Umfange in dem im Herbst erscheinenden Buche des Grafen Keyserling „Schöpferische Erkenntnis". Damit schloß die eigentliche Tagung. Am Freitag Vormittag wurde dann noch von einer Anzahl von Teil- nehmern ein gemeinsamer Ausflug nach Merseburg unternommen und dort der Dom, das Domkapitel und das Schloß besichtigt. Der Dom, der mit seinen ältesten Teilen bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht, ist kunst- geschichtlich recht interessant und birgt viele Schätze. In der Bibliothek des Domkapitels finden sich viele alte Handschriften, u. a. die „Merse- burger Zaubersprüche", das älteste althochdeutsche Literaturdenkmal. Durch Vermittlung von Herrn Prof. Utitz war es dann am Nachmittag noch möglich, die Kunstwerkstätten auf der Unterburg Giebichenstein zu besichtigen, wozu sich noch ein Kreis zusammenfand, der dort viel Schönes und Interessantes zu sehen bekam. — Damit war die diesjährige Generalversammlung zu Ende. Wie dieses Mal so wird es hoffentlich auch zur nächsten General- versammlung gelingen, Privatquartiere in genügender Anzahl zu beschaffen, so daß die Kostenfrage für den einzelnen Teilnehmer eine angenehme Lösung finden kann. Halle a. S. Kurt Nitzschke. Kant-Gesellschaft. 521 XVIII. Jahresbericht 1921 I. Einnahmen. 1. Jahresbeiträge: 1921 (einschließlich der freiwilligen Erhöhungen) 2. Jahresbeiträge: Nachzahlungen für frühere Jahre . 3. Zinsen der Kant-Stiftung (durch die Universitäts- kasse Halle a. S.) 4. Bankzinsen in Halle u. Berlin aus verschiedenen Kontos 5. Einnahmen durch den Verkauf von Veröffentlichungen : a) Ergänzungshefte: 608.50 b) Vorträge: 749.40 c) Neudrucke: 430.40 < d) Ergänz.-Heft 50 (Adickes): 1236.25' e) Teuerungs- und Valutazu- schläge: 867.95 6. Zuschuß von Dr. Konrad Wiederhold zur Herstellung seines Ergänzungsheftes 52 (vgl. Punkt 3 der Ausgaben) 7. Zuschuß von Dr. Rudolf Carnap zur Herstellung seines Ergänzungsheftes 56 *) (vgl. Punkt 9) 8. Zuschuß von Dr. Karl Mannheim zur Herstellung seines Ergänzungsheftes 57: 1. Kate1) 9. Beisteuer seitens verschiedener Mitglieder zur Her- stellung des Ergänzungsheftes 56 (Carnap); vgl. Punkt 7 10. Beisteuer von F. A. Waldmann, Osnabrück für eine beabsichtigte Veröffentlichung von Erich Adickes; wahr- scheinlich für „Kant und die Naturwissenschaften" . . 11. Spende: Universitäts-Bibliothek Basel 12. Spende: Dr. Brandt, Hedemora 13. Spende: Fred Braun, Zürich 14. Spende: Frau Dr. Alma Brunies, Basel 15. Spende: Prof. Clav, Bandong ........ 16. Spende: Rechtsanwalt Goldberg, Berlin 17. Spende: Dr. Felix Groß, Wien 18. Spende: Prof. Dr. Joerges, Halle 19. Spende: Prof. Dr. Kohnstamm, Amsterdam .... 20. Spende: Prof. Dr. Kuhn, Kopenhagen 21. Spende: Magistrat Königsberg i. Pr 22. Spende: Magistrat Königsberg i. Pr. Uebertrag Mk. 100390 690 1606 2062 3892 9930 1500 3000 900 2000 118 100 107 100 200 100 100 200 60 00 32 15 50 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 35000 20000 200 200 127946 57 00 00 1) Die Ergänzungshefte 56 (Carnap) und 57 (Mannheim) wurden den Mit- gliedern der Kant-Gesellschaft im Laufe des Jahres 1922 zugestellt. 522 Kant-Gesellschaft. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. Uebertrag Mk. Spende: Schaffhausen, Munot- Verein Spende: Prof. Nef, St. Gallen Spende: Dr. Ninck, Winterthur Spende: Prof. Oyama, Freiburg Spende: Dr. H. J. Pos, Amsterdam Spende: Dr. M. Simmen, Luzern Spende: Robert Sostberg, Berlin Spende: Prof. Dr. Tumarkin, Bern Spende: Dr. Vannerus, Stockholm Spende: Prof. Wolff, Basel Spenden in geringerer Höhe Einnahmen durch den Verkauf einzelner Veröffent- lichungen an verschiedene Mitglieder Einnahmen durch den direkten Verkauf des Ergänzungs- heftes 50 (Adickes) (vgl. Punkt 5 d) durch Einzahlung bei der Geschäftsstelle Einnahmen durch nachträgliche Gutschrift auf frühere Papierlieferung und für früher bezahlte Verpackung der Papierballen (betrifft die Lieferung des Papiers für die „Kant-Studien") Zinsen der Emil Sidler-Preisaufgabe : 2 Jahre . . . (Kapital der Stiftung: 5000 Mk.). Die Preisauf- gabe gelangt erst zu einem späteren Termin zur Ausschreibung. Beiträge für die Ortsgruppe Berlin . Für das Verleihen der Mitgliederliste an verschiedene Verlagsbuchhandlungen Spende: Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volks- bildung Zinsen vom Fernsprechamt für den Fernsprecher . . Einnahme aus dem Kapital des Fördererfonds; ent- nommen zur Deckung des Unterschusses und zum Aus- gleich zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Jahres 1921 J) Gesamteinnahmen Mk. 127946 200 100 100 200 200 460 100 200 100 100 1205 1310 432 696 898 1074 401 2000 21 37377 33 57 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 90 50 00 10 75 00 00 00 60 17512375 1) Nach den Bestimmungen der „Förderer" werden die Mittel des „Förderer- fonds" der Geschäftsführung zur Verfügung gestellt zur Ermöglichung der Zwecke der Kant-Gesellschaft ; die Geschäftsführung ist verpflichtet, über die Verwendung dem Verwaltungsausschuß und der Allgemeinen Mitglieder- Versammlung Rechen- schaft abzulegen. — Die Einrichtung dieses Fördererfonds ist auf Grund eines Berichtes seitens der Geschäftsführung vom Vewaltungsausschuß der Kant-Gesell- schaft genehmigt worden (26. Januar 1920). Vgl. Kant- Studien, Band XXV, Heft 1 S. 84 ff. — lieber die Höhe dieses Fonds und über die demselben zugeführten Beträge wird regelmäßig in den Kant-Studien Bericht erstattet. Vaihinger. Lieber t. Kant-Gesellschaft. 523 IL Ausgaben. 1. Honorare an die Mitarbeiter 2. Kant-Studien; Gesamtherstellungskosten : Papier, Satz, Druck, Umschlag, Broschur 3. Drei Ergänzungshefte: Satz, Druck, Papier, Bro- schur, Redaktion usw. a) Nr. 52 (Wiederhold) = 9940.90 *) ) b) „ 53 (Ewald) = 6978.25 2) } c) „ 54 (Goedeckemeyer) = 12356.00 ) 4. Zwei Vorträge: Satz, Druck, Papier, Broschur, Re- daktion usw. a) Nr. 24, 2. Aufl. (Radbruch-Tillich) = 4345.00 j b) Nr. 26 (Scholz) = 7587.70 j 5. Versendungskosten für die Veröffentlichungen der Kant-Gesellschaft (Generalversendung): Kant-Studien; Ergänzungshefte, Vorträge; Porti, Verpackungspappen, Bindfaden, Arbeitslohn 6. Frachtkosten, bes. für den Verkehr usw. mit der Papier- fabrik und den Druckereien : Porti für Fracht der Papier- ballen auf der Eisenbahn an die verschiedenen Druckereien 7. Verschiedene Drucksachen: Neujahrsmitteilungen, verschiedene Prospekte, Werbe- und Auskunftsmaterial, Interessentenformulare, Eintrittskarten zu den Vorträgen, Mitgliedskarten, Postkarten, Mahnbriefe, Satzungen usw. 8. Repräsentationsausgaben und Reisen des stell- vertr. Geschäftsführers nach Halle und nach anderen Städten zu Vorträgen in verschiedenen Ortsgruppen, verschiedener Redner zu Vorträgen usw 9. Beiträge an wissenschaftliche Gesellschaften und Unter- nehmungen 10. Verschiedenes: Zustellungs- und Einziehungsgebühren für die Jahresbeiträge; Gebühren an die Deutsche Bank für die Verwaltung der Gelder; Abonnement auf die Deutsche Literatur - Zeitung ; Beschaffung einzelner Zeit- schriften und Rezensionsexemplare für die Kant - Studien ; Buchbinderarbeiten; Aktenpapier; Briefbogen; Umschläge; Tinte; Federn; Bleistifte; Packmaterial; Bindfaden; Gummi- stempel; Klammern; Telegramme; Versicherungsmarken für Uebertrag Mk. 8659 51684 29275 11933 18317 5158 4712 2894 189 65 05 15 70 85 45 50 45 00 13282480 1) Vgl. Nr. 6 der Einnahmen: Zuschuß des Verfassers: 9930.00 Mk. 2) Laut Jahresbericht 1920, No. 9 der Einnahmen wurden zur Herstellung dieses Ergänzungsheftes von verschiedenen Mitgliedern beigesteuert: 4550.00 Mk. (Diese Summe bereits unter den Einnahmen des Rechnungsjahres 1920 gebucht.) 524 Kant-Gesellschaft. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. Uebertrag Mk. die Sekretärin ; Gebühren für die Ortskrankenkasse ; Farb- bänder; Veranstaltung der Vorträge; Kontobücher für die Mitgliederlisten; Formulare für die Auslandssendungen; Zahlkarten usw Lieferung früherer Jahrgänge der Kant-Studien, Ergänzungshefte, Vorträge, Neudrucke an Universitäts- seminare und an verschiedene Mitglieder und Bibliotheken Zuschüsse für die Ortsgruppen Karlsruhe i. B. Hannover, Stuttgart, Heidelberg Schreibhilfe: a) Vaihinger = 486.00 ) b) Frischeisen-Köhler = 950.50 | c) Liebert = 6419.90 ) Porto-Ausgaben: a) Vaihinger = 264 Nummern = 197.50 ) b) Frischeisen-Köhler = 321 „ = 261.75 | c) Liebert = 15018 „ = 4300.65 ) Fernsprecher Entschädigung für den stell v. Geschäftsführer Prof. Liebert Entschädigung für den Assistenten Gesamtausgaben Mk Zusammenstellung: Einnahmen 175123.75 Mk. Ausgaben 175123.75 „ 132824 4131 910 1200 7856 4759 990 20000 2450 175123 80 25 90 00 40 90 50 00 00 75 Siebente (Jubiläums-)Preisaufgabe. Urteile der Preisrichter. Die Kant-Gesellschaft hat im Oktober 1913 als Preisaufgabe das Thema gestellt: „Der Einfluß Kants und der von ihm ausgehenden deutschen idealistischen Philosophie auf die Männer der Heform- und Erhebungszeit." Nach wiederholter Fristverlängerung sind bis zum endgiltigen Ab- lieferungstermin, dem 22. April 1921, folgende drei, durch Kennworte be- zeichnete Arbeiten eingegangen: 1. „Das Zeitalter kann nur durch den. Geist geheilt und gekräftigt werden". E. M. Arndt, 120 Seiten, Folio, Handschrift. 2. „Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal". Jean Paul, 179 Seiten Quart, Hand- schrift. 3. „Zur Form". 91 Seiten Folio, Maschinenschrift, Die unterzeichneten Preisrichter stimmen in der Auffassung überein, daß wesentlich neue Zusammenhänge in Bezug auf das Thema nicht mehr Kant-Gesellschaft. 525 zu entdecken waren, daß aber die Aufgabe, die Fülle quellenmäßig fest- stehender Einzelzüge zu einem historischen Gemälde zu vereinigen, um so schwieriger war, als dabei die verschiedensten Geistesgebiete durchschritten werden mußten. Auch lag die Gefahr nahe, die Kraft bloß literarischer Einflüsse zu überschätzen, oder alles auf Kant als eine Art Zentralsonne zurückzuführen, während vieles in "Wahrheit aus der Aufklärung, der fran- zösischen Revolution, dem Physiokratismus usw. abzuleiten ist. Umgekehrt bestätigen die eingegangenen Arbeiten, daß das Ethos großer Denker auch auf solche Zeitgenossen ausstrahlen kann, die in die strenge rationale Be- gründung ihrer philosophischen Systeme niemals eingedrungen sind. Die wünschenswerte Verbindung von Quellenforschung, philosophischem Geist und zusammenschauender Darstellungsgabe findet sich in keiner der vorliegenden Abhandlungen. Infolgedessen sind auch gewisse philosophische Hauptpunkte nicht so herausgekommen, wie es der historische Sachverhalt forderte. Man hätte vor allem eine genaue Abgrenzung erwartet, wie groß der Anteil der strengen Kantischen Lehre einerseits, der besonders von Fichte und Schelling ausgehenden spekulativen Philosophie andererseits ein- zuschätzen ist. Das Kriterium für die über Kant hinausgehenden Lehren hätte sich vermutlich in folgenden drei Hauptpunkten gefunden: in der neuplatonisch gefärbten Ideenlehre, nach der die Ideen metaphysische Weltmächte und nicht bloß Regulative oder Postulate sind; in der Ge- schichtsphilosophie, die die Vernunft selbst in einen planmäßig be- stimmten Entfaltungsprozeß hineinzieht; und endlich in der Konstruktion der Rationalität als einer individuellen Darstellung der ewigen Mensch- heitsidee unter den Bedingungen der Zeit. Eine ganze Anzahl von Re- formen steht auf dem Boden dieser Grundansichten und gehört deshalb mehr in den Einflußbezirk von Fichte als von Kant. Besonders das an- geblich orthodoxe Kantianertum von Th. Schön hätte unter diesem Ge- sichtspunkt nachgeprüft werden müssen. Zusammenhängend sind diese Fragen in keiner der Preisaufgaben behandelt worden. Wohl aber be- handelt die zweite die Einzelabhängigkeiten im allgemeinen richtig, während die dritte das Verdienst hat, von der grundsätzlichen Frage auszugehen, in welchem Sinne von einem „Einflußhaben" auf Geistesformen überhaupt die Rede sein kann. Im einzelnen sind die Preisrichter zu folgenden Urteilen gelangt: 1. Die erste Arbeit mit dem Motto: „Das Zeitalter ..." gibt eine an- genehm lesbare Darstellung in einer Reihe von Einzelbildern, die die Philo- sophen, philosophisch beeinflußten Staatsmänner und einige Dichter dieser Reformzeit an uns vorüberziehen läßt. Jedoch mangelt durchgängig eigentliche Quellenforschung, die die Arbeit erst zu einer wissenschaftlichen erheben würde. Dies gilt schon von dem ersten Teil, der sich mit Kant, Schiller und Fichte in recht populärer und zum Teil oberflächlicher Form beschäftigt. Im Abschnitt über die Staatsmänner ist zwar Vollständigkeit der Namen angestrebt, dabei aber mancher herangezogen, der zu dem Geist der preußischen Reform nur in sehr entfernten Beziehungen steht. Die flüchtigen Schlußbemerkungen über die Dichter müßten, wenn man diese überhaupt berücksichtigt, wesentlich vertieft werden, besonders unter' Ver- wertung der inzwischen neu erschienenen Untersuchungen von Ernst Cassierer. 526 Kant-Gesellschaft. — Als Ganzes hat die Arbeit nur den Wert einer anregenden Uebersicht, nicht aber einer wissenschaftlichen Forschung oder auch nur einer ab- schließenden gründlichen Verarbeitung fremder Ergebnisse. 2. Wesentlich höher steht die Arbeit mit dem Motto: „Kant ist . . . ein ganzes Sonnensystem". Sie beruht auf eigener Quellenbenutzung, die sich allerdings auf gedrucktes Material beschränkt und auch dies nicht er- schöpfend heranzieht. Die Darstellung ist so angelegt, daß die Persönlich- keiten der Politiker in den Vordergrund gerückt werden, von Stein, Harden- berg und Altenstein an über Humboldt, Süvern und eine Anzahl mehr in zweiter Linie stehender Männer bis zu den Trägern der Heeresreform. Ihre geistige und politische Individualität wird im allgemeinen zutreffend ge- schildert ; auch Einzelheiten der Verfassungsgeschichte werden sorgfältig be- richtet, wobei freilich sehr oft auf Kant und Fichte zurückgeführt wird, was ebenso gut der allgemeinen Zeitatmosphäre oder der ursprünglichen Veranlagung des Betreffenden entstammen kann. Der Hauptmangel der Arbeit liegt darin, daß sie in eine Reihe zusammenhangloser Einzelbilder zerfällt. Sie behandelt den Gegenstand mosaikartig, ohne wirklich durch- dringende und beherrschende Gedanken. Schon die Hauptsache: das philo- sophische Denken der Zeit, gelangt gleichsam nur gelegentlich und nach Personen zerstückt zur Darstellung. Es fehlt aber auch sonst an gestalten- der Phantasie und bildgebender Formkraft. Der Verfasser ist sich dieser Mängel selbst bewußt. In einer Vorbemerkung entschuldigt er sie mit Kriegsbehinderungen und Verwundung. Er ist nicht über eine Folge von Einzelabhandlungen hinausgekommen, in der manches sich wiederholt, an- deres (z. B. der Abschnitt über Altenstein) zu weitschweifig geraten ist, während wieder anderes (z. B. der abschließende Süvernsche Gesetzentwurf von 1819) ergänzt werden müßte. Zur Drucklegung in der vorliegenden Gestalt können die Beurteiler unter keinen Umständen raten. Ob aber eine wirkliche Formgebung gelingt, bleibt abzuwarten. 3. Die dritte Abhandlung endlich mit dem Kennwort „Zur Form" zeigt das größte spekulative Talent, beschäftigt sich aber leider zu wenig mit dem gestellten Thema. Der Verfasser beginnt mit der allerdings interessanten Vorfrage, was man sich unter dem Einfluß einer Philosophie auf Männer und Zeiten zu denken habe, und gibt im übrigen mehr seinen eigenen philosophischen Standpunkt, als daß er Kant oder Fichte oder gar die Politiker der Reformzeit behandelte. Seine Arbeit hat daher etwas Modern-Expressionistisches. Sie ergeht sich in einer überphilosophischen, sich fortwährend verschränkenden, drehenden und windenden Darstellungs- weise, aus der nur das eine greifbar herausspringt, daß Kant als die schlechtweg entscheidende Wendung des deutschen Geisteslebens vergöttert wird. An den historisch gegebenen Zusammenhang des Kantischen Sy- stems hält sich der Verfasser dabei sehr wenig. Er widmet fast zwei Artikel der Arbeit dem Nachweis, daß Kant in seiner apriorischen Frei- heitslehre eine neue „Form" für den deutschen Geist geschaffen habe. Sein Verdienst liege ausschließlich in dieser Richtung, also in seiner Metaphysik, nicht in der Kritik der Wissenschaft, die er zu Unrecht damit verkoppelt habe und die bei Hume viel besser geleistet sei. Auch seine Wirkung auf das öffentliche Leben der Zeit stamme allein aus Kant-Gesellschaft. 527 dem schöpferischen Willen zur Form: „Die Ethik Kants ist eine Anleitung dazu, das Leben in bejahender Form zu leben". — Obgleich nicht ge- leugnet werden kann, daß sich in diesen Ausführungen mancher starke und fruchtbare Gedanke verbirgt, so vermißt man doch zu sehr die Ehrfurcht vor der historischen Tatsache. Schon in die Philosophie Kants wird des Verfassers eigener Stand- punkt mehr durch Willensentscheidungen hineingedrückt, als daß eine histo- risch einführende Interpretation auch nur versucht würde. Aber auch sonst werden die Tatsachen in einer Weise vergewaltigt, daß man sich nichts geschichtsfremderes denken kann. Die moderne Meinung, daß man eine Philosophie nicht darstellen, sondern über sie philosophieren solle, wird hier anscheinend auf die Geschichte überhaupt ausgedehnt; offenbar sind dabei jungdeutsche Konstruktionen der Nationalidee stärker maßgebend gewesen als der historische Sinn. Da nun überdies nach einer so umständlichen Ein- leitung dem Thema selbst, nämlich den Männern der Reformzeit, am Schluß nur etwa zehn Seiten sehr flüchtiger und allgemeiner Bemerkungen ge- widmet werden, so kann die ganze Arbeit nicht eigentlich als Erfüllung der Preisaufgabe betrachtet werden. Sie scheidet — trotz der angedeuteten philosophischen Originalität — für die Beurteilung aus, da sie sich grund- sätzlich nicht auf den Boden der historischen Forschung stellt. — — Nach eingehender Erwägung kommen die Preisrichter sonach zu dem Ergebnis, daß zwar keine der Arbeiten die Hoffnungen ganz erfüllt, die zur Themastellung Anlaß gegeben haben. Denn keine gibt ein wirklich abschließendes Bild des Anteiles der Philosophie an der politischen Be- wegung der preußischen Reformzeit. Jedoch steht die zweite Arbeit (mit dem Motto: „Kant... ist ein ganzes Sonnensystem") infolge ihrer fleißigen und sorgfältigen Einzeluntersuchungen so weit vor den anderen voran, daß ihr trotz der hervorgehobenen Einschränkungen der erste Preis im Betrage von 1500 Mark erteilt werden soll. Die Preisrichter stellen es dabei dem Vorstand der „Kant-Gesellschaft" anheim, wie weit er aus Rücksicht auf den inzwischen erheblich gesunkenen Geldwert den Preis aus den verfugbar bleibenden Summen des zweiten und dritten Preises zu erhöhen geneigt ist. gez. Lenz. Meinecke. Spranger. Anmerkung der Geschäftsführung: Als Verfasser der zweiten Arbeit, also als Preisträger ergab sich, wie bereits oben S. 519 mitgeteilt wurde, Herr Studienrat Dr. Wagner in Cöln, dem von dem Vorstand der Kant-Gesellschaft die Summe von 4000 Mk. eingehändigt wurde. Lebenslauf. (Dr. Wagner.) Am 27. 1. 78 zu Darmstadt geboren, machte ich Ostern 1896 meine Reifeprüfung an dem Realgymnasium meiner Heimatstadt und studierte dann deutsche, englische, romanische Philologie und Geschichte an den Universitäten Berlin und Gießen. Hier bestand ich S.S. 1900 das Staats- examen für das höhere Lehramt im Großherzogtum Hessen. Im Winter 1904/5 promovierte ich mit einer germanistischen Arbeit bei Prof. Dr. 528 Kant-Geseilschaft. Behaghel in Gießen, trat dann aus dem Großh. Hess. Staatsdienst aus und übernahm Ostern 1905 eine Stelle am Schillergymnasium in Köln -Ehren- feld, die ich zur Zeit noch verwalte. Zu meinen unvergeßlichen Lehrern gehört der nun verstorbene Vertreter der Philosophie in Gießen, Prof. Dr. Siebeck, dessen sämtliche Vorlesungen ich hörte. Er war kein Redner, aber der Gedankengang seiner Vorlesungen kam in so klarer und fein geschliffener Form zum Ausdruck, daß von ihm eine Fülle von Anre- gungen auf seine Hörer ausging. Er steht mir auch heute noch so lebhaft vor der Seele, daß ich sagen darf, er war es, der mir zuerst und aufs Nachhaltigste eine Brücke zur Philosophie schlug. Diese Beziehung wurde genährt durch meine berufliche Tätigkeit, durch den deutschen Unterricht in Prima, namentlich durch die mehrjährige Ausdeutung von Schillers Gedankenlyrik und vor allem seines Wallenstein. Eine eingehendere Be- schäftigung mit Kant, mit Werken von Windelband, Kuno Fischer, Paulsen u. a. war die Folge. Durch den Krieg aus meiner Amtstätigkeit und pri- vaten Beschäftigung herausgerissen, trat ich nach meiner Entlassung aus dem Lazarett, als ich meine berufliche Tätigkeit wieder aufgenommen hatte, 1917 in die Kantgesellschaft ein. Bei der Durchsicht der Kantstudien stieß ich auf das Preisausschreiben, welches mich bestimmte, vorliegende Arbeit in Angriff zu nehmen. In den allerersten Anfängen stehend, wurde ich Ende 1917 wieder eingezogen, sodaß ich erst nach unserm Zusammen- bruch fortfahren konnte. Die Verschiebung des Endtermins auf den 20. 4. 21 durch die Geschäftsleitung machte es mir möglich, zu einem vorläufigen Abschluß zu kommen. Bitter schwer war es für mich, neben der beruf- lichen Tätigkeit noch genügend Zeit zu angestrengter wissenschaftlicher Tätigkeit zu finden. Manchmal wollte der letzte Funken des Muts er- löschen. Der Drang nach Betätigung in rein geistiger Sphäre siegte. Liegt nun auch der Haupterfolg einer derartigen wissenschaftlichen Arbeit in der geistigen Selbstbereicherung, so soll mir die äußere Anerkennung, die ihr durch den Spruch der Preisrichter zuteil geworden ist, ein Ansporn zu weiterer Arbeit sein. Dr. phil. Wilhelm Wagner. Akademie für Philosophie in Erlangen. Am Montag, den 12. Juni 1922 wurde die auf dem Burgberg zu Erlangen gelegene und von Dr. Rolf Hoffmann gestiftete Akademie er- öffnet. Eine Aufforderung zur Teilnahme an den Eröffnungsfeierlichkeiten in Erlangen waren an die Mitglieder der Kant - Gesellschaft zugleich mit der Einladung zur Teilnahme an der Generalversammlung in Halle ergangen. Das Programm der Veranstaltungen in Erlangen gestaltete sich wie folgt: Montag, den 12. Juni 1922. Nachm. 5 Uhr: 1. Eröfmungsworte : Dr. Rolf Hoff mann. 2. Ansprache: Der Oberbürgermeister von Erlangen, Herr Dr. Klippel. 3. An- sprache: Geh. Reg.-Rat Herr Prof. Dr. Hans Vai hinger -Halle im Namen der Kant- Gesellschaft. 4. Ansprache: Herr Prof. Dr. Paul H e n s e 1 - Erlangen, Ehrenvorsitzender der Ortsgruppe Nürnberg- Fürth- Erlangen. — Besichtigung der Akademie. Kant-Gesellschaft. 529 7 Uhr: Konzert (Kammermusik). 8 Uhr: Bewirtung der Gäste im Park der Akademie (unentgeltlich). Dienstag, den 13. Juni 1922. Vormittags: Besichtigung Erlangens: Schloß — Seminargehäude der Uni- versität — Orangerie — Gemäldegalerie — Altes Rathaus — Haus des Volksbildungsbundes — des Instituts für Röntgentiefentherapie (Professor Wintz). Dieses Röntgen-Institut ist das größte der Erde. Bei der Besichtigung hielt Professor Wintz einen eingehenden Vortrag, "Waldspaziergang nach Spardorf und Schloß Marioffstein, wo für Mittag- essen Vorsorge getroffen war. Nachmittags ^5 Uhr: Vortrag des Herrn Prof. Dr. Paul Hensel: „Wilhelm von Humboldt". 6 Uhr: Vortrag des Herrn Prof. Dr. Arthur Liebert: „Die geistige Krisis der Gegenwart". 8 Uhr: Bewirtung der Gäste im Park der Akademie (unentgeltlich). 3/49 Uhr: Klavier-Konzert: Winfrid Wolf -Berlin. OKÜT" Anfragen wegen der Veranstaltungen auf der Akademie und wegen der Akademie sind ausschließlich an Dr. Rolf Hoff mann, Akademie auf dem Burgberg, Erlangen, zu richten. Ueber die wissenschaftliche Leitung, über die ins Auge gefaßten Pläne und Arbeiten, wie überhaupt über die ganze Einrichtung und Betä- tigungsform der Akademie können voraussichtlich erst in einem späteren Heft der Kant-Studien genauere Angaben gemacht werden. — Ortsgruppe Tübingen. Bericht vom Winter-Semester 1921/22. Seit dem S.-S. 1921 fanden hier regelmäßig Zusammenkünfte der Mitglieder der allgemeinen Kantgesellschaft statt. Da sich unsre Vortrags- abende im W.-S. 1921/22 eines regen Besuches erfreuten und in weiteren Kreisen Beifall fanden, entstand das Bedürfnis nach einem festeren Zu- sammenschluß. So wurde am 27. Januar 1922 eine Ortsgruppe der Kant- gesellschaft in Tübingen gegründet, deren Ehrenvorsitz Herr Prof. E. Adickes übernahm. Die aktive Vorstandschaft führt Herr E. Keller, Repetent am Tübinger Stift. Der Zweck unsrer Vereinigung ist die gemeinsame Pflege der philo- sophischen Interessen. Wir nehmen daher außer den Mitgliedern der Kant- gesellschaft auch Ortsmitglieder auf. Der Semesterbeitrag ist auf 6 Mk. festgesetzt. Das dankenswerte Entgegenkommen der Stuttgarter Ortsgruppe ermöglicht uns ein engeres Zusammengehen mit der schwäbischen Schwester in der Form, daß wir unsren Mitgliedern beiderseits dieselben Vergünsti- gungen bei unsren Veranstaltungen gewähren. Den Eröffnungsvortrag hielt Herr Repetent Keller über das Thema „Spengler als Philosoph". Weitere Vorträge hielten die Herren cand. theol. Hof mann: „Vaihingers Philosophie des Als ob", cand. phil. Spiegel- 530 Kant-Gesellschaft. berg: „Hegels Geschichtsphilosophie", Professor Häring jr.: „Der Begriff Intuition in den modernen Geistesströmungen", Professor Dr. E. M e t z g e r : „Der Neukantianismus in der Rechtsphilosophie", Dr. phil. Paret: „Das Wesen des Individuellen in der Geschichte", Stadtpfarrer Lic. G. Paber: „Husserls Phänomenologie und ihre Bedeutung für die Religionsphilosophie". — Der Vorstand der Ortsgruppe Tübingen. Ortsgruppe München. Im Jahre 1921 sind in der Münchner Ortsgruppe der Kantgesellschaft folgende Vorträge gehalten worden : Prof. Dr. Emil Wolff, Hamburg, sprach am 3. Januar 1921 über „Hegel und die Philosophie unserer Zeit". Professor Dr. I. M. Verweyen, Bonn, sprach am 14. Februar 1921 über „Die Beziehungen der mittelalterlichen und der modernen Erkenntnislehre". Professor Dr. E. von Aster, Gießen, sprach am 7. März 1921 über „Idealistische und realistische Philosophie". Professor Dr. Erich Becher, München, sprach am 24. Mai 1921 über „Die Führerrolle des Seelischen im Organismus". Dr. Friedrich Seifert, München, sprach am 30. Juli 1921 über „Prinzipielle Bemerkungen zur Philosophie des Lebens". Professor Dr. Karl Voßler, München, sprach am 21. Juli 1921 über „Poesie und Prosa". Professor Dr. Richard Hamann, Marburg, sprach am 28. Oktober 1921 über „Die Kategorie des Künstlerischen". Im Jahre 1922 sind in der Münchner Ortsgruppe der Kantgesellschaft folgende Vorträge gehalten worden: Professor Dr. Janentzky, München, sprach am 20. Februar 1921 über „Mystik und Rationalismus". Geheimrat Professor Dr. von Beling, München, sprach am 9. Mai 1922 über „Rechtswirklichkeit und Rechtsideal". Dr. Alfred Baeumler, München, sprach am 26. Juni 1922 über „Hegel und Kierkegaard". Dr. Felix Noeggerath, München, sprach am 22. Juli über „Pro- bleme des Relativismus in den exakten Wissenschaften". Ortsgruppe Heidelberg 1922/23. I. Diskussionsabende über „Hauptrichtungen der Geschichtsphilosophie". 2. November 1922: Einleitungsvortrag von Dr. Rothacker. 7. Dezember 1922: Augustin, Dr. Salin. 11. Januar 1923: Montesquieu und Rousseau, Dr. Bosch. 1. Februar 1923: Kant, Prof. Ernst Hoffmann. 15. Februar 1923: Der deutsche Idealismus, Dr. GHockner. 26. Kant-Gesellschaft. 531 April 1923: Marx und Comte, Dr. Kraus. 17. Mai 1923: Die Fachhistorie (Droysen und seine Schule), Dr. Rothacker. 7. Juni 1923: Diskussionsabend über Spengler. 5. Juli 1923: Das historische Verstehen (Simmel, Max, Weber Troeltsch, Spranger und Scheler), Dr. Mannheim II. Öffentliche Vorträge. In Aussicht genommen sind Vorträge von den Professoren Liebert, Joel, Ungerer und Hensel. Dieselben werden durch Anschläge be- sonders bekanntgegeben. Die Geschäftsleitung. NB. Die Diskussionsabende finden abends 8 Uhr c. t. im Hörsaal des geo- graphischen Instituts ( Seminariengebäude) statt. — Anfragen und Anmeldungen an den Schriftführer stud. phil. Herr mann, Bergstr. 114. Ortsgruppe Erlangen-Nürnberg-Fürth. Ab Montag, den 7. August 1922 um 774 abends hält Professor Dr. Paul H e n s e 1 - Erlangen eine Woche lang täglich um dieselbe Zeit in der Akademie auf dem Burgberg eine Vorlesung: „Einführung in die Kantische Philosophie". Für Mitglieder frei. Nichtmitglieder, die eingeführt werden können, zahlen 50 Mk. für den Kurs. Der Vorstand der Ortsgruppe. Anmeldungen zu dieser Ortsgruppe sind zu richten an Dr. Rolf Hoffmann, Erlangen, Akademie auf dem Burgberg. Preisänderung. In unseren Allgemeinen Mitteilungen in den „Kant- Studien", Band XXVH, Heft 1 — 2 Seite 250 war angegeben, daß der Verlag von Felix Meiner, Leipzig das Heft 4 des 2. Bandes der „Annalen der Philosophie" auf Wunsch den Mitgliedern der Kant-Gesellschaft zu dem Vorzugspreis von 5. — Mk. statt eines Ladenpreises von 8. — Mk. zustellt. Wie uns die Verlagsbuchhandlung jetzt mitteilt, kostet das Heft nun- mehr regulär im Buchhandel 40. — Mk. Der Verlag will aber den Mit- gliedern der Kant-Gesellschaft das Heft zu einem Vorzugspreis von 20 Mk. zustellen (der Geldentwertung entsprechend). Interessenten wollen sich gef. nicht an die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft, sondern direkt an den Verlag von Felix Meiner, Leipzig, Kurzestr. 8 wenden. Das Heft enthält unter anderm eine Reihe von Aufsätzen über die „Philosophie des Als Ob" von Hans Vaihinger, so den Vortrag von Professor Julius Schultz : „Die Fiktion vom Universum als Maschine und die Korre- lation des Geschehens" und eine Arbeit von Geheimrat Vaihinger: „Ist die Philosophie des Als Ob Skeptizismus?" Zehntes Preisausschreiben der Kant- Gesellschaft. Thema: Personalismus und Idealismus als Grundtypen der Weltanschauung, erläutert und beurteilt an den gegenwärtigen Versuchen einer personalistischen Philosophie. Preise : 1. Preis: 9000. — Mk. ) Gerechnet u. eingezahlt an die Kasse der Kant- 2. Preis: 6000. — Mk. ( Gesellschaft zu einem Dollarstand von 250 Mk. Die Preise werden bei der Auszahlung eventuell dem dann gültigen Dollarstand entsprechend erhöht. Erläuterung. Es lassen sich zwei Typen der Weltanschauung danach unterscheiden ob das Gültige in der Form des Allgemeinen, Abstrakten (der absoluten Vernunft, der Idee, des Gesetzes) oder in der Form einmaliger, konkreter Ganzheiten (Personen, Persönlichkeiten) gefaßt wird. Man kann jenen als den idealistischen, diesen als den personalistischen Typus bezeichnen. In der Geschichte des philosophischen Denkens ist bis jetzt der erste Typus weitaus am stärksten vertreten worden. Wohl finden sich bei Aristoteles und Leibniz, in neuerer Zeit bei Eduard von Hartmann, Lotze, Nietzsche, sowie an einzelnen Stellen idealistischer Systeme (z. B. in Kants Lehre von der sittlichen Persönlichkeit) Ansätze zum Personalismus. Die eigentliche Vertretung dieser Ueberzeugung wurde aber bisher meist dem naiven Personalismus überlassen, wie er sich, abseits von der Philosophie, in Mythus, Religion, Kunst, tätigem Leben äußert. Erst in unserer Zeit hat sich die Philosophie die Aufgabe gesetzt, personalistische Ueberzeu- gungen mit den Hilfsmitteln systematischer und kritischer Methodik zu durchdenken. Hierbei haben sich eigenartige Beziehungen positiver und negativer Art zu den Kategorien des abstrakten Idealismus herausgebildet. Diese Beziehungen zu untersuchen, soll die Aufgabe der Preisschrift sein. Hierfür ist es nicht erwünscht, daß die Gedankengänge der idealistischen Systeme, die ja bereits in aller Gründlichkeit philosophisch durchgearbeitet Kant-Gesellschaft. 533 sind, nochmals ausführlich behandelt werden. Vielmehr sind die persona- listischen Ansätze und Systemversuche unserer Zeit zum Mittelpunkt der Arbeit zu machen. Von diesem Mittelpunkt aus soll der Bearbeiter die genannten Beziehungen zum Idealismus darlegen und zu ihnen kritisch Stellung nehmen. Es wird vorausgesetzt, daß die der eigentlichen Philosophie angehö- rigen Ansätze zu einem Personalismus, wie sie etwa in der Dilthey sehen, in der südwestdeutschen Schule, bei Eucken, Simmel, Troeltsch, in der Ethik Schelers zu finden sind, dann besonders der Ausbau der Idee des Personalismus in dem metaphysischen System William Sterns berücksichtigt werden. "Weiterhin ist den Bearbeitern die Heranziehung verwandter Gedankengänge aus der nichtdeutschen Philosophie freigestellt. Ebenso ist es ihnen überlassen, in welchem Umfange sie analoge Gedanken in den Spezialwissenschaften (z. B. die vitalistische Hypothese in der Biologie, das Gestaltsprinzip in der Psychologie, die verstehende Methode in der Geschichtsschreibung, den Begriff der juristischen Persönlichkeit in der Rechtswissenschaft usw.) einbeziehen wollen. — Dies sind im großen und ganzen die Richtlinien, die für die Bear- beitung des Themas maßgebend sind. Sie bezeichnen aber nur den allge- meinen Rahmen, innerhalb dessen nun die freie Gestaltung der Darlegungen erfolgen wird. Für die Bewerbung an diesem Preisausschreiben gelten folgende Be- stimmungen : 1. Die Bewerbungsschriften sind an das „Kuratorium der Universität Halle a. S." einzusenden. 2. Die Ablieferungsfrist läuft bis zum 1. April 1925. Die Preie- verkündigung findet möglichst in der darauf folgenden General- versammlung, spätestens bis Pfingsten 1926 statt. 3. Jede Arbeit ist mit einem Kennwort zu versehen. Name und An- schrift des Verfassers dürfen nur in geschlossenem Umschlag bei- gefügt werden, das mit dem gleichen Kennwort zu überschreiben ist. 4. ÜTur deutlich hergestellte Manuskripte werden be- rücksichtigt. Jeder Arbeit ist ein Verzeichnis der benutzten Literatur, sowie eine recht genaue Inhaltsangabe beizufügen. 5. Die Blätter des Manuskripts müssen mit Seitenzahlen und mit Rand versehen sein. Nur die Vorderseite der Blätter soll beschrieben werden. Das Manuskript kann aus losen Blättern in einer mit Bändern versehenen Mappe bestehen. Herstellung der Bewerbungs- schriften durch Schreibmaschine ist sehr erwünscht. 6. Die Arbeiten müssen in deutscher Sprache abgefaßt sein. 7. Preisrichter sind: Prof. Dr. William Stern -Hamburg Prof. Dr. Karl Jaspers -Heidelberg Prof. Dr. Theodor L i 1 1 - Leipzig. ~8. Der erste Preis beträgt 3/ö, der zweite 2/ö der ausgesetzten Summe. Entsprechen jedoch die eingelaufenen Arbeiten in ihrem wissen- schaftlichen Wert nicht diesem Verhältnis, so können die Preis- richter nach freiem Ermessen Preise in einer anderen Abmessung Kantetndien XXVH. 35 534 Kant-Gesellschaft. austeilen oder eventuell die Gesamtsumme einer einzigen, besonders wertvollen Arbeit zuweisen. Ist keine der eingelaufenen Arbeiten eines Preises würdig, so fällt die Summe an die Kant-Gesellschaft und zwar an den „Fördererfonds" derselben zur freien Verfügung für die Zwecke der Gesellschaft. Die Entscheidung über die Ver- wendung der Summe steht dann der Geschäftsführung zu. Die Kant - Gesellschaft behält sich vor, falls dazu Mittel vorhanden sind oder zusammengebracht werden können, nach Vorschlag der Preisrichter die Preise zu erhöhen und ev. noch weitere Preise hinzuzufügen. Die Preisrichter haben auch das Recht, solchen Arbeiten, denen zwar kein Preis zuerkannt werden kann, die aber doch eine Auszeichnung ihrer bes. Vorzüge wegen verdienen, eine „Ehrenvolle Erwähnung" zuzuerkennen und sie dadurch auszuzeichnen. 9 . Zurückziehung einer eingelieferten Bewerbungsschrift i st nicht gestattet . 10. Das Urteil wird in den „Kant- Studien" und in den größeren Tages- zeitungen des deutschsprachigen Gebietes veröffentlicht. 11. Die Leitung der „Kant-Studien" ist berechtigt, aber nicht verpflichtet, preisgekrönte Arbeiten in ihrer Zeitschrift (oder in den zugehörigen „Ergänzungsheften") abzudrucken. Macht sie von diesem Recht keinen Gebrauch, so bleiben die preisgekrönten Arbeiten Eigentum ihrer Verfasser. Doch sind dieselben verpflichtet, ihre Arbeiten bei einer Veröffentlichung als von der Kant-Gesellschaft preisgekrönt zu bezeichnen. Das gilt auch für diejenigen Arbeiteu, die eine „ehrenvolle Erwähnung" gefunden haben. 12. Nichtgekrönte Arbeiten werden durch die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft dem zurückgegeben, der sich als Verfasser nach dem Urteil der genannten Stelle genügend ausweist. Die Namen der betr. Verfasser werden nur der Geschäftsführung der Kant-Ge- sellschaft bekannt, welche verpflichtet ist, die betr. Namen geheim- zuhalten. Will ein Verfasser ganz unbekannt bleiben, so kann er seiner Arbeit einen mit demselben Kennwort versehenen zweiten verschlossenen Umschlag hinzufügen, in welchem eine Deckadresse angegeben ist, an die das Manuskript zurückgesendet werden soll, „für den Fall der Nichtprämiierung", wie auf diesem Umschlag ausdrücklich zu bemerken ist. Nicht zurückgeforderte Arbeiten werden samt dem zugehörigen ungeöffneten Umschlag nach dem 1. April 1927 vernichtet. Halle und Berlin, im September 1922. Die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft. Prof. Dr. H. Vaihinger. Prof. Dr. Arthur Liebert. Abzüge dieses Preisausschreibens versendet auf Wunsch im Auf- trag der Kant- Gesellschaft unentgeltlich der stellvertretende Geschäfts- führer Prof, Dr. Arthur Liebert, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48. Kant-Gesellschaft. 535 An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft Betrifft Nachzahlung zum Jahresbeitrag 1922. Als zu Beginn dieses Jahres den Mitgliedern der Kant- G-esellschaft die Mitgliedskarte für 1922 nebst dem Ersuchen um freiwillige Erhöhung des Jahresbeitrages zugestellt wurde, glaubte die Geschäftsführung angesichts der damaligen Wirtschafts- lage die Heraufsetzung des Beitrages auf 50 Mk. als ausreichend vorschlagen zu können. Die in der Zwischenzeit eingetretene gewaltige Entwertung der Mark auf der einen Seite und die ununterbrochene Steigerung der Ausgaben für die Herstellung und Versendung unserer Ver- öffentlichungen auf der anderen, veranlaßt nun die Geschäfts- führung zu der dringenden Bitte an die Mitglieder, noch einen kleinen Betrag von etwa 30—40 Mk. nachzuzahlen. Wir benötigen eine solche Nachzahlung um so mehr, als die Postverwaltung eine erneute, sehr erhebliche Erhöhung des Portos, abgesehen von der am lv Juli eingetretenen, wahrscheinlich zum 1. Oktober ins Auge gefaßt hat. Wir bitten, diese Einzahlung mittels Zahlkarte wie folgt vor- zunehmen : An die Deutsche Bank, Depositenkasse W, Berlin W. 15 Uhlandstr. 57, Postscheckkonto 1023, Konto Kant -Gesellschaft. Auf der Rückseite des Zahlkartenabschnitts die* Angabe: Nach- zahlung. Alle Angaben in recht deutlicher Schrift. Die auslän- dischen Mitglieder wollen die Nachzahlung in einer größeren Höhe vornehmen, am besten durch Scheck oder Postanweisung an den mitunterzeichneten Liebert. Die Geschäftsführung: Vaihingen Liebert. P.S, Weitere freiwillige Gaben sind hochwillkommen, weil hochnotwendig. Der buchhändlerische Wert unserer Jahresveröffent- lichungen beträgt nach den jetzigen Ladenpreisen mindestens 300 Mk. 35* Kant-Gesellschaft. Neuangemeldete Jahresmitglieder für 1922. IL Ergänzungsliste: Juni— September. A. Prof. Dr. Emil Abderhalden, o. ö. Prof. a. d. Univ. Halle, Halle a. Saale, Kaiserplatz 5. Dr. Wilhelm Ahlmann, Kiel, Niemanns weg 102. Prof. Dr. Antonio Aliotta, ordinario di Filosofia teoretica R. Universität Neapel, Italien. Anton, Kiel, Körnerstr. 9. B. Prof. Dr. Ferdinand Bährens, Köln, Deutscher Ring 82. stud. phil. G. Barang, Berlin W. 50, Passauerstr. 15 III Frau Hedwig Beckh, Konstanz, Hofhalde 1. Dr. Bruno Berneis, Nürnberg, Lindenaststr. 19. Schwester Rose Bernstein, Eckernförderstr. 4. Musikdirektor Bienert, Konstanz, Gartenstr. 19. H. Heinrich Birner, Wien XIII, Hütteldorferstr. 118. Studienassessor Heinrich Bittner, Breslau IX, Hirschstr. 43. Rektor Block, Hannover, Sextrostr. 14. Geheimer Hofrat Direktor Dr. Blum, Baden-Baden. Prof. Dr. Otto Blumenthal, Prof. a. d. Technischen Hochschule, Aachen, Rütscherstr. 38. cand. phil. Kurt Bona, Berlin NW., 87, Sickingerstr. 8 III. Frau H. Bormann, Magdeburg, Goethestr. 14. Pfarrer Boesel, Krevese, Krs. Osterburg. Dr. Bouma, Berlin W. 30, Lindauerstr. 4—5 bei Prof. Biltz. Dr. H. Brandt, Aachen, stud. phil. Hellmut Braun, Berlin W. 15, Düsseldorf erstr. 19—20. Dr. Brauns, Pattensen i. Hannover. Dr. Brückner, Crawinkel bei Ohrdruf i. Thür. stud. phil. Fr;itz Brunner, Berlin-Lichterfelde, Dürerstr. 26. Geh.-Rat Prof. Dr. Adolf Busse, Berlin SW. 11, Kleinbeerenstr. 2. c. Hugo Cahn, Gelsenkirchen, Bochumerstr. 44. Dr. med. Adolf W. Calm, Hannover, Warmbücherstr. 24. Giovanni Maria De Caria, Palermo 16, Italien, Via Siracusa 16. Geh. Reg.-Rat M. Conrad, Charlottenburg, Luisenplatz 4. Prof. Dr. Aurelio Covotti, ord. Prof. a. d, Universität Neapel, Ariano di Puglia, Italien. Prof. Dr. Benedetto Croce, Neapel, Italien, Trinitä Maggiore 12. Kant-Gesellschaft. 537 D. Dr. med. Bruno Deckert, Wörlitz in Anhalt, cand. rer. pol. Bruno Deppe, Hamburg 30, Neumünsterstr. 22. Studienrätin Anna Dernehl, Halle a. Saale, Yorkstr. 73 III. Dr. med. Dohrendorff, Uelzen, Hanover, Veersserstr. 20. Lehrer Otto Donath, Gohrau i.A. Post Wörlitz, Krs. Dessau. Dr. E. Dornfeld, Köln, Humboldtstr. 42. E. cand. med. Alfred Ebel, Wien IV, Alserstr. 25. Adolf Eberbach, Bern, Schweiz, Dapplesweg 15. cand. sc. pol. Walter Ebert, Kiel, Feldstr. 13. Sekretär Wilhelm Eckhardt, Halle a. S., Huttenstr. 96. Bankier Heinrich Emden, Frankfurt a. Main, Im Trutz 42. Dr. Engel, Berlin W. 8, Budapesterstr. 21. Dr. Gerhard Erdsick, Berlin W. 30, Heilbronnerstr. 22. J. F. van Essen, Zandvoort bei Amsterdam, Holland, Boulevard Farange 22. F. Kapellmeister E. Faust, Falkenstein i. Vogtl., Kaiser Wilhelmstr. 16. Geh.-Rat Prof. Dr. Finger, o. ö. Prof. a. d. Univ. Halle a. Saale, Reichardtstr. 2. Elisabeth Franck, Magdeburg, Schenckendorfstr. 16. Dr. Freund, Halle a. Saale, Blumenstr. 19. cand. phil. Theodor Frey, Dorpat, Estland, Karlowstr. 47. G. Dr. Gadamer, Marburg a. d. Lahn, Marbacherweg 15. Dr. Ettore La Gatta, Priv.-Doz. a. d. Univ. Rom, Italien, Via Nazionale 89 Fräulein Lotti Gauss, Halle a. Saale, Reichardtstr. 15 bei Geh.-Rat Vaihinger. Dr. Francesco di Gennaro, Advokat, Neapel, Italien, Via Kernbaker 53, Vomero. Dr. Max Gerber, Charlottenburg, Kantstr. 34. Dr. Gerhards, Aachen, Preußweg 99. cand. jur. Lutz Gielhammer, Berlin NW. 60, Alsenstr. 7. Graf W. von Görtz, Wrisbergholzen, Krs. Ahlfeld. Werner Gottschalk, Berlin-Steglitz, Forststr. 54. Obersteuersekretär Friedrich Gottsmann, Erlangen, Neuestr. 16. Rosa Grab, Wien VII, Kaiserstr. 83. Rudolf Gröber, Hohndorf, Bezirk Chemnitz, Rödlitzerstr. 13. Regisseur Dr. Edgar Groß, Halle a. Saale, Staudestr. 7. Lehramtspraktikant Karl Güntert, Villingen, Schwarzwald, Marbacherstr. 6. stud. ing. Erwin Gurke, Wien III, Fasang 49—26. Dr. Wilhelm Grebe, Fechenheim bei Frankfurt a. Main. cand. phil. Horst Grüneberg, Berlin W. 30, Neue Winterfeldstr. 7. Professor Dr. Ernst Grünfeld, Halle a. Saale, Lafontainestr. 23. Prof. Dr. Augusto Guzzo, Neapel, Italien, Via Carlo de Cesare 53. H. Obersteiger Otto Haase, Halle a. Saale, Huttenstr. 96. stud. phil. Walter Hahne, Wansdorf bei Nauen. Studienrat Dr. R. Hanewald, Magdeburg, Pappelallee 18. Studienrat G. Härtung, Hannover, Gneisenaustr. 3. Lehrerin Hedwig Hecker, Burg bei Magdeburg, Kaiser Wilhelmstr. 28. Bibliothekar Dr. Heimes, Paderborn, Leostr. 21. Superintendent J. Hellwig, Halle a. Saale. Dr. Adolf Herfs, Köln a. Rh., Jülicherstr. 21. Dr. Max Herre, Falkenstein i.V., Hotel Pohland. Dr. Herz, Berlin- Wilmersdorf, Brandenburgischestr. 37. stud. jur. Walther Heß, Höchst am Main, Kleine Brüningstr. 2. 538 Kant-Gesellschaft. Studienrat Hesselmann, Eilenburg, Wilhelmstr. 11. Prof. Dr. GeorgHeymans, o. ö. Professor an der Universität Groningen, Holland. Walther Heyn, Berlin N. 31, Wattstr. 10, bei Sperling. Regierungsbaumeister Felix Hirschberg, Berlin-Charlottenburg, Lohmeyerstr. 23. Direktor Siegfried Hirschberg, Berlin- Wilmersdorf, Helmstedterstr. 12. Dr. med. Georg Hirschfeld, Halle a. Saale, Lindenstr. 48. Ilse Hoffmeister, Magdeburg, Fürstenufer 16. Redakteur Paul Hopfer, Burg bei Magdeburg, Zerbsterstr. 28. cand. phil. Max Horkhenner, Cronberg, Taunus, Hauptstr. 3. Studienrat Dr. Max Hörn, Neuhaldensleben, Bez. Magdeburg, Bülstringerstr. 16. Fräulein Hörtig, Konstanz, Braun eggerstr. 70. Frau Franziska Hundel, Düsseldorf, Karolingerstr. 73. J. Professor Dr. W. Jellinek, Kiel, Esmarchstr. 59. Frau Annnie Joachim, Berlin, Hitzigstr. 9, bei Heilbut. Dr. Ernst Jörin, Bezirkslehrer, Lenzburg, Kanton Aargau, Schweiz. Bernhard Juretschke, Regensbrrg, Beraiterweg 2. Johannes Junge, Schriftleiter u. Buchdruckereibesitzer, Erlangen. K. Lehrer Heinrich Kamien, Berlin- Friedenau, Bornstr. 15. Herr Kampmann i. Fa. Kampmann & Schnabel, Prien am Chiemsee, Oberbayern. Ella Kappenbusch, Jena, Kaiserin Augustastr. 16. Prof. Dr. von Karman, Aachen, Technische Hochschule. Frau Dr. Kaufmann, Braunschweig, Goßlarstr. 31, Pfarramt St. Jacobi. Dr. Hans von K ei tz, Magdeburg. Prof. Dr. Edmund Kern, Freiburg i. Br., Bürgerwehrstr. 15. Max Klein, Berlin NO. 43, Am Friedrichshain 26 H. Richard Kleiß, Berlin SW. 61, Tempelhof er Ufer 1 bei Frau Justizrat Benedict. Oberlehrer W. Kloot jr., Rotterdam, Holland, Oudedijk68a. Dr. Knabe, Elberfeld, Handelskammer. Lehrerin Hanni Knauer, Burg bei Magdeburg, Berlinerstr. 42. Prof. Paul Knauer, Künzelsau i. Wttmbg. Rektor Fr. Kohlhase, Magdeburg-S., Staßfurterstr. 16. cand. theol. Walter Kohls chmidt, Frankfurt a. Main, Tiergarten 6. Will Kord- Ru wisch, Charlottenburg 2, Knesebeckstr. 20, bei Pluentsch. Dr. F. W. A. Kor ff jr., Heemstede, Holland. Stadtrat Johannes Korn, Berlin SW., Halleschestr. 22. Studienassessor Waldemar Koschinski, Berlin N. 20, Badstr. 9 III. Maria Kratz, Wandsbeck i. Holstein, Löwenstr. 3a. cand. phil. Max Kreuzberger, Beuthen O./S., p. Adr. Adolf Kreuzberger. Studienrat Dr. Krippendorf, Plauen i.V., Pestalozzistr. 701. Theodor Krische, Universitätsbuchhandlung, Erlangen, Hauptstr. 33. stud. rer. pol. Wilhelm Krompfardt, Kiel, Blücherplatz 4. cand. phil. Martin Kruse, Leipzig, Sophienstr. 30. Staatsanwalt Krusinger, Düsseldorf, Grunerstr. 36. Jürgen Kuczynski, Berlin-Schlachtensee, Terrassenstr. 17. Dr. phil. Walter Kurenbach, Naumburg a. Saale, Schönburgerstr. 3. Frau Dr. Olga Kuttner, Staad bei Konstanz a. B. L. Else Lange, Koblenz a. Rh., Kasinostr. 2. Studienrat Edmund Lantz, Saarbrücken, Feldmannstr. 38. stud. phil. Otto Lehmann, Königsberg i. Pr., Vorder Roßgarten 63. Studienrat Karl Leonhardt, Leipzig-Gohlis, Blumenstr. 51. Fritz Lepke, Hagen i. Westf., Südstr. 1. cand. jur. H. Lieb au, Hannover, Marschnerstr. 20. Rechtsanwalt Dr. Julius Lippmann, Hamburg 39, Leinpfad 4. Kant-Gesellschaft. 539 cand. phil. Hermann Loeb, Cöln, Kleingedankstr. 4. Dipl.-Ing. Eduard Lohmann, Braunschweig, Gauß-Str. 28. Prof. D. Dr. Ernst Lohmeyer, Breslau 18, Lohensteinerstr. 9. Prof. Dr. Heinrich Loewe, Berlin NW. 52, Flemmingstr. 12. M. Rudolf Freiherr von Maltzahn, Halle a. Saale, Kaiserstr. 5. Lehrer Gustav Mangold, Mannheim-Neckarau, Friedhofstr. 15. Geh. Justizrat Prof. Dr. A. Manigk, Breslau 18, Kleinburgstr. 28. Professor Julius Maerker, Konstanz, Brauneggerstr. 32. Pfarrer P. Marti, Innerskirchen, Pfarramt, Berner Oberland, Schweiz. stud. jur. Yalo May, Erlangen, Postschließfach 6. stud, theol. Meinicke, Berlin NW. 6, Charite'str. 2. Hermann Meyer, Batavia auf Java, holl. Indien, Weltevreden, Salembaplein 7. Polizeirat Meyer, Hannover, Drostestr. 6. Dr. Walter Misch, Berlin- Wilmersdorf, Trautenaustr. 16. Dr. Walter Miethke, Elsterwerda. Realschullehrer Arnulf Molitor, Perchtoldsdorf bei Wien, Leonhardsberg- gasse 376. stud. phil. Otto Monsheimer, Frankfurt a. Main, Schneckenhofstr. 9. Dr. rer. pol. Moraht, Berlin- Wilmersdorf, Rüdesheimerplatz 9. Studienrat Möricke, Magdeburg, Regierungsstr. 4 — 6. Alfred Moerstede, Düsseldorf, Helmholtstr. 14. Willy Moser, Berlin N. 54, Zehdenickerstr. 13. Kurt Müller, Ragnit, Seminar. Lehrer Richard Müller, Spandau, Schönwalderstr. 10. Lehrer Karl Münchmeyer, Magdeburg - Buckau, Schönebeckerstr. im Hause der Post. N. Ministerialrat Dr. Namslau, Potsdam, Birkenstr. 1. Dr. Ernst Nathan, Nowawes, Wilhelmstr. 29. cand. theol. Fritz Neifer, Hunspach bei Weißenburg, Elsaß, Frankreich. Dr. F. Neu mark, Groß-Flottbeck bei Hamburg, Lindenstr. 7. stud. phil. Fritz Neunhoeffer, Marburg, Lahn, Universitätsstr. 48. Ing. C. G. Noack, Halle a. Saale, Martinstr. 26. Lotte Noetzel, Oldenburg i. 0., Kastanienallee 23. o. Regierungsrat von Oppen, Düsseldorf, Tempelforterstr. 22. stud. phil. Hans Oppenheimer, Freiburg i. Br., Ludwigstr. 5. Direktor M. Oppenheimer, Berlin W. 56, Schinkelplatz 1—4, Bank für Handel und Industrie. Dr. Maria Ortiz, Neapel, Italien, Salita Arendia 9, Villa Garzille. Ferdinand Oster tag, Berlin W. 50, Augsburgerstr. 28. P. Dr. AugustGrafvonPestalozza, Oberstudiendirektor am Friedrich- Wilhelm- Gymnasium, Berlin SW. 68, Kochstr. 13. Dr. Michele Petrone, Berlin- Wilmersdorf, Uhlandstr. 77. Gymnasialdirektor Dr. Pilling, Merseburg. Erich Popper, Hamburg 30, Curschmannstr. 6. Rechtsanwalt Prael, Harburg a. Elbe, Lüneburgerstr. 4. cand. phil. Joachim Prinz, Oppeln, O./S., Krakauerstr. 13. Oberstudienrat Hedwig von Probst, Berlin-Charlottenburg, Marchstr. 10. E. Bd. R. F. Reiche, Berlin-Steglitz, Althoffstr. 21. cand. phil. Hans Reiner, Freiburg i. Br., Kunigundenstr. 3. 540 Kant-Gesellschaft. Reinhold Renschel, Kiel, Goethestr. 6. Heinz Rheinhard, Hannover, Hindenburgstr. 35. Dr. Richarz, Essen, Ruhr, Schützenbahn 7. Seminardirektor Prof. Dr. Adolf Richter, Schneeberg, Erzgeb., Seminarstr. Othmar Richter, Wien X, Triesterstr. 11. Studienassessor Rohrbach, Hamm i. Westf., Südenwall 17. cand. paed. Richard Röscher, Leipzig, Arndtstr. 571. Ludwig Rösl, Verlagsbuchhändler, München, Georgenstr. 28. Professor Dr. Nicola De Ruggiero, Neapel, Italien, Salvator Rosa 264. S. Dr. phil. Enar S ahlin, Lektor, Stockholm, Schweden, Thulegatan 27. cand. phil. Richard Samuel, Berlin W. 62, Burggrafenstr. 14. Justizrat Sandberg, Eberswalde, Pfeilstr. 11. Studienrat H. Sauer, Kiel, Scharnhorststr. 8. Studienrat R. Sautter, Backnang i. Wtbg., Obere Marktstr. 10. Studienrat Seiler, Hagen i./Westf., Lessingstr. 1. Studienassessor Siebecke, Egeln, Bez. Magdeburg, Aschersieb enerstr. 13. stud. theol. Wilhelm Siebel, Barmen, Kothenerschulstr. 9. Fräulein Margarethe Siebert, Lehrerin, Magdeburg, Schrotdorf erstr. la. stud. phil. Karl S öl In er, Wien I, Schottengasse 3a. stud. theol. Kurt Sontag, Stettin, Elisabethstr. 17. Dr. M. Spanier, Magdeburg, Walter Rathenaustr. 65. Dr. Emil Spiegel, Prag II, Tschechoslowakei, Tyrsova 7. Landgerichtsrat Dr. Eduard Springmann, Elberfeld, Sadowastr. 61. Sek J. Schaefer, Wetter a. d. Ruhr, Königstr. 94. Dr. Hugo Schiff, Landesrabbiner, Braunschweig, Steinstr. 4. Lehrer W. Schildhauer, Berlin N. 113, Schönfließerstr. 14. Professor Otto Schmidt, Lyck, Ostpreußen, Myluckerweg 6. Obersekretär Ottomar Schmidt, Halle a. Saale, Am Bergmannstrujst 13. Ria Schmidt, Berlin SW. 29, Gneisenaustr. 102, bei Herbarth. Studienrat Theodor Schmidt, Künzelsau i. Wttmbg. Dr. Hans Schnaß, Hannover, Josefstr. 10. Wilhelm Schneider, München, Clemensstr. 66. Oskar Schnell, Magdeburg, Gneisenaustr. 1. Albert Schorer, Fürth i. Bayern, Uhlandstr. 19. Frau Rechtsanwalt Schreiber, Halle a. Saale, Neuwerk 10. Priv.-Doz. Dr. Fr. Schuh, Rostock, Friedrich Franzstr. 64. Studienrat Dr. Hans Schuhardt, Berlin- Steglitz, Düppelstr. 37. Lehrer F. W. Schulze, Berlin- Wilmersdorf, Laubacherstr. 35. stud. theol. Otto Schumacher, Hamburg 25, Malzweg 5. Dr. Michael Schwarz, Berlin W. 15, Württembergischestr. 25—26, bei Klein. Fräulein Schwarz, Hannover, Nicolaistr. 19. Lehrerin B. Schweitzer, Luthe bei Wunstorf. Ignatz Schweitzer, München, Königinstr. 43. St. Studienrat Ruth Stammler, Bydgoszcz, Polen, Garbary 33. cand. theol. A. Steenbeek, Utrecht, Holland, Merwedekade 8. Wolfgang Steidel, Architekt, Erlangen, Palmstr. 8. Professor Dr. J. P. Stein, Luxemburg, Hollericher Ring 49. cand. rer. pol. Ewald Steinkrüger, Kiel, Adolfstr. 38. Dr. Fritz Sternberg, Heidelberg, Plöck 32. Studienassessor Fritz Steudel, Wittenberge, Bez. Potsdam, Chausseestr. 45. Dr. Otto Strasmann, Rechtsanwalt, Barmen, Cronenbergerstr. 24. Professor Dr. Oskar Stümper, Luxemburg, Arsenalstr. 25. Kant-Gesellschaft. 541 Fräulein Emmy Theine, Lehrerin, Magdeburg, Lüneburgerstr. 25a. Schriftsteller Axel Thorstad, Berlin- Wilmersdorf, Mainzerstr. 11. cand. theol. Treusei, Reutlingen i. Wttmbg., Ringelbachstr. 16. u. Prof. Dr. Otto Ullrich, Cöln, Roonstr. 40. V. Dr. Angelico Venuti, Neapel, Italien, Via Mondella Gaetani 27. W. J. Vi ss er, Haag, Holland, Nicolaas Tulpstraat 22. w. Dr. G. J. Waardenburg, Pfarrer, Hansweert, Holland. cand. phil. Ludwig Wagner, Marien werder, Westpr., Kehrwiederstr. 5. Carl Walther, Bibliothekar a. d. Technischen Hochschule Aachen, Malteserstr. Richard Walther, Verlagsbuchhändler, Konstanz, Rosgartenstr. 18. Viktor Wasservogel, Wien VII, Neustiftgasse 62. Studienrat Wedig, Lyck i. Ostpr., Kaiser Wilhelmstr. 86. Dr. Edmund Weyers, Allershausen bei Freising; Oberbayern. Professor Leopold Weil, Villingen, Schwarzwald, Waldhotel. Frau H. Wertheimer, Düsseldorf, Haroldstr. I. stud. math. Hans Westphal, Hannover, Ferd. Wallbrechtstr. 27. Dr. Hermann Weyl, Frankfurt a. Main, Rückertstr. 44. Studienrat Dr. Rudolf Wilckens, Hannover, Sallstr. 31. cand. rer. pol. Arno Winter, Hamburg-Eppendorf, Voldsenweg 2. Justizrat Dr. Paul Wittkowsky, Berlin W. 8, Kronenstr. 72. Lehrer Witt wer, Delitzsch, Eilenburgerstr. 82. Prof. Dr. Wohltat, Düsseldorf-Oberkassel, Düsseldorferstr. 60. Referendar Hans Wolff, Elberfeld, Bismarckstr. 45. Generalleutnant von Wolff, Exzellenz, Baden-Baden. Dr. Friedrich Würzbach, München, Schackstr. 4. Y. Prof. Dr. T. Yukiyama, Leipzig, Schreberstr. 4. z. Prof. "Dr. W. Zenkowsky, Belgrad, Jugoslavien, Takowska 57. Mittelschullehrer Paul Ziegler, Nienburg a. d. Saale. Studienrat Dr. F. Zillmann, Berlin N. 20, Wollankstr. 64 a. Dr. Rudolf Zocher, Radeburg, Bez. Dresden Nr. 54. Institute. Altenplathow bei Genthin, Junglehrer- Arbeitsgemeinschaft, Lehrer Fritz Leue. Belgrad, Philosophisches Seminar der Universität, Sendungen an Prof. Dr. B. Petrowievics-Belgrad, Jugoslavien, Kapitän Miliana ul. 12. Budweis, Verein Deutscher Akademiker, Deutsches Haus. Halle a. Saale, Philosophisches Seminar der Universität. Jena, Philosophisches Seminar der Universität. Paderborn, Bischof 1. Akademische Bibliothek. Petrograd, Rußland, Philosophische Gesellschaft an der Universität. Wien, Volksheim, Philosophische Fachgruppe, Wien XVI, Koflerpark 7. Würzburg, Philosophisches Seminar der Universität, Direktor Prof. Dr. Hans Meyer. Absolutes 23 f., 27 f., 35, 40, 42, 238, 403, 409, 424, 427, 437, 443, Ab- solutismus 142, 153 Allgemeines 13, 16, 24 f., 29,33,47,50, 56, 308 ff., A.gültigkeit 134, 175 f., 287, A.heit 175 f., 305 Als Ob 3, 18, 237, 399, 452 f., 470 ff. Antinomien 283, 285, 429 Apperzeption , transzen- dentale 53, 513 Apriori 25, 28, 288, 449 Artbegriff 86 ff. Ästhetik 229, 400, 411, transzendentale 14, 41 Aufklärung 144, 405 Autonomie 4, 12, 14, 26, 30, 52, 146, 153, 168, 240, 429, 452, 465 ff. Begriff 29, 36, 42, 192, 303 ff., 369 Bewußtsein 10, 19, 54 f., 197, 280 f., 282, 379, 431, 496 ff., 507 ff. B. überhaupt 182, 281 Biologie 86 ff., 104 f., 107 f., 130, 234 f., 271 ff., 296, B.ismus 107 f., 129 Buddhismus 440 f. Chemie 31, 276, 337, 349 Christentum 200, 223, 457 Darwinismus 86 ff., 186 Deduktion 29, 81 ff., 291 Denken 27, 280, 325 f., 376 ff., 448 ff., 462, D.U. Anschauen 268, D. u. Sein 15, 17, 451 Dialektik 16, 36, 40, 52, 122, 184, 267, 317, 403, 462, 465 ff. Ding an sich 56, 61, 214, 379 Register. 1. Sachregister. Dogmatismus 11, 17 f., 34, 214 Einheit 16 f., 24, 31, 35, 54, 305, 508, 513, syn- thetische 13, E. der Apperzeption 53, E. der Vernunft 49 Empirismus 11, 52, 179, 213 f., 224, 231, 271 Entelechie 130, 273, 383 Entwicklung 192, 265 ff. Erfahrung 9 f., 13 ff., 28, 51 ff., 60, 86, 184 Erkenntnis 3, 14 ff., 24, 50, 50 f., 56, 117 f., 180 f., 191 f., 283, 285, 501, E. kritik 9, E. theorie 36, 56, 85, 179 ff., 204, 232, 280, 285 f., 379 f., 496 ff. Ethik 114, 141 ff., 194,- 220ff., 225, 227, 232ff., 239 f., 271, 429 Evolutionstheorie 2, 269 ff. Existenz 459 f., Existential- urteil 181 Fiktion 166 ff., 178, 193, 399, 452, 470 ff., F.alis- mus 285, 489, 491, 517 Form 10, 13, 50, 56 Freiheit 19, 21, 28, 31, 146, 150, 159 f., 163, 165, 168 f., 270, prak- tische 14, F. u. Natur 10, 25, 30, 36 Gegebenes 498 ff, 509 ff. Gegenstand 28, 54 f., 59 ff., 313, 496 ff. Geist 17, 29, 37, 46, 190, 277, absoluter 18, 23, 33 ff., G. u. Natur 30 f., G.eswissenschaften 185 Geltung 4, 61, 74, 197 f., 296, 370 ff., 406 Geschichte 35, 102ff., 190ff., 309, 406, G.philosophie 103ff, 183ff.,205,265ff.. 406, G.wissenschaften 63 ff., 101 ff, 191 Gesellschaft 166 ff, 186, 205 ff., 220 ff., G.svertrag 165 ff., G.swissenschaft 205 ff. Gesetz 30, 55, 64, 498 Gott 27, 29, 197, 199, 270, 276, 282 f., 425, 443 f., 447 ff. Gültigkeit 179ff., 280, 313ff., 325 f. Heterogeneität 70 ff. Historie 265 ff. Homogeneität 70 ff. Humanismus 420 ff. Hypothese 166, 406 Ich 19, 21, 26, 29, 33, 38, 52, 236, 238, 270, 282, 288, 309, 448, 451, 453, 457 ff. Idealismus 154, 164, 185, 414, 453 f., absoluter 7, llff,, ästhetischer 424, kritischer lff, 8 ff., 235, monistischer 15, speku- lativer lff., subjektiver 10 Idee 10, 16 f., 27 f., 26, 44, 55, 149, 152, 171, 370 f., 384 f., 413, 428, 496, absolute 26, platonische 121, 416 Identität 20, 31, 236, 309, 317, 468, 501, 506, I. Philosophie 30 ff., 36 Individualismus 142, 156, 288, 308 Individualität 191 ff., 293 Individuum 55, 153, 205, 236 f., 267, 309. Induktion 29, 77 ff., 82, 111, 231, 291 Register. 543 intellectusarchetypus 16,93 Intuition 35, 130, 467 Irrationales 12, 32, 57, 63ff., 193, 308 Kant-Gesellschaft 242 ff., 518 ff. Kategorien 11, 15, 28, 67, 120, 166 f., 193, 277 f., 289, 300 Kausalität 11, 14, 67 f., 87, 231, 268 Kontinuität 19, 92, 117, 120, 124 Körper 336 ff., 496 Kritizismus 3, 11 ff., 184, 194, 230, 238, 419 Kultur 3, 35, 77, 104 ff., 143 ff., 167 ff., 190, 196, 296, 399 ff., 461 f., 453 f., K.philosophie204, K.wis- senschaft 59 ff, 205,309 Kunst 114 f., 124, 130,229, 279, 384, 400, 423 ff, 470 ff, K.philosophie 470ff., K.wissenschaft279 Leben 3, 46, 104, 129, 190, 193, 233 f., 267, 275, 384, 405, 408, 468 Logik 36 ff, 184 f., 232, 236, empirische 280, tran- szendentale 280, L. der Biologie 234 f., L. des historischen Entwick- lungsbegriffs 265 ff., Lo- gismus 3, 38, 179 ff., 182, Logistik 70, Logos 427f., 444 Macht u. Recht 206 ff., 213, 221 Marburger Schule 211, 304, 406, 497 Materialismus 2, 9, 185 f. Materie 10, 13, 31, 50, 56, 98, 337 ff., 396 ff. Mathematik 19, 61, 72, 81ff., 114ff, 124,129, 277,281, 411, 416, 435 Mechanismus 2, 231 f., 235, 239, 276, 281, 284 Metaphysik 1 ff, 129 f., 179 f., 190,194,201,213, 219 ff, 224, 229 f., 236, 239, 268 f., 271 ff, 283, 293, 384, 412 ff., 433 ff., 452 Methode 15ff, 42, 59ff, 466f. Modalität 298 ff. Möglichkeit 325 f. Monade 282, 284 Moral 114, 139, 221, 227, 281, 384 Morphologie 1 13ff., 228, 235 Mystik 129, 290, 310, 416, 457 Mythus 399 ff. Natur 31, 44 f., 46 f., 52, 69,77, 139, 143 ff., 166ff., 195, 286, 444, 450, N. u. Freiheit 10, 25, 30, 36, N. u. Geschichte 102ff., 132, N. u. Verstand 16, N.alismus 2, 134, 273, 292, 308, 462, N.gesetze lllf.,435, N.philosophie 31,45,N.rechtl61, 169ff, N.wissenschaft 2, 16, 31, 61 ff, 77 ff., 86 ff., 101, 105, 111, 130, 167, 184, 189, 265 ff., 292, 308 f., 328, 411, 435, 450, N. zustand 166 ff. Neukantianismus 3, 102, 132, 135, 212 ff., 268, 281, 317, 452, 497 Nominalismus 89f., 288, 308 Normen 197, 208 ff, 213 ff., 225 ff., 374 Objekt 30, 317 f., 446 ff., 457 ff., 503, O.ivismus 179, O.ivität 3, 37, 43, 280, 282 Ontogenie 271 f. Ontologismus 10, 35, 442 Organismus 30, 55, 86 ff., 104 f., 126 Pantheismus 416, 453, 457, 460 Parallelismus, psychophysi- scher 193 Pessimismus 136, 167, 440 Phänomenologie 292, 455, 496, Hegels Ph. 23, 36ff. Philosophie .1, 119, 385, 408, idealistische 4 f., Ph. u. Politik 225, Ph. und Rechtswissenschaft 216f. Physik 31, 46, 55, 106, 114 ff., 124, 276, 337, 387 ff, 496 Politik 218 f., 224, 225, 234 Positivismus 2, 174, 185, 273, 281, 432, 434 ff., 496 ff. Psychologie 62, 267 f., 270, 281, 317, 431, experi- mentelle 106 f., morpho- logische 187 ff. Psychologismus 11, 107, 129, 179 f., 233 Qualität 298 ff. Quantität 298 ff., 336 Rationalismus 179, 240, 411, 432 f., 435 Raum 131, 133 f., 231, 234, 379, 387 ff., 510 Reales 57, Realismus 201 f., 295, 496 ff, Realität 10, 43 f., 57, 190, 197, 280, 284, Real wissenschaf t290 Recht 145, 149, 158 ff., 169 ff, 205 ff., 384, R.s- philosophie 202 ff. Rehmke-Gesellschaft 240 f. Relation 61, 82, 288ff, 371 f., 499, 512 f., R.s- theorie 61, 83 Relatives 28, Relativismus 213, 398, 403, 406, 409, Relativität 369 ff., Rela- tivitätstheorie 64, 74, 128, 234, 369 ff. Religion 35, 49, 124, 196 ff., 279, 384, 400, 410. 426 ff., 442 ff., 446 ff, R.sphilo- sophie 196 ff., 446 ff. Romantik 135, 426 ff. Schematismus d. r. Ver- standesbegriffe 16 Schopenhauer- Gesellschaft 229, neue deutsche 235 Seele 61, 193, 231 f. Sein 40 f., 180 f., 191, 280, 370 f., 442 f., S.u. Denken 15, 17, 451, S. u. Sollen 172, 206 f. Selbstbewußtsein 19, 31, 38, 236 ■ Sensualismus 10, 285, 288 Sinnlichkeit 16, 156 f. Sittengesetz 139 ff, 197, Sittlichkeit 167, 228 Skeptizismus 20, 117 f., 406 Solipsismus 133, 289 Sollen 21, 145, 155, 156 ff., 172, 206 f. Sozialismus 184ff, 203, 223f. 544 Register. Soziologie 185, 187, 196, 205 ff., 211 ff., 225 ff., 267, 286, 288 Sprachwissenschaft 232 f., 287 ff. Staat 35, 150 ff., 165 ff., 205 ff., 239 f., 273 f., S.s- philosophie 165 ff., 202 ff. Strukturwissenschaft 59 ff. Subjekt 9, 13, 28, 33, 303 ff., 372 ff., 446 ff, 457 ff., S. ivismus 179, 225, 228, 369,S.ivität3,37,43,354f. Substanz 34, 38, 282, 442 Synthesis 15, 28, 33 ff., 38, 300 f., 306, 310, 468 Teleologie 30, 234 f. Theodizee 35, 199 Theologie 62, 196 ff, 21 Transzendentalismus 3, Transzendentalphiloso- phie 7, 53 Transzendentes 2, Tran- szendenz 18, 509 Unbedingtes 27 f., 30, 446 ff. Unendlichkeit 20, 121, 195, 305, 425 Unsterblichkeit 198 f. Urteil 29, 60, 181, 298 ff, 370 ff, 507 f. Vernunft 4, 11 f., 24, 49 f., 141, 149, 238, V.einheit 26 f., V.recht 161, 163 Vitalismus 231, 235, 273 Völkerpsychologie 107, 187 ff., 400 Völkerrecht 215 ff. Wahrheit 4, 9, 74, 118, 180, 182, 238, 369 ff., 380 Wahrnehmung 9 f., 60, 382, 515 f. Wärme 328 ff. Weltanschauung 179, 412, 504 Wert 3 f., 61 f., 65, 68 ff., 105, 125, 191, 225 ff., 277, 280, 296, 384 f., W.philosophie 196 Widerspruch, Satz des W.s 317 Wille 14, 148 f., 152 f., 159 f., 171 ff. Wirklichkeit 3, 8 f., 11, 18 f., 21, 31, 37, 45, 47 f., 61, 70 ff., 197, 280, 382, 433, 459 Wissenschaft 2, 18 f., 25, 54, 59 ff.. 191, 232 f., 432 f., W.slehre 22 f. Zeit 63 f., 131, 133, 234, 387 ff., 508. 510 f. Zweck 226, 235, Z.mäßig- keit 17, 27. 2. Personenregister. Adler, Max 223 Alexander 109 Alexejew 141, 148 Aenesidem 18 Althusius 142, 160, 169 Aristoteles 10, 109ff., 130,188,211,308, 316f., 319, 397 Arnoldt, E. 341, 343, 347, 367 . Augustin 112, 451 Baader, Fr. H. 348 Bacon 190, 308, 328, 352 f., 358, 365 Bahnsen 236 f. Bain 192 Bär, K. E. v. 272 Barth 447 Barth, P. 185 Batbie 210 Bauer, 0. 223 Bäumler, A. 126,134 Becher, E. 286 Beck 18 Below, v. 296 Bergmann 313 Bergson 129 ff., 190, 267, 269, 291 Berkeley 10 f., 89, 308, 358, 398 Bernini 385 Bernoulli, D. 362 f. Bernstein, Ed. 186, 223 Berthold, G. 356, 363 Bertram, E. 405 Binder, Jul. 213, Bismarckl28[215f. Black, J. 345, 347 Boerhaave, H. 332, 334, 350, 366 Böhme, Jak. 47 Bois - Reymond, du 335, 363 Bolland, G. J. 236 f. Bolzano 374, 380 Bordenave 365 Bourguin 142 Boutmy, E. 188 Boyle 356 ff. Bruno, Giordano 442 Buckle 185, 273 f. Buddha 190 Campanella 203 Cantor, M. 391 Cardanus, H. 308 Cartesius s. Des- cartes Cassirer,E.7ff.,398 Cat, le 340, 366 Chätelet, Marquise de 334 f. Cohen, H. 117, 139, 185,302,406,417 Comtell2, 123, 187, 266, 296, 432 Cornelius, H. 180, 517 Cosimo v. Medici 416 Couturat 70 Crawford 344 ff. Crequy, Graf de 334 Croce, B. 269 Crusius, Ch. A. 338 ff., 366 Dante 109 Darwin, Ch. 86 ff., 123, 190, 226, 275 Davy, H. 365 f. Delbos, V. 138 Descartes 10, 280 ff., 309,328,334,353f., 410, 442, 451. Deussen 235 Diels, H, 420 Dietzgen 185 f. Dilthey,W.180,184, 197,239,268,289, 415 Diodoros Kronos 325 Doß, A. L. v. 229 Dreyfuß- Brisac 141, 147 f. Driesch,H.236,266, 271ff„289,291,293 Dukmeyer,Fr.363f. Eberhard, J.P.341ff. Einstein 394 ff, Engels, G. 184 ff., 187, 224 f. Erdmann, B. 315 Erxleben, J. Ch. P. 343 f., 366 [390 f. Euklid 115, 378, Euler, L. 334, 336 f., 361, 364, 366 Faiguet 142 Fermat 65 Fester 154 Fichte 8, 19 ff., 29 f., 44, 103 f., 138 ff, 154 ff, 181, 188, 202 f., 232, 296, 300, 308 f., 317, 321, 385 Register. 545 Fichte, J. H. 202 f., 221 Fiese, Lozeran de Fouillee 187 f. [334 Franz v. Assisi 427 Frazer, A. C. 358 Friedrich d. Gr. 128 Frischeisen-Köhler 197 Galen 188 Galilei 111, 392,450 Gassendi 328 ff. Gauß 93 Gebhardt, C. 229 Gehler, J.S.T. 349 ff. Gerhardt, C. J. 361 Gierkel42,160,169, 176, 189 Girardin,Saint-Marc 142 Goethe 8, 46 f., 55, 109 f., 308, 384 f., 399, 420, 443 Gogarten 447 Gottl, v. 269, 291 Greef, de 187 Gren, Fr. A. C. 348 Grimm, Jak. 277 Großmann, C. 229 Guizot 295 Gundolf 443 Gwinner, W. v. 235 Häckel 235 Hackert, Ph. 385 Hamberger, G. E. 331 f., 366 Hamilton 315 Hartmann, Ed. v. 201 f., 236f., 269, 271 Hartmann, L.M. 270 Haym 194, 426 Haymann 147, 154, 165, 173 Hegel 4, 7 f., 13, 19, 21 ff., 31 ff, 103 f., 116,122,126,150, 182 ff., 187 f., 190, 194,209,218,221, 229, 238, 267, 269 ff, 291, 296, 300,308,386,414, 442, 453 f. Hensel, P. 212, 421 Heraklit 122, 124 f. Herbart 236,288, 304 Herder 3, 188 f. Hobbes 167 ff., 177, 353 ff, 442 Höffding 139 Hofmann, P. 179 ff. Hölderlin 420 Hönigswald, R. 118 Hooke, R. 358 ff. Humboldt, W.v. 203, 420 ff. [301 Hume 89, 139, 269 Husserl 214, 496 Hutcheson 139 Huyghens 397 Jacobi 3, 18 Janet, P. 142 Jellinek, G. 150, Jennings 192 [161 f. Jerusalem 313, 315, 317, 326 Johannsen,W.94,98 Justi, J.H.G.V. 364 Kant 2 ff, 7 f., 11 ff., 24 ff, 30, 33, 35 f., 41, 46, 48, 52 f., 58, 86, 91, 97 f., 103 f., 109 f., 117, 124, 132 ff., 138 ff., 157 f., 160, 164, 168, 179, 185, 188, 192,194,198,202f., 211ff.,221f.,229f., 232ff.,237ff.,239f., 271,281,283,285, 298 ff., 328 f., 339, 341, 343 ff., 347, 366 ff, 390, 417 ff., 451, 513 Karsten, W. J. G. 347 f. Kästner 345 Kautsky 223 Kelles-Kranz 185 Kelsen, H. 213 ff. Kemmerich, M. 128, Kepler 185 [135 Kerner, A. v. Mari- laun 99 Keyserling, GrafH. 229 f. Kirchhoff 496 Kistiakowski 152 Kratzenstein, Ch. G. 365 Krüger, J.G. 338, 366 Külpe 496 ff, 502, 506 Lamprecht 271, 273 f., 278 f. Lange, F. A. 185,434 Lange, L. 397 f. Laplace 348 Lask,E.,236,299f., 304, 313, 324 ff. Lasson, A. 215 Lavoisier 348 Leibniz8, 16 f., 117, 141, 195, 230, 239, 282 f., 289, 308 f., 325, 361 f., 373, Leist,B.W.210[410 Lemery 330 Leonhardi, J. G. 365 Leroy-Beaulieu 188 Lesage, G. L. 362 Lessing 373 [344 Lichtenberg, G. C. Liebert,A.4,17,122, 129, 134 f. Liepmann, M. 154, Linne" 99, 226 [162 Lippmann, E. 0. v. 229 Locke 353, 355 f. Lomonsow, M. 363 f. Lorenz, F. A. 365 Lotze 239, 268, 271, 298,301,304,312, 314, 318 ff, 323, 369ff.,375ff.,380, 433 Luc, J.A. de 345,347 Mach 185, 270, 398, 496 Macquer, P. J. 365 Maier, H. 266 Maimon 18 f. Malebranche 283, Mansion,P.391[289 Marcks, E. 240 Marx 184 ff., 190, 224 f., 454 Masaryk 185 Maupertuis 235 Medicus,F. 156,158, Meinecke 278 f. [202 Mendel, G. 96 Menschukin, B. N. Menzer, P. 289 [363 Meyer, A. 0. 240 Michelangelo 385 Michelson 234 Mill, J. St. 90, 315 Minkowski 64, 395 f. Mockrauer, W. 229 Mohammed 427 Molesworth 354 f. Morley 142 Morus, Th. 203 Müller, Kanzler v. 399 Münsterberg 188 Muschenbroek, P. van 333 f. 366 Napoleon 109, 128 Natorp 165,224,236, 406, 416 Neeff, F. 68 Nelson, L. 216 Neumann, C. 279 Newton 64, 101, 139, 155, 302, 360 f., 387 ff. Nicolai, Fr. 665 Nietzsche 121, 134, 190, 221, 232 ff, 385, 400 ff, 415, Nohl, H. 491 [447 Nollet,J.A.338,350, 366 Nowgorodzeff,P. 150 Oesterreich, K. 400 Oettingen, A. v. 388 Otto 199, 455 Paul, Jean 203 Paul, Herrn. 288 f. Philo 235 Pictet, M. A. 348 Planck 496 Piaton 9, 58, 109 f., 116,119,121,136, 166,188,198,219f., 234,321,370f.,382, 385, 406, 415 ff., 439 Plotinl08,235f.,416 Pörner, K. W. 365 Prantl 319 Prevost, P. 348, 362 Priestley 344 Protagoras 387 Prüfer, Ad. 229 Ptolemaeus 397 Pyrrhon 387 Pythagoras 378 Rachfahl 278 Radbruch, G. 170 Ranke 183, 185, 279, 295 Rehmke, 214, 240 f 546 Register. Keichenbach, H. 398 Reinach, A. 210 Reinhold 13, 18 Renouvier, Ch. 141 Reuschle, G. 328 Rickert60,60ff.,102, 132, 182, 191 f., 194,199,211,268f., 277,279,299,304, 309, 313 ff., 317, 324, 407 Riehl, A. 175, 315 Rosenberger,F 33 lf. Rosenkranz 138, 184 Rosenthal, O.M. 270 Rothacker 277 Rousseau 109, 138ff., 165 ff., 203 Rühlmann, R. 366 Rumforo', Graf 351, 356, 363, 365 f. Saint-Simon 185 Scheele, C. W. 346 Scheid, Ch. L. 362 Scheler,M.188,236, 286, 449, 455 f. Schelling8,19,29ff., 39, 46, 269, 271, 300, 400, 425 Schiller 44, 420, 424 Schlegel, A.W. 425 f. Schlegel, Fr. 426 Schleiermacher 302, 314,325,427,449, 453 Schlick 374, 398 Schlözer, A. L. v. 240 Schmalenbach 283 Schmidt, M. 201 f. Scholz, H. 110, 116, 123, 449, 455 ff. Schopenhauer 110, 132 f., 190, 229, 235,237,274,317. Schouten, A. 398 Schultz, Jul. 238 f, Schuppe 299, 303, 311, 323, 325 Segner, J. A. 340, 366 Shaftesbury 139. Sigwart 298, 301, 304, 306, 313, 315ff., 320, 322ff. Silberschlag, J. E. 344 f. Simmeil 23, 190, 199, 268,309,407,417 f., 453 Sokrates 109, 190, 219 f., 385 Somlö, F. 216 Spencer 112, 187, 269, 288, 296 Spengler,O.73,101ff., 190, 195 f., 309 Spinoza 8, 238, 282 f., 309, 417, 442 f. Spranger 286, 415, 421 Stahl 142, 215 Stammler 152, 165, 174, 177, 185, 210 f., 213, 216 Steinwehr, W. B. A. v. 330 Stern, W. 414 Stirner 237 Strauß, D. F. 431 Strindberg 128 Stromer-Reichen- bach, Fr. t. 128, 135 Swedenborg 58 Sybel 287, 292, 294 Tacitus 188 Taine 273 f., 284 Timerding, E. 394 Tönnies, F. 354 Treitschke 183, 292 Trendelenburg 319 Troeltsch, E. 68, 122 f., 187, 444, 449 Überweg 303, 305 Vaihinger236,261ff., 302, 312, 315, 326, 399, 470, 493, 495 Vischer,F.Th.399f., 404, 430, 432 Volkelt, J. 400, 496 ff. Voltaire 109, 145, 334 ff. Vorländer 138, 185 Vries, de 96, 99 Wackenroder 423 f. Wagner, R. 123, 128, 229 Weber, Max 225 Weininger 132 Wellhausen 279 Wenzel, M. 208 Werner, G. F. 365 Whewell 90 Wiesner, J. v. 271 f. Wilamowitz 220 Wilke, Jh. C. 345 f. Winckelmann 385, 420 Windelband 83, 102, 182, 299 ff., 303 f., 309, 313, 315 f., 324 Winkler, J.H. 340 f., 366 Wolfers, J. Ph. 388 Wolff, Chr. 141, 300, 317, 319 f., 325, 331, 366 Wundt,W.188,268f., 299, 302, 312 ff., 320, 327, 400 Xenophon 219 Xenopol 268 f., 291 3. Besprochene Kantische Schriften. (In zeitlicher Folge.) De igne (1755) 328, 345, 366 ff. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen (1763) 138 ff. Rezension v. Silberschlags Theorie der am 23. Juli 1762 ersch. Feuerkugel (1764) 344. Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen 1765/6 139 f. Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781, 2. Aufl. 1787) 14, 16 ff., 22, 24 f., 41, 52 f., 91 f., 192, 202, 214, 235, 238, 298 ff., 451, 513. Prolegomena (1783) 13 f., 305, 311. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) 142 ff. Was ist Aufklärung? (1784) 240. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) 221. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1785) 142 f., 144. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) 233. Kritik der praktischen Vernunft (1788) 17, 202 f., 221. Register. 547 Kritik der Urteilskraft (1790) 16 ff., 30, 36, 235, 300. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein usw. (1793) 143, 149 f. Zum ewigen Frieden (1795) 143, 149, 203. Metaphysik der Sitten (1797) 143, 149 ff., 222. Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen (1797) 149. Anthropologie (1798) 143 f. Reflexionen 142 ff, 339. 4. Verzeichnis der Verfasser besprochener Neuerscheinungen. Adler, M. 184 ff. Barth, P. 187. Bäumler, A. 229. Bendix, L. 203 ff. Brandenburg, E. 186 f. Brinkmann, C. 205 ff. Brodmann, E. 207 f. Bruhn, W. 196 f. Enckendorff, M. L. 199 ff. Feldkeller, P. 229 f. Fränkel, R. 212. Guastella, C. 230 f. Heinemann, F. 235 f. Holldack, F. 208 f. Hurwicz, E. 187 ff. Jaensch, E. R. 189. Israel, W. 211 f. Kaufmann, E. 212 ff. Kelsen, H. 215 ff. Koppelmann, W. 218 f. Lasson, G. 183 f. Latte, K. 219. Lehmann, G. 236 f. Lessing, Th. 190 f. Marquardt, H. 231 f. Messer, A. 232. Metzger, W. 220 ff. Müller-Freienfels, R. 191 ff, Pos, H. J. 232 f. Reininger, R. 233. Richter, G. 234. Scholz, H. 198 f. Schuck, K. 195 f. Schulz, H. 202 f. Schulze-Soelde W. 194 f. Siegel, C. 219 f. Stammler, R. 223 f. Steffes, J. P. 201 f. Sternberg, K. 234. Unger, E. 224. üngerer, E. 234 f. Wichmann, 0. 225. Wilbrandt, R. 225 ff. 5. Verzeichnis der Mitarbeiter. Adickes, Erich 328—368. Aster, E. v. 179—182, 496 —517. Bäumler, Alfr. 205—207, 229. Berger, Siegfr. 202—203. van den Bergh van Eysinga, G. A. 237—238. Broch, Herrn. 184—186. Calinich, Margarete 218— 219. Caspary, Adolf 224. Feldkeller, Paul 229—230. Guastella, Cosmo 230—231. Gurwitsch, Georg 138—164. Heinemann, Fritz 235—236. Joel, Karl 298—327. Kraus, Emil 195—196. Lasson, Georg 1—58. Lehmann, Gerhard 236 237. Liebert, Arthur 187, 239 —240, 399-445. Löwe, Adolf 225—228. Marck, Siegfr. 165—178. Marcuse, Ludw. 187—189. Marquardt, Hans 231—232. Merkl, Adolf 215—217. Messer, Aug. 201—202, 232. Moog, Willy 203. Müller, Aloys 59—85. Müller - Freienfels , Rieh. 193 i99f Pagel, Albert 207—208, 208—211, 212—215. Pos, H. J. 232—233. Reininger, Rob. 233—234. Richter, Gustav 234. Rosenzweig, Fr. 183—184. Scholz, Heinr. 196—198, 369—398. Schultz, Jul. 191—194. Seifert, Friedr. 190—191. Sternberg, Kurt 101—137, 194—195,211—212,234. Tillich, P. 203—205, 446 —469. Troeltsch, Ernst 265—297. üngerer, Emil 86—100, 234—235. Utitz, Emil 470—495. Vierkandt, A. 189, 199 —201, 220—222. Vorländer, K. 223—224. Winternitz, Jos. 186—187. Wichmann, Ottomar 219, 219—220. Dieterichsche Universitäts-Buchdruckerei (W. Fr. Kaestner) in Göttingen. B Kant-Studien 2750 K3 Bd. 26-27 PLEASE DO NOT REMOVE SLIPS FROM TMS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY